Offenbarung von Behandlungsfehlern/ Verletzung der ...Behandlungsfehlern" im Kreise der Betroffenen...

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Antoine Roggo / Daniel Staffelbach AJP/PJA 4/2006 DANIEL STAFFELBACH, Rechtsanwalt und neben- amtlicher Bundesrichter, Zürich ANTOINE ROGGO, Dr. med. et Dr. iur., Facharzt für Chirurgie FMH und Intensivmedizin FMH, MBA HSG, Konsulent für Medizinrecht, Bern Inhaltsübersicht: I. Non liquet II. Behandlungsrisiko oder Behandlungsfehler/Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht? A. Forensische Risiko-Minimierung durch Dialogbereitschaft B. Abgrenzung Behandlungsrisiko versus Verletzung der ärzt- lichen Sorgfaltspflicht III. Behandlungsfehler im eigentlichen Sinne A. Ärztliche Unsorgfalt B. Primum non nocere bzw. Zumutbarkeit der Erfüllung IV. Aufklärung über Behandlungsfehler/Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht A. Naturrecht des Selbstschutzes oder Anspruch auf Offen- barung? B. Deutsche Lehrmeinungen zur Offenbarung von Behand- lungsfehlern C. Grundsatzfragen zum schweizerischen Auftragsrecht D. Schweizer Lehrmeinungen zur Offenbarung der eigenen ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung E. Zum Umgang mit Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht durch Dritte (Behandlungsfehlern Dritter) V. Schlussfolgerung I. Non liquet 1 Juristisches Denken erfasst die Realität in Rechtsbegriffen und abstrakten Rechtskonstrukten. Aus der Perspektive des Nichtjuristen entfremdet die juristische Sprache den Sach- verhalt von seiner eigenen Wahrnehmung. Die sprachliche Entfremdung wird umso stärker empfunden, je mehr der Sachverhalt von Unabwägbarkeiten – bspw. wie die Medizin – oder Emotionen geprägt ist – wie bspw. die Arzt-Patienten- Beziehung. Obwohl diese rein an juristischen Normen orien- tierte Denkweise die Gefahr in sich birgt, die Realität des Lebens nur vom so genannten "verrechtlichten Standpunkt" aus erfassen zu wollen, wird diese juristische Denkweise auch auf die Arzt-Patienten-Beziehung übertragen. Im vor- liegenden Aufsatz versuchen die Autoren deshalb bewusst, auf die Besonderheiten in der sachbezogenen wie emotiona- len Interaktion zwischen Arzt und Patient sowie die Unab- wägbarkeiten der Medizin aus juristischer wie medizinischer Sicht einzugehen. Die Arzt-Patienten-Beziehung beinhaltet zwei Interessen: einerseits den Wunsch des Patienten, geheilt zu werden – ohne dabei sein Selbstbestimmungsrecht aufzugeben – und andererseits die vertragliche Hauptleistungspflicht des Arztes, die Heilung sorgfältig anzustreben und dabei den Patienten in die Entscheidungsfindungen bei Diagnostik und Therapie mit einzubeziehen. Hierbei gibt es ein enor- mes Wissens- und Machtgefälle zwischen Patient und Arzt. Im Normalfall ist es dem Patienten unmöglich, die durch den Arzt erteilten Informationen und vorgeschlagenen Massnahmen zu validieren. Der Patient ist dazu verurteilt, dem Arzt zu vertrauen. Die Heilbehandlung wird dement- sprechend weiterhin als Prototyp eines fremdnützigen Ver- trauensvertrages gewertet 2 . Das Vertragsverhältnis zwischen Patient und Arzt zeich- net sich nicht nur durch das besondere Vertrauensverhältnis, sondern auch durch die Erwartung des Patienten an die be- sondere Sorgfaltspflicht des Arztes aus. Dabei lässt sich der konkrete Umfang an ärztlicher Sorgfaltspflicht aus rechtli- cher Perspektive nicht für jeden Fall abstrakt festlegen. Zu individuell sind die gegenseitigen Erwartungen, Bedürfnisse und Risikobereitschaften der involvierten Vertragsparteien. In Anbetracht der kompliziert werdenden Organisationen, insbesondere in Spitälern, Ärztenetzwerken und komplexen Behandlungsketten mit notgedrungen wachsenden Arbeits- teilungen wird jeder Versuch, die ärztliche Sorgfaltpflicht mit antizipiert abstrakten, allgemein verbindlichen Regeln zu definieren, scheitern 3 . Als Folge der Leistungsexplosion 1 "Es ist nicht klar", im römischen Gerichtsverfahren auf Täfel- chen abgegebenes Urteil bei Stimmenthaltung. 2 JOCHEN T AUPITZ, Die Pflicht zur unaufgeforderten Offenba- rung eigenen Fehlverhaltens nach schweizerischem Obliga- tionenrecht, in: ZBJV 1993, 671 ff., 679. Beachte auch die Kritik von KLAUS ULSENHEIMER, Arztstrafrecht in der Praxis. 3. A., Heidelberg 2003, 8: "Das für die frühere Zeit charakte- ristische Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielfach von einer rein geschäftsmässigen, vertraglichen Be- ziehung abgelöst worden: Krankenbehandlung als 'Rechtsver- hältnis' kennzeichnet immer öfter die beidseitige Einstellung." 3 BGE 120 II 248, 248 E. 2c; BGE 4C.53/2000, E. 1b: "Die Anforderungen an die aus dem ärztlichen Behandlungsver- trag abgeleitete Sorgfaltspflicht – welche objektiv zu verste- hen und vom Verschulden zu trennen ist – lassen sich nicht allgemeingültig festlegen. Sie richten sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach der Art der Be- handlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessens- spielraum und der Zeit, die dem Arzt zur Verfügung steht, sowie nach Ausbildung, Leistungsfähigkeit und Ausstattung, die objektiv vom Medizinalpersonal bzw. von der vertraglich verpflichteten Institution erwartet werden dürfen." 407 Offenbarung von Behandlungsfehlern/ Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht – Plädoyer für konstruktive Kommunikation

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  • A n t o i n e R o g g o / D a n i e l S t a f f e l b a c hAJP/PJA 4/2006

    DANIEL STAFFELBACH,Rechtsanwalt und neben-amtlicher Bundesrichter,Zürich

    ANTOINE ROGGO, Dr. med. et Dr. iur., Facharzt für Chirurgie FMH und Intensivmedizin FMH,MBA HSG, Konsulent für Medizinrecht, Bern

    Inhaltsübersicht:

    I. Non liquetII. Behandlungsrisiko oder Behandlungsfehler/Verletzung der

    ärztlichen Sorgfaltspflicht?A. Forensische Risiko-Minimierung durch DialogbereitschaftB. Abgrenzung Behandlungsrisiko versus Verletzung der ärzt-

    lichen SorgfaltspflichtIII. Behandlungsfehler im eigentlichen Sinne

    A. Ärztliche UnsorgfaltB. Primum non nocere bzw. Zumutbarkeit der Erfüllung

    IV. Aufklärung über Behandlungsfehler/Verletzung der ärztlichenSorgfaltspflichtA. Naturrecht des Selbstschutzes oder Anspruch auf Offen-

    barung?B. Deutsche Lehrmeinungen zur Offenbarung von Behand-

    lungsfehlernC. Grundsatzfragen zum schweizerischen AuftragsrechtD. Schweizer Lehrmeinungen zur Offenbarung der eigenen

    ärztlichen SorgfaltspflichtverletzungE. Zum Umgang mit Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht

    durch Dritte (Behandlungsfehlern Dritter)V. Schlussfolgerung

    I. Non liquet1

    Juristisches Denken erfasst die Realität in Rechtsbegriffenund abstrakten Rechtskonstrukten. Aus der Perspektive desNichtjuristen entfremdet die juristische Sprache den Sach-verhalt von seiner eigenen Wahrnehmung. Die sprachlicheEntfremdung wird umso stärker empfunden, je mehr derSachverhalt von Unabwägbarkeiten – bspw. wie die Medizin– oder Emotionen geprägt ist – wie bspw. die Arzt-Patienten-Beziehung. Obwohl diese rein an juristischen Normen orien-tierte Denkweise die Gefahr in sich birgt, die Realität desLebens nur vom so genannten "verrechtlichten Standpunkt"aus erfassen zu wollen, wird diese juristische Denkweiseauch auf die Arzt-Patienten-Beziehung übertragen. Im vor-liegenden Aufsatz versuchen die Autoren deshalb bewusst,auf die Besonderheiten in der sachbezogenen wie emotiona-

    len Interaktion zwischen Arzt und Patient sowie die Unab-wägbarkeiten der Medizin aus juristischer wie medizinischerSicht einzugehen.

    Die Arzt-Patienten-Beziehung beinhaltet zwei Interessen:einerseits den Wunsch des Patienten, geheilt zu werden –ohne dabei sein Selbstbestimmungsrecht aufzugeben – undandererseits die vertragliche Hauptleistungspflicht desArztes, die Heilung sorgfältig anzustreben und dabei denPatienten in die Entscheidungsfindungen bei Diagnostikund Therapie mit einzubeziehen. Hierbei gibt es ein enor-mes Wissens- und Machtgefälle zwischen Patient und Arzt.Im Normalfall ist es dem Patienten unmöglich, die durchden Arzt erteilten Informationen und vorgeschlagenenMassnahmen zu validieren. Der Patient ist dazu verurteilt,dem Arzt zu vertrauen. Die Heilbehandlung wird dement-sprechend weiterhin als Prototyp eines fremdnützigen Ver-trauensvertrages gewertet2.

    Das Vertragsverhältnis zwischen Patient und Arzt zeich-net sich nicht nur durch das besondere Vertrauensverhältnis,sondern auch durch die Erwartung des Patienten an die be-sondere Sorgfaltspflicht des Arztes aus. Dabei lässt sich derkonkrete Umfang an ärztlicher Sorgfaltspflicht aus rechtli-cher Perspektive nicht für jeden Fall abstrakt festlegen. Zuindividuell sind die gegenseitigen Erwartungen, Bedürfnisseund Risikobereitschaften der involvierten Vertragsparteien.In Anbetracht der kompliziert werdenden Organisationen,insbesondere in Spitälern, Ärztenetzwerken und komplexenBehandlungsketten mit notgedrungen wachsenden Arbeits-teilungen wird jeder Versuch, die ärztliche Sorgfaltpflichtmit antizipiert abstrakten, allgemein verbindlichen Regelnzu definieren, scheitern3. Als Folge der Leistungsexplosion

    1 "Es ist nicht klar", im römischen Gerichtsverfahren auf Täfel-chen abgegebenes Urteil bei Stimmenthaltung.

    2 JOCHEN TAUPITZ, Die Pflicht zur unaufgeforderten Offenba-rung eigenen Fehlverhaltens nach schweizerischem Obliga-tionenrecht, in: ZBJV 1993, 671 ff., 679. Beachte auch dieKritik von KLAUS ULSENHEIMER, Arztstrafrecht in der Praxis.3. A., Heidelberg 2003, 8: "Das für die frühere Zeit charakte-ristische Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient istvielfach von einer rein geschäftsmässigen, vertraglichen Be-ziehung abgelöst worden: Krankenbehandlung als 'Rechtsver-hältnis' kennzeichnet immer öfter die beidseitige Einstellung."

    3 BGE 120 II 248, 248 E. 2c; BGE 4C.53/2000, E. 1b: "DieAnforderungen an die aus dem ärztlichen Behandlungsver-trag abgeleitete Sorgfaltspflicht – welche objektiv zu verste-hen und vom Verschulden zu trennen ist – lassen sich nichtallgemeingültig festlegen. Sie richten sich vielmehr nach denUmständen des Einzelfalles, namentlich nach der Art der Be-handlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessens-spielraum und der Zeit, die dem Arzt zur Verfügung steht,sowie nach Ausbildung, Leistungsfähigkeit und Ausstattung,die objektiv vom Medizinalpersonal bzw. von der vertraglichverpflichteten Institution erwartet werden dürfen."

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  • in der Medizin ist, so KLAUS ULSENHEIMER4, über die letztenJahrzehnte hinweg zudem eine paradoxe Situation zu er-kennen: "Der Minimierung des medizinischen Risikos fürden Patienten steht eine Maximierung des juristisch-foren-sischen Risikos für den Arzt gegenüber". Nach praktischerErfahrung der Autoren ist dies mit einer der Gründe, wes-wegen seitens der Ärzteschaft eine Defensivmedizin geför-dert und mittlerweile auch als Selbstverständlichkeit gelebtwird. Das zeigt sich in der Gestalt von Durchführen allernur erdenklichen, schematischen Untersuchungen anstellequalitativer und quantitativer, d.h. methodisch-strategischder Situation adäquat angepasster Diagnostikschritte. Daskann im Einzelfall je nach Ermessen zwar noch tolerabelsein, dürfte aber allgemein gültig betrachtet letztlich imunheilvollen Weg der sinnlosen Überdiagnostik enden5 undkann – beispielsweise bei radiologischen Abklärungen mitKontrastmittel – zu einer unnötigen Gefährdung und Belas-tung des Patienten führen. Das Groteske an der Situationist derweil, dass sich die konsumorientierte Gesellschaft andiese Überdiagnostik gewöhnt hat und – wenn unter Um-ständen nicht gewährt – aktiv danach verlangt und sich beideren Fehlen für nicht genügend medizinisch abgeklärt hält.

