Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Leseprobe Stefanie Gercke Ort der Zuflucht Roman Bestellen Sie mit einem Klick für 10,99 € Seiten: 528 Erscheinungstermin: 11. Januar 2021 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

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Page 1: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

Leseprobe

Stefanie Gercke

Ort der Zuflucht Roman

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1099 euro

Seiten 528

Erscheinungstermin 11 Januar 2021

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Zum Buch Verbrechen im Vergessenen ndash der neue groszlige Roman von Stefanie

Gercke

Die Deutsche Nina waumlchst in Suumldafrika auf Mit zwanzig wird sie von

einem Mann uumlberfallen Sie verlaumlsst Afrika und geht nach Deutschland

Das traumatische Erlebnis ist durch eine Teilamnesie aus dem

Bewusstsein verbannt Eine Tragoumldie zwingt sie zehn Jahre spaumlter zur

Ruumlckkehr Ihr geliebter Vater braucht dringend eine Niere und sie

scheidet als Spenderin aus Aber er offenbart ihr ein Geheimnis Er hatte

einst in Suumldafrika eine Affaumlre aus der ein weiteres Kind entsprungen ist

Nina uumlberwindet ihre Angst und macht sich auf die Suche Stuumlck fuumlr Stuumlck

kehrt ihre Erinnerung an den Schrecken von damals zuruumlck Viel zu spaumlt

erkennt sie in welcher Gefahr sie schwebt

Autor

Stefanie Gercke Stefanie Gercke wurde auf einer Insel des Bissagos-

Archipels vor Guinea-BissauWestafrika als erste

Weiszlige geboren und wanderte mit 20 Jahren nach

Suumldafrika aus Politische Gruumlnde zwangen sie Ende

der Siebzigerjahre zur Ausreise und erst unter der

neuen Regierung Nelson Mandelas konnte sie

zuruumlckkehren Sie liebt ihre regelmaumlszligigen kleinen

Fluchten in die suumldafrikanische Provinz Natal und

lebt sonst mit ihrer groszligen Familie bei Hamburg

STEFANIE

GERCKEORT DER

ZUFLUCHTROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMUumlNCHEN

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Prolog

Mit einem arbeitslosen Ingenieur namens Viktor einer sehr hungrigen Kraumlhe einem Chefredakteur mit teurem Ge-

schmack und einer gefrorenen Banane begann die Geschichte an einem bitterkalten Tag in Hamburg im November 2015

Es haumltte eine lustige Geschichte werden koumlnnen eine mit der Viktor der funkelnde Mittelpunkt jeder Party gewesen waumlre und es waumlre nichts passiert haumltte es nicht geschneit

Und waumlre die Kraumlhe nicht so hungrig gewesenAber es hatte geschneit und die Kraumlhe war hungrig gewesen

Viktor verlieszlig seine Wohnung morgens in freudiger wenn auch ge-spannter Stimmung In den letzten Monaten war sein finanzielles Polster in einem Tempo dahingeschwunden dass ihm regelmaumlszligig schlecht wurde wenn er seinen Kontostand sah Aber in wenigen Stunden hatte er mit dem Chefredakteur eines Hochglanzmagazins fuumlr Luxusreisen jenen Termin der uumlber seine finanzielle Zukunft entscheiden wuumlrde Der Redakteur brauchte schoumlne Fotos aus Suumld-afrika und die Gage dafuumlr wuumlrde sein Konto unvermittelt in die Komfortzone befoumlrdern Auszligerdem war die Reise dorthin Teil des Angebots

Seit mehr als zwei Jahren hatten sich die Anzeichen gehaumluft dass die Firma in der er seit vielen Jahren als Ingenieur arbeitete in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte Stellen wurden rigoros gestrichen Mitarbeiter entlassen und Investitionen auf Eis gelegt was er anfaumlnglich geflissentlich ignoriert hatte Aber als er die huumlb-sche Angela die ihm gelegentlich die Einsamkeit versuumlszligt hatte im

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stroumlmenden Regen auf der Treppe zur U-Bahn entdeckte und sie ihm unter hemmungslosem Schluchzen erklaumlrte dass man sie ge-rade entlassen habe konnte er sich die Situation nicht mehr schoumln-reden

Viktor war Ende fuumlnfzig Seine Tochter Nina war Anfang drei-szligig und stand als Leiterin eines Forschungslabors laumlngst auf eigenen Beinen Dass er bei der naumlchsten Entlassungswelle mit Sicherheit als einer der Ersten dem freien Arbeitsmarkt zur Verfuumlgung gestellt werden wuumlrde wie es so schoumln hieszlig war er zuvorgekommen in-dem er sich vor einem halben Jahr selbststaumlndig gemacht hatte Nicht als Ingenieur sondern als Fotograf Schon davor war aus sei-nem Hobby eine groszlige Leidenschaft geworden und er hatte sich einen guten Namen fuumlr dramatische Tierfotografien in freier Wild-bahn erworben Angreifende Elefanten zum Beispiel ein blutiger Kampf zwischen Loumlwen und Hyaumlnen um Beute und einmal die sensationelle Aufnahme eines Leoparden der sich mit einer wuumlten-den Kobra angelegt hatte Die Fotos aus dem Urlaub hatten ihm zu einem netten Nebenverdienst verholfen den er auf die hohe Kante gelegt hatte Das hielt ihn momentan noch uumlber Wasser Aber be-stimmt nicht mehr lange Eigentlich stand ihm das Wasser schon Unterkante Oberkiefer

Es war ein Schritt uumlber das Kliff ins Leere gewesen aber er hatte keine Alternative gesehen Kein Headhunter war aufgetaucht der ihn mit einer lukrativen Position als Ingenieur gelockt haumltte Er sei einfach zu alt wie man ihm auf eine seiner Bewerbungen lapidar geantwortet hatte Zwei groszlige Whisky on the rocks hatte er benouml-tigt um diese unverbluumlmte Aussage einigermaszligen zu verdauen und die Whiskyflasche leerte sich in gleichem Maszlig wie der Stapel an Absagen wuchs Nina gegenuumlber tat er immer so als koumlnnte er sich die Stellenangebote aussuchen

Der Oktober war golden gewesen hatte den Norden mit blutroten Sonnenuntergaumlngen und zweistelligen Temperaturen verwoumlhnt

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Rosen trieben spaumlte Bluumlten die jungen Maumldchen trugen kniekurz und sogar die Kraniche drehten noch ein paar Runden ehe sie in Richtung Suumlden verschwanden

In den letzten Wochen hatte Viktor nur am Rande mitbekom-men dass die Medien jeden Tag aufgeregt uumlber ein Wetterphaumlno-men berichteten das auf der anderen Seite des Globus sein Unwe-sen trieb und weltweit das Wetter durcheinanderbrachte Seit Menschengedenken trat es zur Weihnachtszeit vor der Kuumlste Perus auf und die peruanischen Seeleute hatten es einst auf den Namen El Nintildeo getauft

El Nintildeo das ChristkindSchon im Fruumlhjahr hatten nervoumlse Meteorologen verkuumlndet

dass El Nintildeo bereits da sei und sich als einer der staumlrksten zu ent-wickeln drohe die je beobachtet worden seien Sie nannten ihn den Hooligan und schwelgten in duumlsteren Prophezeiungen Ex-treme Hitze- und Kaumllterekorde Hurrikans Duumlrre sintflutartige Regenfaumllle Uumlberschwemmungen und Erdrutsche ungeahnten Ausmaszliges wuumlrden das Weltwetter bestimmen Buschfeuer Miss-ernten Hungerepidemien und Ausbruumlche von Seuchen seien vor-programmiert

Die Oumlffentlichkeit war alarmiert und die Medien uumlberschlugen sich mit Sonderberichten Ein Spaszligvogel von der NASA verpasste darauf El Nintildeo 2015 den Spitznamen Godzilla

El Nintildeo war ein launenhaftes Kind das wussten und fuumlrchteten alle Jahrelang konnte er sich ruhig verhalten aber manchmal be-gann er sich zu langweilen und wie ein gelangweiltes Kind fing er an Unfug zu machen und loumlste in seinem zerstoumlrerischen Uumlbermut Naturkatastrophen auf allen Kontinenten aus War El Nintildeo seiner Spielchen uumlberdruumlssig gab er fuumlr ein paar Jahre Ruhe Aber nie-mand der je seinen Uumlbermut zu spuumlren bekommen hatte vergaszlig wie es gewesen war und wie es wieder sein koumlnnte

In diesem Jahr aber narrte das Christkind alle Es hielt sich nicht an die Regeln In den ersten Monaten des Jahres rekelte es sich nur

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 2: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Verbrechen im Vergessenen ndash der neue groszlige Roman von Stefanie

Gercke

Die Deutsche Nina waumlchst in Suumldafrika auf Mit zwanzig wird sie von

einem Mann uumlberfallen Sie verlaumlsst Afrika und geht nach Deutschland

Das traumatische Erlebnis ist durch eine Teilamnesie aus dem

Bewusstsein verbannt Eine Tragoumldie zwingt sie zehn Jahre spaumlter zur

Ruumlckkehr Ihr geliebter Vater braucht dringend eine Niere und sie

scheidet als Spenderin aus Aber er offenbart ihr ein Geheimnis Er hatte

einst in Suumldafrika eine Affaumlre aus der ein weiteres Kind entsprungen ist

Nina uumlberwindet ihre Angst und macht sich auf die Suche Stuumlck fuumlr Stuumlck

kehrt ihre Erinnerung an den Schrecken von damals zuruumlck Viel zu spaumlt

erkennt sie in welcher Gefahr sie schwebt

Autor

Stefanie Gercke Stefanie Gercke wurde auf einer Insel des Bissagos-

Archipels vor Guinea-BissauWestafrika als erste

Weiszlige geboren und wanderte mit 20 Jahren nach

Suumldafrika aus Politische Gruumlnde zwangen sie Ende

der Siebzigerjahre zur Ausreise und erst unter der

neuen Regierung Nelson Mandelas konnte sie

zuruumlckkehren Sie liebt ihre regelmaumlszligigen kleinen

Fluchten in die suumldafrikanische Provinz Natal und

lebt sonst mit ihrer groszligen Familie bei Hamburg

STEFANIE

GERCKEORT DER

ZUFLUCHTROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMUumlNCHEN

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Prolog

Mit einem arbeitslosen Ingenieur namens Viktor einer sehr hungrigen Kraumlhe einem Chefredakteur mit teurem Ge-

schmack und einer gefrorenen Banane begann die Geschichte an einem bitterkalten Tag in Hamburg im November 2015

Es haumltte eine lustige Geschichte werden koumlnnen eine mit der Viktor der funkelnde Mittelpunkt jeder Party gewesen waumlre und es waumlre nichts passiert haumltte es nicht geschneit

Und waumlre die Kraumlhe nicht so hungrig gewesenAber es hatte geschneit und die Kraumlhe war hungrig gewesen

Viktor verlieszlig seine Wohnung morgens in freudiger wenn auch ge-spannter Stimmung In den letzten Monaten war sein finanzielles Polster in einem Tempo dahingeschwunden dass ihm regelmaumlszligig schlecht wurde wenn er seinen Kontostand sah Aber in wenigen Stunden hatte er mit dem Chefredakteur eines Hochglanzmagazins fuumlr Luxusreisen jenen Termin der uumlber seine finanzielle Zukunft entscheiden wuumlrde Der Redakteur brauchte schoumlne Fotos aus Suumld-afrika und die Gage dafuumlr wuumlrde sein Konto unvermittelt in die Komfortzone befoumlrdern Auszligerdem war die Reise dorthin Teil des Angebots

Seit mehr als zwei Jahren hatten sich die Anzeichen gehaumluft dass die Firma in der er seit vielen Jahren als Ingenieur arbeitete in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte Stellen wurden rigoros gestrichen Mitarbeiter entlassen und Investitionen auf Eis gelegt was er anfaumlnglich geflissentlich ignoriert hatte Aber als er die huumlb-sche Angela die ihm gelegentlich die Einsamkeit versuumlszligt hatte im

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stroumlmenden Regen auf der Treppe zur U-Bahn entdeckte und sie ihm unter hemmungslosem Schluchzen erklaumlrte dass man sie ge-rade entlassen habe konnte er sich die Situation nicht mehr schoumln-reden

Viktor war Ende fuumlnfzig Seine Tochter Nina war Anfang drei-szligig und stand als Leiterin eines Forschungslabors laumlngst auf eigenen Beinen Dass er bei der naumlchsten Entlassungswelle mit Sicherheit als einer der Ersten dem freien Arbeitsmarkt zur Verfuumlgung gestellt werden wuumlrde wie es so schoumln hieszlig war er zuvorgekommen in-dem er sich vor einem halben Jahr selbststaumlndig gemacht hatte Nicht als Ingenieur sondern als Fotograf Schon davor war aus sei-nem Hobby eine groszlige Leidenschaft geworden und er hatte sich einen guten Namen fuumlr dramatische Tierfotografien in freier Wild-bahn erworben Angreifende Elefanten zum Beispiel ein blutiger Kampf zwischen Loumlwen und Hyaumlnen um Beute und einmal die sensationelle Aufnahme eines Leoparden der sich mit einer wuumlten-den Kobra angelegt hatte Die Fotos aus dem Urlaub hatten ihm zu einem netten Nebenverdienst verholfen den er auf die hohe Kante gelegt hatte Das hielt ihn momentan noch uumlber Wasser Aber be-stimmt nicht mehr lange Eigentlich stand ihm das Wasser schon Unterkante Oberkiefer

Es war ein Schritt uumlber das Kliff ins Leere gewesen aber er hatte keine Alternative gesehen Kein Headhunter war aufgetaucht der ihn mit einer lukrativen Position als Ingenieur gelockt haumltte Er sei einfach zu alt wie man ihm auf eine seiner Bewerbungen lapidar geantwortet hatte Zwei groszlige Whisky on the rocks hatte er benouml-tigt um diese unverbluumlmte Aussage einigermaszligen zu verdauen und die Whiskyflasche leerte sich in gleichem Maszlig wie der Stapel an Absagen wuchs Nina gegenuumlber tat er immer so als koumlnnte er sich die Stellenangebote aussuchen

Der Oktober war golden gewesen hatte den Norden mit blutroten Sonnenuntergaumlngen und zweistelligen Temperaturen verwoumlhnt

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Rosen trieben spaumlte Bluumlten die jungen Maumldchen trugen kniekurz und sogar die Kraniche drehten noch ein paar Runden ehe sie in Richtung Suumlden verschwanden

