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    Kants Philosophie der Natur 

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    Kants Philosophie der Natur 

    Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung

    Herausgegeben vonEmst-Otto Onnasch

    Walter de Gruyter • Berlin • New York 

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    (0) Gedruckt auf säurefreiem Papier

    das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

    ISBN 978-3-11-020712-5

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    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

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    Inhalt

    E in le itu n g ............................................................................................. 1

    Gian Franco FrigoBildungskraft und Bildungstrieb bei K a n t.....................................   9

    Tobias CheungDer Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und

    die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem beiKant und Bonnet ............................................................................... 25

    Vesa OittinenLinne zwischen Wolff und Kant. Z u einigen KantischenMotiven in Linnes biologischer Klassifikation ............................ 51

    Hans Werner Ingensiep

    Probleme in Kants Biophilosophie. Zum Verhältnis von

    Transzendentalphilosophie, Teleologiemetaphysik undempirischer Bioontologie bei K a n t ................................................. 79

    Hein van den Berg

    Kant on Vital Forces. Metaphysical Concerns versus Scientific 

    P rac tice .................................................................................................. 115

    Klaus J. Schmidt

    Die Begründung einer Theologie in Kants  Kri tik der Urteilskraft   137

    Renate Wahsner Das Mechanismus-Organismus-Problem bei Kant unter dem 

    Aspekt von allgemeinen und besonderen Naturgesetzen .........   161

    Karen GloyDie Bedeutung des Experiments bei Kant für die neuzeitliche 

     Naturwissenschaft ............................................................................... 189

    Horst-Heino von Borzeszkowski

    Kants Raum-Zeit-Apriorismus im Lichte der Relativitätstheorie 203

    Paul ZieheDie Einheit der Natur. NaturphilosophischeEinheitsprogramme bei und nach K an t.......................................... 221

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    Bernhard Fritscher An der Grenze von Physik und Metaphysik. Zum Begriff des 

    „Kristalls“ in Kants Opus pos tum um ................................................. 241

    Steffen Dietzsch

    Der Galvanismus als Form der Transzendentalphilosophie? . . . 265

    Lu De VosFormen der Subjektivität oder die Naturalisierung der  Subjektivität im Opus postumum   ...................................................... 287

    Ernst-Otto Onnasch

    Kants Transzendentalphilosophie des Opus postumum   gegen dentranszendentalen Idealismus Schellings und Spinozas ................   307

    Kenneth R. Westphal

    Does Kant’s opus postumum  Anticipate Hegel’s AbsoluteId ealism ?................................................................................................ 357

    Ilmari JauhiainenHegel and Kant’s Idea of Matter. What is Wrong with the Dynamical View? ............................................................................... 385

    Jeffrey EdwardsA Trip to the Dark Side? Aether, Space, Intuition, and Concept in Early Hegel and Late K a n t.......................................................... 411

    Karin de Boer 

    The Emergence of Ideality. Hegel’s Conception of the Animal 

    in the Jena Philosophy of N a tu re ................................................... 435

    Liste der Autoren ............................................................................... 459

    Personenregister  465

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    Siglen1

    AA Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. vo n der preußischen,später deutschen und jetzt Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I : Werke, Bd. 1—9; Abt. I I :Briefwechsel, Bd. 10 —13; Abt. III: Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 14 —23; Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 24 —29,Berlin 1902 ff. [der Sigle folgt die durchlaufende Bandnummer, nach dem Punkt die Seite].

     K rV   Critik der reinen Vernunft, Riga 1781 (A), 21787 (B) [zit.nach AA ].

     K p V   Critik der practischen Vernunft, Riga 1788 [zit. nach AA ]. K d U   Critik der Urtheilskraft, Berlin und Libau 1790 [zit. nach

    AA], Prol.  Prolegomena zu einer jed en künftigen Metaphysik, die als

    Wissenschaft wird auftreten können, R iga 1783 (A) [zit. nach

    AA],m a n   Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga

    1786 [zit. nach AA].OP Opus postumum , AA Bd. 21 und 22 mit den Ergänzungen in

    Bd. 23. Briefe  Briefwechsel, Abt. II, Bd. 10 —13. R eß . M et   Reflexionen zur Metaphysik [zit. nach AA 17 und 18]. R eß . Log.  Reflexionen zur Logik [zit. nach AA 16]. R eß . Med.   Reflexionen zur Medizin [zit. nach AA 15]. R eß . Phys.  Reflexionen zur Physik [zit. nach AA 14].

    GA Joh ann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth, ErichFuchs und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.,Abt. I: Werke; Abt. II: Nachgelassene Werke; Abt. III:Briefe; Abt. IV : Vorlesungsnachschriften [der Sigle folgt die

    1 Z ur erleichterten Orien tierun g ist den Siglen der entsprechenden Gesamtausgaben ein Kurztitel vorangestellt.

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    HKA

    SW

    GW

    Werke

     E n z .3

    W dL

    G & W 

    römische Ziffer für die A bt., nach „ / “die Num m er desBandes und nach dem Punkt die Seite].

    Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-KritischeAusgabe, hgg. von der Bayerischen Akademie der Wissen

    schaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. [der Sigle folgt dierömische Ziffer für die A bt., nach „ / “die Num m er desBandes und nach dem Punkt die Seite]Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke,

    hrsg. von K.F.A. Schelling. I. Abt.: 10 Bde., II. Abt. 4 Bde.,Stuttgart/Augsburg 1856—1861 [der Sigle folgt die römischeZiffer für die Abt., nach „ / “die Num m er des Bandes undnach dem Pu nkt die Seite].Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, inVerbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaftherausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademieder Wissenschaften, Ham burg 1968 ff. [der Sigle folgt diedurchlaufende Bandnum mer, nach dem P unk t die Seite].Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theorie-Werkausgabe,hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel,

    Frankfurt/M., 1979 [der Sigle folgt die durchlaufendeBandnumm er, nach dem Punkt die Seite].G.W.F. Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Heidelberg 1830 [zitiert nach GW,die „Zusätze“ nach W erk e].G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, N ürn berg 1812 — 1816, 2. Aufl. der Seinslogik, Stuttgart und Tübingen 1832[zitiert nach G W ].G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen, oder die Reflexions

     philosophie der Subjectivität in der Vollständigkeit ihrerFormen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philoso

     phie, in: Kritisches Journal der Philosophie, 2. Bd., 1. St.,1802 [zitiert nach G W ].

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    Einleitung1

     Naturphilosophie zwischen Transzendentalphilosophie undobjektivem Idealismus

    Im Gegensatz zur kritischen Philosophie wird die NaturphilosophieImmanuel Kants von der Kant-Forschung immer noch eher stiefmüt

    terlich behandelt. Das ist allein schon aus dem Grunde bemerkenswert,weil genau diese Naturphilosophie, insbesondere die Metaphysik der Natur, eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Anwendung der Resu l

    tate der  Kri tik der reinen Vernunft   besitzt. Denn die Begründung unsererempirischen, bzw. naturwissenschaftlichen Erkenntnis erfolgt im Ausgang und auf der Grundlage der Metaphysik der Natur. Von dieserMetaphysik der Natur hat Kant zwar die metaphysischen Anfangsgründe geliefert, es ist jedoch die Frage, ob er damit auch diese Meta

     physik selbst geliefert hat. Nach der Vollendung der Kri tik der Urteilskraft  (1790) schreibt ihr Verfasser in der „Vorrede“ dieses letzten kritischenWerkes, er werde nun „ungesäumt zum doctrinalen“ Teil seines Systems fortschreiten, bestehend aus einer Metaphysik der Sitten und einerMetaphysik der Natu r.2 Diese Worte sind nu r so zu verstehen, daß die

    Metaphysik der Natur mit den  Metaphysischen Anfangsgründen der N a -turwissenschaft   von 1786 tatsächlich noch nicht, zumindest nicht imvollen Umfange vorliegt. Nun geben Kants tatsächliche Arbeiten nach1790 kaum Bemühungen zu erkennen, diese Metaphysik der Naturtatsächlich zu formulieren. Was wir allerdings sehen, ist eine intensiveBeschäftigung mit einem naturphilosophischen Teilproblem der kritischen Philosophie, nämlich wie der Übergang von den MetaphysischenAnfangsgründen zur Physik geleistet werden kann. D ie entsprechendenAusführungen dieses Teilproblems liegen in Kants umfangreichstemnachgelassenem Manuskript vor, das heute unter dem griffigen Titel

    Opus postumum  bekannt ist. M it der philosophischen W ürdigung diesesManuskriptbündels hat sich die Kant-Forschung seit seiner ersten Ver

    1 Dieser Band ist zustande gekom m en dank der U nters tützung des Hg. durch die Niederländische Organisation fü r wissenschaftliche Forschung   (n w o ).

    2  K dU   „Vorrede“, AA 5.170.

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    öffentlichung durch Ru do lf Reicke in der Altpreußischen Monatsschrift  inden 80er Jahren des 19. Jahrhunderts schwer getan.3 Der stark an na

    turphilosophischen Fragen interessierte Neukantianismus hat es bedeutsamerweise kaum rezipiert; diese Tatsache hat die Forschungsliniender modernen Kant-Forschung sicherlich nachhaltig bestimmt. Dennauch nachdem das Manuskript in den 30er Jahren des vorherigen

    Jahrhunderts in der  Akadem ieA usgab e der Werke Kants erschienen war,ist es von der Forschung kaum beachtet, geschweige denn in den Ge

    samtkontext der Kantischen Philosophie gestellt und interpretiert. ImKontrast zu den anderen Philosophen des deutschen Idealismus ist dieser

    Sachverhalt höchst bemerkenswert, weil hier fast jeder neue Manuskriptfund, sei es ein Autograph oder „bloß“ eine studentische Nachschrift, eine wahre Sensation auslöst, nicht selten verbunden mit demRuf, die Philosophiegeschichte müsse nun neu geschrieben werden.Gegen diesen Hintergrund betrachtet, ist es bemerkenswert, wie legerdie Kant-Forschung auf neue Funde reagiert. Sogar ein fast anderthalbtausend Druckseiten umfassendes Manuskript von Kant selbst hatseit seiner Wiederentdeckung die Forschung zur Produktion von kaum

    einem dutzend Bücher angetrieben, wohingegen zu vielen Detailpro

     blemen der kritischen Philosophie die Publikationen schon kaum mehrzu überschauen sind.