    Auch die sorgfältigste Anamnese sowie Befundaufnahmeführt häufig zu keinen eindeutigen Diagnosen. Die Medizinist anerkanntermassen keine exakte, sondern eine empiri-sche Wissenschaft. Selbst bei offensichtlicher Diagnosekönnen zudem unterschiedliche Therapien applizierbar seinoder bei verschiedenen Patienten die gleiche Therapie zuunterschiedlichen Resultaten führen. Zur Ausübung desArztberufes bedarf es deshalb in aller Regel einer wohlüberlegten – wobei sorgfältig an die Hand genommenen –Kühnheit, ohne dass dabei gegen geltende Regeln der ärzt-lichen Kunst verstossen werden darf6. Diese Kühnheit istdas Fundament einer allen Interessen gerecht werdendenmedizinischen Versorgung bei adäquat hohem Standard.

    Die medizinische Versorgung der Bevölkerung in derSchweiz gehört unbestritten zu einer der besten der Welt.Trotzdem sind auch in der Schweiz unweigerlich Misser-folge zu erwarten, d.h. dass nicht erwünschte Ereignisseeintreten, allenfalls Fehler, welcher Art auch immer, ge-macht werden7. Hierbei sind die Irrtümer oder Behand-lungsfehler nicht ausschliesslich auf einen Kreis von verant-wortungslosen und/oder inkompetenten Ärzte beschränkt.Irrtümer und Behandlungsfehler sind auf die gesamte Ärz-teschaft verteilt8. Mögliche Irrtümer und Behandlungsfehlerder behandelnden Ärzte gehören im medizinischen Alltagfaktisch zu den behandlungsimmanenten Risiken. Sie sindaber rechtlich nicht als solche tatsächliche Risiken akzep-tiert. Trotzdem zählt in der Medizin der Umgang mit Be-handlungsfehlern zum Gebiet noch ungelöster Konflikte.Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis stellt dabei dielatente Angst dar, beim Eingeständnis (möglicher) Behand-lungsfehler sich unweigerlich nebst mit zivilrechtlichenFolgen auch mit aufsichts- und/oder strafrechtlichen Mass-nahmen konfrontiert zu sehen9. Hier bestände "de legeferenda" dringender Handlungsbedarf – auch im Interesseder Patientinnen und Patienten, d.h. potentiell betrachtet vonuns allen.

    Aus nicht kommunizierten und demzufolge nicht disku-tierten Fehlleistungen wird oft nicht nur wenig hinzuge-lernt. Das Stigmatisieren negativer Erfahrungen verhindert

    4 ULSENHEIMER (FN 2), 1.5 ANTOINE ROGGO, Verändert die Haftungsanspruchsgrundlage

    die Handlungsmaximen der Ärzte?, in: "competence" HospitalManagement Forum 2004, 8 ff.; ULSENHEIMER (FN 2), 6 ff.,60.

    6 GUNTHER ARZT, Die Aufklärungspflicht des Arztes aus straf-rechtlicher Sicht, in: WOLFGANG WIEGAND (Hrsg.), Arzt undRecht, Berner Tage für die juristische Praxis, Bern 1985,52 ff., Diskussion 73 ff.: WIEGAND führte 1985 noch aus, dassnach Ansicht des Bundesgerichts zur Ausübung des Arztbe-rufes eine gewisse Kühnheit gehöre, die Juristen niemals ein-schränken dürfen. Bereits 1987 hat das Bundesgericht aberdiese zitierten früheren Entscheidfindungen korrigiert undin BGE 113 II 429, 432 ff. E. 3a unmissverständlich festge-halten: "…die Arzthaftung auf grobe Verstösse gegen dieSorgfaltspflicht zu beschränken (…), findet im Gesetz keineStütze." Siehe auch BGE 116 II 519, 521 E. 3: "Dabei istnach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts dieHaftung des Arztes nicht auf grobe Verstösse gegen Regelnder ärztlichen Kunst beschränkt."

    7 Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Aufsatzes besteht etwain der schweizerischen Herz-Chirurgie-Szene eine nicht vonder Hand zu weisende Hektik. Es sei daran erinnert, dass imJahre 2004/2005 die Justiz gleich drei in der Presse Aufmerk-samkeit weckende Zwischenfälle mit Todesfolge zu beurtei-len hatte: Unverträglichkeit der Blutgruppen eines transplan-tierten Herzens an der einen Uniklinik; falsch installierteBriden bei einem Kunstherzen und falsch aufgebaute Herz-Lungen-Maschine bei einem vorgesehenen Herzklappen-Ersatz an der anderen Uniklinik.

    8 ATUL GAWANDE, Complications – A Surgeon's Notes on anImperfect Science, New York/NY 2002, Part I – Fallibility,When Doctors Make Mistakes, 56: "Most surgeons are suedat least once in the course of their careers. Studies of specifictypes of error, too, have found that repeat offenders are notthe problem. The fact is that virtually everyone who caresfor hospital patients will make serious mistakes, and evencommit acts of negligence, every year."

    9 BEVERLY JONES, Nurses and the "Code of Silence", in: ROSEN-THAL/SUTCLIFFE (Hrsg.), Medical Error, What Do We Know?What Do We Do?, San Francisco/CA, USA 2002, 91 ff.:"Fear of Malpractice Litigation. The threat of medical mal-practice litigation is one of the most obvious barriers to theimprovement of patients safety. The fact that action can beinitiated for all kinds of errors, no matter how minor, has notonly instilled a grave sense of fear in clinicians but has chan-ged clinical practice and increased the cost of health care.Further, disclosing one's own error or a colleague's errorposes the risk of financial ruin and loss of professional credi-bility. These risks also serve as disincentives to participatein improvement strategies to reduce the risk of error."

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  • deren Nutzung als präventiver Denkanstoss für Dritte10. DieLiteratur, die sich eingehender mit der Frage zur konstruk-tiven Offenbarung unterlaufener Behandlungsfehler beschäf-tigt und sich damit zwangsläufig auch mit den Rechtsfolgenauseinandersetzt, ist weiterhin dünn gesät, und hat (noch)zu keinem nachhaltig praktizierten oder gar gesetzlichenParadigmawechsel Anlass gegeben. Trotzdem sollen unseremedizinrechtlichen Gedanken insbesondere in Arztkreisennicht als "Bildersturm" verstanden werden11. Sie sollen zueinem offensiven und nutzbringenden, proaktiven Umgangmit dem sensiblen Thema "Offenbarung von möglichenBehandlungsfehlern" im Kreise der Betroffenen sowie letzt-lich beim Gesetzgeber beitragen. Medizinrechtliche Vor-gaben dienen nicht nur der retrospektiven Beurteilung einerHandlungsweise bei Streitigkeiten, sondern tragen auchWesentliches zu einer zukunftsorientierten Teamarbeit bei.Damit wird die Patientensicherheit gesteigert, dem Arzt dieFurcht vor stigmatisierender Offenheit genommen und dem-entsprechend die "Medizin" Qualität und Sicherheit nähergebracht. TAUPITZ12 zitiert zu Recht EBERHARDT SCHMIDT,der gesagt hat, dass weit mehr als sonst in sozialen Bezie-hungen im ärztlichen Berufsbereich das Ethische mit demRechtlichen zusammenfliesse.

    II. Behandlungsrisiko oder Behandlungsfehler/Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht13?

    A. Forensische Risiko-Minimierung durchDialogbereitschaft

    Die perfekte Heilbehandlung kann nicht allgemeingültigerStandard sein14. Die biologische Vielfalt kombiniert mit dermenschlichen Individualität und der beschränkten Wahr-nehmungsfähigkeit macht dieses Ziel unerreichbar. Nichtjede Behandlung führt zu dem vom Patienten bzw. vomArzt erwarteten oder erwünschten Resultat15. Kommt eswährend der Behandlung zu einer ungewollten Begebenheitoder einem unbefriedigenden Ergebnis, kann sich die Fragestellen, was der Grund hierfür war. Der Umgang mit unge-wollten Begebenheiten wird erschwert, wenn möglicher-weise ein Irrtum oder ein Fehler vorliegen könnte, da diesfür den Arzt oder die Ärztin zur persönlichen Schuld wird.Jeder Arzt erlebt mehrmals in seinem Berufsleben solchunerwünschte Zwischenfälle16.

    Die Medizin ist für den Patienten wegen des rasantenwissenschaftlichen Fortschritts immer weniger nachvoll-ziehbar. Gleichzeitig ist der Innovationsdruck in der Medi-zin wegen der kostenintensiven Forschung hoch. Weil dieHandlungen des Arztes für den Patienten infolgedessenimmer weniger validierbar sind, das Wissens- und Macht-gefälle zwischen Patient und Arzt sich somit erhöht, werdenals Ausgleich die Patienten(schutz)rechte in den Mittelpunktgerückt17. Der Patient als Laie im komplexen, medizini-schen Umfeld läuft sonst Gefahr, zum "selbstverständlichen

    Humanexperiment" zu werden. Das durch Marketingmass-nahmen der Industrie verbesserte Patientenwissen um me-dizinrechtliche Fragestellungen haben beim Patienten aberauch rationale und bedauerlicherweise vor allem auch irra-tionale Erwartungen an die Medizin geweckt, die der Arztbzw. die Medizin nicht erfüllen können. Der Arzt sieht sichdeshalb aus rechtlicher Perspektive erhöhten Anforderun-gen an die Aufklärung des Patienten gestellt, da ansonstenmedizinischen Eingriffen (oder deren Unterlassung) keinegenügende Einwilligung des Patienten zugrunde liegt18.

    10 Anders ist dies in der Aviatik oder der Industrie. Hier wurdeseit langem eine konstruktive Fehlerkultur im Interesse desBetriebes und auch der Kunden nachhaltig entwickelt underfolgreich umgesetzt. Natürlich sind Patienten sehr viel kom-plizierter und empfindlicher als Industrieprodukte. Dochgerade deswegen sollten sich Ärzte bewusst sein, dass sie anihren Patienten Irrtümer/Fehler begehen, sich dieser Realitätanpassen und die perpetuierende Fehlersituation nicht ver-schlimmern, sondern durch geteilte Erfahrung verbessern.

    11 Es gibt Ärzte, die immer wieder monieren, dass heutzutagedie Juristen und vor allem die Gerichte sich zu sehr in die anund für sich schon heikle Arzt-Patienten-Beziehung im Sinneeines "Diktates juristischer Zwänge" einmischen würden.

    12 JOCHEN TAUPITZ, Aufklärung über Behandlungsfehler: Rechts-pflicht gegenüber dem Patienten oder ärztliche Ehrenpflicht?,in: NJW 1992, 713 ff., 719.

    13 Rechtsdogmatisch wird bei einem Behandlungsfehler voneiner Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht gesprochen.

    14 RENÉ BECK, Der Umgang mit Spital-Haftpflichtrisiken ausSicht des Haftpflichtversicherers, in: Haftung und Versiche-rung HAVE/Responsabilité et Assurance REAS 2005, 90 ff.,95: "Auch wenn ein Patient nicht immer die besten Behand-lungsbedingungen, die neuesten Methoden und modernstenGeräte erwarten darf, gibt es eine unverzichtbare Basis-schwelle, deren Qualität nicht unterschritten werden darf."

    15 MICHAEL L. MILLENSON, The Patient's View of Medical Errors,in: ROSENTHAL/SUTCLIFFE (Hrsg.), Medical Error, What DoWe Know? What Do We Do?, San Francisco/CA, USA 2002,103: " (…) sadly that errors were the price to be paid for theinestimable benefits of modern diagnosis and therapy." Vgl.auch MARTIN L. HANSIS/DOROTHEE E. HANSIS, Der ärztlicheBehandlungsfehler, Verbessern statt streiten, Landsberg 1999,7.

    16 DAVID HAENGGI-BALLY, Fehlermanagement im Spital – einBeispiel aus unserer Klinik, in: SAeZ 2005, 1680 ff.

    17 Zum Selbstschutz der Patient als Laien in diesem hoch kom-plexen Umfeld, damit dieser nicht plötzlich zum "selbstver-ständlichen Humanexperiment" wird.

    18 MONIKA ANDERS/BURKHARD GEHLE, Das Recht der freienDienste, Vertrag und Haftung, Berlin/New York 2001, Rz 376:"Wenn der Arzt seine Aufklärungspflicht verletzt oder sichnicht an die Einwilligung durch den Patienten hält bzw. denEingriff ohne eine wirksame Einwilligung vornimmt, kanner sich schadenersatzpflichtig machen, da in jedem dieserFälle der Eingriff mangels wirksamer Einwilligung rechts-widrig ist. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden,dass der Patient die Einwilligung nur insgesamt erteilen oderverweigern kann, mithin bei fehlerhafter Aufklärung odereinem sonstigen Mangel der Einwilligung der Eingriff insge-samt rechtswidrig ist." (Mit weiteren Hinweisen.)

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  • ANSPRUCHSPFADE IM PRIVATRECHT IM FALLE VON EINEM

    Gesundheits-Schaden

    Widerrechtlichkeit Vertragsverletzung

    Art. 41 OR Art. 97 ff. OR Art. 398 OR

    Der Patient muss die Verletzung der gebotenen objektiven ärztlichen Sorgfaltspflicht

    beweisen behaupten beweisen(Behandlungsfehler) (unzureichende Aufklärung) (Behandlungsfehler)

    Kausalität

    Verschulden des Arztesobjektiv: hypothetische Vorwerfbarkeit

    subjektive Sorgfaltspflicht: Urteilsfähigkeit

    Patient ist auf allen vier Ebenen Vermutung des Verschuldens des Arztes,voll beweisbelastet der Arzt muss sich exkulpieren

    Verstärkt wird diese Anforderung an den Arzt, eine Aufklä-rung umfassend vorzunehmen und zu dokumentieren, durchdie Amerikanisierung unseres Rechtsverständnisses19. Dadie Medizin die Erwartungshaltung der Patienten an einperfektes Ergebnis einer Heilbehandlung nicht immer be-friedigen kann, sieht sich diese immer häufiger – auchunverschuldet – mit Forderungen um finanziellen Ausgleichfür die entgangene Gesundheit des Patienten konfrontiert.Angetrieben durch den Wunsch, auf dem rechtlichen Wegeinen (finanziellen) Ausgleich für die entgangene Gesund-heit zu erhalten, werden immer systematischer Haftungsan-sprüche geltend gemacht, sobald das Wunschergebnis nichteingetreten ist. Dabei wird aus prozesstaktischen Überle-gungen wegen der Beweislastverteilung (vgl. hierzu Tab. 1)von der materiell juristischen Anspruchsgrundlage des Be-handlungsfehlers /der ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzungabgesehen und zum Alternativtatbestand20 des ärztlichenAufklärungsfehlers gewechselt21.