In den letzten Wochen hatte Viktor nur am Rande mitbekom-men dass die Medien jeden Tag aufgeregt uumlber ein Wetterphaumlno-men berichteten das auf der anderen Seite des Globus sein Unwe-sen trieb und weltweit das Wetter durcheinanderbrachte Seit Menschengedenken trat es zur Weihnachtszeit vor der Kuumlste Perus auf und die peruanischen Seeleute hatten es einst auf den Namen El Nintildeo getauft

El Nintildeo das ChristkindSchon im Fruumlhjahr hatten nervoumlse Meteorologen verkuumlndet

dass El Nintildeo bereits da sei und sich als einer der staumlrksten zu ent-wickeln drohe die je beobachtet worden seien Sie nannten ihn den Hooligan und schwelgten in duumlsteren Prophezeiungen Ex-treme Hitze- und Kaumllterekorde Hurrikans Duumlrre sintflutartige Regenfaumllle Uumlberschwemmungen und Erdrutsche ungeahnten Ausmaszliges wuumlrden das Weltwetter bestimmen Buschfeuer Miss-ernten Hungerepidemien und Ausbruumlche von Seuchen seien vor-programmiert

Die Oumlffentlichkeit war alarmiert und die Medien uumlberschlugen sich mit Sonderberichten Ein Spaszligvogel von der NASA verpasste darauf El Nintildeo 2015 den Spitznamen Godzilla

El Nintildeo war ein launenhaftes Kind das wussten und fuumlrchteten alle Jahrelang konnte er sich ruhig verhalten aber manchmal be-gann er sich zu langweilen und wie ein gelangweiltes Kind fing er an Unfug zu machen und loumlste in seinem zerstoumlrerischen Uumlbermut Naturkatastrophen auf allen Kontinenten aus War El Nintildeo seiner Spielchen uumlberdruumlssig gab er fuumlr ein paar Jahre Ruhe Aber nie-mand der je seinen Uumlbermut zu spuumlren bekommen hatte vergaszlig wie es gewesen war und wie es wieder sein koumlnnte

In diesem Jahr aber narrte das Christkind alle Es hielt sich nicht an die Regeln In den ersten Monaten des Jahres rekelte es sich nur

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 3: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

STEFANIE

GERCKEORT DER

ZUFLUCHTROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMUumlNCHEN

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Prolog

Mit einem arbeitslosen Ingenieur namens Viktor einer sehr hungrigen Kraumlhe einem Chefredakteur mit teurem Ge-

schmack und einer gefrorenen Banane begann die Geschichte an einem bitterkalten Tag in Hamburg im November 2015

Es haumltte eine lustige Geschichte werden koumlnnen eine mit der Viktor der funkelnde Mittelpunkt jeder Party gewesen waumlre und es waumlre nichts passiert haumltte es nicht geschneit

Und waumlre die Kraumlhe nicht so hungrig gewesenAber es hatte geschneit und die Kraumlhe war hungrig gewesen

Viktor verlieszlig seine Wohnung morgens in freudiger wenn auch ge-spannter Stimmung In den letzten Monaten war sein finanzielles Polster in einem Tempo dahingeschwunden dass ihm regelmaumlszligig schlecht wurde wenn er seinen Kontostand sah Aber in wenigen Stunden hatte er mit dem Chefredakteur eines Hochglanzmagazins fuumlr Luxusreisen jenen Termin der uumlber seine finanzielle Zukunft entscheiden wuumlrde Der Redakteur brauchte schoumlne Fotos aus Suumld-afrika und die Gage dafuumlr wuumlrde sein Konto unvermittelt in die Komfortzone befoumlrdern Auszligerdem war die Reise dorthin Teil des Angebots

Seit mehr als zwei Jahren hatten sich die Anzeichen gehaumluft dass die Firma in der er seit vielen Jahren als Ingenieur arbeitete in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte Stellen wurden rigoros gestrichen Mitarbeiter entlassen und Investitionen auf Eis gelegt was er anfaumlnglich geflissentlich ignoriert hatte Aber als er die huumlb-sche Angela die ihm gelegentlich die Einsamkeit versuumlszligt hatte im

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stroumlmenden Regen auf der Treppe zur U-Bahn entdeckte und sie ihm unter hemmungslosem Schluchzen erklaumlrte dass man sie ge-rade entlassen habe konnte er sich die Situation nicht mehr schoumln-reden

Viktor war Ende fuumlnfzig Seine Tochter Nina war Anfang drei-szligig und stand als Leiterin eines Forschungslabors laumlngst auf eigenen Beinen Dass er bei der naumlchsten Entlassungswelle mit Sicherheit als einer der Ersten dem freien Arbeitsmarkt zur Verfuumlgung gestellt werden wuumlrde wie es so schoumln hieszlig war er zuvorgekommen in-dem er sich vor einem halben Jahr selbststaumlndig gemacht hatte Nicht als Ingenieur sondern als Fotograf Schon davor war aus sei-nem Hobby eine groszlige Leidenschaft geworden und er hatte sich einen guten Namen fuumlr dramatische Tierfotografien in freier Wild-bahn erworben Angreifende Elefanten zum Beispiel ein blutiger Kampf zwischen Loumlwen und Hyaumlnen um Beute und einmal die sensationelle Aufnahme eines Leoparden der sich mit einer wuumlten-den Kobra angelegt hatte Die Fotos aus dem Urlaub hatten ihm zu einem netten Nebenverdienst verholfen den er auf die hohe Kante gelegt hatte Das hielt ihn momentan noch uumlber Wasser Aber be-stimmt nicht mehr lange Eigentlich stand ihm das Wasser schon Unterkante Oberkiefer

Es war ein Schritt uumlber das Kliff ins Leere gewesen aber er hatte keine Alternative gesehen Kein Headhunter war aufgetaucht der ihn mit einer lukrativen Position als Ingenieur gelockt haumltte Er sei einfach zu alt wie man ihm auf eine seiner Bewerbungen lapidar geantwortet hatte Zwei groszlige Whisky on the rocks hatte er benouml-tigt um diese unverbluumlmte Aussage einigermaszligen zu verdauen und die Whiskyflasche leerte sich in gleichem Maszlig wie der Stapel an Absagen wuchs Nina gegenuumlber tat er immer so als koumlnnte er sich die Stellenangebote aussuchen

Der Oktober war golden gewesen hatte den Norden mit blutroten Sonnenuntergaumlngen und zweistelligen Temperaturen verwoumlhnt

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Rosen trieben spaumlte Bluumlten die jungen Maumldchen trugen kniekurz und sogar die Kraniche drehten noch ein paar Runden ehe sie in Richtung Suumlden verschwanden

In den letzten Wochen hatte Viktor nur am Rande mitbekom-men dass die Medien jeden Tag aufgeregt uumlber ein Wetterphaumlno-men berichteten das auf der anderen Seite des Globus sein Unwe-sen trieb und weltweit das Wetter durcheinanderbrachte Seit Menschengedenken trat es zur Weihnachtszeit vor der Kuumlste Perus auf und die peruanischen Seeleute hatten es einst auf den Namen El Nintildeo getauft

El Nintildeo das ChristkindSchon im Fruumlhjahr hatten nervoumlse Meteorologen verkuumlndet

dass El Nintildeo bereits da sei und sich als einer der staumlrksten zu ent-wickeln drohe die je beobachtet worden seien Sie nannten ihn den Hooligan und schwelgten in duumlsteren Prophezeiungen Ex-treme Hitze- und Kaumllterekorde Hurrikans Duumlrre sintflutartige Regenfaumllle Uumlberschwemmungen und Erdrutsche ungeahnten Ausmaszliges wuumlrden das Weltwetter bestimmen Buschfeuer Miss-ernten Hungerepidemien und Ausbruumlche von Seuchen seien vor-programmiert

Die Oumlffentlichkeit war alarmiert und die Medien uumlberschlugen sich mit Sonderberichten Ein Spaszligvogel von der NASA verpasste darauf El Nintildeo 2015 den Spitznamen Godzilla

El Nintildeo war ein launenhaftes Kind das wussten und fuumlrchteten alle Jahrelang konnte er sich ruhig verhalten aber manchmal be-gann er sich zu langweilen und wie ein gelangweiltes Kind fing er an Unfug zu machen und loumlste in seinem zerstoumlrerischen Uumlbermut Naturkatastrophen auf allen Kontinenten aus War El Nintildeo seiner Spielchen uumlberdruumlssig gab er fuumlr ein paar Jahre Ruhe Aber nie-mand der je seinen Uumlbermut zu spuumlren bekommen hatte vergaszlig wie es gewesen war und wie es wieder sein koumlnnte

In diesem Jahr aber narrte das Christkind alle Es hielt sich nicht an die Regeln In den ersten Monaten des Jahres rekelte es sich nur

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 4: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Prolog

Mit einem arbeitslosen Ingenieur namens Viktor einer sehr hungrigen Kraumlhe einem Chefredakteur mit teurem Ge-

schmack und einer gefrorenen Banane begann die Geschichte an einem bitterkalten Tag in Hamburg im November 2015

Es haumltte eine lustige Geschichte werden koumlnnen eine mit der Viktor der funkelnde Mittelpunkt jeder Party gewesen waumlre und es waumlre nichts passiert haumltte es nicht geschneit

Und waumlre die Kraumlhe nicht so hungrig gewesenAber es hatte geschneit und die Kraumlhe war hungrig gewesen

Viktor verlieszlig seine Wohnung morgens in freudiger wenn auch ge-spannter Stimmung In den letzten Monaten war sein finanzielles Polster in einem Tempo dahingeschwunden dass ihm regelmaumlszligig schlecht wurde wenn er seinen Kontostand sah Aber in wenigen Stunden hatte er mit dem Chefredakteur eines Hochglanzmagazins fuumlr Luxusreisen jenen Termin der uumlber seine finanzielle Zukunft entscheiden wuumlrde Der Redakteur brauchte schoumlne Fotos aus Suumld-afrika und die Gage dafuumlr wuumlrde sein Konto unvermittelt in die Komfortzone befoumlrdern Auszligerdem war die Reise dorthin Teil des Angebots

Seit mehr als zwei Jahren hatten sich die Anzeichen gehaumluft dass die Firma in der er seit vielen Jahren als Ingenieur arbeitete in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte Stellen wurden rigoros gestrichen Mitarbeiter entlassen und Investitionen auf Eis gelegt was er anfaumlnglich geflissentlich ignoriert hatte Aber als er die huumlb-sche Angela die ihm gelegentlich die Einsamkeit versuumlszligt hatte im

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stroumlmenden Regen auf der Treppe zur U-Bahn entdeckte und sie ihm unter hemmungslosem Schluchzen erklaumlrte dass man sie ge-rade entlassen habe konnte er sich die Situation nicht mehr schoumln-reden

Viktor war Ende fuumlnfzig Seine Tochter Nina war Anfang drei-szligig und stand als Leiterin eines Forschungslabors laumlngst auf eigenen Beinen Dass er bei der naumlchsten Entlassungswelle mit Sicherheit als einer der Ersten dem freien Arbeitsmarkt zur Verfuumlgung gestellt werden wuumlrde wie es so schoumln hieszlig war er zuvorgekommen in-dem er sich vor einem halben Jahr selbststaumlndig gemacht hatte Nicht als Ingenieur sondern als Fotograf Schon davor war aus sei-nem Hobby eine groszlige Leidenschaft geworden und er hatte sich einen guten Namen fuumlr dramatische Tierfotografien in freier Wild-bahn erworben Angreifende Elefanten zum Beispiel ein blutiger Kampf zwischen Loumlwen und Hyaumlnen um Beute und einmal die sensationelle Aufnahme eines Leoparden der sich mit einer wuumlten-den Kobra angelegt hatte Die Fotos aus dem Urlaub hatten ihm zu einem netten Nebenverdienst verholfen den er auf die hohe Kante gelegt hatte Das hielt ihn momentan noch uumlber Wasser Aber be-stimmt nicht mehr lange Eigentlich stand ihm das Wasser schon Unterkante Oberkiefer

Es war ein Schritt uumlber das Kliff ins Leere gewesen aber er hatte keine Alternative gesehen Kein Headhunter war aufgetaucht der ihn mit einer lukrativen Position als Ingenieur gelockt haumltte Er sei einfach zu alt wie man ihm auf eine seiner Bewerbungen lapidar geantwortet hatte Zwei groszlige Whisky on the rocks hatte er benouml-tigt um diese unverbluumlmte Aussage einigermaszligen zu verdauen und die Whiskyflasche leerte sich in gleichem Maszlig wie der Stapel an Absagen wuchs Nina gegenuumlber tat er immer so als koumlnnte er sich die Stellenangebote aussuchen

Der Oktober war golden gewesen hatte den Norden mit blutroten Sonnenuntergaumlngen und zweistelligen Temperaturen verwoumlhnt

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Rosen trieben spaumlte Bluumlten die jungen Maumldchen trugen kniekurz und sogar die Kraniche drehten noch ein paar Runden ehe sie in Richtung Suumlden verschwanden

In den letzten Wochen hatte Viktor nur am Rande mitbekom-men dass die Medien jeden Tag aufgeregt uumlber ein Wetterphaumlno-men berichteten das auf der anderen Seite des Globus sein Unwe-sen trieb und weltweit das Wetter durcheinanderbrachte Seit Menschengedenken trat es zur Weihnachtszeit vor der Kuumlste Perus auf und die peruanischen Seeleute hatten es einst auf den Namen El Nintildeo getauft

El Nintildeo das ChristkindSchon im Fruumlhjahr hatten nervoumlse Meteorologen verkuumlndet

dass El Nintildeo bereits da sei und sich als einer der staumlrksten zu ent-wickeln drohe die je beobachtet worden seien Sie nannten ihn den Hooligan und schwelgten in duumlsteren Prophezeiungen Ex-treme Hitze- und Kaumllterekorde Hurrikans Duumlrre sintflutartige Regenfaumllle Uumlberschwemmungen und Erdrutsche ungeahnten Ausmaszliges wuumlrden das Weltwetter bestimmen Buschfeuer Miss-ernten Hungerepidemien und Ausbruumlche von Seuchen seien vor-programmiert

Die Oumlffentlichkeit war alarmiert und die Medien uumlberschlugen sich mit Sonderberichten Ein Spaszligvogel von der NASA verpasste darauf El Nintildeo 2015 den Spitznamen Godzilla

El Nintildeo war ein launenhaftes Kind das wussten und fuumlrchteten alle Jahrelang konnte er sich ruhig verhalten aber manchmal be-gann er sich zu langweilen und wie ein gelangweiltes Kind fing er an Unfug zu machen und loumlste in seinem zerstoumlrerischen Uumlbermut Naturkatastrophen auf allen Kontinenten aus War El Nintildeo seiner Spielchen uumlberdruumlssig gab er fuumlr ein paar Jahre Ruhe Aber nie-mand der je seinen Uumlbermut zu spuumlren bekommen hatte vergaszlig wie es gewesen war und wie es wieder sein koumlnnte