    Doch scheint in den letzten Jahren etwas Bewegung in diese Forschungssituation gekommen zu sein. Verstärkt werden die nachgelas

    senen Papiere zu Kants letztem, allerdings unvollendet gebliebenemWerk von der Kant-Forschung beachtet und in den Kontext des Ge

    samtplans der Philosophie Kants gestellt. Damit treten aber zugleichganz andere und auch neue Probleme der Kantischen Philosophie inden Vordergrund, die Zusammenhängen mit der von Kant intendierten

    Architektonik seines „Systems der Vernunft“. Historisch war es nämlichgenau dieses System, bzw. seine fehlende Ausarbeitung, was von den

    idealistischen Nachfolgern aufgegriffen wurde und Anfang des 19tenJahrhunderts zur „Supernova“ (Dieter Henrich) der deutschen Philo

    3  Altpreußische Monatsschrift   19 (1882), 1. und 2. Heft, Januar-März, 66—127, 3.un d 4. Heft, A pril-Juni, 255 —308, 5. und 6. Heft, Ju li-September, 425 —479, 7.un d 8. He ft, O ktob er-D eze m ber , 569 —629; 20 (1883), 1. und 2. Heft, Janua r-März , 59 —122, 3. und 4. H eft, April-Juni, 342 —373, 5. und 6. H eft, Juli-

    September, 415-450, 7. und 8. Heft, Oktober-Dezember, 513-566; 21(1884), 1. un d 2. He ft, Januar-M ärz, 81 —159, 3. u nd 4. H eft, A pril-Juni, 309 — 387, 5. und 6. He ft, Juli-Septem ber, 389 —420 und 7. un d 8. Heft, O kto be r-Dezem ber, 533 —620. —Die K onvolute 4, 6 und 8 hat Reicke nicht ediert.

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    sophie führte. Plötzlich steht der Begriff des Systems der Vernunft unddamit der Philosophie selbst mit einer bis dahin noch nicht dagewesenen

    Prägnanz auf der philosophischen Agenda. Liest man Kant bloß als denVerfasser der kritischen Philosophie, läßt sich diese Entwicklung in der

    deutschen Philosophie nicht leicht verstehen. Nimmt man dagegenKants Rede von einem umfassenden System der Vernunft mit in das

    zeitgenössische Verständnis der kritischen Philosophie hinein, befremdet diese historische Entwicklung schon weniger.

    Wie aber ist Kants System der Vernunft genau zu verstehen? Die

     besondere Schwierigkeit eines jeden Versuchs, diese Frage in Angriff zunehmen, besteht in dem Schatten, den die Systembauer des deutschen

    Idealismus auf diese Fragestellung werfen. Wie läßt sich mit anderenWorten noch nach Hegel die ursprüngliche Systemfrage Kants ohne die

    spätere historische Entwicklung, von der diese Frage ja überhaupt erst

    zur Frage gemacht wurde, in Angriff nehmen? Dieses Problem scheintdie moderne Kant-Forschung bis heute überschattet zu haben, denn siehat sich der Frage nach dem System der Vernunft bislang kaum ernsthaft

    angenommen. Außerdem wird ja nicht selten ausgerechnet Kant als das

    idealistische Paradebeispiel dafür genommen, daß es im Rahmen einer

    idealistischen Philosophie gar nicht notwendig sei, zu einem Systemfortzuschreiten; die implizite Pointe solcher Auffassungen ist freilich

    die, die historische Philosophieentwicklung nach Kant als eine Verirrung zu stigmatisieren.

    Kants System der Vernunft ist tatsächlich umfassender als bloß die

    kritische Philosophie,4 obwo hl sich Kant 1799 in der berühmten Er

    klärung gegen Fichte noch dahingehend erklärt hat, er verstehe nicht,warum seine kritischen Nachfolger ihm unterstellen, er „habe bloß eine

     Proprädevtik   zur Transscendental-Philosophie, nicht das System dieserPhilosophie selbst, liefern wollen“5. Unter historischem Gesichtspunkt

    ist diese Erklärung allein schon deshalb bedeutsam, weil es nicht Fichte,

    sondern vielmehr Karl Leonhard Reinhold war, der der KantischenPhilosophie ihren bloß propädeutischen Charakter und damit ihre

    fehlende systematische Ausgestaltung zum Vorwurf gemacht hat. Doch

    4 Vgl. dazu auch den Aufsatz von D ieter Hen rich, „Systemform und Abschlußgedanke. Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken“, in:

     Kan t und die Berliner Aufklärung. Akte n des IX . Internationalen KantKongresses, hrsg. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher,Berlin/New York, 2001, Bd. 1, 94—115.

    5  Briefe,  AA 12.371.

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    Kant formuliert in jener Erklärung mit Bedacht, denn er behauptetnicht, er habe mit der kritischen Philosophie das System der Vernunft

    tatsächlich geliefert. Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Erklärung gegen Fichte ist eine breitere Diskussion über den Stellenwert derÄußerungen Kants ausgebrochen. Gegenstand dieser Diskussion war, obKant mit der ersten  Kri tik   tatsächlich das vollständige System derTranszendentalphilosophie aufgestellt habe oder nicht.6 Die erste  Kritik  ist hinsichtlich dieser Frage unmißverständlich: sie ist nicht das voll

    ständige System der Vernunft oder der Transzendentalphilosophie,sondern bereitet den Weg dahin nur vor. Nimmt man diese und dievielen ähnlichen Behauptungen ernst, stellt sich freilich sofort die Frage,

    wie das Kantische System der Vernunft zumindest seinen Grundzügennach auszusehen habe. Der Königsberger hat sich hierüber kaum ge

    nauer erklärt. Der Grund hierfür war sicherlich nicht, daß er seine Redevom System der Vernunft nicht wirklich ernst nahm. Vielmehr wirdman im Gegenteil davon ausgehen müssen, daß die systematischenProbleme, wovor er sich durch die von der kritischen Philosophiemarkierten Ausgangsvoraussetzungen gestellt sah, groß, so nicht vielleicht sogar unüberwindbar waren. Die große Einsicht der theoretischen

    Philosophie, daß wir keine Erkenntnis von Gegenständen haben können, die nicht unter den subjektiven Bedingungen von R au m und Zeit

    stehen, hat nämlich, nehmen wir die  Metaphysischen Anfangsgründe  unddie dritte  Kri tik   mit hinzu, zur Folge, daß sich unsere Erkenntnis nicht

    über solche Gegenstände hinaus erstrecken könne, die sich der mathematisch-mechanischen Erklärungsart entziehen. Tatsächlich stellen

    die  Metaphysischen Atfangsgründe  mehr als bloß andeutungsweise klar,daß sich alle chemische, aber insbesondere alle biologische und erstrecht alle psychologische Phänomene der Erkenntnis entziehen. Aber

    auch die Reichweite der Erkenntnis der unter mathematisch-mechanischen Bedingungen erklärbaren Phänomene ist äußerst beschränktund deckt keineswegs alle physischen Phänomene ab (man denke nu r anPhänomene wie Kohäsion, Elastizität usw.). Daß die kritische Erkenntnistheorie tatsächlich so weitreichende Konsequenzen für denUmfang m öglicher Erkenntnisse hat, ist vielen Lesern Kants gar nicht sounmittelbar klar. In diesen Problemen liegen daher auch die Gründe,weshalb man förmlich dazu gezwungen ist, die Kantische Erkenntnis

    theorie im Kontext ihrer metaphysischen, bzw. naturphilosophischen

    6 Vgl. dazu auch den Brief von Geo rg Samuel Albert Mellin vo m 13. April 1800an Kant, AA 12.303 f.

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    Konsequenzen zu interpretieren, denn nur dann ist Klarheit darüber zuerlangen, wie weit sich der Umfang unserer möglichen Erkenntnisse

    wirklich erstreckt. Ohne eine solche metaphysische oder naturphilosophische Erweiterung der im Ausgang der Erfahrungsmöglichkeitentwickelten transzendentalen Erkenntnistheorie ist letztendlich dem

    Vorwurf der idealistischen Nachfolger Kants nicht zu entgehen, daß die

    kritische Erkenntnistheorie nicht viel mehr als ein hölzernes Eisen sei.Insbesondere Schelling und Hegel haben die Beschränkungen der

    kritischen Philosophie klar erkannt. Schon in den  Ideen z u einer Philo-

     sophie der N atu r als Einleitung in das Stu dium dieser Wissenschaft  von 1797 beansprucht Schelling, apriorische Prinzipien der Chemie als einer über

    die bloße mathematisch-mechanische Betrachtungsart der  Metaphysi-

     schen Anfangsgründe  hinausgehenden Naturwissenschaft apriorisch ab

    zuleiten. Obwohl die  Metaphysischen Anfangsgründe von großem Einflußauf die rasante Entwicklung der zeitgenössischen Naturwissenschaften — 

    insbesondere der Chemie und Biologie —gewesen sind, wurden zu

    gleich Kants metaphysische Prinzipien der Naturwissenschaft zunehmend als zu eng und letztendlich auch als unzureichend erfahren. Indiesem Zusammenhang könnte die Frage historisch von Bedeutung

    sein, ob es die Entwicklungen auf dem Gebiet der empirischen Naturwissenschaften waren oder vielmehr intern philosophische Probleme,

    die für Kants Nachfolger Anlaß dafür waren, über die Beschränkungen

    der kritischen Naturphilosophie hinauszugehen. Aber genau diese Frage

    trifft m. E. nicht den Kern dieser nachfolgenden philosophischen Entwicklung. Denn nicht nur Schelling und später Hegel, sondern auch

    Kant selbst verfolgte die Entwicklungen innerhalb der zeitgenössischen

    Physik auf dem Fuße. Das Prob lem war bloß, daß Kant nach Abschluß

    seines kritischen Projekts in seinen Veröffentlichungen eben nicht ungesäumt zur Darstellung des doktrinalen Teils seines Systems fortgeschritten ist. Und dafür lassen sich gute Gründe anführen.