    Die Fehlervorwürfe oder Vorwürfe bezüglich Verletzungder Patienten-Aufklärung richten sich noch überwiegend

    19 Vgl. hierzu auch bei ERWIN DEUTSCH, Neues zur ärztlichenAufklärung im Ausland – Englische und französische Gerichtepositionieren sich, MedR 2005, 464 ff.

    20 DEUTSCH (FN 19), 464: "Die ärztliche Aufklärung hat häufigzu unterschiedlicher Deutung beim Haftungsgrund, beimHaftungsumfang und beim Beweis geführt. Fraglich ist schon,ob es sich bei der Aufklärungspflichtverletzung um einen selbständigen Tatbestand oder, jedenfalls in der Praxis, umeine Hilfskonstruktion der Haftung im Falle nicht nachgewie-sener Behandlungsfehlers handelt."

    21 Im einen Fall trägt der Patient, im anderen Fall der Arzt dieBeweislast des Verschuldens bzw. des Nicht-Verschuldens.Vgl. zu dieser Thematik die neueren Monographien vonANTOINE ROGGO, Aufklärung des Patienten, Eine ärztlicheInformationspflicht, Bern 2002; CHRISTIAN CONTI, Die Pflich-ten des Patienten im Behandlungsvertrag, Bern 2000; MONIKAGATTIKER, Die Widerrechtlichkeit des ärztlichen Eingriffsnach schweizerischem Zivilrecht, Zürich 1999; PASCAL PAYL-LIER, Rechtsprobleme der ärztlichen Aufklärung unter be-sonderer Berücksichtigung der spitalärztlichen Aufklärung,Zürich 1999.

    A n t o i n e R o g g o / D a n i e l S t a f f e l b a c hAJP/PJA 4/2006

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    Tabelle 1: Alternative Anspruchspfade bei Vorliegen eines Gesundheits-Schadens

  • gegen die operativen Disziplinen und überdurchschnittlichgegen Spitalärzte. Dies dürfte damit zusammenhängen,dass bei chirurgischen Eingriffen der Patient aus einemmechanistischen Verständnis des menschlichen Körpersheraus die umgehende mechanische Wiederherstellung desStatus ante der Krankheit erwartet. Tritt die Gesundheitnicht wieder ein, liegt nach dessen Verständnis zwingendein Fehler vor. Je mehr Gentechnik und Pharmaindustriebeim Patienten die absolute Machbarkeit von heilendenEingriffen propagieren, umso mehr wird sich die bisherige(nahezu ausschliessliche) Fokussierung auf die invasiv täti-gen Ärztegruppen mit der Zeit verlieren. Ärzte, Juristen undGesundheitspolitiker werden nicht darum herumkommen,gemeinsam "gesunde forensische Risiko-Minimierung"durch bedürfnisgerechte, fundierte Dialoge und deren Doku-mentierung in der Arzt-Patienten-Beziehung zu standardi-sieren22.

    B. Abgrenzung Behandlungsrisiko versusVerletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht

    Beim ärztlichen Tätigwerden gilt es, einen gewissen ob-jektiven Grad an "verzeihbarem menschlichem Irrtum" inKauf zu nehmen23. Dabei spielen verschiedene Risikofak-toren wie die Komplexität des Einzelfalls mit eine Rolle.Negative oder erfolglose Behandlungsergebnisse sind nichtan sich schon schuldhafte Vertragsverletzungen. Medizini-sche Behandlungen sind anerkanntermassen mit einem ge-wissen Risikopotential verbunden. Ungeachtet der Anwen-dung aller notwendigen Sorgfalt ist dieses Risikopotentialnicht immer zu eliminieren: Im US-Bundesstaat Kalifornienwurden 1973 rund 21000 Krankengeschichten von statio-när behandelten Patienten retrospektiv analysiert. In 4.6%der Fälle fand sich ein iatrogener Schaden und in 0.8% einesorgfaltspflichtwidrige Behandlung. In einer späteren Stu-die aus dem Jahre 1984 wurde seitens der Harvard Univer-sity eine retrospektive Analyse bei über 30000 aus Spitalbe-handlung entlassenen Patienten in New York durchgeführt.Bei 1117 Patienten (3.7%) lag ein Gesundheitsschaden alsunmittelbares Resultat der erfolgten medizinischen Mass-nahmen vor. Bei 313 Patienten (1%) war der Gesundheits-schaden auf eine sorgfaltspflichtwidrige Behandlung zurück-zuführen. Vergleichbare Ergebnisse zeigten sich 1990 ineiner Studie in den US-Bundesstaaten Utah und Colorado24.LUCIEN LEAPE, einer der Autoren, bemerkte hierzu, dassFehler in der Medizin analog zu anderen menschlichenAktivitäten25 vom Grundsatz her unvermeidlich, dass aberverzeihbare Fehler nicht mit Fahrlässigkeit ("negligence")gleichzusetzen seien26.

    Solange die ärztliche Fehlleistung nach dem reinen Ver-schuldensprinzip beurteilt wird, muss der Arzt nur für jeneschädigenden Folgen rechtlich einstehen, zu denen es durchein schuldhaftes Ausserachtlassen seiner Sorgfaltspflichtgekommen ist27. Diese Pflicht hängt von der konkretenSituation ab, wie sie sich zum gegebenen Zeitpunkt präsen-tierte28. Nicht zuletzt spielen persönliche Konstitution desPatienten, verbunden mit dessen Motivation zur konstruk-

    tiven Zusammenarbeit, mit eine Rolle für das Gelingen derHeilbehandlung29. All das kann dem Handlungsspielraumdes Arztes Grenzen setzen. Zudem liegt es in der Natur derindividuellen biologischen Grauzone, dass Krankheitensich trotz Behandlung nicht nur bessern, sondern auch ver-schlechtern können, was einem "therapeutischen Wider-stand" gleich kommt. Die Pflichtwidrigkeit ist deshalb nacheinem objektiven Massstab zu bestimmen und die Verlet-zung der ärztlichen Sorgfaltspflicht von den daraus resultie-renden Folgen zu trennen30. Hinzu kommt, dass der Umfang

    22 Unterstützend für die Kommunikationskultur in einem Spitalkann hierbei die systematische Einführung eines Critical In-cident Reporting System (CIRS) sein wie beispielsweise amKantonsspital St. Gallen praktiziert (siehe St. Galler Tagblattvom 25.7.2005) oder wie das Bundesamt für Gesundheitplant, über einen Verordnungserlass zwingend für alle statio-nären Leistungserbringer einzuführen (siehe Basler Zeitungvom 23.6.2005). Schon heute muss man sich deshalb dieFrage stellen, ob das Fehlen eines CIRS in einem Spital nichteine Haftung begründende Verletzung der notwendigen Spi-talorganisation gleich kommt.

    23 MILLENSON (FN 15), 105: "No one should remain unawarethat benefits and adverse risks (of modern medicine) are inse-parable."

    24 TROYEN A. BRENNAN/LUCIAN L. LEAPE/NAN M. LAIRD et al.,Incidence of adverse events and negligence in hospitalizedpatients, Results of the Harvard Medical Practice Study I, in:New England Journal of Medicine 1991, Vol. 324, 370 ff.;LUCIAN L. LEAPE/TROYEN A. BRENNAN/NAN M. LAIRD et al.,The nature of adverse events in hospitalized patients, Resultsof the Harvard Medical Practice Study II, in: New EnglandJournal of Medicine 1991, Vol. 324, 377 ff.; DAVID M. STUD-DERT/MICHELLE M. MELLO/TROYEN A. BRENNAN, MedicalMalpractice, in: New England Journal of Medicine 2004, Vol.350, 283 ff., 285.

    25 LEAPE (FN 24), 380 ff.: "Studies in other areas of humanendeavor, such as generation of nuclear power, shipping, andthe airline industry, confirm that some degree of error is inhe-rent in all human activity. In highly technical, complicatedsystems, even minor errors may have disastrous consequen-ces. Medicine is no exception; errors in the performance ofhighly technical procedures, such as brain or open-heart sur-gery, can also have catastrophic results."

    26 LEAPE (FN 24), 381: "Error is not the same as negligence. Intort law, medical negligence is defined as failure to meet thestandard of practice of an average qualified physician practi-cing in the specialty in question. Negligence occurs not merelywhen there is error, but when the degree of error exceeds anaccepted norm. The presence of error is a necessary but notsufficient condition for the determination of negligence."

    27 BGE 4C.53/2000, E. 1b.28 BGE 120 Ib 411, 413 E. 4a bzw. 415 E. 4c/aa.29 BGE 108 II 59, 62 E. 3: "Le risque de l'acte médical, norma-

    lement supporté par le patient"; RUDOLF RATZEL, Die delikts-rechtliche Haftung für ärztliches Fehlverhalten im Diagnose-bereich, Frankfurt a. M./Bern/New York 1986, 51: "Erfülltder Arzt die notwendigen Anforderungen seines Berufsstan-des, fällt der Schaden unter das allgemeine Lebensrisiko, dasvom Anspruchsteller und nicht vom Arzt zu tragen ist."

    30 BGE 4C.53/2000, E. 1c.

    O f f e n b a r u n g v o n B e h a n d l u n g s f e h l e r nAJP/PJA 4/2006

    411

  • BEHANDLUNGSRISIKO VERSUS BEHANDLUNGSFEHLER

    Heilbehandlung scheitert infolge

    nicht vermeidbarem vermeidbarem

    Behandlungsrisiko Behandlungsfehler

    bedingt durch verursacht durch

    krankheitsimmanente behandlungsimmanente Verletzung ärztlicher

    Faktoren Nebenwirkungen Sorgfaltspflichten

    Fällen regelmässig nur Fahrlässigkeit vorliegen, aber auchdiese Schuldform führt möglicherweise zu Schadenersatz-ansprüchen und zu einer Bestrafung.

    Häufig vermengen sich alle drei Komponenten, d.h.krankheitsimmanente Faktoren, behandlungsimmanenteNebenwirkungen und Verletzung der ärztlichen Sorgfalts-pflicht, in unterschiedlicher Gewichtung. Das hat zur Folge,dass das Beantworten schwer fällt, ob einem schlechtenBehandlungsergebnis nun wirklich ein medizinischer Fehlerzugrunde liegt und – falls dieser vorliegt – wie weit sichdieser überhaupt neben den krankheits- und behandlungs-immanenten Faktoren zusätzlich ausgewirkt hat (Teilkau-salität). Die Einzelkomponenten, die zum Behandlungs-ergebnis geführt haben, sind folglich sorgfältig getrenntvoneinander zu analysieren34.

    31 GAWANDE (FN 8), 183: "We want progress in medicine to beclear and unequivocal, but of course it rarely is. Every newtreatment has gaping unknowns – for both patients and so-ciety – and it can be hard to decide what to do about them."

    32 CHRISTIAN GLATZ, Der Arzt zwischen Aufklärung und Bera-tung, Eine Untersuchung über ärztliche Hinweispflichten inDeutschland und den vereinigten Staaten, Berlin 1998, 250:"Eine Gefahr ist somit typisch, wenn sie behandlungsspezi-fisch ist."

    33 HORST LEITHOFF, Die Problematik der Aufklärung des Patien-ten über ärztliche Fehlbehandlung. Geburtshilfe und Frauen-heilkunde 1978, 38, 247 ff., 248.

    34 BECK (FN 14), 91.

    A n t o i n e R o g g o / D a n i e l S t a f f e l b a c hAJP/PJA 4/2006

    412

    Tabelle 2: Begriffliche Abgrenzung Behandlungsrisiko versus Behandlungsfehler

    an Sorgfaltspflicht sich nicht mit einer allgemein gültigenRegel festlegen lässt. Der Erfahrungsschatz der Schulmedi-zin ist in sich widersprüchlich und damit mehrdeutig31. EineBehandlung kann für beide Seiten zweifelsohne risikoreichsein, d.h. für den Patienten wie auch für den Arzt. Es giltsomit, zwischen dem behandlungsspezifischen Behand-lungsrisiko einerseits und der Haftung begründenden Ver-letzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht (Behandlungsfehler)andererseits zu unterscheiden (vgl. Tab. 2 zusammen mitder Tab. 3).