In diesem Jahr aber narrte das Christkind alle Es hielt sich nicht an die Regeln In den ersten Monaten des Jahres rekelte es sich nur

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 5: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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stroumlmenden Regen auf der Treppe zur U-Bahn entdeckte und sie ihm unter hemmungslosem Schluchzen erklaumlrte dass man sie ge-rade entlassen habe konnte er sich die Situation nicht mehr schoumln-reden

Viktor war Ende fuumlnfzig Seine Tochter Nina war Anfang drei-szligig und stand als Leiterin eines Forschungslabors laumlngst auf eigenen Beinen Dass er bei der naumlchsten Entlassungswelle mit Sicherheit als einer der Ersten dem freien Arbeitsmarkt zur Verfuumlgung gestellt werden wuumlrde wie es so schoumln hieszlig war er zuvorgekommen in-dem er sich vor einem halben Jahr selbststaumlndig gemacht hatte Nicht als Ingenieur sondern als Fotograf Schon davor war aus sei-nem Hobby eine groszlige Leidenschaft geworden und er hatte sich einen guten Namen fuumlr dramatische Tierfotografien in freier Wild-bahn erworben Angreifende Elefanten zum Beispiel ein blutiger Kampf zwischen Loumlwen und Hyaumlnen um Beute und einmal die sensationelle Aufnahme eines Leoparden der sich mit einer wuumlten-den Kobra angelegt hatte Die Fotos aus dem Urlaub hatten ihm zu einem netten Nebenverdienst verholfen den er auf die hohe Kante gelegt hatte Das hielt ihn momentan noch uumlber Wasser Aber be-stimmt nicht mehr lange Eigentlich stand ihm das Wasser schon Unterkante Oberkiefer

Es war ein Schritt uumlber das Kliff ins Leere gewesen aber er hatte keine Alternative gesehen Kein Headhunter war aufgetaucht der ihn mit einer lukrativen Position als Ingenieur gelockt haumltte Er sei einfach zu alt wie man ihm auf eine seiner Bewerbungen lapidar geantwortet hatte Zwei groszlige Whisky on the rocks hatte er benouml-tigt um diese unverbluumlmte Aussage einigermaszligen zu verdauen und die Whiskyflasche leerte sich in gleichem Maszlig wie der Stapel an Absagen wuchs Nina gegenuumlber tat er immer so als koumlnnte er sich die Stellenangebote aussuchen

Der Oktober war golden gewesen hatte den Norden mit blutroten Sonnenuntergaumlngen und zweistelligen Temperaturen verwoumlhnt

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Rosen trieben spaumlte Bluumlten die jungen Maumldchen trugen kniekurz und sogar die Kraniche drehten noch ein paar Runden ehe sie in Richtung Suumlden verschwanden

In den letzten Wochen hatte Viktor nur am Rande mitbekom-men dass die Medien jeden Tag aufgeregt uumlber ein Wetterphaumlno-men berichteten das auf der anderen Seite des Globus sein Unwe-sen trieb und weltweit das Wetter durcheinanderbrachte Seit Menschengedenken trat es zur Weihnachtszeit vor der Kuumlste Perus auf und die peruanischen Seeleute hatten es einst auf den Namen El Nintildeo getauft

El Nintildeo das ChristkindSchon im Fruumlhjahr hatten nervoumlse Meteorologen verkuumlndet

dass El Nintildeo bereits da sei und sich als einer der staumlrksten zu ent-wickeln drohe die je beobachtet worden seien Sie nannten ihn den Hooligan und schwelgten in duumlsteren Prophezeiungen Ex-treme Hitze- und Kaumllterekorde Hurrikans Duumlrre sintflutartige Regenfaumllle Uumlberschwemmungen und Erdrutsche ungeahnten Ausmaszliges wuumlrden das Weltwetter bestimmen Buschfeuer Miss-ernten Hungerepidemien und Ausbruumlche von Seuchen seien vor-programmiert

Die Oumlffentlichkeit war alarmiert und die Medien uumlberschlugen sich mit Sonderberichten Ein Spaszligvogel von der NASA verpasste darauf El Nintildeo 2015 den Spitznamen Godzilla

El Nintildeo war ein launenhaftes Kind das wussten und fuumlrchteten alle Jahrelang konnte er sich ruhig verhalten aber manchmal be-gann er sich zu langweilen und wie ein gelangweiltes Kind fing er an Unfug zu machen und loumlste in seinem zerstoumlrerischen Uumlbermut Naturkatastrophen auf allen Kontinenten aus War El Nintildeo seiner Spielchen uumlberdruumlssig gab er fuumlr ein paar Jahre Ruhe Aber nie-mand der je seinen Uumlbermut zu spuumlren bekommen hatte vergaszlig wie es gewesen war und wie es wieder sein koumlnnte

In diesem Jahr aber narrte das Christkind alle Es hielt sich nicht an die Regeln In den ersten Monaten des Jahres rekelte es sich nur

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 6: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Rosen trieben spaumlte Bluumlten die jungen Maumldchen trugen kniekurz und sogar die Kraniche drehten noch ein paar Runden ehe sie in Richtung Suumlden verschwanden

In den letzten Wochen hatte Viktor nur am Rande mitbekom-men dass die Medien jeden Tag aufgeregt uumlber ein Wetterphaumlno-men berichteten das auf der anderen Seite des Globus sein Unwe-sen trieb und weltweit das Wetter durcheinanderbrachte Seit Menschengedenken trat es zur Weihnachtszeit vor der Kuumlste Perus auf und die peruanischen Seeleute hatten es einst auf den Namen El Nintildeo getauft

El Nintildeo das ChristkindSchon im Fruumlhjahr hatten nervoumlse Meteorologen verkuumlndet

dass El Nintildeo bereits da sei und sich als einer der staumlrksten zu ent-wickeln drohe die je beobachtet worden seien Sie nannten ihn den Hooligan und schwelgten in duumlsteren Prophezeiungen Ex-treme Hitze- und Kaumllterekorde Hurrikans Duumlrre sintflutartige Regenfaumllle Uumlberschwemmungen und Erdrutsche ungeahnten Ausmaszliges wuumlrden das Weltwetter bestimmen Buschfeuer Miss-ernten Hungerepidemien und Ausbruumlche von Seuchen seien vor-programmiert

Die Oumlffentlichkeit war alarmiert und die Medien uumlberschlugen sich mit Sonderberichten Ein Spaszligvogel von der NASA verpasste darauf El Nintildeo 2015 den Spitznamen Godzilla

El Nintildeo war ein launenhaftes Kind das wussten und fuumlrchteten alle Jahrelang konnte er sich ruhig verhalten aber manchmal be-gann er sich zu langweilen und wie ein gelangweiltes Kind fing er an Unfug zu machen und loumlste in seinem zerstoumlrerischen Uumlbermut Naturkatastrophen auf allen Kontinenten aus War El Nintildeo seiner Spielchen uumlberdruumlssig gab er fuumlr ein paar Jahre Ruhe Aber nie-mand der je seinen Uumlbermut zu spuumlren bekommen hatte vergaszlig wie es gewesen war und wie es wieder sein koumlnnte

In diesem Jahr aber narrte das Christkind alle Es hielt sich nicht an die Regeln In den ersten Monaten des Jahres rekelte es sich nur

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 7: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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kurz und legte sich dann in den schattigen Tiefen des Ostpazifiks vor Peru auf die Lauer

Die Meteorologen blamierten sich gruumlndlich und ruderten zu-ruumlck Die Medien stuumlrzten sich auf andere Themen El Nintildeo war-tete ab Viktor kuumlmmerte sich um seine Praumlsentationsmappe

Und dann schlug der Hooligan zu Mit unglaublicher WuchtWeltweit spielte das Wetter verruumlckt Aus allen Regionen der

Erde kamen Meldungen von nie vorher da gewesenen Katastro-phen Durch die Karibik tobten noch im Dezember Hurrikans von verstoumlrender Staumlrke und in der Suumldsee wurden vom unaufhaltsam steigenden Meer ganze Inseln verschlungen In einigen Teilen Afri-kas gab es Uumlberschwemmungen von biblischen Ausmaszligen Seu-chen brachen aus in anderen fiel die Regenzeit aus und toumldliche Duumlrren waren die Folge

Ausgerechnet das bluumlhende Suumldafrika wurde von der schwersten Trockenperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen heimge-sucht und neben Kapstadt traf es am schlimmsten das Land der Zulus Seit mehr als sieben Monaten hatte es praktisch nicht ge-regnet Die Stauseen trockneten zu fauligen Schlammpfuhlen ein an ihren Ufern haumluften sich die Kadaver und der suumlszligliche Gestank nach Verwesung und Tod verpestete die Luft

Nur die Geier wurden fett und legten mehr Eier als uumlblich Auf den vertrockneten Weiden bleichten die Knochen Tausender ver-hungerter Rinder und die Zulus besannen sich auf ihre kriege-rische Tradition und gingen auf naumlchtliche Raubzuumlge durch die Viehgatter ihrer Nachbarn Wie Eiterbeulen brachen die ersten Stammesfehden wieder auf

El Nintildeo hatte ganze Arbeit geleistetJill Rogge die Eigentuumlmerin des beruumlhmten Wildreservats

Inqaba brauchte auf ihren Morgenrunden nur der Nase nach zu gehen um verdurstete Wildtiere aufzuspuumlren Manchmal stieszlig sie auf eines das gerade noch lebte aber keine Kraft mehr hatte sich

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 8: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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zu ruumlhren Heute war es eine junge Giraffe die vor Schwaumlche auf einem Seitenpfad zusammengebrochen war Als Jill sich naumlherte ver-suchte das Tier panisch auf die Beine zu kommen schaffte es aber nicht und sank wieder zuruumlck Ihr kamen die Traumlnen Leise redete sie auf die junge Giraffe ein bis sie spuumlrte dass sich das Tier ent-spannte Sanft bedeckte sie darauf die vertrauensvoll auf sie gerich-teten dunklen Augen mit einem Tuch und lud ihr Gewehr durch

Als sie spaumlter ein wenige Tage altes Elefantenjunges fand das schon zu schwach war das Gesaumluge seiner toten Mutter zu errei-chen sank sie in die Knie und weinte bitterlich

Nachdem El Nintildeo zum Entzuumlcken der Touristen die Atacama-Wuumlste in Chile mit ergiebigen Regenfaumlllen in einen Blumenteppich verwandelt hatte amuumlsierte er sich damit auf drei Kontinenten seinen Schabernack zu treiben

Als Erstes kuumlhlte er den Golfstrom ab der Luftdruck uumlber dem Atlantik sank die Westwinde fielen in sich zusammen und boten der sibirischen Kaumlltewelle die aus Russland heranrollte keinen Wi-derstand Die Temperaturen in Norddeutschland stuumlrzten in fros-tige Tiefen Es hatte vorher tagelang geregnet die hohe Luftfeuch-tigkeit ballte sich in den tief haumlngenden Wolken zu Kristallen und innerhalb von Minuten fegte ein fuumlr die Jahreszeit voumlllig untypi-scher Schneesturm durch Hamburgs Haumluserschluchten

Auf der anderen Seite der Welt an der Ostkuumlste Indiens brach uumlber Bombay ein Gewitter herein wie es die Millionenstadt selten erlebt hatte Der Boden war ausgedoumlrrt die Wassermassen konn-ten nicht ablaufen und innerhalb kuumlrzester Zeit verwandelten sich Straszligen in reiszligende Fluumlsse Auch Pune etwas uumlber hundert Kilo-meter Luftlinie entfernt versank in den Regenfluten

Fast gleichzeitig schob sich ein schwarzes Ungetuumlm ein Gewit-tersturm uumlber den Horizont von KwaZulu-Natal in Suumldafrika das in jedem die Urangst vor dem Zorn der Goumltter erweckte Der Sturm brach los und verwuumlstete Zululand

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 9: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Der Himmel uumlber Hamburg an diesem Novembertag war winterlich schwarz ein eisiger Wind fegte durch die kahlen

Baumlume und trieb den Schnee in dichten Schwaden uumlber die Stra-szligen Kein Raumlumdienst kam durch auf dem Gehweg blockierten Schneewehen den Weg und die Straszligen waren eisverkrustet Nur zwei Lebewesen waren an diesem unwirtlichen Abend unterwegs Ein Mann namens Viktor Rodenbeck ndash und eine Kraumlhe

Viktor war gluumlcklich die Kraumlhe hungrigTrotz der arktischen Kaumllte war Viktor in Hochstimmung Mit

hochgeschlagenem Mantelkragen pfluumlgte er wie ein kleiner Junge mit den Fuumlszligen durch die aufgetuumlrmten Schneewehen und summte dabei vor sich hin Es war kein Traum er hatte den Auftrag be-kommen Noch konnte er es kaum glauben aber der unterschrie-bene Vertrag fuumlr die Fotostrecke knisterte verheiszligungsvoll in seiner Brusttasche Tief in angenehme Gedanken versunken trottete er weiter

Die Kraumlhe die lautlos an ihm vorbeistrich nahm er nicht wahrSeit Wochen hatte er sich bei dem Chefredakteur den Mund

fusselig geredet ein umfangreiches Exposeacute geschrieben ihm Mus-terfotografien und Dokumentationen seiner veroumlffentlichten Ar-beiten vorgelegt die dem Redakteur veranschaulichen sollten dass er Viktor der Richtige fuumlr den Auftrag sei

Letztlich war wohl die Tatsache ausschlaggebend dass er nicht nur KwaZulu-Natal die saftig gruumlne Provinz Suumldafrikas am Indi-schen Ozean wie seine Westentasche kannte sondern auch alle anderen Provinzen des beruumlckend schoumlnen Landes Schlieszliglich

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 10: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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hatte er dort Jahrzehnte mit seiner Familie gelebt und in der nord-deutschen Kaumllte lechzte sein Koumlrper nach dem weichen warmen Atem des Indischen Ozeans

Es war 1980 auf dem Frankfurter Flughafen gewesen Sein Flug mit dem er zu seiner ersten Geschaumlftsreise in die Vereinigten Staaten starten wollte hatte sich verzoumlgert und er schlenderte ziellos durch die Menge der Reisenden die sich durch die Gaumlnge draumlngten