    Schon vor der Abfassung der dritten  Kri tik  wälzte der Königsbergernämlich das äußerst schwierige Problem, wie von den apriorischen

    Prinzipien der metaphysischen Anfangsgründe zu den empirischenPrinzipien der Naturwissenschaft übergegangen werden könne. Um1790 eröffnet Kant seinem Schüler Johann Gottfried Carl Christian

    Kiesewetter, er wolle dieses Problem in einer kleinen Schrift separat

    erörtern, was unterstellt, er habe es im Kopfe schon mehr oder wenigergelöst. Allerdings sollte diese Schrift niemals erscheinen. Vielmehr er

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    füllt dieses zunächst unscheinbar scheinende Problem den Königsbergerquasi unter der Feder mit dem ,,Tantalische[n](r) Schmertz“7, seine

    Transzendentalphilosophie nicht vollenden zu können. Es handelt sichhierbei also um ein ausgesprochen zentrales Problem der Transzen

    dentalphilosophie. Unterdessen entsteht der schwierigste und auchundurchdringlichste Text, den Kant jemals geschrieben hat, nämlich derheute unter dem Titel Opus postumum   bekannte Nachlaß. Daß Kantüber einem weiteren Werk brütete, war unter seinen KönigsbergerFreunden durchaus bekannt. Ob sie allerdings die für die Transzendentalphilosophie ungemein große systematische Bedeutsamkeit der imRahmen des Übergangswerkes in Frage stehenden Problematik angemessen erkannt haben, darf man füglich bezweifeln. Allerdings beweistdieser umfangreiche Kantische Nachlaß mindestens eins: daß für Kantdie aus seiner kritischen Erkenntnistheorie erwachsenen Probleme fürdie Erkenntnis von Phänomenen, die nicht ohne weiteres der mathematisch-mechanischen Erklärungsart zugänglich sind, unbedingt gelöstwerden mußte, da sonst in der Transzendentalphilosophie eine Lücke,wie Kant sich ausdrückt, klaffen würde, die Lücke nämlich, die durchdie mathematisch-mechanische Erklärungsart entsteht, sofern für so

    viele, so nicht für die meisten empirischen Phänomene die Herleitungihrer Prinzipien auf der Grundlage der metaphysischen Grundkräfteungelöst ist. Kant meinte diese Lücke innerhalb der Transzendental

     philosophie, ohne dafür ihren prinzipiellen Erfahrungsstandpunkt verlassen zu müssen, überbrücken zu können; doch darüber, wie dieseÜberbrückung konkret ausgesehen haben soll, besteht in der Kant-Forschung kaum Klarheit. Geahnt wird Kant aber haben müssen, daß,wenn jemand , dann n ur er selbst das Problem des Übergangs wird lösenkönnen. Und solange die Lücke von seinen Kritikern nicht entdeckt

    und aufs Korn genommen war, hatte Kant noch etwas Zeit. Ebenfallsgeahnt haben wird der Königsberger, daß jeder andere Versuch, die

    Lücke zu überbrücken, zwangsläufig zu einer Philosophie führen müsse,die hinte r die Ergebnisse der Transzendentalphilosophie zurückfällt (daßKant um 1800 den transzendentalen Idealismus Schellings tatsächlich soverstanden hat, habe ich in meinem Beitrag in diesem Band plausibel zumachen versucht).

    Wir wollen hier nun nicht darüber streiten, ob die Philosophie

    Schellings oder Hegels ein Rückfall hinter oder ein Fortschritt über dieErgebnisse der Transzendentalphilosophie ist; Tatsache ist allerdings,

    7 Vgl. Kants Br ief vom 21. Septem ber 1798 an Christian Garve, AA 12.257.

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    daß ihre Systeme den Kantischen Erfahrungsstandpunkt und die mitihm aufs Engste zusammenhängende Metaphysik der Natur verlassen

    haben. Obwohl die idealistischen Nachfolger nirgends die von Kantselbst diagnostizierte Lücke in der Transzendentalphilosophie für ihrHinausgehen über dieselbe verantwortlich machen, kann man m. E.trotzdem behaupten, daß in der Wurzel das von Kant ungelöst geblie

     bene Problem zwischen apriorischen und empirischen Erfahrungs- bzw.Erkenntnisprinzipien —mithin die Lücke im System der Transzenden

    talphilosophie —letztendlich der Grund dafür gewesen ist, daß insbesondere Schelling und Hegel Kant schon sehr bald philosophisch hintersich gelassen haben. Man kann nur darüber spekulieren, was geschehen

    wäre, wenn der Königsberger das Ubergangsproblem offen zur Diskussion gestellt, geschweige denn es in einer Publikation u m 1790 gelösthätte. Wäre das geschehen, wage ich ernsthaft zu bezweifeln, ob esüberhaupt zu jener Supernova gekommen wäre.

    Damit tut sich die interessante Perspektive auf, daß sich sowohlKants eigener Nachlaß zum Ubergangsproblem als auch die späterenidealistischen Systeme in der Wurzel mit demselben Problem befassen.

    Aus diesem Grunde könnte man das Kantische System der Philosophie — 

    d. h. die kritische Philosophie erweitert sowohl um die beiden M eta physiken der Natu r und der Sitten als auch um die in beiden Meta physiken virulente Ubergangsproblematik —durchaus als eine der zu jener Zeit möglichen Systemalternativen, freilich in Konkurrenz zu den

    von Schelling und Hegel formulierten Systemen der Philosophie auslegen. Wie gesagt, kann und darf man den Systemanspruch der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht vernachlässigen, zumal deshalbnicht, weil die von der Erfahrung ausgehende Erkenntnistheorie ohneMetaphysik der Natur und Ubergangsproblematik gar nicht leisten

    kann, was sie dem Anspruch der ersten  Kri tik  nach leisten muß. Es führtdeshalb auch kein Weg daran vorbei, Kants Philosophie hinsichtlichihres Systemanspruchs in Angriff zu nehmen und verstehen zu lernen.

    Und wenn wir außerdem die philosophischen Systeme des deutschenIdealismus nicht primär als Weiterentwicklungen einer ursprünglichenFragestellung Kants begreifen —obwohl sie das freilich unter einer be

    stimmten Perspektive auch sind —, sondern als konkurrierende Programme zum Kantischen System, kann uns ein methodologisch hilfreiches Mittel an die Hand gegeben werden, den Systemcharakter derKantischen Transzendentalphilosophie relativ unabhängig von diesenSystemen in den Blick zu bekommen und als Kants genuin eigenen

    Beitrag zur Philosophie (-geschichte) zu entwickeln. Die Systemphilo

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    sophie ist selbst ein systematisches philosophisches Problem, dasdurchaus verschiedene philosophische Darstellungen annehmen kann;

    keineswegs ist es eine Erfindung der deutschen Idealisten, wobei etwaHegels  Enzy klopädie der philosophischen Wissenschaften  die unübertroffeneoder gar unübertreffliche Krone über die Philosophiegeschichte spannt.Allein schon Kants Grundsatz, alle unsere Erkenntnis fange mit derErfahrung an, ist so unverbrüchlich mit der modernen Naturwissenschaft verbunden, daß die Kantische Erkenntnistheorie mit der aufdieser beruhenden metaphysischen Begründung der Naturwissenschaften grundsätzliche Einsichten in die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft und ihrer Theorieformierung hervorbringen muß; das

     jedoch nur unte r der Voraussetzung, daß die Kantische Erkenntnistheorie nicht losgelöst von der Metaphysik der Natur und dem Uber-gangsproblem behandelt wird.

    Dieser Band und die ihm zugrundeliegende Fragestellung ist hervorgegangen aus dem von der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung (n w o ) geförderten Forschungsprojekt desHerausgebers „The Quest for the System in the Transcendental Philosophy of Immanuel Kant“. Die Beiträge gehen zurück auf eine Ta

    gung, die der Herausgeber im September 2007 in Amsterdam veranstaltet hat mit finanzieller Unterstützung der Königlichen Akademie derWissenschaften (k n a w ) sowie der Niederländischen Organisation fürwissenschaftliche Forschung (n w o ) und mit „sittlicher“ Unterstützung

    durch den Arbeitskreis für Hegels Naturphilosophie.An dieser Stelle danken möchte ich zunächst ganz besonders den

    Referenten für die sorgfältige Überarbeitung ihrer Amsterdamer Beiträge für diesen Band. Ebenfalls danken möchte ich den Gutachternauch für ihre vielfältigen Hinweise und Vorschläge, sowie dem de

    Gruyter Verlag, besonders der Cheflektorin für Philosophie, Frau Dr.Gertrud Grünkom, für die Aufnahme dieses Bandes in das Verlags

     programm und für ihre geduldige Betreuung der Drucklegung.

    Amsterdam und Utrecht im Frühjahr 2009 Ernst-O tto Onnasch

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    Bildungskraft und Bildungstrieb bei Kant

    Gian Franco Frigo

     Abstract:  Starting w ith the Critique o f the Power o f Judgement,  Kant does not onlydiscus the p roblem o f understanding nature from w ithin a mechanistic paradigm. R ath er, he tries to deve lop a synthesis o f determ inism and finalism. T hisis because he realizes that, on one hand, some natural processes fall within therealm o f m atter and its laws. O n the othe r hand, they apparently tend to realizea certain form or type, and can therefore be explained in terms o f ideas ofreason. In other words, not only formative forces ( Bildungskräfte), but alsoformative drives ( Bildungstriebe) are at stake here. Certainly, purposivenesscannot determine phenomena, i t is rather a sort of „Gesetzlichkeit des Zufälligen“ w hich takes place at the level o f the e m pirical laws o f nature. Th usfinality can be regarde d as a ‘prod uc tion- m anife station ’ o f a particular object,

     bec ause finality enab les us to discover th e org aniz ation o f th e natu ral p hen o mena that mechanistic laws must explain.

    1. Die Grenzen der „Autokratie der Materie“ und des,, Naturmechanismus “1

    In der  Kri tik der Urteilskraft   (1790) behandelt Kant das Problem des

    Verständnisses der Natur nicht nur, indem er es in die mechanistische

    Perspektive einordnet, wie er es in der  Kri tik der reinen Vernunft   (1781,1787), in den  Prolegomena  (1783) oder in den  Metaphysischen Anfa ngs-

     gründen der Naturwissenschaft   (1786) vorgenommen hat, sondern indem

    er eine mögliche Synthese zwischen Determinismus und Finalismussucht.2 Dieser Versuch beabsichtigt nicht, die Naturwissenschaft derPhänomene in eine Krise zu stürzen, sondern sie in die Perspektiveeiner Produktivität der Natur zu setzen, die die kausal-mechanistischen

    Prozesse zur Verwirklichung (oder Wiederherstellung) einer schon

    gegebenen Form zu „führen“ beabsichtigt. Das bezieht sich auf dieorganischen Produkte der Natur, die unserer Urteilskraft wie die Verwirklichung eines Zweckes erscheinen:

    1 Vgl.  K dU   § 81, AA 5.421-424.2 Vgl. Adickes 19 24- 192 5; Schäfer 1966; Butts 1986; Friedm an 1992;

    Schwabe/Thom 1993; Bonsiepen 1997; Toepfer 2004 und Wahsner 2004.