    Unter einem Behandlungsrisiko32 sind konkret all dieje-nigen krankheitsimmanenten Faktoren sowie behandlungs-immanenten Nebenwirkungen zu verstehen (vgl. Beispielein Abb. 1a und 1b), die für einen bestimmten Patienten bzw.eine konkrete Therapieform eine hiermit verbundene Ge-fahr darstellen und letzten Endes auch bei bestem Bemühennicht immer als vermeidbar gelten dürfen. Dazu äussertsich HORST LEITHOFF dahingehend, dass an dieser Grenzeoft das fassungslose Erschrecken vieler Patienten beginne,wenn trotz der Inanspruchnahme des Arztes der Weg zumgesundheitlichen Glück verfehlt würde33. Als gängige Bei-spiele solcher Risiken sind Thrombosen und Emboliensowie Infektionen und Wundheilungsstörungen/schlechteNarbenbildungen zu nennen. Der Behandlungsfehler, d.h.die Verletzung der gebotenen ärztlichen Sorgfaltspflicht,dagegen ist eine Folge von menschlichem Fehlverhalten(Beispiele nachfolgend in Abb. 2 und 3), d.h. einer nichtausreichend geübten allgemeinen objektiven Sorgfaltspflichtgemäss anerkannter Lehrmeinung, und setzt in aller RegelVerschulden voraus. Mit anderen Worten eine vorwerfbareVerletzung der dem behandelnden Arzt persönlich oblie-genden subjektiven Sorgfaltspflicht. Zwar wird in solchen

  • Abbildung 1a: Weit fortgeschrittener Befall der Leber mit mehre-ren Tumorknoten (Lebermetastasen) = krankheitsimmanenterFaktor

    Abbildung 1b (Symbolbild): Wegen der unmittelbar unter derBauchdecke gelegenen Metastasen (siehe Abb. 1a) resultiertenals Folge der Ultraschall gesteuerten Thermoablation (Radio Fre-quency Induced Thermoablation) Bauchdecken-Nekrosen = be-handlungsimmanente Nebenwirkung

    Patienten sollten allgemein weniger von einer zur Regelgewordenen Erfolgserwartung geleitet werden und solltendemzufolge einerseits nicht bei jedem verwirklichten Be-handlungsrisiko unweigerlich einen Behandlungsfehlerbehaupten35. Andererseits sollten Ärzte sich ihrer mit demBehandlungsauftrag verbundenen Nebenleistungspflichten36

    besser bewusst werden und mit den Patienten kommunizie-ren37 und diese dadurch in die Verantwortung mit einbezie-hen. Die Ärzte sollten der Sachkundedisparität Rechnungtragen und sich deshalb stringenter um eine hinreichendeInformation ihrer Patienten – und damit um eine indirekteSchulung derselben – bemühen38.

    Gemäss RENÉ BECK hätten Untersuchungen ergeben,dass eine Wissensvermittlung im Rahmen der Eingriffsauf-

    klärung dergestalt, dass der unwissende zum wissendenPatient würde, nicht in dem Ausmass stattfände, wie das vonder Rechtsprechung konstituierende Idealbild dies erwartenliesse39. Die Aufgabe des Arztes ist demzufolge ebenso darinzu sehen, dass er seine Beziehung zum Patienten und/oderzu den Angehörigen in seiner Leadership-Funktion transpa-rent gestaltet, so dass auch diese (die Patienten und Ange-hörigen) das Krankheitsgeschehen und die Heilchancen undKrankheitsrisiken besser verstehen (lernen). Dazu gehörtauch, Patienten über für diese relevante Aspekte noch vorBehandlungsbeginn nicht nur in einer verständlichen Artund Weise, sondern auch nachhaltig in Kenntnis zu setzen40.Je höher oder unbekannter die möglichen Risiken einer Be-handlung sind, umso höhere Anforderungen stellen sich andie bilaterale Transparenz und die Kommunikationsfähig-keit des Arztes41.

    III. Behandlungsfehler im eigentlichen Sinne

    A. Ärztliche UnsorgfaltDie Schlechterfüllung einer nicht erfolgsgebundenen Dienst-leistungsobligation wird vom Begriff der Unsorgfalt geprägt,

    35 Die Erfolgshaftung widerspricht – namentlich angesichts derRisiken jeder Krankheit – dem Wesen des ärztlichen Behand-lungsvertrages (vgl. BGE 4C.53/2000, E. 3b). Vgl. auch BGE120 II 248, 250 E. 2c: "Als Beauftragter schuldet der Arztdem Patienten nicht die Wiederherstellung der Gesundheit,sondern lediglich eine darauf ausgerichtete Behandlung nachden Regeln der ärztlichen Kunst."

    36 ROGGO (FN 21), 49: Teil 2, Kapitel 5, Grundlagen, Abb. 2:Heilbehandlung als Auftrag (Art. 394 ff. OR). Vgl. in diesemZusammenhang auch ANTOINE ROGGO/DANIEL STAFFELBACH,Interkantonale Spitalplanung und Kostentragung – Stellenwertder "geschlossenen Spitalliste" im Falle von "medizinischenGründen im weiteren Sinne", AJP/PJA 2006, 267 ff.

    37 Derjenige Arzt, der seinen Patienten (sowie, wo notwendig,auch die Angehörigen) durch ein strukturiertes, offenes Ge-spräch in vollem Umfang ins Vertrauen zieht, zeigt ihm (die-sen) auf, dass er als Arzt Grenzen des menschlich Möglichenunterliegt und kein omnipotenter "Halbgott in Weiss" ist.Eine ärztliche Ethik, die auf der Autonomie des Patientenund auf der Achtung dessen Rechte gründet, löst deshalb dasfrühere praktizierte paternalistische ärztliche Verhalten ab.

    38 So genannter "well-educated patient".39 BECK (FN 14), 96.40 ANTOINE ROGGO, Roadmap – Aufklärung von Patienten. In:

    WALTER FELLMANN/TOMAS POLEDNA (Hrsg.), Die Haftungdes Arztes und des Spitals, Fragen und Entwicklungen imRecht der Arzt- und Spitalhaftung, Forum Gesundheitsrecht/Droit de la santé, Zürich 2003, 73 ff.; sowie ROGGO (FN 21),75 ff.: Teil 3, Kapitel 8, Grundlegende Aspekte.

    41 Vgl. diesbezüglich die bereits zitierten Übersichtsarbeitenvon ROGGO (FN 21) und CONTI (FN 21).

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    413

  • ABGRENZUNG INNERHALB DES BEGRIFFES

    Behandlungsfehler

    im engeren Sinne im weiteren Sinne

    unzureichende Aufklärung Behandlungsfehler im zur Therapiesicherung eigentlichen Sinne:

    bzw. über wirtschaftlich ärztliche relevante Sachverhalte Sorgfaltspflichtverletzung, mangelhafte

    sog. "Kunstfehler" Eingriffsaufklärung

    soweit nicht die Treuepflicht in Frage steht. Im Falle einerSchädigung des Auftraggebers begründet diese Unsorgfaltdementsprechend eine Haftung. Dabei ist unter Berück-sichtigung des Berufsrisikos, des Bildungsgrades und ins-besondere der Fachkenntnisse, welche für eine solche Ge-schäftsbesorgung verlangt werden, nach Art des jeweiligenAuftragsverhältnisses zu differenzieren42. Den besonderenUmständen des Einzelfalles ist grundsätzlich Rechnung zutragen43.

    Welche Anforderung an die Sorgfaltspflicht des jewei-ligen Arztes zu stellen ist, kann sowohl allgemein wie auchim Quervergleich betrachtet ein komplexes Problem dar-stellen44. Entsprechend nehmen in der fachlichen und nicht-fachlichen Öffentlichkeit die Diskussionen zum Themamedizinischer Behandlungsfehler einen immer grösserenRaum ein45. Hierarchische Strukturen von magistral ge-führten Kliniken vereinfachen die Antwort zu notwendigenStandards und gängigen Massnahmen innerhalb dieserkomplexen Systeme keineswegs. Die Antworten führen inaller Regel zu breit gefächerten, wenig ergiebigen und damitoftmals nur für das jeweilige System verbindlichen Infor-mationen46.

    Für die Frage der hier aus Platzgründen nicht ausführ-lich zu diskutierenden47 Beweislastverteilung ist zu beach-ten, dass die Lehre die ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung,d.h. die Behandlungsfehler, in verschiedene Untergruppenklassifiziert. Es wird zwischen einem Behandlungsfehlerim engeren Sinne (hierzu gehört auch der so genannte"Kunstfehler" oder besser Behandlungsfehler im eigentli-chen Sinne) und einem Behandlungsfehler im weiterenSinne unterschieden (vgl. Tab. 3)48. Bei einem Behandlungs-fehler im engeren Sinn (beispielsweise einer unzureichen-den Sicherungsaufklärung oder einem Behandlungsfehlerim eigentlichen Sinne bzw. dem so genannten "Kunst-

    42 Der Arzt hat in seiner Heilbehandlung aus auftragsrechtlicherSicht bislang keinen Erfolg zu garantieren. Zunehmend um-stritten ist diese Auffassung hingegen im Gebiet der plasti-schen Chirurgie, sofern der rein dem persönlichen Komfortdienende Eingriff unmissverständlich der "Schönheitschirur-gie" zuzuordnen sei, also ein freiwilliger Wahleingriff ohnejegliche krankheitsbedingte Voraussetzungen darstelle. In derSchönheitschirurgie solle deshalb das "geschuldete ärztlicheKunstwerk im echten Sinne" konsequenterweise unter dasWerkvertragsrecht fallen (Ähnliches gilt bei der Zahnme-dizin).

    43 Vergleiche BGE 124 III 155, 161 E. 3; 115 II 62, 64 E. 3a.44 MARGARET COPP DAWSON/ANN P. MUNORO/KENNETH J. APPLE-

    BY/SUSAN ANDERSON, Risk Management and Medical Errors,in: ROSENTHAL/SUTCLIFFE (Hrsg.), Medical Error, What DoWe Know? What Do We Do?, San Francisco/CA, USA 2002,149: "A major barrier to successful analysis and improvementin health care, in addition to the massive complexity of healthcare organizations, is the existence of cultural subgroups with-in that complex system. These subgroups often experiencegreat difficulty in communicating with each other. They maynot share a common view of a particular process or problem,let alone a common goal for its improvement or resolution.This barrier may prevent fruitful discussions or truthful risingof issues. This is particularly the case when there is competi-tion (…) ."

    45 BECK (FN 14), 91.46 FRITZ DOLDER, Medizinische Gutachten im Kunstfehlerpro-

    zess, Ablehnung medizinischer Sachverständiger wegen Be-fangenheit, in: SAeZ 2001, 1525 ff., 1527: "In einer klinischenInstitution (z.B. Abteilung eines Spitals) werden erfahrungs-gemäss für bestimmte medizinische Problemstellungen be-stimmte magistrale Lehrmeinungen des Klinikleiters, be-stimmter Hochschullehrer oder Lehrbücher favorisiert, eineentsprechende 'unité de doctrine' gepflegt und andere Ansich-ten negativ beurteilt."

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    Tabelle 3: Abgrenzungen innerhalb des Begriffes "Behandlungsfehler"

  • fehler") obliegt die Beweislast für die objektive Sorgfalts-pflichtverletzung des Arztes beim Patienten. Bei einemBehandlungsfehler im weiteren Sinn (von Interesse dürftedie unzureichende Eingriffsaufklärung49 sein) muss hinge-gen der behandelnde Arzt die zureichende, d.h. rechts-genügliche Aufklärung beweisen und kann sich allenfallsgemäss Art. 97 Abs. 1 OR exkulpieren, "nicht schuldhaftden Vertrag überhaupt oder nicht gehörig erfüllt zu haben"(vgl. auch den Algorithmus in Tab. 1).

    Im Zusammenhang mit der Unsorgfalt bei Ausübung desärztlichen Berufes hat sich der Begriff "Kunstfehler" einge-bürgert50. Diese in der juristischen Terminologie entwickelteUmschreibung eines Fahrlässigkeitstatbestandes findetansonsten keine Parallelen. Der Begriff "Kunstfehler" istwenig sachdienlich, da die ärztliche Tätigkeit als solchenach heutiger Auffassung weitgehend erlernbar ist unddamit nach heutigem Berufsverständnis in aller Regel keineKunst darstellt51. Für die Verletzung ärztlichen Standardsan notwendiger Sorgfalt sollte demzufolge vorzugsweiseder Begriff "Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht oderBehandlungsfehler (im eigentlichen Sinne)" verwendetwerden. Sinnvollerweise sollte überhaupt nur noch von einerärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung (oder Verletzung dernotwendigen ärztlichen Sorgfalt) gesprochen und geschrie-ben werden.

    Für das Vorliegen eines elementaren Fehlverhaltens imSinne des eigentlichen Behandlungsfehlers und unterBerücksichtigung der erkennbaren Umstände des Einzel-falles muss/ müssen in der stets ex ante52 zu erfolgendenBetrachtung folgende generelle Pflichtverletzung(en) imZusammenhang mit der jeweiligen Heilbehandlung fest-gestellt und geltend gemacht werden können (in Tabelle 3hiervor zusammengestellt):

    Erstens, dass zum Behandlungszeitpunkt gegen defi-nierte, ärztlich und allgemein anerkannte Regeln oder Er-kenntnisse der medizinischen Wissenschaft infolge Mangelsan gehöriger Aufmerksamkeit oder Vorsicht zum ordentli-chen, pflichtgetreuen Erreichen eines bestimmten Zweckesin Diagnostik und/oder Therapie konkret pflichtwidrig ver-stossen wurde53.

    Zweitens, dass für den vom Patienten erlittenen Schadenphysischer und/oder psychischer Natur der notwendige

    47 Siehe für weiterführende Informationen die spezifische Fach-literatur: CHRISTIAN CONTI, Die Pflichten des Patienten imBehandlungsvertrag, Bern 2000; ERWIN DEUTSCH, Medizin-recht, 3. A., Berlin/Heidelberg/New York 1997; MONIKA GAT-TIKER, Die Widerrechtlichkeit des ärztlichen Eingriffs nachschweizerischem Zivilrecht, Zürich 1999; HEINRICH HON-SELL, Handbuch des Arztrechts, Zürich 1994; ADOLF LAUFS/WILHELM UHLENBRUCK/HERBERT GENZEL, Handbuch desArztrechts, 3. A., München 2002; PASCAL PAYLLIER, Rechts-probleme der ärztlichen Aufklärung unter besonderer Berück-sichtigung der spitalärztlichen Aufklärung, Zürich 1999;ANTOINE ROGGO, Aufklärung des Patienten, Eine ärztlicheInformationspflicht, Bern 2002.