Manchmal waren es die unvorhersehbaren Kleinigkeiten die die groumlszligten Auswirkungen hatten In Viktors Fall war es eine zu-sammengerollte Bild-Zeitung Sie fiel ihm vor die Fuumlszlige er strau-chelte stieszlig gegen eine junge Frau die einen Kaffee in der einen und ihre offene Handtasche in der anderen Hand hielt ndash weswegen sie die Zeitung hatte fallen lassen ndash der Kaffee ergoss sich uumlber seine neue Hose und er raunzte die Frau wuumltend an ndash wie solle er jetzt so kurz vor Abflug noch an eine neue Hose kommen

Alles hatte er erwartet ndash dass sie sich entschuldigen wuumlrde oder in Traumlnen ausbrechen ihn ebenfalls anraunzen ndash nur dass sie sich in einem Lachanfall foumlrmlich kruumlmmen wuumlrde damit hatte er nicht gerechnet Wie vom Blitz getroffen hatte er sie angestarrt Blond war sie strahlend spruumlhend vor Lebenslust

raquoSie sehen wahnsinnig komisch auslaquo hatte sie zwischen Lach-salven gejapst raquoWie ein kleiner Junge der sich in die Hosen gepin-kelt hat und von der Mama erwischt worden ist helliplaquo

Sie hatte englisch gesprochen mit einem ausgepraumlgten Akzent Er oumlffnete den Mund um ihr eine passende Antwort vor die Fuumlszlige zu schleudern bekam aber keinen zusammenhaumlngenden Satz her-aus Sie schien ihn trotzdem zu verstehen

raquoJa gernelaquo sagte sie raquoMein Abflug ist erst in drei Stunden da waumlre ein Glas Wein sehr willkommenlaquo Sie warf den leeren Kaffee-becher in einen Papierkorb schulterte ihre schwere Umhaumlnge-tasche und laumlchelte ihn erwartungsvoll an

Minuten spaumlter saszligen sie sich in einem Restaurant gegenuumlber

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 11: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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und innerhalb einer halben Stunde wurde sein Leben voumlllig umge-krempelt

Krista war Afrikanerin und ihrer Familie gehoumlrte wie sie er-zaumlhlte eine idyllische Farm in Zululand

raquoDas liegt in Suumldafrikalaquo erklaumlrte sie ihmSuumldafrika Damals hatte er nur vage Vorstellungen von dem Land

am anderen Ende der Welt gehabt Johannesburg die Stadt des Goldes Kapstadt am Kap der Stuumlrme und der Kruumlgerpark waren ihm ein Begriff aber nur von Bildern Afrika stand nicht auf seiner Sehnsuchtsliste Er traumlumte von Amerika und dem Fernen Osten und vielleicht irgendwann von einem Aufenthalt in Australien

Ihre Erzaumlhlungen von der Familienfarm in Afrika weckten je-doch zu seiner Uumlberraschung ein ungeahntes Verlangen in ihm eines das er noch nie gespuumlrt hatte Es riss ihn mit wirbelte ihn aus dem Alltagstrott dem Einerlei von Arbeit Einsamkeit und uner-fuumlllten Traumlumen hinaus uumlber die Weiten der Savanne in den bren-nend blauen Himmel uumlber Afrika

Er hatte Krista in die Augen gesehen diese strahlenden blauen Augen

raquoKomm heute mit nach Amerikalaquo sagte er mit einer Stimme die er kaum als die eigene erkannte raquoIch habe da noch einiges zu erledigen Danach heiraten wir und fliegen zusammen nach Afrikalaquo

raquoJalaquo hatte Krista zu seiner unendlichen Uumlberraschung gerufen und gelacht und ihn gekuumlsst

Und so geschah es Sie flogen zusammen nach Amerika und kaum dass sie wieder in Hamburg gelandet waren bot er seine Kuumlndigung an Sein Chef reagierte allerdings keineswegs aumlrgerlich sondern eroumlffnete ihm dass die Firma ein Grundstuumlck bei Durban fuumlr ein geplantes Zweigunternehmen gekauft habe und dort einen Verkaufsleiter fuumlr den gesamten Suumlden Afrikas brauche

Mit einem Fuumlnfjahresvertrag in der Tasche reisten Krista und er nach Durban und feierten dort ihre Hochzeit mit Kristas Familie 1982 wurde Nina geboren und ihr Gluumlck war perfekt Als Verkaufs-

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 12: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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leiter fuumlr deutsche Textilmaschinen hatte er klotzig Geld verdient was ihm und seiner Familie ein aumluszligerst angenehmes Leben er-laubte Jede Provinz des riesigen Landes und auch die anschlieszligen-den Laumlnder hatten sie erkundet aber das Gebiet noumlrdlich des Tu-gelaflusses hatte es ihnen besonders angetan Mindestens ein Mal im Monat fuhren sie mit Freunden ins Hluhluwe-Umfolozi Game Reserve mieteten eine Lodge im Busch mit einem Koch der nur fuumlr sie da war Oder sie fingen in den Felsenteichen an der Kuumlste Langusten die sie am Strand grillten und anschlieszligend mit Zitro-nenbutter und Baguette verzehrten

Hluhluwe Sodwana Bay Kosi Bay Lake SibayaDie Namen breiteten sich mitten in der beiszligenden Kaumllte als

warme Welle in Viktor aus und er verlor sich in Erinnerungen Er hatte geglaubt sie laumlngst besiegt zu haben diese unvernuumlnftige Sehnsucht Er blieb stehen und starrte hinauf in die Schwaumlrze des Winterabends Die Flocken fielen dichter und glitzerten im Licht der Straszligenlaterne wie Millionen Sterne

Sein Blick verschwamm Er sah blendende Helligkeit wogende Wellen von endlosen gruumlnen Zuckerrohrfeldern und meinte die Sonne Afrikas auf der Haut zu spuumlren Er musste sich beherrschen nicht laut zu juchzen In etwas mehr als achtundvierzig Stunden wuumlrde er auf dem King-Shaka-Flughafen landen Mit einem ge-mieteten Landrover plante er am folgenden Morgen die Kuumlste am Indischen Ozean entlang nach Norden ins Herz von Zululand zu fahren Eine Ruumlckkehr in sein Paradies Nach uumlber vierzehn Jahren Manchmal fragte er sich warum er immer noch freiwillig die Kaumllte und Dunkelheit des europaumlischen Winters ertrug Er atmete tief durch

Einmal Afrika immer AfrikaEin schneidender Windstoszlig fegte die Straszlige herunter und zer-

stoumlrte die angenehme Vision Schneeflocken trafen seine Brille rannen die Glaumlser hinunter und machten ihn praktisch blind Er

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 13: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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nahm sie ab putzte sie und steckte sie in die Brusttasche Dabei beruumlhrte er sein Mobiltelefon und einem ploumltzlichen Impuls fol-gend zog er es heraus und tippte Ninas Kurzwahl ein Vielleicht konnte er sie uumlberreden ihn zu begleiten

Vielleicht war sie endlich so weitraquoHallo Prinzessinlaquo rief er betont froumlhlich raquoWie gehtrsquoslaquoraquoO Dad houmlr auf mich Prinzessin zu nennen Ich bin erwach-

sen falls du das noch nicht gemerkt hastlaquoraquoUnd Du wirst immer meine Prinzessin bleiben helliplaquoEr houmlrte sie theatralisch seufzen raquoWillst du nur kloumlnen oder ist

es unaufschiebbar wichtig Ich habe ziemlich viel um die OhrenlaquoWichtiger als alles andere haumltte er am liebsten geantwortetraquoAlso es ist so helliplaquo begann er nervoumls und hetzte dann durch die

Saumltze um ihr keine Gelegenheit zu geben ihn zu unterbrechen raquoIch muss fuumlr einen Auftrag nach Suumldafrika fliegen Hast du viel-leicht Zeit und Lust mich zu begleiten Du koumlnntest Heilpflanzen recherchieren und Fotos machenlaquo Gespannt wartete er auf ihre Antwort

Die aber kam nicht Nina schwieg In der Leitung knackte es im Hintergrund houmlrte er Stimmen und das stetige Verkehrsrau-schen Ihr Labor lag mitten in Hamburg

raquoNinalaquo sagte er leise raquoEs ist uumlber vierzehn Jahre her helliplaquoVierzehn Jahre seit das Licht in ihren Augen starbNina war immer sportlich schlank gewesen aber in letzter Zeit

war ihm aufgefallen dass sie leicht zugenommen hatte Ihre Haut erschien ihm rosiger und praller die schoumlnen Linien ihres Gesichts die hohen Wangenknochen weicher ihre tuumlrkisfarbenen Katzen-augen leuchtender

Vielleicht steckte ja ein Mann dahinter Waumlre das so war sie auf dem Weg endlich ihr Trauma zu uumlberwinden Ein Freudenflaumlmm-chen tanzte in seiner Brust

raquoNoch nicht lange genuglaquo Ihre Stimme war kuumlhl und emotions-los raquoEine Ewigkeit wuumlrde nicht reichenlaquo

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 14: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Das Flaumlmmchen erloschraquoTu dir das nicht anlaquo sagte er leise raquoSonst hat der Kerl endguumll-

tig gewonnenlaquoWer ihr das angetan hatte und was genau vorgefallen war konn-

ten die ermittelnden Beamten ihr damals nicht entlocken Auch Viktors und Kristas vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg Doch gelegentlich trat unvermittelt ein Ausdruck von solch blankem Entsetzen in ihre Augen dass ihn der Gedanke beschlich dass sie doch nicht alles vergessen hatte Aber er hatte nie gewagt sie da-nach zu fragen

raquoDaran kann ich mich nicht erinnernlaquo war ihre stereotype Ant-wort auf die Fragen gewesen Der Polizei gelang es weder den Tat-hergang genau zu rekonstruieren noch den Taumlter zu identifizieren da Nina sich nicht einmal bei der Hautfarbe des Angreifers sicher war

raquoSchwarz braun weiszlig ndash ich hab das verdammt noch mal nicht mitbekommenlaquo schrie sie die befragende Polizistin an

Die hatte unbeeindruckt weitergefragt Mit freundlicher Miene und ruhiger Stimme

Konnte sie seine Kleidung beschreiben Trug er Schmuck Eine Uhr vielleicht Lange Hosen kurze Hosen Ein Hemd oder viel-leicht keines

Nina die Augen mit steinerner Miene starr auf ein unsichtbares Bild gerichtet quittierte jede Frage mit verbissenem Kopfschuumltteln

Unvermittelt aumlnderte die Beamtin ihre Taktik raquoWie hatte sich sein Haar angefuumlhltlaquo

Nina zuckte zusammen und starrte die Frau uumlberrumpelt anraquoWie hat er gerochenlaquo bohrte die Beamtin weiterNina war schlagartig blass geworden daran erinnerte sich Vik-

tor genau Bestimmt verschwieg sie etwas Aber warum sie das tat war ihm schleierhaft

Die Aumlrzte diagnostizierten retrograde Amnesie was hieszlig dass das eigentliche Ereignis aus ihrem Gedaumlchtnis geloumlscht war Oder

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 15: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Nina wollte sich nicht erinnern was aufs Gleiche hinauslief Kurz darauf wurde ihr Fall ad acta gelegt

Nina war vor jenem Tag damals ein lebenslustiges kontakt-freudiges Maumldchen gewesen das furchtlos in der Brandung nach Langusten tauchte und allein durch den Busch streifte Koumlrperlich erholte sie sich relativ schnell aber ihre Bewegungen waren nicht mehr so lebhaft und energiegeladen und ihre Schultern kruumlmm-ten sich nach vorn als wollte sie sich schuumltzen Es war als trock-nete ihre Seele ein

Im Laufe der letzten Jahre hatte sich der Eindruck allerdings etwas verwischt Das Entsetzen trat nur noch selten an die Ober-flaumlche Nur ihm fiel wohl noch auf dass sie wie er es nannte in ihrem Schneckenhaus verschwand

Aber das Funkeln in ihren wunderschoumlnen Augen war erlo-schen und ihr mitreiszligendes Lachen hatte sie verloren Eine klin-gende Kadenz von glockenklaren Toumlnen die jeden der sie vernahm mit seiner Froumlhlichkeit ansteckte

Er packte sein Handy fester raquoNina LiebeslaquoraquoNein Und bitte frag mich nie wiederlaquoEr wusste nichts zu antwortenraquoUumlbrigens fliege ich morgen nach Indien also haumltte ich sowieso

keine Zeitlaquo Jetzt war ihr Ton weicherEr blieb stehen und kickte mit einem Fuszlig in eine flache Schnee-

wehe Eine pudrig weiszlige Wolke stob hoch uumlberzuckerte seine Schuhe und durchnaumlsste seine Struumlmpfe raquoGeschaumlftlich Hast du wieder einen Forschungsauftraglaquo

raquoJalaquo bestaumltigte sie raquoWir suchen nach neuen medizinischen Nutz-pflanzen Die Inder haben auf dem Gebiet eine Tradition die Jahr-hunderte zuruumlckreicht Ihr Wissen ist ein wahrhaftiger Schatz den ich zu heben vorhabelaquo

Er zoumlgerte konnte aber dann doch nicht an sich halten raquoWirlaquoNina lachte leise raquoKonrad begleitet michlaquoEin Echo ihres fruumlheren Lachens Mit abwesender Geste wischte

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 16: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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er sich die Schneeflocken vom Kragenrand Sie schmolzen schnell und rannen als eisige Wassertropfen seinen Hals hinunter

raquoKonrad-nenn-mich-ja-nicht-Konni-sonst-kriegste-eins-aufa-Glocke Der Konradlaquo

Wieder lachte sie raquoGenau der Du hast seinen Tonfall praumlzise imitiert Er tut manchmal gern etwas prollig helliplaquo

raquoBist du helliplaquo begann er leise und wunderte sich dass seine Stimme so bruumlchig klang raquoIch meine hellip seid ihr helliplaquo

Fuumlr einen Augenblick waren nur die atmosphaumlrischen Geraumlu-sche in der Leitung zu houmlren und Ninas Atmen und er befuumlrch-tete ihr zu nahe getreten zu sein sodass sie wieder in ihr Schne-ckenhaus verschwinden wuumlrde

raquoJalaquo antwortete sieNichts weiterraquoAber jetzt muss ich Schluss machenlaquo rief sie bevor er etwas

sagen konnte raquoIch habe weder meine Sachen gepackt noch die letzten E-Mails beantwortet In zwei Wochen bin ich wieder zu-ruumlck Pass auf dich auf Tata Dadlaquo

raquoNinalaquo sagte er aber sie hatte aufgelegtEr starrte auf das Telefon in seiner Hand Tata Auf Wieder-

sehen Ein Wort aus ihrer Kindheit Ihr kurzes aber inhaltsschwe-res Ja Ein Anlass zur Hoffnung Sollte er sie nach Nico fragen Er hatte das schon einmal getan kurz nachdem sie Suumldafrika verlassen hatten

raquoWer ist daslaquo hatte sie mit abwesender Miene gefragt raquoSollte ich ihn kennen Daran kann ich mich nicht erinnernlaquo