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    die Natur zeigt in ihren freien Bildungen überall so viel mechanischenHang zu Erzeugung von Formen, die für den ästhet ischen Gebrauch un

    serer Urtheilskraft gleichsam gemacht zu sein scheinen, ohne den geringsten Grund zur Vermuthung an die Hand zu geben, daß es dazu nochetwas mehr als ihres Mechanisms, bloß als Natur, bedürfe, wornach sieauch ohne alle ihnen zum Grunde liegende Idee für unsere Beurtheilungzweckmäßig sein können. Ich verstehe aber unter einer freien Bildun g   der N a tu r diejenige,  wodurch aus einem  Flüssigen in Ruhe durch V erflücht igungoder Absonderung eines Theils desselben (bisweilen bloß der Wärmma-

    terie) das Übrige bei dem Festwerden eine bestimm te Gestalt oder G ew ebe(Figur oder Textur) annimmt, die nach der specifischen Verschiedenheitder Materien verschieden, in eben derselben aber genau dieselbe ist.3

    Kant aber erkennt, daß diese „freien Bildungen“, eben da sie „frei“ sind,ihre Grundlage nicht einfach in den mechanischen Kräften haben

    können, aus denen die Materie besteht, weil

    wenn [...] die Ursache bloß in der Materie, als einem Aggregat vieler

    Substanzen außer einander, gesucht wird, die Einheit des Princips für dieinnerlich zweckmäßige Form ihrer Bildung gänzlich ermangelt; und die

     Autokra tie der M aterie in Erzeugungen, welche von unserm Verstände nurals Zw ecke begriffen w erden könn en, is t e in W ort oh ne B edeutung .4

    In Wirklichkeit muß Kant hier erkennen, daß die Möglichkeit zu ob jektiv zweckmäßigen, die Materie betreffenden Form en absolut unlös

     bar für unsere Intelligenz bleibt,

    wenn wir [d]en Urgrund der Dinge nicht als einfache Substanz   und dieser

    ihre E igenschaft zu der specifischen Beschaffenheit de r au f sie sich g rün denden Naturformen, nämlich der Zweckeinheit , nicht als die einer intelligenten Substanz, das Verhältniß aber derselben zu den letzteren (wegender Zufälligkeit, die wir an allem finden, was wir uns nur als Zweckmöglich denken) nicht als das Verhältniß einer Causalität   uns vorstellen.5

    Die Schwierigkeit entsteht darin, daß, was ein organisiertes Produkt betrifft, einerseits „der Mechanismus der Natu r [...] nicht zulangenkann, um sich die Möglichkeit eines organisirten Wesens darnach zu

    denken, sondern (wenigstens nach der Beschaffenheit unsers Erkennt-nißvermögens) einer absichtlich wirkenden Ursache ursprünglich un

    tergeordnet werden muß“; andererseits ist es genauso wahr, daß eine

    rein finalistische Grundlage diesem Produkt ihre „Natürlichkeit“ nehmen würde, auf Grund wovon Mechanismus und Finalismus vereint

    3  K dU   § 58, AA 5.348.4  K dU   § 81, AA 5.421.5 Ebd.

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    handeln müssen, damit ein Prod ukt entstehen kann, das ein Produkt der Natur, aber gleichzeitig auch das Resultat einer Endursache ist.6

    Mechanische Kausalität und freie Kausalität scheinen entgegengesetzt, aber die positive Bedeutung ihrer möglichen Einheit liegt darin,daß die teleologische Betrachtung nicht die Universalgesetze der Naturals solche ausschließt, sondern gerade indem sie sich ihrer bedient, undso der freien Bildung eine Grenze auflegt.

    2. Die Erfahrung der Natur 

    Wie ist die reine Naturwissenschaft möglich, fragt sich Kant in den Prolegomena.  Er erkennt, daß die Natur verschiedene Bedeutungen annimmt: sie bezeichnet nämlich

    das  Dase in   der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.Sollte Natur das Dasein der an sich selbst   bedeuten, so würden wir sieniemals, weder a priori noch a posteriori , erkennen können.7

    Ich kann die Natur nicht a priori  kennen, denn

    Mein Verstand und die Bedingungen, unter denen er allein die Bestimm ungen der Dinge in ihrem D asein verknüpfen kann, schreibt den Dingenselbst keine Regel vor; diese richten sich nicht nach meinem Verstände,sondern mein Verstand müßte sich nach ihnen richten [ . . . ] .8

    Aber auch kann ich sie nicht a posteriori  kennen,

    Denn wenn mich Erfahrung Gesetze,  unter denen das Dasein der Dingesteht, lehren soll, so müßten diese, so fern sie Dinge an sich selbst betreffen,auch außer meiner Erfahrung ihnen nothwendig  z u k o m m e n .9

    Die Gesetze, auf die hier Bezug genommen wird, sind die in der„Analytik der Grundsätze“ der  Krit ik der reinen Vernunft   angegebenen.Diese Auffassung der Materie stammt direkt von der kritischen Perspektive, nach der wir von etwas Materiellem nur dann sprechen

    können, wenn unsere Sinne von einer Wirklichkeit, die außer uns ist,verändert werden.

    Demnach gestehe ich [.. .], daß es außer uns Körper gebe, d.i . Dinge, die,obzwar nach dem, was sie an sich selbst seien mögen, uns gänzlich unbe

    6 Vgl.  K dU   § 81, AA 5.421 f.7  Prol.  § 14, AA 4.294, vgl. dazu auch Plaass 1994.8 Ebd.9 Ebd.

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    kannt, w ir durch die Vorstellungen ken nen , w elche ihr Einfluß auf unsre

    Sinnlichkeit uns verschafft , und denen wir die Benennung eines Körpers

    gebe n; w elches W or t also blos die Erscheinung jenes uns un beka nnten,aber nichts desto we niger w irklichen Gegenstandes be de utet.10

    Die Natur, materialiter   betrachtet, ist nach Kant der „Inbegriff aller Ge-

     genstände der Erfahrung“,  während sie,  formaliter   untersucht, „die Ge

    setzmäßigkeit aller Gegenstände und, sofern sie a priori erkannt wird,

    die nothwendige  Gesetzmäßigkeit derselben“ ist.11 Das bedeutet, daß dieObjekte der Erfahrung notwendigen Gesetzen entsprechen, weil diese

    auch die Gesetze aller unserer möglichen Erfahrungen sind: „die sub-

     jectiven Gesetze, unte r denen allein eine Erfahrungskenntniß vonDingen möglich ist, gelten auch von diesen Dingen als Gegenständen

    einer möglichen Erfahrung“ .12 Die N atur erweist sich also bestimmt als

    ,,de[r] ganze(n) Gegenstand aller möglichen Erfahrung“, wobei „die

    Bedingungen a priori  von der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die

    Quellen sind, aus denen alle allgemeine Naturgesetze hergeleitet wer

    den müssen“ .13 Der Verweis ist also auf die

    Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen

    der Sinnlichkei t auf ein Bew ußtsein nothw endig bezogen w erden, undw odu rch allererst die e ige ntü m lich e A rt unseres Denkens, nämlich durch

    Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der

    O bjec te an sich selbst ganz zu un tersch eiden ist, m öglich ist.14

    Die „Eigenschaft“15 unserer Erkennungsfähigkeit bleibt eine Tatsache,die nicht weiter untersucht werden kann, da sie jedem Denken be

    züglich der Objekte und somit auch sich selbst zu Grunde liegt.

    Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung

    wissen können; aber die Gesetzmäßigkeit in Verknüpfung der Erschei

    nungen, d . i . d ie Natur überhaupt , können wir durch keine Erfahrungkennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer

    Möglichkei t a priori  zum G runde liegen.16

    Die Gesetze a priori  sind aber nicht genug, um die Natur konkret zuerkennen, denn für die empirische Bestimmtheit brauchen wir den

    10  Prol ., AA 4.289.11  Prol.  § 16, AA 4.295 f.12  Prol.  § 17, AA 4.296.

    13  Prol.  § 17, AA 4.297.14  Prol.  §36, AA 4.318.15 Ebd.16 E bd ., 318 f.

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    Beitrag der Erfahrung hic et nunc,  mit anderen Worten kann der Ver

    stand die vielfältigen Gesetze der Natur nur erst a posteriori  erkennen.

    W ir müssen [.. .] empirische Gesetze der N atur, die jederz eit besondereW ahrneh m ungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen N atur

    gesetzen, w elche, ohne daß besondere W ahrneh m ungen zum Grundeliegen, blos die Bedingungen ihrer nothwendigen Vereinigung in einerErfahrung enthalten, unterscheiden; und in Ansehung der letztem ist die N atu r u nd mögliche  Erfahru ng ganz u nd gar einerlei.17

    Wenn also das Kausalitätsprinzip von der „Beschaffenheit“ unseres

    Verstands und unserer Sinnlichkeit abhängt, dann sind die Gesetze, diedie verschiedenen besonderen kausalen Zusammenhänge beschreiben,

    auf Grund deren die konkreten natürlichen Prozesse erfolgen, nicht vonihr abzuleiten, sondern sind für uns nur dank bestimmter Wahrneh

    mungen erkennbar; richtig bleibt jedoch, daß die Ordnung, mit der sie

    aufeinander folgen, auf die noumenale Ordnung verweist, die auf unswirkt. Diese noumenale Ordnung ist für uns freilich unkennbar, siewird uns allerdings analog in der phänomenalen Ordnung offenbar.

    Kant führt den Verweis auf eine noumenale Natur ein, wenn er das

    Verhältnis zwischen Mechanismus und Finalismus erklärt; in der  Kritik  

    der Urteilskraft   beruft er sich auf ein „übersinnliche[s] Substrat der Natu r“ oder auch auf ein intelligibles Substrat.18

    3. Materie als Bildungskraft

    In den  Metaphysischen Anfangsgründen  ist die Materie nach Kant dasObjekt unserer äußeren Sinne, und der Körper ist die Form, die sie

    annimmt, da sie innerhalb bestimmter Grenzen eingeschlossen ist. Diereine Naturwissenschaft hat ihre Grundlage in diesem empirischenBegriff von Materie, auch wenn sie dann erforscht, welche Kenntnisseder Verstand a priori von ihr erwerben kann.19 Nach rein metaphysischer

    Betrachtung ist Materie „das  Bewegliche  im Raume“20. Der Verweis aufden Raum ist in diesem Zusammenhang verständlich, weil wir es hiermit einer sinnlichen Erfahrung zu tun haben, die unter die reine An

    schauung des Raumes fällt. Es handelt sich um eine Charakterisierung

    17 E bd ., 32018  K dU   § 78, AA 5.416 und § 81, 422.19  M A N ,  AA 4.469.20 E bd ., 480.

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    der Materie, die sich nicht auf die Ausdehnung bezieht, sondern n ur aufdie Bewegung, auf einen materiellen Punkt, der seine Position im

    Raum verändert und somit in den Bereich der Phoronomie fällt.In der auf die Phoronomie folgenden Dynamik wird die Materie

    zusätzlich als „das  Bewegliche,  sofern es einen  Raum erfüllt“  charakterisiert.21 Dem fügt Kant hinzu: „Einen Rau m erfüllen,  heißt allem Beweglichen widerstehen, das durch seine Bewegung in einen gewissen

    R au m einzudringen bestrebt ist“ .22 Die Materie „erfüllt einen R au m “und nimmt einen Raum ein, weil sie „eine besondere bewegende Kraft“ 

     besitzt;23 diese Kraft offenbart sich als „Widerstand“ gegenüber einem

    anderen Beweglichen, das versucht, in den Raum des ersteren Beweglichen einzudringen. Nur weil die Materie die raumdurchdringendeKraft ist, ist es für uns möglich, uns in der Anschauung den Begriff einer

    Materie darzustellen. Die Kraft, durch die die Materie den Raum er

    füllt, dehnt sich in alle Richtungen aus. Aber eine bewegende Kraft, dieunendlich im Raum eine unendliche Größe hätte, kann es nicht geben,weshalb die Ausdehnung von einer anderen Kraft entgegengewirkt

    wird, die sie zurückdrückt.