    48 ANTOINE ROGGO, Stellenwert der Patienten-Information alsproaktives Kommunikationselement, in press., Helbing &Lichtenhahn, Basel 2006; sowie nachzulesen bei ROGGO(FN 21), 56 ff.: Teil 2, Kapitel 6, Exkurs: "Kunstfehler" (Be-handlungsfehler im engeren Sinne).

    49 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass in der Schweizdie Begriffe Eingriffsaufklärung (Aufklärung vor Behandlungs-beginn) einerseits bzw. Sicherungsaufklärung (Sicherstellungdes weiteren, künftigen Therapieverlaufes) andererseits ver-wendet werden. In Deutschland sind hierfür die jeweils syno-nymen Begriffe Selbstbestimmungsaufklärung einerseits bzw.Therapeutische Aufklärung andererseits geläufig.

    50 THOMAS JUEN, Arzthaftungsrecht, Wien 1997, 3: "Der Begriffdes 'Kunstfehlers' hat sich zu einer Zeit entwickelt, in der dieärztliche Tätigkeit noch als 'Heilkunst' aufgefasst wurde.";HEINRICH HONSELL, Einleitung, in: HONSELL (Hrsg.), Hand-buch des Arztrechts, Zürich 1994, 1 ff., 11: "Der berühmtePathologe Rudolf Virchow hat in seiner Abhandlung überKunstfehler der Ärzte schon vor 100 Jahren darauf hingewie-sen, dass nicht jeder Fehler, nicht jeder Irrtum, zu einer Haf-tung führen dürfe: Dass auch die beste medizinische BildungIrrtümer, sowohl in der Erkennung als auch in der Behand-lung der Krankheit nicht ausschliesst. Er hat daher den Kunst-fehler definiert als Verstoss gegen die allgemein anerkanntenRegeln der Heilkunst infolge eines Mangels an gehöriger Auf-merksamkeit oder Vorsicht."

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    Tabelle 4: Definition des Behandlungsfehlers im eigentlichen Sinne (sog. "Kunstfehler")

    BEHANDLUNGSFEHLER IM EIGENTLICHEN SINNEEin Behandlungsfehler (Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht) liegt dann vor, wenn zum Behandlungs-zeitpunkt klar und ohne Rechtfertigungsgrund von anerkannten Grundsätzen der ärztlichen Wissenschaft abge-wichen wurde, mit anderen Worten wenn:

    a) die Möglichkeit unerwünschte(r) Folge(n) objektiv voraussehbar war,

    b)das ärztliche Verhalten nicht im erlaubten Bereich lag,

    c) ein Verhalten, das die unerwünschte Folgen vermeidet und/oder die Risiken auf ein tragbares Mass herab-setzt, objektiv möglich war

    d)und dieses Verhalten zudem subjektiv zumutbar war.

  • 51 ULSENHEIMER (FN 2), 57: "Obwohl die herrschende Lehre… ausdrücklich betont, dass 'Kunstfehler' kein juristischesWerturteil, sondern lediglich die Bezeichnung für einen Sach-verhalt darstellt, also 'der Kunstfehler als objektiver Begriffzu verstehen und scharf von seiner Bewertung als rechts-widrig und schuldhaft im Einzelfall zu trennen' ist, sollte mandiesen umstrittenen Terminus trotz seiner langen Traditionwegen der Gefahr von Missverständnissen ganz aus dem wis-senschaftlichen Sprachgebrauch eliminieren."

    52 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 120 Ib411, 415 E. 4c/aa; BGE 115 Ib 175, 183 E. 3b) beurteilt sichdie Angemessenheit eines ärztlichen Verhaltens oder Ein-griffs bzw. die Sorgfaltspflichtverletzung danach, wie derArzt sich im Zeitpunkt, in dem er sich für eine Massnahmeentschied oder eine solche unterliess, zu verhalten hatte.

    53 BGE 118 IV 130, 133 E. 3; bzw. 116 IV 306, 308 E. 1a: "Sorg-faltswidrig ist eine Handlungsweise dann, wenn der Täterzum Zeitpunkt der Tat aufgrund seiner Kenntnisse und Fähig-keiten die damit bewirkte Gefährdung des Lebens des Opfershätte erkennen können und wenn er zugleich die Grenzendes erlaubten Risikos überschreitet."

    54 BECK (FN 14), 91; ROGGO/STAFFELBACH (FN 36), 268.55 PETER JÄGER/ANGELA SCHWEITER, Der Hindsight Bias (Rück-

    schaufehler) – ein grundsätzliches Problem bei der Beurtei-lung ärztlichen Handelns in Arzthaftpflicht- und Arztstrafpro-zessen, in: SAeZ 2005, 1940 ff.

    56 HONSELL (FN 50), 27.57 Nach der Fehlertheorie des englischen Psychologen JAMES

    REASON ist einerseits zu unterscheiden zwischen Fehlern(errors), d.h. die geplanten Handlungen erreichen das er-wünschte Ziel nicht als Folge a) von regel- oder wissens-basierten Irrtümern (mistakes) wegen ungeeignetem Plan desZielerreichens, b) von Ausrutschern (slips) infolge ungenü-gender Aufmerksamkeit, c) eines Aussetzers (lapses) wegenGedächtnisproblemen; und andererseits Zuwiderhandlungen(violations).

    58 ANDERS/GEHLE (FN 18): "Der Diagnoseirrtum ist dem Arztnur dann als Fehler vorzuwerfen, wenn er eine völlig unvertret-bare Fehlleistung darstellt oder wenn er auf eine Unterlassungelementarer Befunderhebungen beruht bzw. die im Verlaufder Behandlung gebotene Überprüfung einer Arbeitsdiagnosefehlerhaft versäumt wurde." (Mit weiteren Hinweisen.)

    59 ULSENHEIMER (FN 2), 59.

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    Kausalzusammenhang zu der nicht indizierten bzw. vertret-baren und/oder angesichts der zumindest nicht (fachärztlich)lege artis durchgeführten Heilbehandlung gegeben ist.

    B. Primum non nocere bzw. Zumutbarkeitder Erfüllung

    Dass sich ein diagnostisches oder therapeutisches Vorge-hen ungeachtet aller gewalteten Sorgfalt im Nachhinein alsFehler und nicht als Zuwiderhandlung erweist (vgl. Tab.5), gehört zur täglichen Praxis. Dies auch dann, wenn derunzufriedene Patient angesichts seines schlechten Behand-lungsergebnisses vermutet, dass hieran der behandelndeArzt eine Mitschuld trage54. Ein solcher Behandlungsirr-tum (beispielsweise Diagnose- oder Therapieirrtum) stelltin der stets ex ante zu erfolgenden Beurteilung55 in allerRegel keine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht (d.h.eine Pflichtverletzung im Sinne eines Behandlungsfehlersim eigentlichen Sinne) dar, ausser es liege ein fundamen-taler Irrtum vor. Es besteht unzweifelhaft kein Rechtsan-spruch auf eine richtige Diagnosestellung56.

    Der Arzt muss folgerichtig nicht unbedingt sofort dierichtige Diagnose stellen, er muss jedoch einen vertretbaren"richtigen Weg" einschlagen58. Legt der Arzt als Arbeits-diagnose eine Krankheit zugrunde, die differentialdiagno-stisch nach den Ergebnissen der körperlichen und medi-zinisch-technischen Untersuchungen sogar auszuschliessenoder höchst unwahrscheinlich ist oder geht er dem Verdachtauf das Vorliegen einer anderen näher liegenden oder mithöherem gesundheitlichen Risiko behafteten Krankheitnicht nach, so handelt er vorwerfbar fehlerhaft59.

    Hinzu kommt, dass der Arzt unter mehreren medizinischanerkannten alternativen Verfahren dasjenige Heilverfahrenwählen muss, das im Interesse des Patienten und für diesendie geringsten Gefahren mit sich bringt und/oder die we-nigsten Schmerzen bereite, also am zweckmässigsten ist,ansonsten der Arzt einen Therapiefehler begeht.

    Ein Behandlungsfehler im eigentlichen Sinne (mit ande-ren Worten eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht-verletzung, so genannter "Kunstfehler") liegt vor, wenn der

    Tabelle 5: Fehlertheorie in Anlehnung an JAMES RANSON57

    Fehlertheorie nach Ranson

    Fehlleistung Zuwiderhandlung(error) (violation)

    Irrtum/falsche Ausrutscher AussetzerZielvorstellung

    (mistake) (slip) (lapse)

  • Arzt mit seinem Verhalten infolge Unachtsamkeit, Unterlas-sung in der Diagnostik, schlechter Anamnese, mangelhafterBefundaufnahme oder mangels ausreichender Erfahrungein klares Krankheitsbild verkennt bzw. die Krankheit invöllig unvertretbarer Art und Weise oder durch Nichter-heben von elementaren Kontrollbefunden behandelt unddamit die Heilungschancen des Patienten medizinisch be-trachtet fahrlässig und damit unhaltbar beeinträchtigt. Nichtzu vergessen sind auch Risikomängel im organisatorischenBereiche bzw. im Zusammenhang mit dem Ablauf der Pa-tientenbetreuung60. Eine Auflistung von einschlägigen Bei-spielen findet sich in Tabelle 6.

    (Grob)fahrlässige Therapiefehler sind das Zurücklassenvon Bauchtüchern oder Instrumenten anlässlich einer Ope-ration im Brust- bzw. Bauchraum. Entscheidend ist dabeinicht nur, welcher Art der zurückgelassene Gegenstand ist,sondern vor allem, ob der Arzt alle möglichen und ihmzumutbaren Sicherungsvorkehrungen gegen ein solches"Missgeschick" getroffen hat. Die Durchführung medizi-nisch nicht indizierte Massnahmen oder die Unterlassungenmedizinisch indizierter Massnahmen zählen zu den Behand-lungsfehlern. Die in den Abbildungen 2 und 3 (fogendeSeite) dargestellten Therapiefehler dürfen Ärzten schlech-terdings nicht unterlaufen.

    Soweit der Arzt mögliche negative Auswirkungen der Be-handlung erkennen kann, hat er alle notwendigen Vorkehrenzu treffen, um deren Eintritt zu verhindern61. Tritt die nega-tive, voraussehbare Behandlungsauswirkung ein, begründetdies die Vermutung (Beweislastumkehr), dass der Arzt nichtalle gebotenen Vorkehren getroffen hat und somit eine Ver-letzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht vorliegt62. Eine Verzö-gerung des Heilungsprozesses durch ein Unterlassen, wie

    60 BECK (FN 14), 95.61 ROGGO/STAFFELBACH (FN 36), 270; ULSENHEIMER (FN 2), 62.62 BGE 113 II 429, 431 E. 3a: "Welche Anforderungen an die

    Sorgfaltspflicht des Arztes zu stellen sind, wann dieser insbe-sondere als Beauftragter den Vertrag verletzt, sind Rechtsfra-gen. Um solche geht es auch bei der Anwendung von Erfah-rungssätzen, die den Massstab der gehörigen Sorgfalt abgeben;sie haben die Funktion von Normen und werden daher denRechtssätzen gleichgestellt (BGE 111 II 72, 74 E. a: "Waseine Partei, die bei Erfüllung des Vertrages die Gegenparteioder einen Dritten schädigt, bei Vertragsschluss über dieGefahr der Schädigung weiss, ist eine Tatfrage. (…) Tatsäch-licher Natur ist auch die Frage, was eine Partei nach den ge-gebenen Umständen bis zum Eintritt des schädigenden Ereig-nisses wissen oder objektiv erkennen konnte.").

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    Tabelle 6: Beispiele von Verletzungen der ärztlichen Sorgfaltspflicht (Behandlungsfehlern)

    VERLETZUNG DER ÄRZTLICHEN SORGFALTSPFLICHT

    A) Diagnosefehler/Verstoss gegen die Befunderhebungspflicht

    – BGE 108 II 61: Nicht die richtig gestellte Diagnose, sondern der korrekte diagnostische Weg istentscheidend

    – BGE II 519: Zum korrekten Diagnoseverfahren gehört auch, ob der Patient vom Arzt gesehen werdenmuss

    – BGE 108 II 422: Unterlassene/mangelhafte Konsultation der früheren Krankengeschichte

    B) Therapiefehler

    – Falsche Wahl in der Therapie (Verwechseln und/oder falsche Anwendung von Medikamenten)

    – BGE 108 II 422: Unsorgfalt in der Organisation (Koordination, Sicherheit, fehlerhafte Geräte, usw.)

    – BGE 113 II 429: "Schlamperei" beim Therapieeinsatz

    C) Organisationsfehler

    – 4C.229/2000: Arzt/Krankenhausträger hält organisatorische Sorgfaltspflicht nicht ein

    – BGE 112 IB 322: Vorsorge gegen mögliche Selbstschädigung des Patienten treffen (insbesondere inpsychiatrischen Kliniken)

    – Sicherstellung, kein übermüdetes Personal in der Betreuung von Patienten einzusetzen

  • etwa im Falle der Klemme im Bauch (Abb. 3/folgendeSeite), die ohne Wissen des betroffenen Patienten übereinen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg "beobachtet"wurde, ist jedenfalls nicht zu dulden63. Auch nicht unterdem Aspekt oder dem Deckmantel des so genannten the-rapeutischen Privileges64 bzw. mit dem Hinweis, dass sichdie eigentliche Schwierigkeit bei der Aufklärung desPatienten in dessen psychischer Komponente begründenkönnte65.