Was haumltte er ihr darauf antworten sollen Dass Nicolo dal Bianco der Mann war in den sie verliebt war Und der in sie verliebt war Der sie heiraten wollte Er schauderte bei der Vorstellung was ihre Erinnerung an Nico so komplett ausgeloumlscht hatte

raquoIch bin tot von hier bis da untenlaquo hatte sie gewispert und eine Handbewegung vom Nabel uumlber ihren Unterleib gemacht raquoTot Alle meine Gefuumlhle An dem Tag habe ich begonnen zu sterbenlaquo

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 17: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Ihr hilfloser Blick hatte ihn bis ins Herz getroffen aber er hatte nicht gewusst wie er ihr helfen sollte Krista hatte ihn zu der Zeit schon verlassen Er hatte niemanden den er haumltte fragen koumlnnen weil Nina sich nach wenigen Sitzungen bei ihrer Psychotherapeu-tin weigerte weiter zu ihr zu gehen

Danach hatte sie sich wieder in ihrem Schneckenhaus ver-schanzt Gerade hatte sie gegen heftige Konkurrenz die Anstellung als Leiterin des Forschungslabors fuumlr Heilpflanzen bekommen Aber der Neid der uumlbergangenen Mitarbeiter war fuumlhlbar und so saszlig sie Abend fuumlr Abend bis spaumlt in die Nacht vor ihrem Bild-schirm um ihre Forschungsergebnisse vom Tag durchzuarbeiten Zwischendurch aszlig sie irgendetwas aus der Tiefkuumlhltruhe oder be-stellte eine Pizza beim Pizzaservice die groszlig genug war dass sie am naumlchsten Abend noch genug davon uumlbrig hatte wie sie ihm er-zaumlhlte Fuumlr Freundschaften habe sie vorlaumlufig weder die Zeit noch die Kraft

Einen Mann der ihr besonderes Interesse erweckt haumltte hatte er weit und breit nicht ausmachen koumlnnen

Er steckte das Telefon ein Der Umschlag mit dem Vertrag ra-schelte leise Es schneite nun heftiger und der Wind schnitt ihm in die Haut Rasch ging er weiter Bald wuumlrde er in Suumldafrika landen und ins unvergleichliche Licht des dortigen Fruumlhlings treten das immer wie eine schimmernde Schale aus blauem Kristall uumlber Meer und Land lag KwaZulu-Natal litt unter einer Hitzewelle wie er im Internet gelesen hatte Seit Wochen war das Thermometer nicht unter dreiszligig Grad gefallen Seine Betriebstemperatur Ein ploumltzlicher Windstoszlig lieszlig ihn froumlsteln Fuumlr ihn war Suumldafrika das schoumlnste Land der Welt gewesen und es hatte nichts gegeben was ihn zur Ruumlckkehr nach Deutschland haumltte bewegen koumlnnen

Bis zu jenem FreitagDer Gedanke sprang ihn aus dem Hinterhalt an Abrupt blieb

er stehen verlor kurz die Balance und waumlre um ein Haar ausge-rutscht konnte sich aber im letzten Moment an einem Baum-

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 18: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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stamm abstuumltzen Eine Schneekaskade loumlste sich und fiel auf ihn herab Er schuumlttelte sich spuumlrte jedoch nicht die nasse Kaumllte der schmelzenden Flocken sondern war zuruumlck in Natal in der Wasch-kuumlchenhitze des Hochsommers im Jahr 2002

Er war dabei gewesen als Ninas Auto entdeckt wurde Ver-schwunden war sie auf der Fahrt die Nordkuumlste hoch irgendwo zwischen Umhlanga Rocks und Mtunzini wo sie eine Freundin hatte besuchen wollen Gefunden wurde sie durch puren Zufall Ein Kuhhirte der seine Herde auf einem von Regenfurchen durch-zogenen Weg trieb der durch die Zuckerrohrfelder entlang eines ausgetrockneten Wasserlaufs verlief verspuumlrte einen ploumltzlichen Druck auf der Blase und trat ein paar Schritte in die Buumlsche um sich zu erleichtern Sein kraumlftiger Strahl traf auf Metall und es gab ein hohl trommelndes Geraumlusch Er beendete sein Geschaumlft zog die Hose hoch und bahnte sich neugierig den Weg in den Busch

Das Auto ein kompakter weiszliger Golf mit einer langen Beule uumlber die gesamte linke Seite wurde von herunterhaumlngendem Busch-werk so verdeckt dass der Wagen schon aus knapp zwei Metern Entfernung so gut wie unsichtbar war Der junge Hirte ruumlttelte vergeblich an der Fahrertuumlr Sie war abgeschlossen Auch die an-deren Tuumlren sowie die Heckklappe lieszligen sich nicht oumlffnen Mit einem Stein versuchte er eines der Seitenfenster einzuschlagen aber auch das gelang ihm nicht Das dumpfe Stoumlhnen schrieb er seinen Kuumlhen zu die staumlndig irgendwelche Geraumlusche von sich ga-ben Schlieszliglich gab er auf und trieb seine Herde auf die Weide

Als er mit den Tieren abends in der sinkenden Sonne heimwaumlrts wanderte stand das Auto immer noch da Begehrlich starrte er das herrenlose Gefaumlhrt an ruumlttelte an einem der Auszligenspiegel und brach schlieszliglich die beiden Scheibenwischer ab und steckte sie in seine ruumlckwaumlrtige Hosentasche Die konnte man immer zu Geld machen Dann trottete er zur Hofstaumltte seiner Familie trieb seine Rindviecher in ihren Kraal und berichtete anschlieszligend seinem Vater von dem verlassenen Wagen

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 19: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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Sein Vater war ein Mann fester Prinzipien und genauer Vorstel-lung von richtig und falsch und anderer Leute Eigentum Ohne zu zoumlgern marschierte er eine Stunde durch den Busch zur loka-len Polizeistation und berichtete dem diensttuenden Beamten der sein Neffe war von dem Auto Da es in Kuumlrze stockdunkel sein wuumlrde beschloss der Polizist sich erst tags darauf darum zu kuumlmmern

Nachdem der Beamte am naumlchsten Morgen den demolierten Wagen inspiziert hatte rief er seine Durbaner Kollegen an mit der Bitte das Kennzeichen zu pruumlfen Schnell wurde festgestellt dass seit Tagen nach diesem Fahrzeug im Zusammenhang mit einem Schwerverbrechen gefahndet wurde

Als Viktor eintraf hatte die Spurensicherung bereits den Koffer-raum durchsucht Die Frage ob das Auto das seiner Tochter sei bestaumltigte Viktor mit einem knappen Nicken Er beobachtete die Polizisten die den Bereich der Vordersitze Zentimeter fuumlr Zenti-meter absuchten Eine junge dunkelhaumlutige Beamtin war dabei besonders gruumlndlich Sie legte sich auf den Bauch und leuchtete unter die Sitze loumlste die Fuszligmatten und untersuchte den Boden Anschlieszligend klopfte sie die Ruumlckwand vom Handschuhfach ab

Verbluumlfft sah Viktor zu raquoDahinter kann sich doch sicherlich kein Mensch versteckenlaquo

raquoManchmal erlebt man da eine Uumlberraschung Illegale Grenz-gaumlnger verstecken sich gern dahinterlaquo Sie richtete sich auf raquoWie groszlig ist Ihre Tochter Ist sie schlanklaquo

raquoSie ist sehr schlank und rund eins fuumlnfundsiebzig groszliglaquoraquoWuumlrde etwas eng fuumlr sie werdenlaquo sagte die Polizistin beugte

sich vor und klopfte noch einmal das Handschuhfach ab raquoAber hier ist nichts Tut mir leidlaquo Sie wischte sich mit einem Papier-taschen tuch uumlber das schweiszligglaumlnzende schokoladenbraune Ge-sicht raquoWir finden Ihre Tochterlaquo murmelte sie dann und senkte den Blick zu Boden raquoVersprochenlaquo

In diesem Augenblick wurde ihm klar dass die Aussicht Nina

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 20: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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lebend wiederzusehen mit jeder Minute unwahrscheinlicher wurde raquoIch will mir den Innenraum ansehen Ist das moumlglichlaquo

Die Beamtin nickte wortlos und zeigte auf den ruumlckwaumlrtigen Bereich Viktor oumlffnete die Tuumlr und sah sich um

Auf dem Boden lagen zwei Kippen dabei rauchte Nina gar nicht Die Kippen und der suumlszligliche Geruch nach verbranntem Gras ganz unzweifelhaft Cannabis und als Kopfnote das absto-szligend aufdringliche Maumlnnerparfuumlm jagten ihm die Angst durch die Adern

Die Beamtin schlug das Handschuhfach zu und drehte sich mit einem Kopfschuumltteln zu ihren Kollegen um

Viktor blieb mit gesenktem Kopf stocksteif stehen In das tro-ckene harte Geraumlusch mit dem die Klappe zufiel mischte sich ein anderer Laut Einer den er nicht einordnen konnte Hohl dumpf und es schien ihm dass er aus dem Kofferraum kam Er draumlngte die Uniformierten beiseite und druumlckte mit zitternden Haumlnden die Entriegelung des Kofferraums

raquoDas koumlnnen Sie sich sparenlaquo sagte einer der Maumlnner von der Spurensicherung ein vierschroumltiger Schwarzer mit freundlichem Gesicht und Schultern wie ein Preisboxer raquoDer ist leerlaquo Aber er trat zuruumlck und lieszlig Viktor gewaumlhren

Angespannt beugte er sich vor waumlhrend die Heckklappe lang-sam nach oben schwang Ein Gestank nach Faumlkalien stieg ihm in die Nase Die Hand uumlber den Mund gepresst wandte er sich kurz ab und schnappte dann nach Luft um sich fuumlr das zu staumlhlen was im Heck auf ihn wartete Mit angehaltenem Atem inspizierte er den Kofferraum

Aber er sah nur den Ersatzreifen Einkaufstaschen Ninas Lauf-schuhe und ein angebrochenes Paket Papiertaschentuumlcher Dar-uumlber hinaus war der Kofferraum leer Er musste sich geirrt haben Enttaumluscht stemmte er sich hoch

raquoHab ich doch gesagt das Auto ist leerlaquo sagte der Vierschroumltige und packte die Klappe um sie zuzuwerfen In diesem Moment

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 21: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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ertoumlnte der dumpfe Laut wieder und jetzt war klar dass auch er ihn gehoumlrt hatte

Danach ging alles sehr schnellraquoDa ist doch waslaquo bruumlllte der Schwarze raquoWir brauchen eine

Saumlge oder so was SchnelllaquoNiemand hatte eine Saumlge Kurz entschlossen packte der Mann

einen oberarmdicken Ast der im Busch lag und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Ruumlckwand des Kofferraums

Der Ast brach aber die Wand gab krachend nach Viktor stieszlig den Polizisten beiseite kroch ins Heck packte die Ruumlckwand mit den Haumlnden und zerrte sie weg

Nina lag zusammengekruumlmmt in diesem Loch das kaum mehr Platz bot als fuumlr einen Handgepaumlckkoffer ndash Knie bis unters Kinn gedruumlckt Mund und Augen mit braunem Packband verklebt und Haumlnde und Fuumlszlige mit Kabelbindern fixiert

Als Viktor sie beruumlhrte um die Kabelbinder zu loumlsen geriet sie in Panik und schrie Schreckliche Laute vom Packband uumlber ihrem Mund abgewuumlrgt Ihr Gesicht lief krebsrot an die Adern an ihrem Hals standen wie Straumlnge hervor

Haumlnde und Fuumlszlige waren stark angeschwollen und blauviolett verfaumlrbt Viktor redete behutsam auf sie ein waumlhrend er sich dar-anmachte die Fesseln an ihren Handgelenken mit seinem Taschen-messer zu durchtrennen Nina wich vor ihm zuruumlck und schrie vor Angst Ihm wurde ganz anders dabei aber er fuhr fort

raquoDer Hubschrauber mit dem Notarzt wird in etwa einer halben Stunde eintreffenlaquo informierte ihn die Polizistin raquoEr wird ihr ein Schmerzmittel spritzen koumlnnen Sie sollten lieber wartenlaquo

Viktor schuumlttelte den Kopf raquoDas haumllt sie nicht auslaquo knurrte er

Er biss die Zaumlhne zusammen schob die Messerklinge unter den Kabelbinder und ertrug Ninas dumpfes Schreien bis die Plastik-streifen herunterfielen und ihre Haumlnde frei waren Die Fesselung hinterlieszlig tiefe blutende Furchen Nina riss die Arme hoch stieszlig

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 22: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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dabei gegen die Kofferraumwand und stoumlhnte auf Viktor fing ihre Haumlnde ein und hielt sie fest

raquoHat jemand Verbandsmaterial dabeilaquo rief erDie Polizistin lief zu ihrem Dienstwagen und kam kurz darauf

mit einem Erste-Hilfe-Kasten zuruumlck Geschickt umwickelte sie Ninas Handgelenke mit Mullbinden waumlhrend Viktor weiter be-ruhigend auf seine Tochter einredete

raquoSei ganz ruhig Prinzessinlaquo murmelte er und hielt ihre Hand raquoDu bist in Sicherheit helliplaquo

raquoFertiglaquo verkuumlndete die Beamtin und trat zuruumlckViktor beugte sich vor raquoIch werde jetzt erst das Klebeband von

deinen Augen loumlsenlaquo sagte er raquoUnd danach das von deinem Mund hellip Es wird nicht wehtunlaquo

Mit einer Hand hielt er ihren Kopf still mit der anderen zog er millimeterweise das Klebeband von ihren Augen Nina reagierte nicht Ihr Blick war starr und sie bebte am ganzen Leib

raquoUnd nun ziehe ich das Packband von deinem Mund Halt ganz still Prinzessin gleich ist es vorbei helliplaquo

Kaum war ihr Mund frei schrie sie losraquoNicht schreien Prinzessinlaquo murmelte Viktor raquoGanz ruhig ich

bin bei dir hellip Niemand kann dir etwas tun helliplaquo Er hielt kurz inne weil er merkte wie laumlppisch das klang Er raumlusperte sich raquoIch schneide jetzt die Fesseln von deinen Beinen los das wird vielleicht wehtun aber dann bist du frei und ich kann dich heraushebenlaquo