    „Die Materie erfüllt ihre Räume durch repulsive Kräfte aller ihrer

    Theile, d. h. durch eine ihr eigene Ausdehnungskraft, die einen be stimmten Grad hat, über den kleinere oder größere ins Unendlichekönnen gedacht we rden.“24 Es handelt sich hier um die beiden Kräfteder Attraktion und Repulsion. Beide gehören sie zur Materie und ga

    rantieren ihr die Eigenschaften der Elastizität (expansive Kraft), derUndurchdringlichkeit (Anziehungskraft) und der Teilbarkeit.

    Besäße die Materie nur Attraktionskraft, würden „alle Theile derMaterie sich ohne Hinderniß einander nähern und den Raum, den diese

    einnimmt, verringern.“25 W ürden die Teile der Materie nicht in einergewissen Entfernung zueinander stehen, müßte das zur Folge haben,

    daß sich alle Materie in einem mathematischen Punkt konzentrierte undder Raum folglich leer sein würde; deshalb gibt es keine positive Kraftim R au m ohne eine negative. Als Eigenschaften der Materie wirken die

    Kräfte au f jed en Teil der Materie. Sie wirken nicht nur auf die Teileeines einzelnen Körpers, indem sie sie Zusammenhalten und von denen

    21 E bd ., 496.

    22 Ebd.23 E bd ., 497.24 E bd ., 499.25 E bd ., 511.

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    anderer Körper trennen, sondern sie wirken auch aus der Entfernung

    auf andere Körper, mit denen es keine Berührung gibt, d. h. sie wirken

    durch den leeren Raum .26Die Schwierigkeit für unseren Verstand, sich diese Kräfte vorzu

    stellen, kommt daher, daß sie, eben als „Grundkräfte“, nicht von anderen Kräften abzuleiten sind; sie geben den einzelnen Körpern Form

    und bilden das ganze Universum:

    Da alle gegebene Materie mit einem bestimmten Grade der repulsiven

    Kraft ihren R au m erfüllen mu ß, u m ein bestimm tes materielles Ding

    auszumachen, so kann nur eine ursprüngliche Anziehung im Conflict mitder ursprüngl ichen Zurückstoßung einen best immten Grad der Erfül lung

    des Raums, mithin Materie möglich machen; es mag nun sein, daß dererstere von der eigenen Anziehung der Theile der zusammengedrückten

    Materie unter einander, oder von der Vereinigung derselben mit der An

    ziehung aller W eltmaterie herr ühr e.27

    4. Materie als Bildungstrieb

    In seinen  Ideen zu r Philosophie der Geschichte der Menschheit  (1784 —1791)

    hatte Johann Gottfried Herder die Idee eingeführt, daß die gesamte Natur, auch die sogenannte to te Natu r, von einer einzigen Kraft do

    miniert und durchdrungen wird. Ursprünglich ist diese Kraft dunkel

    und unbestimmt, doch gliedert sie sich in der Natur in die unendlicheVielfältigkeit ihrer Produkte:

    In der toten Natur liegt alles noch in einem  dunkeln, aber mächtigenTriebe. D ie Tei le dringen m it innigen Kräften zusamm en; jedes G eschöpf

    sucht Gestalt z u gewinnen und form t sich.  In diesem Trieb ist noch alles

    verschlossen; er du rchd ringt aber auch das ganze W esen un zerstörbar. [...]Der Trieb des Ganzen modifiziert sich [.. .], bleibt aber noch im Ganzen

    eins und dasselbe; denn die  For tpflanzung ist nu r Efjlorezens des Wachstums;

     beid e T rie be sind der N atu r des Geschö pfs nach unabtr ennbar. [.. .] [Der]H auptzw eck [der Na tur] ist offenbar, sich der organischen F orm zu nähern,

    in der die meiste Vereinigung klarer Begriffe, der vielartigste und freieste

    Ge brauch verschiedener Sinne und Glieder stattfände [.. .] D ie Teile jedesTiers stehen a uf seiner Stufe in der engsten Pro portion untereina nder; und

    ich glaube, alle Formen sind erschöpft, in denen nur ein lebendiges Geschöpf auf unserer E rde fortkom m en kon nte.28

    26 Ebd ., 512.27 Ebd ., 518.28 H erd er 6.105 un d 107 f.

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    Herders Deutung weist gewisse Ähnlichkeiten mit Kants vorkritischenÜberzeugungen auf, ihr gegenüber nimmt der Philosoph der „koper-

    nikanischen Revolution“ allerdings eine doppelte Haltung ein. Einerseits anerkennt er die universelle Gültigkeit der Kategorien des Verstands im Bereich der phänomenalen Natur, andererseits geht er davon

    aus, daß bestimmte natürliche Prozesse der Erklärung nach Ideen desVerstands unterworfen sind, die deren Besonderheit hervorheben.Ersteres war, wenn auch im Grunde genommen mechanistisch ausge

    drückt, schon in der Behauptung der  Allgemeinen Naturgeschichte und  Theorie des Himmels  (1755) enthalten, wonach nämlich die Materie, „die

     bloß leidend und der Form en und Anstalten bedürftig zu sein scheint,[...] in ihrem einfachsten Zustande eine Bestrebung [hat], sich durcheine natürliche Entwicklung zu einer vollkommenem Verfassung zu

     bilden“ . Das zweite erscheint schon 1775 hinsichtlich der Betrachtungder Bildung der verschiedenen Rassen, wo Kant den Begriff der

    „Keime“ und der „natürlichen Anlage“ einfuhrt, um die Bildungs- undAnpassungsprozesse einiger Organismen zu erklären:

    Die in der Natur eines organischen Körpers (Gewächses oder Thieres)l iegenden Gründe einer best immten Auswickelung heißen, wenn diese

    Auswickelung besondere Theile betrifft ,  K eim e; betrifft sie aber nur dieGröße oder das Verhältniß der Theile untereinander, so nenne ich sienatürliche Anlagen.  [. . .] Diese Fürsorge der N atur, ihr Ge schö pf durchversteckte innere V orkeh rung en auf allerlei künftige U m stände auszurüsten, damit es sich erhalte und der Verschiedenheit des Klima oder desBodens angemessen sei, ist bewundernswürdig [...] Der Zufall, oder allgemeine mechanische Gesetze können solche Zusammenfassungen nichthervorbringen. Daher müssen wir dergleichen gelegentliche Auswickelungen als vorgebildet   an seh n.30

    Kants Aufmerksamkeit für natürliche Prozesse, die —obwohl sie innerhalb des Bereiches der Materie und ihrer Gesetze bleiben —daraufausgerichtet zu sein scheinen, eine bestimmte Form oder einen bestimmten Typ zu verwirklichen, wird von der zeitgenössischen Debatte

    über Präformationismus un d Epigenese immer weiter verschärft.31Jenseits der theologischen Probleme, die Kant als Philosoph beiseiteläßt, ist er daran interessiert, ein epistemologisches Modell zu entwickeln, auf Grund dessen die in der Materie wirkenden Kräfte unter

     bestim mten Umständen auf eine und dieselbe Weise wirken und die

    29  Allg . Naturgesch., AA 1.263.30 Von den verschiedenen Racen,  AA 2.434 f.31 Vgl. dazu Len oir 1980 un d Zum bach 1984

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    Die Anerkennung dafür, daß Blumenbach das wesentliche Problem des

    Verhältnisses zwischen Mechanismus und Finalismus in der Natur be

    rührt, liefert Kant in der  Kri tik der Urteilskraft:

    Denn daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglichselbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er [d. h. Blumenbach,GFF] mit Recht für vernunftwidrig; läßt aber zugleich dem Naturme-chanism unter diesem uns unerforschlichen  Princip  einer ursprünglichenOrganisation  e inen unbest immbaren, zugleich doch auch unverkennbarenAntheil , wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der ihral lgemein beiwohnenden bloß mechanischen  Bildungskraft )  von ihm ineinem organisirten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung undAnweisung der ersteren stehender)  Bildungstrieb  gena nnt w ird.34

    Die Grenze der rein mechanistischen Auffassung der Natur wird vonKant in der  Kri tik der Urteilskraft  anerkannt, indem er mit der Urteilskraftein „Mittelglied“ zwischen Verstand un d V ernunft angibt,35 auf dasunsere Urteile über das Schöne und das Erhabene, sowie unsere teleologische Interpretation von bestimmten natürlichen Prozessen zu

    rückzuführen sind.36 Kant anerkennt nämlich, daß

    wir die organisi r ten Wesen und deren innere Möglichkei t nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen,viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreistsagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newtonaufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde;sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprech en .37

    Wenn ein organisiertes Naturprodukt dadurch gekennzeichnet ist, daßin ihm „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“,  dann ist offensichtlich, daß es nicht nur unter einer Ursache effizienter Art, sondernauch unter einer Ursache teleologischer Art denkbar ist, so daß „einDing, welches als Naturproduct doch zugleich nur als Naturzweck

    möglich erkannt werden soll, sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und W irkung“ verhält.38 N un unterscheidet Kant in der „Analytik 

    34  K dU   § 81, AA 5.424.

    35 Vgl.  K dU   „1. Vorrede“, AA 5.168.36 Vgl. R an g 1993; Flach 1997 und Oberm eier 1997.37  K dU  § 75, AA 5.400.38  K dU   § 65, AA 5.372.

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    der Urteilskraft“ zwei Arten von Zwecken, d. h. einen äußeren, der dasVerhältnis vom M ittel zum Zw eck zwischen zwei äußerlichen Entitäten

    anzeigt, und einen inneren, der sich verwirklicht, wenn ein Ding „von  sich selbst   (obgleich in zweifachem Sinne) Ursache und Wirkung“  ist.39

    Zu einem Dinge als N aturzwecke w ird nun erstlich erfordert, daß die Theile(ihrem D asein un d der F orm nach) n ur du rch ihre Beziehun g au f das Ganzemöglich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einemBeg riff ode r einer Idee befaßt, die alles, was in ih m enthalten sein soll, a 

     priori bestim m en m uß [.. .] Soll aber ein Ding als Natu rpro du ct in sich selbstund seiner innern M öglichkei t doch eine Beziehung auf Zw ecke erhalten,d.i . nur als Naturzweck und ohne die Causalität der Begriffe von vernünft igen W esen außer ihm möglich sein: so wird  zw eiten s  dazu erfordert:daß die Theile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden,daß sie von einander wechselseitig Ursache u nd W irkun g ihrer Form sind.D en n auf solche Weise ist es allein mö glich, daß u m ge ke hrt (wechselseitig)die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Theile

     bestim m e: n ic h t als U rsache —denn da w äre es ein K unstp roduct —, sondern als Erkenntnißgrund der systematischen Einheit der Form und Ver

     b in dung alles M annig fa ltig en, was in der gegeben M ate rie enth alt en ist, fürden, de r es be ur the ilt.40

     N un ist das Natu rp rodukt in jeder Hinsicht Naturzweck, da es, wie

    Kant anhand des Beispiels des Baumes zeigt,41 Ursache und W irkungseiner selbst ist. Naturzweck ist das Naturprodukt in erster Linie hinsichtlich der Gattung, d. h. das Individuum ist nicht nur ihre Wirkung,sondern zugleich ihre Ursache, weil sich im Individuum die Gattungverewigt; in zweiter Linie als Individuum durch das Wachstum, durch

    das die Materie zuerst verwandelt wird, um dann vom Individuumangeeignet werden zu können; in dritter Linie, da sich im Organismus

    der Teil des Ganzen entwickelt und die Selbsterhaltung des Organismus

    seinerseits von diesem Ganzen abhängt und dieses wiederum vomTeil.42 W ährend nämlich in einer Maschine — Kant gibt in diesemZusammenhang das Beispiel einer U hr — ein Teil n icht das Ganze

     produziert, sondern nur ein Werkzeug der Bewegung der anderen Teile

    ist, weshalb die hervorbringende Ursache des Produktes der Maschineselbst äußerlich ist, ist das organische Produkt umgekehrt „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“.