    Abbildung 2a und b: Auf der unmittelbar postoperativ angefer-tigten Röntgenaufnahme (Abb. 2a) kam ein anfänglich nicht zurKenntnis genommener Fremdkörper im rechten Oberbauch zurDarstellung. Das klinische Bild des Patienten wurde über mehrereTage hinweg unbefriedigender. Bei einem der Folge-Röntgen wurdeeine grössere Röntgenplatte verwendet (Abb. 2b): Die Ursachedes ungünstigen postoperativen Verlaufes war nun klar: fünf grosseim Bauch zurückgelassene, mit Metallstreifen markierte Opera-tionstücher

    Nach dem Vertrauensgrundsatz muss demzufolge gelten,dass die untere Grenze an Sorgfalt konsequenterweise dortanzusetzen ist, was ein durchschnittlicher Patient in einerkonkreten Situation erwarten darf, wenn er sich an einendurchschnittlichen Allgemeinpraktiker wendet bzw. an einenspezifisch aufgesuchten Spezialisten mit durchschnittlichemStandard der entsprechenden Fachdisziplin. Somit mussgelten, dass der Arzt innerhalb seiner "durchschnittlichenBerufsgruppe" seinem Patienten hinsichtlich seiner gesam-ten ärztlichen Tätigkeit/Untätigkeit keinen unnötigen Scha-den zufügen darf66.

    Weiter hat der Arzt ein Übernahmeverschulden zu ver-meiden67. Es gehört zu seiner Sorgfaltspflicht zu erkennen,ob er für die Vornahme einer Untersuchungshandlung, Diag-nosestellung oder Heilbehandlung genügend weiter- undfortgebildet ist und ob er genügend Übung hat68, um diemedizinisch notwendige Massnahme vorzunehmen. Hierbeigenügt die Tatsache nicht, dass ein Arzt einen Facharzttitelhat, um im gesamten Fachgebiet seiner Spezialität genügendfachkundig im rechtlichen Sinne zu sein. Die Fachkundemuss jeweils für die spezifische vorgenommene Massnahmeausgewiesen sein und die spezifische, medizinische Mass-nahme auch beherrscht werden69.

    63 Plädoyer 1995/4, 75 ff., Entscheid des KassationsgerichtesKt. ZH vom 20.3.1995: E. 4.2: "Ursache des heutigen Zustan-des des Klägers kann nur eine Unterlassung sein, was demKläger offenbar auch bewusst ist, spricht er doch von einerVerletzung der Garantenpflicht beziehungsweise davon, dieärztliche Fehlleistung bestehe nicht in einem positiven Tun,sondern in einer Unterlassung." E. 4.4: "Im Ergebnis erweistsich die Rechtsauffassung des Klägers insoweit als zutreffend,als bei Unterlassung die Verletzung einer Verhaltensnorm(…) zur Folge haben kann, dass die Unterlassung von derRechtsordnung als Ursache betrachtet wird, obwohl sie diesstreng naturwissenschaftlich gesehen gar nicht sein kann."

    64 ROGGO (FN 21), 220 ff.: Teil 5, Kapitel 18, Vorrang der The-rapie: Das "Therapeutische Privileg" (mit weiteren Angaben);ULSENHEIMER (FN 2), 111 ff.

    65 DEUTSCH (FN 19), 464.66 BGE 64 II 200, 207 E. 4b: " … an den praktischen Arzt, ins-

    besondere an den stark beschäftigten Landarzt werden hin-sichtlich der Weiterbildung nicht die gleichen Anforderungengestellt werden dürfen, wie an den Spezialisten, von dem zuerwarten ist, dass er sein mehr oder weniger eng begrenztesGebiet überblicke."

    67 HONSELL (FN 50), 28 (mit weiteren Hinweisen).68 So genannter "case load".69 HANSIS/HANSIS (FN 15), 40: "Ein Patient, welcher sich zu

    einem Arzt in Behandlung begibt, muss darauf vertrauen kön-nen, dass dieser die Behandlung nur beginnt, wenn er undseine Einrichtung die Therapie voraussichtlich adäquat durch-führen können. Ein Arzt, welcher diesen Grundsatz missach-tet, zieht sich den Vorwurf des Übernahmeverschuldens zu.";vgl. auch WIEGAND WOLFGANG, in HONSELL (Hrsg.), Hand-buch des Arztrechts, Zürich 1994, 28 (mit weiteren Hinwei-sen).

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  • Abbildung 3a und b: Über mehrere Jahre hinweg wurde auf diver-sen Röntgenbildern des Thorax (Abb. 3a, Spitze der Klemme) die"vergessene", anfänglich noch intakte Klemme als "Fremdkörperim linken Oberbauch" beschrieben (Abb. 3b, Übersichtsaufnahmedes Abdomens, kurz vor dem Ableben des Patienten infolge einesanderen Gesundheitsschadens).

    IV. Aufklärung über Behandlungsfehle/Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht

    A. Naturrecht des Selbstschutzes oder Anspruch auf Offenbarung?

    Die Auseinandersetzung mit dem Anliegen um Offenba-rung eigener Irrtümer, vermeintlicher Behandlungsfehleroder echter Behandlungsfehler ist offensichtlich schwierig,aber immerhin bis zu einem gewissen Grad nachvollzieh-bar. Unverständlich und unverzeihlich werden diese Schwie-rigkeiten beim Umgang mit möglichen Fehlleistungen Drit-ter. Vieles wird entgegen der Erwartungen der Patienten,entgegen dem besonderen Vertrauen im Arzt-Patienten-Ver-hältnis und entgegen dem Interesse des zu behandelndenPatienten bedauerlicherweise "tot geschwiegen". DiesesVerschweigen erfolgt auf Seiten der Ärzte in der Annahmeeines Selbstschutzes und einer immer noch durchgesetztenDisziplin sowie falsch verstandenen Loyalität im und zum"Corps Medical". Und dies ungeachtet dessen, dass die Qua-lität der Heilbehandlung als anerkannt komplexes Dienst-leistungsgut vom Patienten in dessen Laienfunktion – wennüberhaupt möglich – mehrheitlich nur äusserst beschränktbeurteilt werden kann.

    Die Allgemeinheit bezeichnet das Verheimlichen vonBehandlungsfehlern oft wohl zu Recht als "Verschwörungdes Schweigens", gleichgültig wie gefährdend das Ver-halten des Arztes oder des Ärzteteams auch gewesen seinmag70. Die Autoren sind sich aber einig, dass das Nicht-Handeln bzw. das Nicht-Kommunizieren keine denkbarealternative Handlungsoption eines Arztes sein darf. DieEinsicht und das Zugeständnis, dass Menschen und selbsthoch entwickelte Expertensysteme Fehler machen können,müsste eigentlich die Basis für die Diskussion dieser Fehlersein. Wenn Fehler erkannt und transparent kommuniziertwerden, dienen sie als wertvolle Lernquellen zur Erhöhungder Sicherheit71. Die Autoren plädieren dafür, dass in dermodernen Medizin von einem berechtigten Anspruch desPatienten an "Total Quality" nicht abgewichen wird.

    70 Als Schlagwort ist der Begriff "Behandlungsfehler" bestimmteinfacher zu verwenden, als er letzten Endes in seinem kon-kreten Ausmass/Umfang immer konkret zu qualifizieren undzu quantifizieren ist, d.h. ob nun ein Abweichen eines Ist-Zustandes bei einem Patienten vom anvisierten und ge-wünschten Soll-Zustand tatsächlich auch Grundlage einesrechtlich relevanten Behandlungsfehlers im Sinne einer ärzt-lichen Sorgfaltspflichtverletzung ist.

    71 GEORG ERNST STAHL (1660 – 1734), Leibarzt Kaiser Fried-rich Wilhelms I.: "Es ist kein Fehler, einen Fehler einmal zubegehen, aber es ist unärztlich, den eigenen Fehler nicht ein-zugestehen oder erkennen zu wollen, um daraus für späterdie notwendigen Konsequenzen zu ziehen."

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  • Dieser ethisch begründete Anspruch wird aber durch diebestehende Rechtslage systematisch unterwandert, indemder transparent kommunizierende Arzt nicht belohnt, son-dern bestraft wird. Der psychologischen und rechtlichenStigmatisierung (bspw. mittels Bedrohung durch Strafver-fahren) von (allfällig) fehlerbehafteten medizinischen Hand-lungen muss sowohl organisatorisch wie auch rechtlichVorschub geleistet werden. Ebenso muss vom überhöhtenBild des "unfehlbaren Arztes" Abschied genommen werden72.Nur so können Fehler thematisiert und letztlich Risiken er-kannt und vermieden werden73. Zu diesem anzustrebendenVerhaltenskomplex gehört zwingend, dass der betroffenePatient nicht nur über die eigenen, sondern auch über dieallfälligen Fehler Dritter transparent orientiert wird.

    Die Frage, über was der Arzt seinen Patienten zu orien-tieren hat, beschränkt sich aus Sicht der Autoren deshalbnicht nur auf tatsächliche Behandlungsfehler im rechtlichenSinne (somit reine Sorgfaltspflichtverletzungen), sondernauf jede medizinisch relevante Abweichung des Ist-Zustan-des vom Soll-Zustandes.

    B. Deutsche Lehrmeinungen zur Offenbarung von Behandlungsfehlern

    Rechtsvergleichend sei kurz die deutsche Lehrauffassungdargestellt, zumal sich unsere Nachbarn bereits seit längererZeit mit der Problematik der Offenbarung von Behandlungs-fehlern auseinandersetzen. Strenger Auffassung zur Thema-tik im Umgang mit eigenen Behandlungsfehlern sind diebeiden deutschen Autoren FRANCKE und HART74. Im Falleeines begründeten Verdachts oder der zweifelsfreien Kennt-nis einer unterlaufenen eigenen Verletzung der ärztlichenSorgfaltspflicht solle der in Deutschland behandelnde Arztden Patienten spontan aufklären. Diese Aufklärungsver-pflichtung stelle eine vertragliche Nebenpflicht des Arztesdar. Die zitierten Autoren begründen dies damit, dass denArzt insoweit ähnliche Pflichten wie Angehörige sonstigerfreier Berufe (etwa Rechtsanwälte, Steuerberater, Architek-ten) treffen würden. Der Aufklärungsanspruch könne aus-nahmsweise dann entfallen, wenn sich der Patient wegender möglicherweise fehlerhaften Behandlung vertraglichvon einem anderen Arzt beraten und behandeln lasse.

    Analoge dogmatische Ansätze finden sich auch bei zweianderen deutschen Autoren, bei TERBILLE/SCHMITZ-HER-SCHEIDT75. Diese beiden Verfasser sehen ebenfalls keinenhinreichenden Grund für die Ungleichbehandlung von be-gangenen Fehlern im Rahmen von auftragsrechtlichen Auf-gaben zwischen Rechtsanwälten, Steuerberatern und Ar-chitekten einerseits sowie Behandlungsfehlern bei Ärztenandererseits76. Der Arzt verfüge nicht nur in fachlicher, son-dern auch in tatsächlicher Hinsicht über weitergehendereKenntnisse als der Patient, da dieser den Behandlungsablaufhäufig nicht wahrnehmen könne (z.B. Operation in Vollnar-kose). Die Interessenlage, welche die deutsche Rechtspre-chung eine Fehleroffenbarungspflicht für Rechtsanwälteund Steuerberater entnehmen lasse, sei daher beim Arztver-trag noch ausgeprägter vorhanden. Es treffe den Arzt aber

    auch eine Fehleroffenbarungspflicht, die sich dogmatischaus seiner wirtschaftlichen Aufklärungspflicht und der all-gemeinen Leistungstreuepflicht herleiten lasse. Nach unter-stützender Auffassung von MICHAEL KLEUSER soll in diesemZusammenhang ein vorausgegangener Behandlungsfehlerzudem eine Risikoerhöhung für alle dem Fehler zeitlichnachfolgenden Behandlungen begründen, weswegen derPatient hierüber erweiternd aufzuklären sei77. TERBILLE/SCHMITZ-HERSCHEIDT verweisen in ihrem Aufsatz zudemdarauf, dass das "nemo tenetur Privileg" sich nicht selbstbelasten zu müssen, nur für das Strafverfahren Geltunghabe, was eine unreflektierte Übertragung in das Zivilrechtausschliesse78.

    72 DEREK VAN AMERONGEN, Error Management and PatientSafety, A Managed Care Competency, in: ROSENTHAL/SUT-CLIFFE (Hrsg.), Medical Error, What Do We Know? What DoWe Do?, San Francisco/CA, USA 2002, 132: "The tidal waveof interest in reducing medical errors has yet crest."

    73 MARC-ANTON HOCHREUTENER/DIETER CONEN, Was bedeutenRisiken im Gesundheitswesen?, in: HOLZER/THOMECZEK/HAUKE/CONEN/HOCHREUTENER (Hrsg.), Patientensicherheit,Leitfaden im Umgang mit Risiken im Gesundheitswesen,Wien 2005, 22: "Früher war das Risiko bzw. die Sicherheitdes Patienten stark durch die Krankheit bestimmt und hattedamit weitgehend schicksalhaften Charakter. Heute generiertdie Medizin selbst neue Risiken, indem sie organisatorischund technisch anspruchsvollere und wirksamere Behand-lungsmöglichkeiten einsetzen kann. Deren positiven Folgensind eindrücklich, im Falle von Fehlern verursachen sie abererhebliche menschliche und finanzielle Kosten."

    74 DIETER HART in: FRANCKE/HART, Ärztliche Verantwortungund Patienteninformation, Stuttgart 1987, 53 ff.

    75 MICHAEL TERBILL/STEPHAN SCHMITZ-HERSCHEIDT, Zur Offen-barungspflicht bei ärztlichen Behandlungsfehlern, in: NJW2000, 1749 ff.