Ihr Schreien ging in leises Gewimmer uumlber und verstummte schlieszliglich Krampfhaft schnappte sie ein paarmal nach Luft dann nickte sie kurz Als Viktor das Messer unter die Fesseln schob und dabei die tiefe Wunde beruumlhrte verzog sie vor Schmerzen das Ge-sicht gab aber keinen Laut von sich

Viktor durchschnitt die Kabelbinder raquoEs ist vorbei Prinzessin ich hol dich jetzt da rauslaquo Er beugte sich uumlber sie um sie hoch-zuheben

In diesem Augenblick entdeckte er die Schlange Es war ein

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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Page 23: Ort der Zuflucht Roman - Penguin Random House

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schoumlnes Tier von reinem Grasgruumln nicht ganz einen Meter lang Sie hatte es sich in Ninas Kniekehlen bequem gemacht Jetzt drehte das Tier seinen Kopf minimal und fixierte ihn mit unergruumlndlich schwarzen Augen Ihm stockte der Atem

raquoEine Schlangelaquo fluumlsterte er und wagte es nicht sich zu bewe-gen weil er das Reptil nicht aufscheuchen wollte raquoDa in ihren Kniekehlen Ist das eine Gruumlne Mambalaquo Nina zuckte zusammen und Viktor spuumlrte dass sie wieder zu zittern anfing raquoRuhig Prin-zessin helliplaquo

Der vierschroumltige Schwarze sah genauer hin raquoEs ist eine Gruumlne Baumschlangelaquo murmelte er raquoSehr giftig Toumldlich wenn sie die richtige Stelle trifftlaquo Er wandte sich Nina zu raquoRuumlhren Sie sich nicht Verstehen Sie mich Keine Bewegunglaquo

raquoOkaylaquo wisperte sieraquoTretet alle zuruumlcklaquo befahl er seinen Kollegen raquoKeiner darf den

Wagen beruumlhren Und ruft die Rettung an sagt Bescheid dass wir mit einem Biss einer Baumschlange rechnen muumlssenlaquo Er wandte sich wieder an Viktor raquoIch werde sie am Kopf packen und wenn ich sie habe heben Sie Ihre Tochter heraus Aber nicht einen Augen-blick vorher verstanden Brauchen Sie Hilfelaquo

raquoNeinlaquo kraumlchzte ViktorraquoOkaylaquo murmelte der ZuluMit einer langsamen gleichmaumlszligigen Bewegung hob er die rechte

Hand und naumlherte sich millimeterweise dem SchlangenkopfDie junge Polizistin zog ihre Pistole ging in zwei Metern Ent-

fernung in Schussposition und lieszlig das Reptil nicht aus den Augen Niemand ruumlhrte sich niemand gab einen Laut von sich

Spaumlter konnte Viktor sich nicht daran erinnern dass der Polizist sich uumlberhaupt bewegt hatte

raquoHab sielaquo bruumlllte der Zulu und sprang ein paar Schritte zuruumlckTriumphierend hielt er die sich heftig windende Baumschlange

hoch die er mit sicherem Griff hinter dem Kopf gepackt hatte Er lief ein Stuumlck ins Gebuumlsch und entlieszlig das Reptil in die Freiheit

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Nach kurzem Zoumlgern glitt die Schlange senkrecht an einem Baum-stamm hoch und ohne auch nur ein Blatt zum Zittern zu bringen verschwand sie im gruumlnen Blaumltterdach

Viktor befreite Nina mit unendlicher Vorsicht aus ihrem Ge-faumlngnis und als sie ihm die Arme um den Hals schlang stroumlmten ihm die Traumlnen uumlbers Gesicht Die Polizistin half ihm Nina hoch-zuheben und fuumlhrte ihn zum Streifenwagen

raquoDer Hubschrauber landet gleichlaquo sagte sie raquoSetzen Sie sich so lange in den Wagenlaquo Sie nahm eine Flasche Wasser aus der Seiten-tasche und oumlffnete sie raquoHier sie wird sehr durstig seinlaquo Sie winkte einem Kollegen und gemeinsam markierten sie auf dem abgeern-teten Zuckerrohrfeld nahebei einen geeigneten Landeplatz

Viktor setzte die Flasche an Ninas Lippen und spuumlrte wie sie sich entspannte Er murmelte Koseworte aus ihrer Kindheit und wiegte sie auf dem Schoszlig wie er das fruumlher mit der kleinen Nina getan hatte So saszlig er da mit seiner Tochter im Arm und vergaszlig die Welt um sich herum

Bald kuumlndigte das unterschwellige Wummern von Rotoren den Rettungshubschrauber an und innerhalb von Minuten setzte er auf dem markierten Platz auf Zwei Sanitaumlter und ein Notarzt klet-terten heraus und bahnten sich den Weg durch das Stoppelfeld

raquoHaben wir es mit einem Schlangenbiss zu tunlaquo rief der Arzt der Polizistin zu

raquoGluumlcklicherweise nichtlaquo antwortete sie raquoAber mit einem schweren Schock und vermutlich inneren Verletzungenlaquo

Der Arzt begruumlszligte Viktor mit einem kurzen Nicken und stellte seine Tasche ab raquoKoumlnnen Sie mir schildern was genau ihr zuge-stoszligen ist Ich weiszlig nur dass sie Opfer einer Entfuumlhrung gewor-den seilaquo

Viktor beschrieb ihm wie er Nina vorgefunden hatte raquoDer Kerl hat sie wie ein Paket verschnuumlrt und ihr als Gesellschaft eine Gruumlne Baumschlange zwischen die Beine gesetzt Ob sie innere Verletzun-gen hat weiszlig ich nichtlaquo

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raquoUumlbellaquo murmelte der Arzt Er ergriff eines ihrer Handgelenke und loumlste die Mullbinde um sich die Wunde naumlher anzusehen aber Nina riss ihre Hand weg Der Arzt lieszlig sie sofort los

raquoWir bringen sie in die Kliniklaquo sagte er zu Viktor raquoBitte halten Sie ihren Arm fest Ich moumlchte ihr etwas gegen die Schmerzen und den Schock geben und einen Tropf anlegenlaquo Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche

raquoWir bringen dich jetzt ins Krankenhauslaquo fluumlsterte Viktor ihr zu raquoKeine Angst ich bleibe bei dir Keiner wird dir etwas antun Alles wird gut Prinzessinlaquo

Wie angewiesen hielt er ihren Arm ruhig waumlhrend der Arzt ihr das Medikament in die Vene spritzte Mit einem leisen Seufzer schloss Nina die Augen

raquoOkay jetzt spuumlrt sie erst mal nichts mehrlaquo sagte der Arzt und richtete sich auf raquoAb mit ihr in den Helikopterlaquo

Die Sanitaumlter betteten Nina auf die Trage und hoben sie in den Hubschrauber Viktor setzte sich neben sie und hielt ihre Hand bis sie im Krankenhaus in den Operationssaal geschoben wurde

Krista die Freunde in den Midlands besucht hatte erreichte die Klinik erst als Nina schon auf ihrem Zimmer lag

Viktor und sie wechselten sich am Bett ihrer Tochter ab Nach nur drei Tagen bestand Nina darauf nach Hause entlassen zu wer-den Sie fuumlhle sich in der Klinik nicht sicher Auf der Heimfahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster Ihr Gesicht war ausdrucks-los ihre Augen leer und Viktor der sie im Ruumlckspiegel beobach-tete schien es dass sie sich in eine Welt zuruumlckgezogen hatte in die ihr keiner folgen konnte Es machte ihm Angst

Als Nina aus dem Auto stieg verkuumlndete sie ihren Eltern mit steifen Lippen dass sie Suumldafrika verlassen werde Auf der Stelle Und fuumlr immer

Und das tat sie und seitdem hatte sie nie wieder suumldafrikani-schen Boden betreten

Krista und er bemuumlhten sich nicht sie umzustimmen Es war

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klar dass es zwecklos sein wuumlrde In jener Nacht redeten sie bis in die fruumlhen Morgenstunden miteinander Schlieszliglich stand ihr Ent-schluss fest Nina war ihr einziges Kind Ihre Tochter brauchte ihre Eltern zum Uumlberleben

Innerhalb von Wochen verkauften sie praktisch ihren ganzen Besitz packten das was von ihrem suumldafrikanischen Leben uumlbrig war in vier Koffer und dann verlieszligen auch sie fuumlr immer das Land in dem sie so gluumlcklich gewesen waren

Eine eisige Bouml trieb ihm Schneeschwaden ins Gesicht und erin-nerte ihn an die jetzige Wirklichkeit Er zog den Mantelkragen unterm Kinn fest und machte sich ndash immer noch gedanklich bei jenem Freitag vor vierzehn Jahren ndash auf den Heimweg

Die Kraumlhe hockte zehn Meter vor ihm auf dem Ast eines kahlen Baumes Es war bitterkalt und ihr Koumlrper verlangte nach Nah-rung Mit ihren schwarzen Knopfaugen hatte sie eine halb geges-sene Banane erspaumlht die auf dem Buumlrgersteig im truumlben Lichtkreis einer Straszligenlaterne lag Nach wenigen Fluumlgelschlaumlgen landete sie auf der verschneiten Laternenkuppel streckte den Kopf vor und aumlugte gierig auf die gelbe Frucht hinunter ehe sie die Fittiche an-legte und sich in die Tiefe fallen lieszlig Elegant fing sie den Fall mit ausgebreiteten Schwingen ab und huumlpfte hinuumlber zu der Banane Sie packte die Frucht mit dem Schnabel und wollte mit ihrer Beute davonfliegen aber die Schale war am Boden festgefroren Mit aller Kraft zerrte und zog sie und weil sie damit nicht zum Ziel kam hackte sie mit ihrem scharfen Schnabel in das frostverkrustete Fleisch bis sie den weichen Kern erreichte

Haumltte Viktor beim naumlchsten Schritt aufgepasst und seinen Fuszlig nur zwei Zentimeter weiter links aufgesetzt ndash sein Leben waumlre sei-nen gewohnten Gang gegangen Er waumlre durch die frostige Nacht nach Hause gelaufen haumltte seine Koffer gepackt und in zwei Tagen die lange Reise nach Suumldafrika angetreten Vierundzwanzig Stun-den spaumlter waumlre er am Ziel seiner Traumlume gewesen

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Er bemerkte die Kraumlhe erst als er nur eine Schrittlaumlnge von ihr entfernt war Der Vogel lieszlig aumlrgerlich kraumlchzend von seiner Beute ab flatterte hoch und landete auf der Laterne Abgelenkt blickte Viktor zu dem Tier hinauf und hob den Fuszlig uumlbersah dabei die Banane die gelblich im Laternenlicht glitzerte trat hinein rutschte aus und fiel mit Schwung ruumlckwaumlrts Geistesgegenwaumlrtig streckte er beide Arme nach hinten um den Fall abzufangen aber der Auf-prall war so heftig dass sein linkes Handgelenk mit einem houmlr-baren Knacks splitterte und er ungebremst mit groszliger Wucht auf die rechte Seite fiel

Das eigentliche Verhaumlngnis aber lauerte unter dem SchneeEs war der Rest eines Holzbretts in das jemand einen Zimmer-

mannsnagel geschlagen hatte und das vom Sperrmuumlll eines An-wohners heruntergefallen war Der Nagel stand senkrecht hoch Er war elf Zentimeter lang und nur die geschliffene Spitze ragte aus dem Schnee

Der Nagel war scharf und glitt widerstandslos in den Muskel-strang neben Viktors Ruumlckgrat verfehlte knapp die Wirbelsaumlule durchbohrte aber die Niere Mit einem Schrei sackte er seitwaumlrts was zur Folge hatte wie spaumlter im Krankenhaus festgestellt wurde dass die Niere durch den Ruck fast zweigeteilt wurde

Viktor bruumlllte vor Schmerz Er wollte sich aufrichten konnte sich aber nicht ruumlhren Mit der gesunden Hand tastete er seine Taillenlinie entlang spuumlrte warme Naumlsse und zu seinem Entset-zen auch die Spitze des Nagels die aus der Bauchdecke stach Er kruumlmmte sich zusammen um zu sehen was ihm da wie rotgluumlhen-des Eisen in der Seite steckte

raquoLieber Gott lass es nicht meine Niere seinlaquo war alles was er noch denken konnte als ihn der Schmerz wie ein Blitz traf

Durch den schwarzen Fleckenwirbel vor seinen Augen unter-suchte er im Laternenlicht seine verletzte Hand die zusehends an-schwoll Die Wunde in seiner Seite konnte er nicht sehen aber umso mehr fuumlhlen Eine Kette saftiger Fluumlche brach aus ihm heraus als

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ihm klar wurde was das bedeutete Eine Operation und obendrein wuumlrde er seine Reise absagen muumlssen und damit seinen Auftrag verlieren Alles war umsonst gewesen Den Abgabetermin wuumlrde er auf keinen Fall einhalten koumlnnen

Die Einzige die ihm helfen koumlnnte war Nina Sie hatte ein wunderbares Auge fuumlr Fotomotive Nina die das Schlimmste durch-gemacht hatte was einer Frau zustoszligen konnte die geschworen hatte nie wieder einen Fuszlig auf suumldafrikanische Erde zu setzen

Nichts auf der Welt wuumlrde ihn dazu bringen sie darum zu bit-ten Bevor sie in zwei Wochen aus Indien zuruumlckkam hoffte er das Krankenhaus verlassen zu haben Dann wuumlrde er ihr nicht einmal von dem Unfall erzaumlhlen muumlssen Irgendwie wuumlrde er das schon uumlberleben Irgendwie

Er langte mit der unverletzten Hand in die Brusttasche um das Mobiltelefon herauszuholen aber die Hand gehorchte ihm auf einmal nicht mehr

raquoVerfluchtlaquo Mit zusammengebissenen Zaumlhnen schob er zwei Finger in die Tasche und zog das Geraumlt hervor Es rutschte ihm prompt aus der Hand und fiel in den Schnee raquoMist verdammterlaquo

Die Kraumlhe uumlber ihm kraumlchzte boumlse und schlug mit den FluumlgelnraquoBloumlder Vogellaquo aumlchzte er Ihm wurde schubweise schlecht Muumlh-

sam zog er das Telefon heran und quaumllte sich ab bis es ihm schlieszlig-lich gelang den Notruf einzutippen Der Rettungsdienst meldete sich nach wenigen Sekunden und er keuchte heraus was ihm zu-gestoszligen sei

raquoJa ein Nagel Fingerdick helliplaquo Ihm wurde schlecht Das Telefon fiel ihm wieder aus der Hand und dieses Mal auf die Banane Die Kraumlhe starrte mit schief gelegtem Kopf auf das Telefon hinunter und kreischte aufgebracht

raquoWir kommen sofortlaquo houmlrte er den diensthabenden Beamten noch rufen raquoVersuchen Sie sich warm zu haltenlaquo