    39  K dU   § 64, AA 5.370.

    40  K dU  § 65, AA 5.373.41 Vgl. dazu den Beitrag von Tobias Cheun g in diesem Band.42 Vgl.  K dU   § 64, AA 5.371.43  K dU   § 65, AA 5.374.

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    Die Zweckmäßigkeit läßt sich als eine irgendwie offenbar gewordeneErzeugung eines besonderen Objektes betrachten, sofern sie es nämlich

    möglich macht, die Organisation der natürlichen Prozesse zu „erkennen“, wobei die mechanistischen Bestimmungen „erklären“. Das fina-

    listische und das mechanistische Modell konkurrieren somit nicht miteinander, sofern das erstere Modell nicht n ur auf bestimmte Perspektiven der Naturforschung bezogen werden kann. Vielmehr ist dieses

    Modell wegen der Erkenntnis des Organismus, das ein Produkt natürlicher Kräfte ist, wesentlich „unverzichtbar“ .49 Die Teleologie läuft alsokeineswegs au f eine Ablehnung von Kausalität und anderen Erkenntniskonstituierenden Prinzipien hinaus, sondern sie führt zu einem erweiterten Verständnis einer besonderen Struktur von kausalen Prozessen.

    Ihr Wert wird indirekt dadurch bestätigt, daß sie in bezug auf dieStruktur unseres Verstands lediglich ein reflektierender Begriff ist; mit

    anderen Worten, für eine Intelligenz, die nicht mit der Sinnlichkeit

    verbunden ist, hätte die Teleologie gar keine entscheidende Funktion.Dies erläutert Kant folgendermaßen:

    Es ist daher vernünftig, ja verdienstlich, dem Naturmechanism zum Behufeiner Erklärung der Naturproducte soweit nachzugehen, als es mit

    Wahrscheinlichkeit geschehen kann, ja diesen Versuch nicht darum aufzugeben, weil es an sich  unm öglich sei auf seinem W ege m it der Zw eckmäßigkeit der Natur zusammenzutreffen, sondern nur darum, weil es  fü r  uns  als Menschen unmöglich ist; indem dazu eine andere als sinnlicheAn schauung u nd ein bestimm tes Erk enn tniß des intelligibelen Substrats der N atu r, w oraus selbst v on dem M echanis m der Erschein ungen nach be sonderen Gesetzen Grund angegeben werden könne, erforderlich seinw ürde , w elches alles unser V erm öge n gänzlich übersteigt.50

    5. Schlußbemerkung

    Dieser kurze Exkurs hat versucht zu zeigen, daß die Kantische Auffassung der Materie eine Erweiterung der rein mechanistischen Erklärung

    der natürlichen Prozesse mit sich bringt. Wenn nämlich nur dort ma

    terielle Körper empirisch gegeben sind, wo es eine bestimmte Erfüllungdes Raumes gibt, dann ist das nur möglich, wenn man die Handlungvon einander entgegenwirkenden bewegenden Kräften (Anziehungs

    und Zurückstoßungskraft) voraussetzt. Diese können jedoch als Grund

    49  K dU   § 64, AA 5.370.50  K dU   § 80, AA 5.418.

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    kräfte, die die Möglichkeit unserer sinnlichen Intuitionen selbst begründen, nicht empirisch erkannt werden. Das bedeutet, daß die phä

    nomenale Welt auf einem übersinnlichen Substrat ruht, das nicht geleugnet werden kann, obwohl es sich unserem mit der Sinnlichkeit

    verbundenen Erkennungsvermögen entzieht.

    Eine weitere Bestätigung für dieses ungleiche Verhältnis zwischenSinnlichem und Übersinnlichem wird von der Beschaffenheit unseres

    Verstandes geliefert: dieser sichert nämlich der Vielfältigkeit der empirischen W elt Einheit, gründet aber nicht die Ordnung, der der Verstand

    die konkreten natürlichen Prozesse unterordnet, denn das verwiese auf

    eine Ordnung, die nicht nur phänomenal sein kann, sondern die wirauch als noumenal voraussetzen müssen.

    Außerdem erkennt Kant unter dem Einfluß der epistemologischen

    Debatte über den Ursprung und die Entwicklung der lebendigen Or

    ganismen, daß es für unser Erkenntnisvermögen vernunftwidrig ist, dieLebewesen von toter Materie abzuleiten, da sie sich nicht nur als Pro

    dukte der Naturgesetze äußern, sondern auch, auf Grund der Gestallt,die sie annehmen und weitergeben können, als Naturzwecke, also als

    Resultate von Naturkräften, die nach unserem Verstand mit Absicht

    handeln. So versucht Kant, in der  Kri tik der Urteilskraft   ein epistemo-logisches Modell zu erstellen, das es ermöglicht, ein Naturprodukt auchals Na turzweck zu denken, ohne den unersetzlichen Erkenntniswert desMechanismus aufzugeben und ohne die lebenden Organismen auf

    Kunstprodukte herunterstufen zu müssen. Die Freiheit, die ihnen eineteleologische Betrachtung zuerkennt, unterdrückt nach Kant nicht die Notw endigkeit der mechanischen Gesetze, denn nur dank dieser blei

     ben sie natürlich und gehen nicht zur Künstlichkeit oder zum Chaos

    über. Die Zweckmäßigkeit ist also jene Form, die dem ZufälligenGesetzmäßigkeit verleiht, während der Mechanismus der „freien Bildung“ der Naturkräfte eine Grenze stellt. Wie man sieht, begreift Kant

    die Zweckmäßigkeit nicht als Ursache sondern als „Erkenntnißgrund“der natürlichen Wesen. Das bedeutet, daß sich Mechanismus und Finalismus absolut nicht in der Interpretation der natürlichen Prozesse

    ausschließen, sondern daß sie zwei Perspektiven von verschiedenemepistemologischem Wert darstellen, beide garantiert von jenem „intel-

    ligible[n] Substrat der Natur“ ,51 das nicht aufhört zu handeln, w en n essich auch nicht von unserem Verstand einfangen läßt.

    51  K dU   § 78, AA 5.416.

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    Der Baum im Baum.

    Modellkörper, reproduktive Systeme und dieDifferenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem

     bei Kant und Bonnet

    Tobias Cheung

     Abstract:  In § 64 of the Critique o f Judgm ent   (1790), Kant refers to different re p roductive m odes o f th e “organiz ati on” o f a “tree” (assim ila tion, generationand healing). For Kant, these modes are characteristic for all “organized” or“living beings”, and they categorically distinguish organic and “inorganic beings”. However, the “tree” as a “plant” occurs in different positions in the orders o f things o f the e igh teen th-c en tury n atural history. I will investigate ordersthat could have influenced Kant. After a detailed reconstruction of Kant’sm ode l of a “tree ”, I focus on the role o f the “tree ” as a repro duc tive system

    in the writings of Henri Louis Duhamel’s  La Phys ique des arbres  (1758) andCharles Bonnet’s Considerations sur les corps organises  (1762).

    In zweiten Teil der  Kri tik der Urteilskraft   (1790) geht es Kant umeinen adäquaten Begriff für die O rdnung der Erscheinungen, die ein

    Beobachter an einer bestimmten Klasse von K örpern erfahren kann. FürKant nötigen die Erscheinungen dieser Körper den Beobachter, einen

     besonderen Begriff zu bilden, nämlich den eines „D inges“, das als

    „Naturzweck“ existiert, in dem es „von sich selbst   [...] Ursache und  

    Wirkung ist“.1 Kant nennt die Klasse dieser Körper allgemein „organisierte“, nicht jedoch lebendige Körper —obwohl seine Unterscheidung

    der zwischen Lebendigem u nd Unlebendigem entspricht.2 JohannFriedrich Blumenbach, auf den sich Kant in der  Kri tik der Urteilskraft  fürdie Annahme einer bildenden Kraft in organisierten Körpern beruft, hat

    diese Entsprechung in Ueber den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (1781, 21789) deutlich hervorgehoben:

    1 Vgl.  K dU   § 64, AA 5.370.2 Kant nen nt „organisirte K örper“ in der  Kritik der Urteilskraft   auch „organisirte

    Wesen“, „organisierte Producte“, „organisirte Geschöpfe“, „organisirte Naturdinge“ und „organische Naturwesen“. Im Opus postumum  erwähnt Kant„Organismen“, vgl. z. B. AA 21.187, siehe hierzu Debru 1980 und Cheung2006b.

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    Man kan nicht inniger von etwas überzeugt seyn, als ich es von dermächtigen Kluft bin, die die Natur zwischen der belebten und unbelebten

    Schöpfung, zwischen den organisirten und unorganischen Geschöpfen befest ig t ha t. 3

    Da es Kant in der dritten  Kri tik  allein um einen adäquaten Begriff, nichtaber um eine konkret in der Natur verortete Systematik der Ordnung

    der Dinge geht, unterläßt er es, die Trennlinie zwischen organisiertenund unorganischen Körpern anhand bestimmter Körper darzulegen.Ohne die Wahl zu begründen, erwähnt Kant in § 64 einen „Baum“, um

    die „Idee von einem Naturzweck zuvörderst durch ein Beispiel [zu]erläutern, ehe wir sie völlig auseinander setzen“ .4 W en n die Idee eines

     Naturzwecks als Begriff einem bestim mten Kanon von Erscheinungen

    entsprechen soll, dann ist allerdings nicht nur die Konsistenz des Begriffes innerhalb einer transzendentalen Logik, sondern auch die Begründung der Wahl und die Angemessenheit der Zuordnung der Erscheinungen zu einer bestimmten Klasse von Körpern wichtig.