    76 TERBILLE/SCHMITZ-HERSCHEIDT (FN 75), 1752: "Nicht andersals jene vermag nämlich auch ein Arzt auf Grund seines über-legenen Fachwissens das eigene Fehlverhalten und die darauserwachsende Schadensersatzpflicht leicht zu erkennen, wäh-rend der fachunkundige Patient diese Erkenntnis nur schwerzu gewinnen vermag. Dieser Wissensvorsprung ist im Verhält-nis zwischen Arzt und Patient in der Regel sogar stärker aus-geprägt als bei den übrigen hier diskutierten Berufsgruppen."

    77 MICHAEL KLEUSER, Die Fehleroffenbarungspflicht des Arztesunter besonderer Berücksichtigung der versicherungsrechtli-chen Obliegenheiten nach einem Behandlungszwischenfall,Karlsruhe 1995, 207.

    78 TERBILLE/SCHMITZ-HERSCHEIDT (FN 75), 1751; DIESELBEN,1752: "Im Schrifttum wird zu Recht die Auffassung vertreten,dass der Arzt jedenfalls nicht lügen darf, wenn der Patientihn konkret nach einem Behandlungsfehler fragt. Ein Rechtdes Arztes, zu lügen, wäre mit dem Wesen des Behandlungs-vertrages, der in besonderer Weise durch das Vertrauen desPatienten gegenüber dem Arzt geprägt wird, nicht zu verein-baren. Fraglich ist jedoch, ob der Arzt auf die konkrete Fragedes Patienten nach einem Behandlungsfehler schweigen darfoder ob er zur wahrheitsgemässen Beantwortung der Frageverpflichtet ist."

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  • Eine gegenteilige Auffassung zu FRANCKE/HART bzw. TER-BILLE/SCHMITZ-HERSCHEIDT sowie KLEUSER vertritt ADOLFLAUFS. Dieser Autor führt aus, dass den Arzt grundsätzlichkeine ähnlichen, parallelen Pflichten wie den Rechtsanwalttreffen. Einer Pflicht des Arztes zur Aufklärung über eige-ne Fehler stehe zudem der allgemeine Rechtsgrundsatz ent-gegen, wonach niemandem die Pflicht obliege, sich durchSelbstanzeige Schadensersatzansprüchen oder Strafverfol-gungsmassnahmen auszusetzen. Von dem genannten Grund-satz gebe es jedoch eine Ausnahme. Aus der Pflicht des Arz-tes zur Schadensminderung könne sich im Einzelfall eineVerpflichtung des Arztes ergeben, den Patienten über Be-handlungsfehler und hieraus resultierende schädliche Folgenzu informieren79. Nach der von CHRISTIAN GLATZ vertretenenMeinung80 gelte es vordergründig nicht, eine Strafsanktionheraufzubeschwören, sondern den aktuell verschlechtertenGesundheitszustand ohne weitere Folgen für den Patientenzu verbessern. Der Behandlungszwischenfall sei oft nichtim Sinne des schuldhaften Verhaltens des Arztes vorwerf-bar. Ein ungerechtfertigtes Verschweigen könnte hingegenzivil- wie auch strafrechtliche Folgen haben. Daher müssedie Aufklärung über Behandlungsfehler im eigenen Inte-resse des Arztes liegen. Eine Pflicht, den Patienten auf be-stehende Schadenersatzansprüche gegen den behandelndenArzt hinzuweisen, sei hingegen nicht anzuerkennen.

    C. Grundsatzfragen zum schweizerischenAuftragsrecht

    Wie muss sich ein Arzt aus auftragsrechtlicher Sicht metho-disch korrekt verhalten, wenn eine möglicherweise selbst-verschuldete oder durch einen Dritten verschuldete Verlet-zung einer ärztlichen Sorgfaltspflicht vorliegt? Was darfaus rechtlicher Sicht der betroffene Patient von seinem Arzterwarten? Diese Fragen ergeben sich unweigerlich dann,wenn es darum geht, den vermutlich durch Selbst- oderDrittverschulden entstandenen Gesundheitsschaden zuoffenbaren oder korrigierende Schritte zur Vermeidungweiteren Schadens einzuleiten81.

    Bei einer ausschliesslich selbstverschuldeten Sorgfalts-pflichtverletzung steht der Arzt im Konflikt mit seinen urei-genen Interessen. Einerseits gilt es, ein nachteiliges Strafver-fahren – aber auch eine zivilrechtliche, Image schädigendeHaftungsforderung – zu vermeiden, und andererseits stehtdie auftragsrechtliche Verpflichtung der Treue- und Sorg-faltspflicht im Raum, d.h. den Patienten während der Ver-tragslaufzeit zur Sicherung des Auftragszweckes transpa-rent zu informieren, "zu benachrichtigen" (vgl. Tab. 7). Mitanderen Worten stellt sich für den Arzt die entscheidendeFrage, ob er nach Eintritt einer von ihm verschuldeten undfür den Patienten mit nachteiligen Konsequenzen einherge-henden Sorgfaltsverpflichtung bzw. eines Zwischenfalles82 /kritischen Ereignisses ("Critical Incident")83 diesen hierüberzwingend informieren muss oder nur informieren kann, ober sich mit Blick auf eine allfällig aufkeimende Strafverfol-gung schützen soll oder darf84?

    Im Falle einer durch einen Dritten herbeigeführten Verlet-zung der ärztlichen Sorgfaltspflicht steht der mitbetreuendeoder neu in die Behandlung eintretende Arzt zudem imKonflikt zwischen seiner standespolitisch bedingten Loya-lität zum Berufskollegen einerseits und der aus Vertrag oderGesetz – und damit den auftragsrechtlichen Vorgaben ge-recht werdend – abzuleitenden Loyalität zu seinem Patien-ten andererseits.

    Analoge Fragen über die Offenbarung von Verletzungenauftragsrechtlicher Sorgfaltspflichten – wie diejenige dieArzt-Patient-Beziehung betreffend – kennen wir bereits imZusammenhang mit anderen Auftragsverhältnissen: demArchitektenvertrag oder der Rechtsberatung durch einenRechtsanwalt. Beim Architektenvertrag vertritt RAINERSCHUMACHER beispielsweise zum Thema "Offenbarung vonFehlverhalten des Architekten" die Auffassung, dass derArchitekt, sofern er Baumängel feststelle, die er selbst zuvertreten habe, diese Baumängel dem Bauherren mitzutei-len habe. Das solle dem Bauherren ermöglichen, Haftungs-ansprüche geltend zu machen – d.h. auch gegen den Archi-tekten, mit anderen Worten gegen sich selbst. Die Pflichtdes Architekten zur "Selbstanzeige" lasse sich mit der allge-meinen Treue- und Sorgfaltspflicht nach Art. 398 Abs. 2

    79 ADOLF LAUFS, Grundlagen des Arztrechts, in: LAUFS/UHLEN-BRUCK (Hrsg.) Handbuch des Arztrechts, 2. A., München1999, 484.

    80 Vgl. GLATZ (FN 32), 365.81 ULRICH ZOLLINGER/THOMAS PLATTNER, Sicherer oder mög-

    licher letaler Behandlungsfehler: Was ist danach zu tun?, in:Praxis 2005, 1023: "Das Eingestehen von Fehlern und dasLernen aus Fehlern gehören auch zum worst-case-Manage-ment. Werden die selbstkritischen Fragen nicht gestellt, sobesteht das Risiko, dass andere, beispielsweise die Angehöri-gen, Personen aus dem Pflegebereich oder die Medien diekonkrete Situation hinterfragen und die behandelnden Ärztein eine unkomfortable Defensivrolle drängen oder ihnen garVertuschung vorwerfen."

    82 MARK KAUFMANN/SVEN STAENDER/GEORG VON BELOW/HANS-HEINRICH BRUNNER/LUCIEN PORTNEIER/DANIEL SCHEIDEGGER,Computerbasiertes anonymes Critical Incident Reporting:ein Beitrag zur Patientensicherheit, in: SAeZ 2002, 2554 ff.;HANSPETER KUHN, "Congress should pass legislation to extendprotections (…)" "Critical Incident Reporting" und Recht,in: SAeZ 2001, 1394 ff.

    83 Im Zusammenhang mit der medizinischen Heilbehandlunggilt jedes ungewollte bzw. unerwartet aufgetretene Ereignisbzw. Ergebnis, das ohne oder trotz einer Intervention zueinem unerwünschten Ausgang, d.h. zu einer physischen oderpsychischen (beinahe) Beeinträchtigung des Patienten geführthat oder hätte führen können, als so genannte "critical inci-dent". Mit anderen Worten als negativer Zwischenfall, wennes den Patienten negativ beeinflusst hat bzw. hätte beeinflus-sen können, auch wenn der Schaden im Sinne des Beinahe-zwischenfalls noch gerade abgewendet werden konnte.

    84 GABRIELE GUBERNATIS, Zur Offenbarungspflicht bei ärztlicherFehlbehandlung, in: JZ 1982, 363 ff., 364; TAUPITZ (FN 12),718.

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  • OR begründen85. Hierbei geht SCHUMACHER sogar so weit,dass absichtliches Tarnen der Vertragsverletzung einen Straf-tatbestand erfüllen könnte.

    Auch WALTER FELLMANN vertritt die Meinung, dass an-gesichts der umfassenden Treuepflicht des Beauftragten,dieser dem Auftraggeber zur objektiven Klärung von Män-gelursachen oder Sorgfaltpflichtverletzungen Hand bietenmüsse86. Es werde in diesem Zusammenhang zu Recht fest-gestellt, dass die fortschreitende Spezialisierung dem Auf-traggeber das Aufdecken von Verletzungen der Sorgfalts-pflicht seitens des Beauftragten vielfach erschwere, wennnicht unmöglich mache. Nicht zuletzt wegen diesen Schwie-rigkeiten sei es gerechtfertigt, die Aufklärungspflicht imFalle der Schädigung des Auftraggebers weit zu fassen.Die "Unzukömmlichkeiten", die dem Beauftragten damiterwachsen würden, würden im Wesentlichen durch die Ver-sicherbarkeit dieser Risiken gemildert, was namentlich risi-koreiche Berufsgruppen tun würden.

    Die tatsächlichen Verhältnisse in der Arzt-Patient-Bezie-hung betreffend ist – wie in Tabelle 8 dargestellt – zwischenspontaner und nicht spontaner Offenbarung von eigenem(künftigem87) Fehlverhalten einerseits und dem bestehendenFehlverhalten Dritter andererseits zu differenzieren. Es giltaber auch, einen den Patienten allfällig negativ beeinflus-senden "Critical Incident" von einer echten Sorgfaltspflicht-verletzung abzugrenzen88.

    Aus Sicht der Autoren besteht – nebst der bereits aner-kanntermassen spontan zu erfüllenden Aufklärungspflicht– eine zu Recht zu gewährleistende spontane, proaktiveBenachrichtigungspflicht gemäss Art. 398 OR, dies imRahmen der vertraglichen Verpflichtung und in Anlehnungan die bundesgerichtliche Rechtsprechung89. Die – ohneVerlangen des Auftraggebers nachzukommende – Benach-richtigungspflicht ist ein wesentliches Element der Treue

    85 RAINER SCHUMACHER, Die Haftung des Architekten aus Ver-trag, in: PETER GAUCH/PIERRE TERCIER (Hrsg.), Das Architek-tenrecht, 3. A., Freiburg 1995, Rz 523 ff.

    86 WALTER FELLMANN, Berner Kommentar zum Schweizeri-schen Privatrecht, Band VI, 2. Abteilung, 4. Teilband, Dereinfache Auftrag, Bern 1992, Art. 398 Rz 169: "Umstrittenist, ob der Beauftragte seinen Auftraggeber auch über dasBestehen von Schadenersatzansprüchen wegen Schlechter-füllung des Auftrages gegen sich selber aufklären muss."DERSELBE führt im Zusammenhang mit der deutschen Recht-sprechung zum Architekten bzw. Rechtsanwalt in Art. 398RZ 169 befürwortend aus: "Ausschlaggebend war dabei dierichtige Überlegung, das Interesse des Beauftragten, sicheigener Haftung möglichst zu entziehen, vermöge das Unter-lassen zutreffender Unterrichtung nicht zu rechtfertigen. Dieerforderliche umfassende und erschöpfende Beratung desAuftraggebers schliesse viel mehr in sich, diesen auch aufallfälliges Mitverschulden des Beauftragten bei der Schaden-entstehung hinzuweisen." DERSELBE, Art. 398 Rz 170: "Ange-sichts der umfassenden Treuepflicht des Beauftragten müssendiese Grundsätze (aus Art. 398 Rz 169) auch im schweizeri-schen Recht Anwendung finden." (Mit weiteren Hinweisen.)

    87 Nach gängiger Meinung braucht der Arzt über die Gefahren,die infolge allfälliger Sorgfaltspflichtverletzung im Rahmenkünftiger Eingriffe entstehen könnten, bei Anbahnung einerVertragsbeziehung nicht aufzuklären. Insofern schützt denPatienten die Pflicht des Arztes, dass dieser fehlerfrei zu be-handeln hat. Nach TAUPITZ (FN 12), 717 mag es aber wieder-um gänzlich anders sein, wenn ein allfälliges Fehlverhaltenein Glied in einer Kette gleichartiger Vorfälle darstellt, woraussich eine generelle Unfähigkeit des Arztes zur ordnungs-gemässen Behandlung des entsprechenden Zustandes oderzumindest ein signifikant übernormal grosses Risiko für denPatient ableiten liesse, über das gegebenenfalls zu informie-ren wäre.