Viktor lieszlig sich zuruumlcksinken und bettete den verletzten Arm in den Schnee um eine noch staumlrkere Schwellung zu unterbinden

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Die Kaumllte die ihm durch die Kleidung in den Koumlrper kroch be-taumlubte das unertraumlgliche Pochen in seiner Seite etwas Immer wie-der versank er in einem schwarzen See von Bewusstlosigkeit Ab und zu tauchte er wieder auf bis er durch den feuerroten Nebel aus Schmerzen endlich die heulenden Sirenen des Rettungswagens ver-nahm Der Wagen bog um die Ecke und fuhr langsam die Straszlige herunter bis die Scheinwerfer Viktor erfassten

Der Notarzt ein drahtiger gebraumlunter Mittfuumlnfziger in einer dicken roten Daunenjacke sprang heraus Zwei Sanitaumlter folgten ihm mit der Ausruumlstung Selbst einen Defibrillator hatten sie dabei

Viktor machte Anstalten sich aufzustuumltzen vergaszlig aber dass ihn der Nagel festhielt Er schrie auf

raquoBleiben Sie ruhig liegen bewegen Sie sich nichtlaquo Der Arzt kniete sich neben ihn und untersuchte die stark geschwollene Hand waumlhrend einer der Sanitaumlter eine Goldfolie uumlber Viktors Beine breitete

raquoGebrochenlaquo murmelte der Arzt und legte die Hand zuruumlck in den Schnee raquoDann wollen wir mal weitersehen Wo genau haben Sie Schmerzenlaquo

raquoRechtslaquo knurrte Viktor raquoIn der Nierengegend helliplaquoraquoScherelaquo sagte der Notarzt und streckte die Hand ausDer juumlngere der Sanitaumlter reichte ihm das Gewuumlnschte Der Arzt

schob Viktors Mantel und Jackett zur Seite und schnitt ihm dann Pullover Hemd und Unterhemd auf Als er die Spitze des Nagels in dem stark blutenden Riss in der Bauchdecke erblickte pfiff er durch die Zaumlhne

raquoIch gebe Ihnen jetzt eine Spritze und dann bringen wir Sie ins Krankenhauslaquo teilte er Viktor mit waumlhrend er ihm den linken Arm abband Er koumlpfte eine Ampulle zog die Spritze auf und in-jizierte ihm den Inhalt

Viktor schwebte auf einer weichen lichten Wolke davon und nahm die Fahrt und die Untersuchungen in der Klinik nur durch

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einen gnaumldigen Nebel wahr Er bekam aber mit dass ihm jemand sagte dass er sofort operiert werden sollte und grunzte seine Zu-stimmung Solange der gluumlhende Schmerz in seiner Seite danach behoben sein wuumlrde war ihm alles egal

Das Erste was er wieder mitbekam war ein merkwuumlrdiges Ge-raumlusch wie von einer leise laufenden Maschine Er oumlffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines Mannes der einen weiszligen Kittel mit Goldknoumlpfen trug Der Mann beugte sich uumlber ihn

raquoGut dass Sie wieder bei uns sindlaquo sagte der Mann raquoIch bin Doktor Kroetz und habe Sie operiertlaquo

raquoUnd wie siehtrsquos auslaquo presste Viktor muumlhsam hervor raquoWann kann ich wieder nach Hauselaquo Sein Mund war wie ausgetrocknet raquoWo bin ich eigentlichlaquo

Der Chirurg richtete sich auf raquoIm Universitaumltskrankenhaus Ep-pendorf und es sieht nicht so gut aus Sie werden noch eine Weile bei uns bleiben muumlssen Erinnern Sie sich daran dass Sie einen Unfall hattenlaquo

Viktor nickte raquoSchmerzhaftlaquo sagte er raquoAber ich vertraue dar-auf dass Sie mich wieder zusammengeflickt haben helliplaquo

Der Chirurg betrachtete ihn mit mitleidiger Miene raquoIhre Niere ist von dem eingedrungenen Nagel so zerfetzt worden dass sie nicht mehr funktionsfaumlhig ist Und da Sie von Geburt an nur eine Niere besitzen brauchen Sie eine Spendernierelaquo

Viktor schloss die Augen und entschied dass er gerade einen be-sonders grauenvollen Albtraum durchlebte Als er durch die Lider blinzelte war der Chirurg immer noch da und schaute ziemlich ernst drein Neben dem Bett stand ein groszliges Geraumlt mit einem Monitor und vielen Schlaumluchen das das schwirrende Geraumlusch verursachte Einer der Schlaumluche steckte in seiner Armbeuge

raquoWas ist daslaquo Viktor deutete auf die MaschineraquoEin DialysegeraumltlaquoViktor wurde schlecht Er wusste was das bedeuteteraquoWir haben Sie sofort auf die Liste der Eurotransplant gesetztlaquo

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sagte der Chirurg raquoAber um ehrlich zu sein sieht es nicht gut aus um nicht zu sagen eher schlechtlaquo

Viktor starrte durch den schwarzen Sternenwirbel vor seinen Augen an ihm vorbei raquoHeiszligt waslaquo

raquoDie Liste ist fast endlos Ihre Chancen rechtzeitig eine pas-sende Niere zu bekommen stehen nicht gutlaquo Er raumlusperte sich raquoHaben Sie einen nahen Verwandten der Ihnen eine Niere spen-den wuumlrdelaquo

Nina Viktor hob abwehrend die rechte Hand Halb ausgego-rene Gedanken schossen in seinem Kopf umher wie Querschlaumlger

Eine Spenderniere Eine endlose Liste Keine Chance NinaLangsam aber entschieden schuumlttelte er den Kopf raquoNein hab

ich nichtlaquoNie wuumlrde er Nina fragen Unter keinen Umstaumlnden Er wandte

das Gesicht zur Seite und wollte einfach nur in Ruhe gelassen wer-den um sich zu fassen und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen Um zu begreifen dass er wohl am Ende seines Weges angelangt war

Der Chirurg betrachtete ihn nachdenklich raquoAls Sie eingeliefert wurden waren Sie nicht ansprechbar Wir haben in Ihrer Brief-tasche nachgesehen wen wir im Notfall benachrichtigen koumlnnten und Namen und Telefonnummer Ihrer Tochter gefunden helliplaquo

Viktor schreckte hoch raquoSie haben sie doch nicht etwa ange-rufenlaquo

raquoDoch aber nicht erreicht Sie sollten sich mit ihr in Verbin-dung setzen Moumlglichst umgehendlaquo

raquoIch denk druumlber nachlaquo murmelte Viktor raquoJetzt moumlchte ich bitte einen Augenblick allein seinlaquo

raquoNatuumlrlich Aber Sie haben nicht viel Zeit Es tut mir leid Ihnen die krasse Wahrheit so unverbluumlmt sagen zu muumlssenlaquo

Viktor knurrte eine unverstaumlndliche Antwort und schloss die Augen

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Obwohl es in Pune noch fruumlher Vormittag war waumllzte sich in der druumlckenden Hitze eine laumlrmende Menschenmenge

durch die Lakshmi Road Haumlndler schoben ihre Verkaufskarren ge-schickt zwischen den Passanten hindurch und priesen lautstark Haushaltsgeraumlte Blumenkraumlnze und Schmuck an Es roch wuumlrzig nach Curry und Kraumlutern und der Geraumluschpegel war ohrenbe-taumlubend Vor den dunklen oft halb zerfallenen Haumluserfassaden hingen farbenfrohe mit glitzernden Borten verzierte Prachtsaris zum Verkauf Die Blumenstaumlnde die die Straszlige saumlumten leuchte-ten im Sonnenlicht

Mit einer muumlden Geste wischte Nina sich den Schweiszlig von Ge-sicht und Hals Die Hitze der Staub der wie eine gelbe Decke auf der Stadt lag und der Laumlrm setzten ihr beachtlich zu Ihr luftiges Oberteil und die weiten Sommerhosen waren nass geschwitzt Ihr Kreislauf spielte verruumlckt und das Atmen fiel ihr schwer Aber nach ein zwei Tagen wuumlrde sie sich daran gewoumlhnt haben das wusste sie von ihren fruumlheren Besuchen in diesem faszinierenden Land

raquoWir haben schon an die vierzig Grad wenn nicht mehrlaquo knurrte Konrad Friedemann neben ihr grantig

Nina verdrehte die Augen aber so dass Konrad es nicht bemer-ken konnte raquoDu als halber Sizilianer solltest dich doch bei solchen Temperaturen richtig wohlfuumlhlenlaquo flachste sie und fuhr ihm uumlber sein raspelkurzes schwarzes Haar

Sie machte das oft es fuumlhlte sich so gut an Wie ein weicher dichter Pelz Fuumlr gewoumlhnlich schnurrte er dann vor Behagen aber heute machte ihr seine stuumlrmische Miene klar dass er es offenbar

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nicht gerade witzig fand an sein sizilianisches Erbe erinnert zu werden Sein Vater war ein wortkarger blonder Huumlne von der Nordseekuumlste gewesen aber seine Groszligeltern und seine Mutter stammten aus einem Dorf im Suumldosten Siziliens Von seinem Vater hatte Konrad die beachtliche Koumlrpergroumlszlige geerbt von Groszligvater Luca Santino nicht nur seinen zweiten Vornamen Santino son-dern auch das explosive Temperament Bisweilen kam der heiszligbluuml-tige Santino hinter Konrads norddeutscher Fassade hervor Heute schien der Ausbruch kurz bevorzustehen

raquoIch verdurste gleichlaquo sagte er finster und schraubte den De-ckel von seiner mitgefuumlhrten Wasserflasche ab

Bevor er jedoch trinken konnte rempelte ihn jemand im Ge-draumlnge an und das Wasser ergoss sich uumlber sein Hemd Er fluchte und schuumlttelte die Flasche aber es kam kein Tropfen mehr heraus Als nun eine Handvoll zierlicher Inderinnen in bunten Saris die mitten auf der Straszlige ein Schwaumltzchen hielten seinen Weg blo-ckierten benutzte er seine muskuloumlsen Schultern wie einen Wel-lenbrecher und pfluumlgte durch die Gruppe

raquoDas war ziemlich unfreundlichlaquo sagte Nina in leicht tadelndem Ton raquoHast du das beim Wehrdienst in der italienischen Armee gelerntlaquo

raquoIch loumls mich gleich auflaquo war die knappe ErklaumlrungraquoWir schwitzen allelaquo erwiderte sie raquoEs ist viel zu heiszlig fuumlr die

Jahreszeit aber das konnte ich schlieszliglich nicht ahnen Hierlaquo Sie streckte ihm ihre Wasserflasche hin raquoIch will ja nicht dass du ver-durstestlaquo

raquoDankelaquo brummte er Er trank ein paar tiefe Zuumlge wischte sich mit dem Handruumlcken den Mund ab und gab ihr die Flasche dann wieder zuruumlck raquoDas Wasser ist piehwarmlaquo

raquoEs kocht zumindest nicht Wir sind bald am Fruit Market da gibt es immer ein paar Staumlnde die gekuumlhlte Getraumlnke verkaufen Uumlberlebst du bis dahinlaquo

Konrad grunzte sagte aber nichts

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Sie warf ihm einen Seitenblick zu Irgendwie knirschte es fast jedes Mal zwischen ihnen wenn er sie auf einer ihrer Forschungs-reisen ins Ausland begleitete Auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Suumldamerika hatte er sich ein Magen-Darm-Virus eingefan-gen und eine Nacht auf der Toilette verbracht Ein Arzt war nicht aufzutreiben gewesen also hatte sie ihn mit Mineralwasser versorgt und mit Kohletabletten gefuumlttert

Irgendwann war sie vom Jetlag todmuumlde ins Bett gefallen und eingeschlafen Morgens fand sie ihn kniend vor der Toilette zu-sammengesunken den Kopf auf einen Arm gebettet mit dem an-deren umarmte er die Schuumlssel Tagelang war er nicht einsatzfaumlhig was seine Geduld aufs Aumluszligerste strapazierte und das hatte sich massiv auf seine Laune ausgewirkt

In Indien war die Wahrscheinlichkeit einen derartigen Infekt zu bekommen groszlig Besonders fuumlr Europaumler Vielleicht ging es ihm nicht gut Das koumlnnte durchaus ein Grund fuumlr sein grantiges Verhalten sein

Waumlhrend sie den Rest aus ihrer Wasserflasche in einem Zug leer trank musterte sie ihn verstohlen

Er war unbestreitbar attraktiv Breitschultrig durchtrainiert fast eins neunzig groszlig blaue Augen unter grau meliertem schwar-zem Haar und ein Laumlcheln das bei Frauen seelische Verwuumlstungen anrichtete Ein Playboy ein Leichtgewicht hatte sie anfangs ge-urteilt ein ruumlcksichtsloser Frauenheld Vorschnell wie sie spaumlter herausfand Aumluszligerlich war er der harte Kerl aber unter seiner rup-pigen Art die er gern kultivierte verbarg er eine mitfuumlhlende Seele und ein butterweiches Herz Bei ihrem ersten Treffen das sie nie vergessen wuumlrde war davon allerdings nichts zu merken gewesen Gar nichts

Sie saszlig in ihrem Labor eine Tasse Kaffee in der Hand und bruuml-tete uumlber einer sehr schwierigen Versuchsreihe als die Tuumlr aufgesto-szligen wurde und sie als Reflexion in der Glastuumlr ihres Laborschranks bemerkte wie ein ihr voumlllig unbekannter Mann hereinstuumlrmte Er

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lieszlig die Faust auf den Tisch krachen dass die Versuchsroumlhrchen tanzten

raquoWelcher moumlrderische Mensch hat meine Boophone disticha er-saumluftlaquo knurrte er in einer Tonlage die so rau und tief war dass die Frage zu einer massiven Drohung wurde

Nina wirbelte herum und starrte in wutspruumlhende tiefblaue Augen

raquoHallo ich freue mich auch Sie kennenzulernenlaquo sagte sie tro-cken nahm betont gelassen einen Schluck Kaffee und musterte den Eindringling

Ziemlich groszlig muskuloumls schwarzes Haar mit Grau durchzo-gen Jeans ein dunkelrotes Sweatshirt und Sneaker Keine Socken

raquoIch will wissen wer meine Boophone ermordet hatlaquo Der Mann fletschte seine Zaumlhne die in seinem sonnengebraumlunten Ge-sicht zahnpastaweiszlig leuchteten raquoDie Zwiebel stand kurz vor der ersten Bluumlte Nach zehn Jahren Und jetzt hat sie jemand ertraumlnkt Bis oben hin stand sie im Wasserlaquo Er fuhr sich mit dem Zeigefin-ger uumlber den Hals raquoHat alle Blaumltter abgeworfen und die Zwiebel ist matschiglaquo Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter Seine dunklen Brauen straumlubten sich