    Kants Wahl ist zu seiner Zeit keineswegs selbstverständlich. Her

    mann Samuel Reimarus, mit dessen Trieblehre Kant vertraut war, hätteKants Wahl nicht verstanden.5 Denn für Reimarus sind Pflanzen m e

    chanisch operierende tote Körper. Allein Tiere und Menschen stellenfür ihn organisierte und lebendige Körper dar.6

    Das Ding, das dem Naturzweck entsprechen soll, steht in der Kant-Rezeption im Schatten des Begriffes. Mir ist keine Untersuchung bekannt, die sich mit der Frage beschäftigt, warum Kant in § 64 einen

    „Baum “ und nicht etwa ein Moos, einen Polypen, eine Fliege oder eineRatte als (weitere) Beispiele wählt. Dieser Frage nachzugehen, ist Zieldes vorliegenden Aufsatzes. Hierfür werde ich die Rolle des „Baumes“und das Modell organischer Ordnung in Kants und Charles Bonnets

    3 Blum enbach 1789, 71. Z um Verhältnis von Blum enbach un d Kant, vo r allemin H insicht auf den „Bildungstrieb“ und das Verhältnis von Präformations- undEpigenesistheorien, siehe Toellner 1968a und 1968b; Lenoir 1980;McLaughlin 1982; Look 2006 und Zammito 2007.

    4  K dU   § 64, AA 5.371. In § 64 erwähnt Kant keine Tiere oder tierische Körper.Z ur Charakterisierung inn erer Zw eckm äßigkeit fuhrt er später einige Beispielean, die sich auf Tierkörper beziehen, vgl.  K dU   § 66, AA 5.377 ff.

    5 Reim arus hatte seine Triebthe orie in  Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen  Religion  (1754) zuerst vorgestellt und in  Allgemeine Betrachtungen über die Triebe 

    der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe  (1760) weiter ausgebaut. Siehehierzu Scherer 1898 und Cheung 2006a.

    6 Z um historischen Kontext der Un terscheidung zwischen der O rdnun g derKörper von Pflanzen und Tieren, siehe Ingensiep 2001.

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    Ansätzen vergleichen. Bonne t kennzeichnet den „Baum“ wiederholt alsein reproduktives System. Der Modellkörper „Baum“ dient ihm zu

    gleich zur kategoriellen Unterscheidung von organisch „organisierten“und „unorganischen“ Körpern.7 Des weiteren bezieht sich Bonnet fürseine Ausführungen zum reproduktiven „Baum“ auf das vierte Buch

    von Henri Louis Duhamels Schrift  La Physique des arbres  (1758), dessenthematische Gliederung in Kants Charakteristik des „Baumes“ in § 64

    wieder auftaucht.Kant ist nur vier Jahre älter als Bonnet, doch hat sich Bonnet vom

    Genfer See genauso wenig entfernt wie Kant von Königsberg. Beidehaben sich persönlich nie getroffen. Dennoch beziehen sie sich auf

    einander. Kant erwähnt Bonnet namentlich in „Von dem ersten Grundedes Unterschiedes der Gegenden im Raume“ (1768), um auf dessenSinnesphysiologie im  Essai sur les facultes de l ’äme  (1760) zu verweisen,und im Anhang zur transzendentalen Dialektik der  Kritik der reinen  Vernunft   (1781, 21787) sowie in „Uber den Gebrauch teleologischerPrincip ien in der Philosophie“ (1788), um Bonnets —und seiner Ansichtnach auch Leibniz’ —Idee des „Gesetzes der continuirlichen Stufenleiter“ der Ordnungsform en aller („organisirter“ und „unorganischer“) Körper

    als allein „regulatives Princip der Vernunft“ zu bestimmen, dem keineeinheitliche bildende Kraft in der Natur zugrunde gelegt werden kann,ohne unkritisch Metaphysik zu betreiben.8

    Direkte Nachweise der Lektüre Kants von Bonnets Schriften liegen bisher nur für die deutschen Übersetzungen  Analytischer Versuch über die Seelenkräfte  (1770 —1771) und  Betrachtung über die N atu r   (1766) vor.9Bonnets Considerations sm les corps organises  wurden 1775 von JohannAugust Ephraim Goeze unter dem Titel  Betrachtungen über die organisirten  Körper worin von ihrem Ursprünge, von ihrer Entwickelung , von ihrer Repro-

    duktion u. s. w. gehandelt wird   ins Deutsche übertragen.Bonnet verfaßt 1788 zwei kurze, kritische Stellungsnahmen zu

    Kants  Krit ik der reinen Vernunft.  Dabei zielt er vor allem auf eine nichttranszendental vermittelte Korrespondenz zwischen Sinneseindruck und

    7 Für Bonnets Ansatz und dessen Ko ntext, siehe Savioz 1948a un d 1948b; Marx1976; Anderson 1982; Rieppel 1987 und 1988; und Cheung 2004, 2005b und2005c. Bei W itt 2005 findet sich ein Vergleich zwischen Hallers und KantsModell organischer Ordnung.

    8 Vgl.  K rV  A 668 /B 696, ferner AA 2.381 und AA 8.180 Fußn ote 6. Für denEinfluß vo n Georges Louis Leclerc Buffon a uf Kants Th eorie der Rasse und desKlimas siehe Ferrari 1979 und 1992.

    9 Für den schriftlichen Hinw eis danke ich W ern er Stark (Marburg).

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    denkender Tätigkeit ab, ohne jedoch eine spezifische Kausalität hierfürangeben zu können .10 In Kap. 35. und 36. des  Essai de psychologie  hatte

    Bonnet bereits auf Aporien hingewiesen, die sich zwischen demwahmehmenden Punkt des Ich und der unermeßlichen Vielfalt desW ahrgenom menen einstellen.11 Seine Überlegungen enden immerwieder in der Erkenntnis, daß die „Seele ein vom Körper verschiedenes Wesen ist: wir können diesem Wesen keine der Eigenschaften zusprechen, durch die uns der Körper bekannt ist. Wenn also der Körperauf die Seele wirkt, kann es sich keinesfalls darum handeln, daß einKörper auf einen anderen wirkt. Die Wahrnehmung scheint aus einerBewegung zu resultieren, die nichts mit einer Bewegung gem ein hat.“ 12

    Und doch bleibt es Bonnets zentrales Anliegen, zu zeigen, daß einMensch und ein Tier „nicht diese Seele und nicht dieser Körper“,sondern „das Resultat der Einheit einer bestimmten Seele mit einem

     bestim mten Körper“ sind .13

    Entscheidend für die Rolle, die Bonnet in der  Krit ik der Urteilskraft  spielt, ist jedoch die Position im Diskurs der Naturgeschichte, die ihmBlumenbach 1781 in Uber den Bildungstrieb  zuteilt. Für Blumenbach istBonnet einer der wichtigsten Protagonisten der Präformationstheorie,

    nach welcher der sich bildende organische Körper bereits im kleinenvorgeformt im Keim vorliegt und sich bloß vergrößern muß. DieZeugung von Bastarden, vor allem von Bastardpflanzen der Gattung

     Nicotiana,  scheint Blumenbach mit einer Präformationstheorie nichtvereinbar zu sein:

    Allein auch selbst die Erscheinungen bey Zeugung der  Bastarde  widersprechen allen Begriffen von Präexistenz eines präformirten Keims soschlechterdings, daß m an kaum absieht, wie bey einer reifen Erw ägung dererstem, die letztem noch ernstliche Vertheidiger haben finden können.

    Mich dünkt eine einzige Erfahrung wie die, da Hr. Kölreuter durchwiederholte Erzeugung fruchtbarer Bastardpflanzen, endlich die eineGat tung von Tabak ( Nicotiana rustica)  so vollkommen in eine andere(.Nicotiana paniculata)  verwandelt und umgeschaffen, daß sie nicht eine Spurvon ihrer angestammten mütterlichen Bildung übrig behalten hat, müßtedoch die eingenommensten Verfechter der Evolut ionstheorie von ihremV orurthe il zurückb ringen .14

    10 Bonnets Kritik findet sich zusammen m it einem ausführlichen Kom m entar beiMüUer/Pozzo 1988.

    11 Vgl. Bonne t,  Essai de psychologie  (1755) 1978, 122—123 (37. Kap.).12 Bonnet,  Essai sur les facultes de Vame  (1760) 1973 (§ 46), 29.13 Eb d., (§2 2), 15.14 Blum enbach 1781, 66.

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    Kant übernimmt in der  Kritik der Urteilskraft  die Blumenbachsche Kritikan den Präformationisten. Doch verweist er zugleich, wie Bonnet, auf

    den „Baum“ als ein individuelles reproduktives System, dessen Ordnung aus einem im Keim vorliegenden präexistenten Organisationsgrund hervorgeht und dessen Teile ihrerseits reproduktive Eigenschaften aufweisen.

    1. Das Beispiel des „Baumes“: Der „organisirte Körper“ alsreproduktives System

    Kants dichte, sich auf knapp zwei Seiten beschränkende Beschreibungdes „Baumes“ als Modellkörper für die Klasse aller „organisirten Kör

     per“ leitet in § 64 die Charakterisierung der „inneren Zweckmäßigkeit“eines Dinges als Naturprodukts ein. Die Charakterisierung schließt direkt an die im vorhergehenden Paragraphen abgehandelte äußere,„relative Zweckmäßigkeit“ an. Bevor Kant in § 64 das Beispiel „Baum“als konkretes Ding eines erfahrbaren Erscheinungszusammenhangeserläutert, hebt er zwei Kriterien hervor, die einen Beobachter „nöthi-

    gen“, ein Naturprodukt als Naturzweck mit innerer Zweckmäßigkeitauszuweisen. Erstens muß die „Production“ oder „Erzeugung“ derOrdnung oder der „Form“ eines solchen Dinges nach „bloßen Naturgesetzen“, für die Kant sich an der newtonschen Mechanik orien

    tiert, in so hohem Maße zufällig sein, daß es der nach einem einheitlichen System von Erkenntnissen und Gesetzen suchenden „Vernunft“geboten ist, von einer besonderen Gesetzmäßigkeit der Erzeugungauszugehen.15 Zweitens ist ein Naturp rodu kt nur dann als Naturzweckauszuweisen, „w enn es von sich selbst [...] Ursache un d W irkung ist“ .16

    Ein Naturprodukt existiert als Naturzweck, wenn es sowohl als Ursachesich selbst erzeugt als auch als Wirkung Erzeugnis seiner eigenen Tätigkeit ist. Ein solches Ding bezeichnet Kant als organisierten und organisierenden Körper, in dem „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel“

    15  K dU   § 64, AA 5.369 f.16 Ebd ., 370.

    17 Eb d., 376. D er zitierte Text ist im O riginal kursiv gedruckt. Die Bestimmungdes organisierten Körpers als Naturzweck stellt ein regulatives Urteil dar, dasseine besonderen Erscheinungen in ein System von Begriffen einordnet, das derInstanz Vernunft obliegt. Zum Problem des regulativen Urteils in Kants  Kritik 

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    Wie ein organisierter Körper in der Natur existiert, zeigt Kant an

    einem „Baum“. Der „Baum“ steht nicht nur für alle anderen Bäume

    und Gewächse, sondern auch für die Erscheinungszusammenhänge, dieTiere und M enschen als organisierte Körper charakterisieren.18 Diese

    vermittelnde R olle spielt der „B aum“ als Modellkörper auch in BonnetsSchriften. Bonne t rekurriert immer wieder auf den „Baum “, um eine