    88 TAUPITZ (FN 2), 682 ff.; GLATZ (FN 32), 364 ff.

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    Tabelle 7: Informationspflichten im Auftragsrecht gemäss Art. 394 ff. OR

    Informationspflichten im Auftragsrecht

    Art. 398 OR Art. 400 Abs. 1 OR

    proaktive, spontane Schutzpflicht reaktive Information, auf Verlangen

    (Grundsatz von Treu und Glauben) (Begehren seitens des Auftraggebers)

    Aufklärung Benachrichtigung Rechenschaft Auskunft

    Verpflichtung bei Beauftragter ist gehalten, Erteilung sämtlicher Informations-Umfangder Anbahnung einer Information während der geforderter Einzelauskünfte und Inhalt werden

    Vertragsbeziehung, ein Vertragslaufzeit zu erteilen, über wesentliche Vorgänge, nach Massgabe desallfälliges Wissensgefälle dies zur Sicherung des einschliesslich Erläuterung Auftraggebersnachhaltig zu bereinigen. Auftragzweckes. ihrer Bedeutung. erteilt.

  • und Sorgfaltspflicht für alle Beauftragte und muss konse-quenterweise auch in der Arzt-Patient-Beziehung umgesetztwerden. Weder aus dem geltenden Recht, noch der einschlä-gigen Rechtsprechung lässt sich ein prinzipieller Unter-schied bezüglich Benachrichtigungspflicht zur Sicherungdes Vertragszweckes zwischen den einzelnen Berufsgruppenherleiten. Zudem ist unstrittig, dass der Beauftragte denAuftraggeber kraft seiner Stellung, die ihm besonderenEinblick in die Verhältnisse bietet, wahrheitsgetreu Aus-kunft geben muss. Er darf "weder wider besseres Wissenunrichtige positive Angaben machen, noch eine erkennbarerweise wichtige Information verschweigen"90.

    Die Rechenschafts- oder Auskunftspflicht nach Art. 400Abs. 1 OR stellt demgegenüber ein Antworten auf (kon-

    krete) Fragen des Auftraggebers dar und ist in Überein-stimmung mit FELLMANN nur auf eine aktive Interventionseitens des Auftraggebers hin geschuldet. Diese reaktivenInformationspflichten (vgl. Tab. 7) müssen demzufolge vonder spontanen Aufklärungs- und Benachrichtigungspflichtals proaktive Umsetzung der allgemeinen Treuepflichtunterschieden werden. Auf die Arzt-Patient-Beziehung

    89 BGE 110 II 360; 108 II 197; 93 II 311; BK FELLMANN(FN 86), Art. 400 Rz 39.

    90 BGE 57 II 86; BK FELLMANN (FN 86), Art. 398 Rz 166.

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    Tabelle 8: Stufen der ärztlichen "Fehleraufklärung"

    STUFEN DER ÄRZTLICHEN "FEHLERAUFKLÄRUNG"

    A) Verletzung der eigenen ärztlichen Sorgfaltspflicht

    1.) Spontan geschuldete bzw. erwartete Beurteilung der Gegenwart (Art. 398 OR):Eingriffsaufklärung, um das Recht auf Selbstbestimmung vor Behandlungsbeginn zu ermöglichen(Risiken aufzeigen!)

    – Keine, Pflicht über Gefahren im Zusammenhang mit möglichen künftigen eigenen (fahrlässigen)Behandlungsfehler aufzuklären

    – Informationspflicht über mögliche kritische Zwischenfälle ("Critical Incidents") als behandlungs-immanentes Risiko, das den Patienten negativ beeinflussen könnte

    Benachrichtigung des Patienten durch den Arzt über eine unterlaufene Verletzung der Sorgfaltspflichtim Interesse des Vertragszweckes während der Behandlung

    2.) Auf Begehren hin geschuldete Bewertung der Vergangenheit (Art. 400 Abs. 1 OR):Rechenschaftsablegung als nur auf konkretes Verlangen zu erteilende Auskunft über die bisherigeGeschäftsführung

    – Auf konkrete Nachfrage hin umfassend über abgeschlossene oder begonnene eigene schädigendeVorgänge wertneutral informieren

    3.) Allfällig spontan geschuldeter Blick in die Zukunft (Art. 398 OR):Erneute Eingriffsaufklärung, damit vor Fortsetzung einer Weiterbehandlung das Recht auf Selbst-bestimmung erneut ermöglicht wird

    – Über bestehendes eigenes Fehlverhalten ist insofern spontan und wertneutral zu informieren, alseine neu einwilligungsbedürftige (Weiter-)Behandlung ansteht

    B) Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht durch Dritte

    1.) Spontan geschuldeter Blick in die Zukunft:

    Sicherungsaufklärung zur zukunftsbezogenen Gefahrenabwendung

    – Über fremdes Fehlverhalten ist, soweit förderlich, im Rahmen der Therapieberatung und ungeachtetkollegialer Standesinteressen wertneutral zu informieren

  • übertragen heisst dies unter anderem eine reaktive vergan-genheitsbezogene spezifische Wertung über einen Ist- imVergleich zu einem Sollens-Zustand. Im Zusammenhangmit Art. 400 Abs. 1 OR besteht für den Beauftragten dennauch eine klare Verpflichtung zum (wertneutralen) Infor-mieren, folglich auch über die Möglichkeit einer bestehen-den Sorgfaltspflichtverletzung. Diese Pflicht zur Rechen-schaft/Auskunft kann nicht damit ausgeschlossen werden,dass sich der Beauftragte Schadenersatzansprüchen odergar einer strafbaren Handlung aussetzen müsste91.

    Gemäss FELLMANN ist allerdings die Unterscheidungzwischen Art. 398 OR und Art. 400 Abs. 1 OR insofernvon geringer Bedeutung92, als der Inhalt der Aufklärungs-und Benachrichtigungspflicht einerseits und der Rechen-schafts- bzw. Auskunftspflicht andererseits sich nicht grund-sätzlich voneinander unterscheiden würden, zumal wechsel-seitige Überschneidungen möglich seien. So würden sichdie Aufklärungspflicht93 gemäss Art. 398 OR und die Rechen-schaftspflicht94 gemäss Art. 400 Abs. 1 OR in der Regel aufden Stand des Geschehens in seinem Zusammenhang alsGanzes erstrecken, während die Benachrichtigungspflicht95

    gemäss Art. 398 OR und die Auskunftspflicht96 gemäss Art.400 Abs. 1 OR mehr die jeweiligen Einzelinformationenzum Inhalt habe.

    D. Schweizer Lehrmeinungen zur Offenbarung der eigenen ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung

    JOCHEN TAUPITZ hebt in seinem Referat zum Thema "DiePflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlver-haltens nach schweizerischem Obligationenrecht" hervor,dass im Zusammenhang mit eigenen Behandlungsfehlernwohl jeder einmal vor der Frage stehe, ob der eigene Fehlersofort und ungefragt einzugestehen sei oder sogar einge-standen werden müsse; und dass diese Frage zwiespältigeGefühle wecke97. Anderseits denke man beim Fehlen einervom Recht sanktionierten Pflicht zur ungefragten Offenba-rung eigenen Fehlverhaltens an den Satz "Nemo tenetur seipsum accusare". Mit anderen Worten an den Grundsatz,dass niemand verpflichtet sei, einen eigenen Beitrag zu sei-ner Belastung/Selbstbezichtigung zu leisten98. Insbesonderebesteht in diesem Kontext noch kein den Arzt wirksamschützendes strafprozessuales Verwertungsverbot, das alsflankierende Massnahme im Falle einer Information übereigene, nicht grobfahrlässig verursachte Behandlungsfehlerhilfreich sein könnte99, was auch aus Sicht der Autoren be-dauerlich ist. Der Arzt wäre in Übereinstimmung mit BE-VERLY JONES im Eingestehen von medizinischen Fehlleis-tungen oder Verletzungen der medizinischen Sorgfaltspflichtsicherlich freier, wenn er nicht in jedem Falle sogleich einezivil- und strafrechtliche Sanktionierung befürchten müss-te100. Unser Strafgesetzbuch kennt mit Art. 305 StGB nurden Tatbestand der Fremdbegünstigung101.

    Analog zu Deutschland102 besteht in der Schweiz weitge-hend Einigkeit darüber, dass es für den behandelnden Arzt– dies entgegen den hiervor aufgezeigten Überlegungen zur

    Benachrichtigungspflicht gemäss Art. 398 OR – weiterhinkeine pauschale Pflicht gibt, den Patienten allein zur Durch-setzung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche unaufge-fordert und damit proaktiv wertend über das Vorliegen einereigenen Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht/eineseigenen Behandlungsfehlers zu informieren oder gar einSchuldeingeständnis abzugeben. Mit einem gewissen Recht

    91 BK FELLMANN (FN 86), Art. 400 Rz 85 (mit weiteren Hin-weisen).

    92 BK FELLMANN (FN 86), Art. 400 Rz 54.93 BK FELLMANN (FN 86), Art. 398 Rz 150: "Die Aufklärungs-

    pflicht besteht bei der Anbahnung des Vertragsverhältnisses.Sie auferlegt dem Beauftragten die Pflicht, den Auftraggeberüber jene Punkte aufzuklären, welche dieser nicht kennt undzu kennen nicht verpflichtet ist, die aber für seinen Entschluss,den Auftrag zu erteilen, wesentlich sind."

    94 BK FELLMANN (FN 86), Art. 400 Rz 23: "Sie (die Rechen-schaftspflicht) erstreckt sich auf die Erteilung sämtlicher, imZusammenhang mit dem Auftrag vom Auftraggeber gefor-derten Einzelauskünfte." DERSELBE, Art. 400 Rz 27: "DieRechenschaftsablegung hat einen einlässlichen Bericht überalle wesentlichen Vorgänge des konkreten Auftrages und dieErläuterungen ihrer Bedeutung zu erfassen. Sie beinhaltetmehr als nur die blosse Auskunftserteilung."

    95 BK FELLMANN (FN 86), Art. 398 Rz 171: "Während derLaufzeit des Auftrages ist der Beauftrage gehalten, dem Auf-traggeber ständig zur Sicherung des Auftragszweckes not-wendige Informationen zukommen zu lassen. Nur so ist ge-währleistet, dass der Auftraggeber reagieren kann, wenn seineInteressen in Gefahr sind."

    96 BK FELLMANN (FN 86), Art. 400 Rz 25: "Die Auskunfts-pflicht erstreckt sich sowohl auf den Stand der Auftragsaus-führung (in seinem Zusammenhang) als Ganzes wie auch auf die jeweils geforderten Einzelinformationen. Der Umfangder zu erteilenden Auskunft bestimmt sich in aller Regel je-doch primär nach dem Begehren des Auftraggebers. Er kanndie Beantwortung einzelner Fragen oder einen umfassendenLagebericht fordern."

    97 TAUPITZ (FN 2), 671 (mit weiteren Hinweisen).98 "Nemo tenetur se ipsum accusare", diese Auffassung, dass

    niemand verpflichtet sei, einen Beitrag zu seiner eigenen Be-lastung zu liefern, beinhaltet einen alten Grundsatz, vgl. auchBGE 98 Ia 250, 252 E. 1a.

    99 TAUPITZ (FN 12), 718.100 JONES (FN 9), 97 ff.: "A non punitive approach is an absolute

    requirement if a health care institution is to respond to errorsin a manner that reinforces the successful implementation ofstrategies, with the ultimate goal of safeguarding society. Aculture of improvement that promotes disclosure and analysisof errors and near misses is critical to initiate the level ofchange needed. Creating an environment of trust and impro-vement does not mean that individual accountability has noplace in the process. Accountability remains, and in thosemedical mishaps in which the cause is assessed to be recklessnoncompliance with regulatory standards or laws, sanctionsshould follow."

    101 Davon weicht hingegen die gesetzliche Grundlage über dasMelden von als Verkehrsteilnehmer verursachtem Personen-oder Sach-Schaden im Rahmen des schweizerischen Stras-senverkehrsgesetzes (vgl. etwa Art. 51 Ziff. 2 und 3 SVG) ab.

    A n t o i n e R o g g o / D a n i e l S t a f f e l b a c hAJP/PJA 4/2006

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  • muss in konkreter Erfahrung der Autoren zugebilligt wer-den, dass der behandelnde Arzt als Partei sowohl aus posi-tiver wie negativer Sicht den allfällig selbst verursachtenTherapieschaden in aller Regel nicht unbelastet und damitgenügend kritisch, sprich objektiv, beurteilen kann. Hinzukommt, dass eine "vom Arzt gegenüber seinem Patientenaus medizinischer Perspektive verspürte Schuld" letztenEndes nicht immer auch einer "rechtlich relevanten Schuld"gleichzusetzen ist.

    Dennoch ist der Arzt mit Blick auf seine Treue- und Sorg-faltspflicht zur Sicherung des Vertragszweckes der Heilbe-handlung nicht gänzlich von seiner Benachrichtigungspflichtgemäss Art. 398 OR zu befreien. D.h., dass er nicht übereigene Fehlbehandlungen infolge einer möglichen Sorg-faltspflichtverletzung bzw. kritische Zwischenfälle im Sinnevon "Critical Incidents" (sofern für den Patienten von Rele-vanz) bzw. Abweichung des Ist-Zustandes vom Soll-Zu-stand zu informieren hätte. Der Arzt muss dabei sein eige-nes Handeln nicht rechtlich qualifizieren, sondern lediglichüber die festgestellten Abweichungen des Ist-Zustandesvom Soll-Zustand und die damit verbundenen Folgen zwin-gend und ohne "emotionalem Offenbarungseid" – alsowertneutr