    Parallele zwischen den Ordnungsformen der Pflanzen und Tiere zu

    etablieren. Auf dieser Parallele beruhen bereits die ersten Kapitel der

    Considerations sw les corps organises  (1762), in denen er verschiedene

    Reproduktionsweisen (etwa des Wachstums, der Ernährung und der

    Fortpflanzung) miteinander vergleicht. Sie findet ihre ausführlichsteDarstellung im zehnten Teil von  La Contemplation de la nature  (1764):Der Pflanzensame entspricht dem Ei, der Flüssigkeitskreislauf der

    Pflanzensäfte dem des tierischen Blutes und die Rinde der H au t.19 Ziel

    der Parallele ist die kategorielle Abgrenzung der Ordnungsform organisierter Körper von der unorganischer Körper. Neben dem „Baum“

     bezeichnet der durch Abraham Trembley bekannt gew ordene Süß-wasserpolyp für Bonnet die gemeinsame Schnittfläche pflanzlicher undtierischer O rdnungen.20 Anhand beider M odellkörper zeigt Bonnet, daß

    organisierte, lebendige Körper sich selbst durch die kontinuierlicheReproduktion eines präexistenten Organisationsgrundes erhalten und

    daß bestimmte Teile (Verzweigungen, knospenartige Ausbuchtungen)dieser Körper die reproduktive Fähigkeit besitzen, zu einem eigen

    ständigen organisierten Körper heranzuwachsen oder in ein anderen

    der Urteilskraft   siehe Düsing 1968; Philonenko 1977; Buchdahl 1981;McLaughlin 1989; Butts 1990; Wahsner 1993; Cheung 2000 und Toepfer2002 .

    18 Z ur Tier-M ensch-D ifferenz vgl. Kant,  Anthropologie in pragmatischer Hinsicht  (1798): „Die Charakterisirung des Menschen als eines vernünftigen Thieresliegt schon in der Gestalt und Organisation seiner  Hand,  seiner  Finger   und Fingerspitzen,  deren theils Bau, theils zartem Gefühl, dadurch die Natur ihnnicht für Eine Art der Handhabung der Sachen, sondern unbestimmt für alle,mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht und dadurch dietechnische oder Geschicklichkeitsanlage seiner Gattung als eines vernünftigen Thieres bezeichnet hat.“ (AA 7.323)

    19 Vgl. Bonn et 1985 (§ 169), 138: „Quelle que soit la puissance qui preside au

    mouvement de la seve, il est certain qu’elle existe, et qu’elle produit dans levegetal, les memes effets essentiels que la force du cceur produit dans l’animal.“

    20 Z u Trembleys Polypen-V ersuchen und ihrer Re zeption , siehe Daw son 1987und Q uem er & Jahn 2003.

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    organisierten Körper integriert zu w erden.21 Die Schnittfläche, die denZusammenhang der „Reiche“ (regnes)  der Pflanzen und Tiere be

    zeichnet, bestimmt in der  Palingenesie  (1769) einerseits der pflanzlicheBaum (arbre vegetal)  und andererseits der Polyp als tierischer Baum (arbre animal)  —mit der Differenz, daß sich die Verzweigungen (rameaux)  desPolypen, die den Asten des „pflanzlichen Baumes“ entsprechen, von

    selbst ablösen.22 Auf diese Weise etablieren B onnet und Kant anhand des

    reproduktiven Vermögens des „Baumes“ eine allgemeine Ordnungs

    form, die Pflanzen und Tiere umfaßt und das organisch Organisierte

    oder Lebendige kategoriell vom Unorganischen abgrenzt.Im § 64 kennzeichnet Kant den organisierten Körper „Baum“ durch

    drei Charakteristika oder Merkmalskomplexe, die alle auf eine bestimmte Form „organisierender“ Tätigkeit verweisen. Diese Tätigkeit

    nennt Kant „Zeugung“, „Erzeugung“, „Hervorbringung“ und „Pro

    duction“. Da der organisierte Körper organisierend so tätig sein muß,daß er sich selbst als eine bestimmte Ordnungsform hervorbringt, um

    dem Begriff eines Naturzwecks als Naturprodukt zu entsprechen, lassensich die drei Produktionsweisen auch unter dem Titel  Reproduktion 

    zusammenfassen, und zwar erstens als Reproduktion neuer organisierter

    Körper, zweitens als Reproduktion eines organisierten Körpers durchErnährung und Wachstum und drittens als Reproduktion einzelner

    Teile des Körpers.23

    21 Bo nnet w ird zu einer The orie der asexueUen Re pro duk tion von Keimen auchdurch seine eigenen Versuche zur Reproduktion von Blattläusen angeregt,siehe hierzu Buscaglia 1994.

    22 Vgl. Bo nne t 2002, 170 f.: „Tandis que la troupe nombreuse des Nom enclateu rset de Faiseurs de regies generales pensoit avoir bien caracterise 1’Animal et

    l’avoir distingue exactement du Vegetal, les eaux sont venues nous offrir uneProduction organique qui reunit aux principales proprietes du Vegetal, diversTraits qui ne paroissent convenir qu’a l’Animal. On comprend que je parle de

    ce fameux Polype a bras, do nt la decouverte a tant etonne les Physiciens et plusembarasse encore les Metaphysiciens.“ Bonnet nennt den Süßwasserpolypenauch „Miniaturbaum“ (arbre en miniature).

    23 Zur Interp retation der drei Charak teristika als Reprod uktion sweisen , sieheauch McLaughlin 1989, 43. Kant verwendet den Ausdruck „Reproduction“nur an einer Stelle im ersten Teil der  Kritik der Urteilskraft (K dU   § 59, AA5.352), um auf ein „Gesetz(e) der Association der Einbildungskraft“ zu ver

    weisen, nach dem oft erfahrene Abfolgen von Vorstellungen sich auch ohne diesinnliche Präsenz des Vorgestellten einstellen. Auf diese Weise hatte er dieReproduktion bereits in der ersten Auflage der  Kritik der reinen Vernunft   (1781)

     bes timmt, vgl. A 100 f.

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    Durch die Produktion eines neuen organisierten Körpers „erzeugt“ einBaum einen anderen „von derselben Gattung“, da der „hervorge

     brachte“ Körper dieselbe Ordnungsform wie der hervorbringendeKörper besitzt. In diesem Sinne erzeugt sich der Baum „selbst derGattung  nach“ . Er ist immer wiederkehrender Agent der Reprod uktionneuer organisierter Körper gleicher Ordnungsformen, deren Hauptmerkmal in einer bestimmten Weise besteht, organisiert und organisierend zu existieren:

    Ein Baum zeugt erst l ich einen ändern Baum nach einem bekannten Naturgesetze. D er Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben G attung; un dso erzeugt er sich selbst der Gattung   nach, in d er er einerseits als W irkun g,andrerseits als Ursache,  von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht undebe n so sich selbst oft her vo rbr ing en d, sich als G attu ng bestän dig erhä lt.24

    Kant nennt diese Reproduktionsweise später Fortpflanzung.25 Als erstesCharakteristikum organisierter Körper fuhrt es die zentrale Problematik

    ihrer Erscheinungen ein, nämlich die fortgesetzte Reproduktion einerin Individuen vorliegenden Ordnungsform durch die Individuen selbst.

    In dieser Perspektive existiert der Baum für Kant immer als Baum imBaum. Er ist als organisierter Körper ein reproduktiver Körper. Das, wasin ihm organisierend ist, ist reproduzierend, und das, was in ihm organisiert ist, ist Bedingung der Fähigkeit zur Reproduktion.

    Die allgemeine Ordnungsform, die einen organisierten Körper alsreproduktiven Körper bestimmt, stellt für Kant ein „System“ dar. Der„Baum“ als „System“ entspricht dem Naturzweckbegriff als „Erkennt-nißgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung allesMannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist“26. Durch

    24  K dU   § 64, AA 5.371.25 Fü r Kan t stellt die Fortpf lanzung die „einzige äußere Zwe ckm äßigkeit [dar],

    die mit der innern der Organisation zusammenhängt“ (KdU   § 82, AA 5.425).Es ist „die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zurFortpflanzung ihrer Art“, die für Kant „allererst ein organisirendes  Ganze“ ausmacht, „obzwar nicht ein organisirtes in einem einzigen Körper“ (ebd.). Siehehierzu Löw 1980, 199 und Ewers 1986, 21.

    26  K dU   § 65, AA 5.373. Johann Heinrich Lambert, der zwischen 1765-1770 mit

    Kant korrespondiert, hat im  Fragment einer Systematologie  (1771) ein „System“von Teilen au f ähnliche Weise wie Kant den N aturzwe ckbegriff definiert: „ Zueinem System werden also Teile, und zwar mehrere erfordert. Diese müssenauseinandergesetzt, jedes für sich kenntlich, mit Absicht gestellt oder geordnet

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    Die Art (espece)  eines Baumes, die der Kantischen Gattung entspricht,stellt fur Bonnet die allgemeine, ursprüngliche Ordnungsform der

    Einheit eines Plans und eines organisierten Körpers dar. Diese Ordnungsform wird in jedem besonderen System lebender Körper durch

    kontingente Umstände individuell ausgeprägt.30 Der Keim enthält „denursprünglichen Abdruck (empreinte originelle)  der Art, und nicht den derIndividualität“,31 un d doch „existieren nur individuelle Wesen (etres individuels),  die miteinander über tausend Beziehungen verbundensind“32.

    3. Die Reproduktion durch „Ernährung“ und „Wachstum“

    Die zweite Reproduktionsweise, die „Bäume“ als organisierte Körperauszeichnet, besteht in einer bestimmten Verarbeitung der von außenaufgenommenen Stoffe. Diese Verarbeitung kommt der Zeugung einesdem Körper eigenen Produktes gleich, durch die er sich „selbst alsIndividuum erzeugt“, indem er durch „Hinzusetzung“ des Produkts zuseiner eigenen Masse „wächst“ und sich durch das Produkt „ernährt“.

    Das Wachstum des „Baumes“ unterscheidet sich von „jeder ändernGrößenzunahme nach mechanischen Gesetzen“, weil seine innereOrganisation die aufgenommene Materie, die bereits alle „Bestandt-heile“ der „Mischung“ enthält, durch ein besonderes „Scheidungs- undBildungsvermögen“ zu einer „spezifisch-eigentümlichen Qualität“umformt, „welche der Naturmechanism außer ihm nicht liefern kann“.Diese „Mischung“, die der „Baum“ sich zum Wachstum von innen her

    „hinzusetzt“ , ist derart spezifisch, „daß alle Kunst davon unendlich weitentfernt bleibt, wenn sie versucht, aus den Elementen, die sie durch

    Zergliederung derselben erhält [