Nina war beeindruckt zeigte es aber nicht Eine Boophone dis-ticha zu kultivieren war ungemein schwierig und erforderte jahre-lange Geduld Und war meistens nicht erfolgreich Die Mischung des Substrats das Licht und die Wasserzufuhr entschieden uumlber Leben und Tod der Pflanze Und schlicht auch das Gluumlck

raquoEine Boophone disticha Wen wollen Sie denn damit ins Jen-seits befoumlrdernlaquo

Der Extrakt der Bushmanrsquos Poison Bulb wie die Pflanzen in Af-rika genannt wurden wurde noch heute von den San als Pfeilgift verwendet und sie wusste dass traditionelle Heiler sie hauptsaumlch-lich als Halluzinogen benutzten allerdings auch so wurde gemun-kelt um sich unliebsamer Personen auf diskrete Weise zu entledi-gen Manchmal geschah das offenbar auch ungewollt denn der

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Unterschied zwischen einer therapeutischen und der toumldlichen Dosis war haarfein Die Heiler kochten einen Sud aus der Gift-zwiebel und es hing von ihrer Sorgfalt in der Herstellung und der Potenz der gerade genutzten Pflanze ab ob sie in der Sonne ge-wachsen war oder im Schatten Die Giftzwiebel gehoumlrte zu den Traumkraumlutern die Patienten in Trance versetzten und lebhafte Klartraumlume und Visionen herbeifuumlhrten

Von einem dieser Traumkraumluter ndash sie konnte sich an den Na-men Uvuma Omhlope erinnern ndash hieszlig es dass es einen Blick ins Leben nach dem Tod ermoumlgliche Aber wissenschaftlich bewiesen war das nicht Sie musste unwillkuumlrlich laumlcheln Derartige Eigen-schaften waumlren auch in der modernen Welt ein kommerzieller Hit

Der Mann ging nicht auf ihren Scherz ein raquoDas heiszligt die zehn Jahre waren voumlllig umsonst Wenn ich Gluumlck habe kann ich gerade noch einen Sud davon kochenlaquo Wieder lieszlig er die Faust auf ihren Labortisch krachen

raquoUnterlassen Sie daslaquo sagte sieDie Arme vor der Brust verschraumlnkt das Kinn herausfordernd

vorgestreckt lieszlig er seinen Blick in aufreizender Manier uumlber ihre Gestalt laufen Einmal rauf und wieder runter Ein Blick wie eine koumlrperliche Beruumlhrung Ihr Ruumlckgrat versteifte sich

In den vergangenen Jahren hatten schon einige Maumlnner vor ihm probiert sie auf diese Weise anzuflirten aber sie war immer zu-ruumlckgeschreckt Seit jenem Tag Jetzt stellte sie mit nicht geringer Verwirrung fest dass ihr die Vorstellung einer Beruumlhrung dieses Mannes nicht unbedingt unangenehm war Im Gegenteil

Um ihre unerwarteten Gefuumlhle in den Griff zu bekommen be-obachtete sie ihn eine Weile uumlber den Rand ihrer Kaffeetasse raquoMuss ich Angst vor Ihnen habenlaquo sagte sie schlieszliglich

Seine Augen funkelten blau raquoNur wenn Sie meine Giftzwiebel umgebracht haben Haben Sielaquo

raquoUnd es ist tatsaumlchlich eine Bushmanrsquos Poison Bulblaquo sagte sie

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raquoIch bin in Suumldafrika geboren In fruumlheren Zeiten wuchsen die bei uns im Garten Kann ich mir das Exemplar mal ansehenlaquo

Mit der Frage hatte sie offensichtlich einen Volltreffer gelandet Immer noch die Arme vor der Brust gekreuzt starrte er sie an

raquoZweifeln Sie etwa an meiner Fachkenntnis Glauben Sie ich habe vielleicht eine Gemuumlsezwiebel oder eine Narzisse hochge-paumlppeltlaquo

Nina wurde fuumlr eine Sekunde an einen uumlbel gelaunten Leopar-den erinnert Welch ein unbeherrschter Ruumlpel Sie laumlchelte ihn mit schmalen Lippen an

raquoNatuumlrlich nicht Wie kommen Sie darauflaquoraquoWas sind Sie eigentlich Laborassistentin Oder putzen Sie nur

die VersuchsroumlhrchenlaquoSie setzte ihren Kaffee ab Was bildete der Kerl sich eigentlich

einraquoNatuumlrlich putze ich die Versuchsroumlhrchen Was sonstlaquo Sie

grinste und zog an einer ihrer Haarstraumlhnen raquoIch bin blond Das sollte doch einiges erklaumlrenlaquo Sie schlenkerte provozierend mit einem Bein raquoUnd wer sind Sie Was wollen Sie hier im Labor Sind Sie Lieferant oder so etwaslaquo

Seine Haltung aumlnderte sich subtil wurde entspannter Ruhig tastete sich sein Blick uumlber ihr Gesicht und blieb schlieszliglich an ihren Lippen haumlngen

Ihr Mund wurde ploumltzlich papiertrocken Ihre Blicke verhakten sich Nina versuchte vergebens diesen gefaumlhrlichen Augen auszu-weichen was er aber zu bemerken schien denn unvermittelt streckte er ihr die rechte Hand hin

raquoKonrad Friedemannlaquo sagte er und laumlchelte raquoIch bin Spezialist fuumlr die Analyse von Heilpflanzen und vom naumlchsten Monat an arbeite ich hierlaquo

Ein langsames Laumlcheln und es begann in seinen Augen Fuumlr Se-kundenbruchteile wurden sie schmaler dann oumlffneten sie sich weit und wie der fruumlhe Morgenhimmel kurz vor dem Sonnenaufgang

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begannen sie von innen zu strahlen funkelten ihr wie geschliffe-nes blaues Kristall aus einem Kranz von Lachfaumlltchen entgegen

Und sie hing an diesem Laumlcheln wie ein Fisch am HakenEine tiefe Ruhe breitete sich in ihr aus Ein warmes Gefuumlhl von

Sicherheit Geborgenheit und der Gewissheit endlich angekom-men zu sein Dass ihre Suche ein Ende hatte

In dieser Sekunde verliebte sie sich rettungslos in ihn und wusste ohne jeden Zweifel dass er der Mann war mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte

Und wie jedes Mal wenn sie zuruumlck auf diesen funkelnden Augenblick blickte durchflutete gluumlhende Hitze ihren Koumlrper Nie wuumlrde sie vergessen wie sie von ihren tot geglaubten Gefuumlhlen voumll-lig uumlberwaumlltigt wurde Nie haumltte sie fuumlr moumlglich gehalten dass sie je wieder ein solches Gluumlck verspuumlren koumlnnte Dass sie je wieder einen Mann begehren wuumlrde

Auch jetzt lag auf ihren Zuumlgen ein Widerschein seines Laumlchelns als sie ihm versoumlhnlich die Hand hinstreckte Aber er tigerte mit hochgezogenen Schultern zwei drei Schritte voraus

raquoMusstest du denn deine Recherchen unbedingt in die Woche vor dem Diwali-Fest legenlaquo warf er ihr in einem Ton uumlber die Schulter zu der deutlich machte wie gereizt er immer noch war

Das Laumlcheln auf Ninas Gesicht erlosch Sie biss sich auf die Lip-pen Sein Verhalten begann ihr gegen den Strich zu gehen und zwar ziemlich Auszligerdem fand sie keine Erklaumlrung dafuumlr Laumlngst aumlrgerte sie sich selbst daruumlber dass sie nicht darauf geachtet hatte wann Diwali das Lichterfest der Hindus stattfand Das Fest wuumlrde die gesamte naumlchste Woche andauern Schon heute war niemand erreichbar denn es waren alle Hindus unterwegs um traditionell etwas Schoumlnes fuumlr ihren Haushalt zu kaufen

Mit anderen Worten sie vergeudete Konrads und ihre Zeit We-nigstens konnte sie nachher im Hotel ihre Unterlagen sichten und schon vorarbeiten Auszligerdem hoffte sie bei ihrem Besuch heute auf dem Fruit Market bei den Kraumluterhaumlndlern einige Kontakte

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knuumlpfen zu koumlnnen Allerdings war sie sich nicht sicher dass die ihre Lieferanten preisgeben wuumlrden Konrad der sie als Experte in der Klassifizierung von Heilpflanzen begleitete wuumlrde vermutlich Daumlumchen drehen und zunehmend grantiger werden Sie seufzte

raquoIch hab dich nicht mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzu-kommenlaquo hielt sie ihm vor raquoDu haumlttest mich ja daran erinnern koumlnnen schlieszliglich war dir unser Reisedatum bekanntlaquo

raquoWarum sollte ichlaquo Konrad trat eine leere Plastikflasche zur Seite raquoEs ist deine Geschaumlftsreise Ich bin doch bloszlig dein Lakai und trag dir die Sachen nachlaquo

Betroffen blieb sie stehen Es konnte doch nicht angehen dass er sich in seiner Eitelkeit verletzt fuumlhlte weil sie den Auftrag be-kommen hatte neue Heilpflanzen zu finden Das waumlre voumlllig un-charakteristisch fuumlr ihn Ihre beiden Fachgebiete beruumlhrten sich zwar waren aber klar getrennt

Sie studierte die klimatischen Bedingungen eines bestimmten Landes zum Beispiel die von Finnland und recherchierte welche Pflanzen dort wuchsen und ob deren Heilwirkung bereits erforscht war Wenn nicht nahm sie so viele Proben wie moumlglich In Finn-land handelte es sich hauptsaumlchlich um Moose und Flechten von denen Konrad die verschiedenen Komponenten extrahierte und analysierte Danach uumlberwachten sie gemeinsam die Forschungs-reihen

Ihm musste die Hitze ziemlich zusetzen denn fuumlr gewoumlhnlich reagierte Konrad nicht so Neid auf andere insbesondere auf ihre Arbeit war ihm eigentlich fremd

Oder war das der sizilianische Macho der da zum Vorschein kam Sie verdrehte die Augen Maumlnner dachte sie Ein wandelndes Klischee

raquoKonradlaquo Sie lief ihm nach und hielt ihn zuruumlck raquoDu bist doch nicht etwa sauer dass ich den Forschungsauftrag bekommen habe oder Du weiszligt doch dass ich einmal bei einem Haumlndler auf einem Gemuumlsemarkt ein Gewaumlchs entdeckt habe das heute Bestandteil

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eines Medikaments gegen Entzuumlndungen ist Und wie viel Uumlber-redungskunst es gebraucht hat bis ich heraushatte wo der Mann die Pflanze herhatlaquo Sie laumlchelte und rieb dabei Zeigefinger und Daumen zusammen raquoIch nehme an das war der Grund weswe-gen sich Dr Bernhard fuumlr mich entschieden hatlaquo

raquoBilde dir das ja nicht einlaquo sagte er und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick

raquoWas soll denn das wieder heiszligenlaquo erwiderte sieraquoDer schwaumlnzelt doch dauernd hinter dir herlaquoWie ein wuumltender Bulle stellte er sich einer Groszligfamilie in den

Weg die sich in bester Festlaune befand Die Gesellschaft teilte sich froumlhlich schwatzend vor ihm floss um ihn herum und ver-einigte sich dann wieder

Perplex blieb Nina stehen und starrte ihn an Konrad Friede-mann war eifersuumlchtig Sie war hin- und hergerissen ob sie sich daruumlber freuen sollte oder nicht

raquoDer Bernhardinerlaquo rief sie entgeistert raquoDer Das kannst du nicht ernst meinen Der sabbert Ich krieg schon Ausschlag wenn ich nur an den denkelaquo Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich heran raquoLiebling ohne dich wuumlrde ich meine Arbeit gar nicht be-waumlltigen koumlnnen das weiszligt du genau Schon allein dass du mir vor der Abreise Proben von verschiedenen Weihrauchbaumlumen be-sorgt hast ist fuumlr mich eine unschaumltzbare Hilfe Nun kann ich end-lich die Eigenschaften von Boswellia serrata und Boswellia frereana vergleichen Das ist aufregendlaquo Sie trug ein bisschen dick auf aber das schien ihr jetzt angesagt zu sein

raquoHmlaquo brummte Konrad und zog seine Hand wieder wegEr war also immer noch nicht restlos besaumlnftigt Bevor sie aber

reagieren konnte wurde sie angerempelt stolperte und musste an den Straszligenrand ausweichen raquoAls Naumlchstes will ich bei lokalen Aumlrzten und Heilern herausfinden welche sonstigen Pflanzen sie wofuumlr verwendenlaquo redete sie uumlber die Schulter weiter raquoSobald ich genuumlgend Informationen habe muss ich mit Rajesh los die Kraumluter-

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laumlden durchkaumlmmen und auch die Aumlrzte auf dem Land aufsuchen um jede Menge Proben zu sammeln Da bleibt mir absolut keine Zeit sie hier noch zu klassifizieren ndash und du hast eh viel mehr Er-fahrung als ichlaquo Sie wandte sich laumlchelnd zu ihm um

Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf dass sie allein war Offenbar hatten sie und Konrad sich im Gewimmel verloren ohne dass sie es bemerkt hatte Sie stellte sich auf die Zehenspitzen reckte den Hals drehte sich einmal im Kreis und lieszlig ihren Blick dabei uumlber die Menge streichen Zwar gingen die meisten Men-schen hier Konrad kaum bis zur Schulter aber dennoch konnte sie Konrads grau melierten Schopf zwischen den schwarzhaarigen In-dern unmoumlglich ausmachen

Ungeduldig zog sie ihr Handy heraus und waumlhlte seine NummerEs klingelte Lange Kein Empfang nahm sie an oder Handy

stumm geschaltet verloren geklaut oder Konrad ignorierte es ein-fach weil er nicht mit ihr sprechen wollte Aber das war unwahr-scheinlich Er und seine Arbeit waren unverzichtbar fuumlr ihre For-schung das wusste er genau

Sie druumlckte erneut die Anruftaste wieder klingelte es und wieder meldete sich Konrad nicht

raquoNa dann eben nichtlaquo murmelte sie und wollte das Telefon schon wegstecken als ihr auffiel dass auf dem Display zwei ent-gangene Anrufe vermerkt waren Sie sah genauer hin

Es war beide Male dieselbe Nummer Eine Hamburger Num-mer die sie nicht kannte Sie reihte den Anruf ganz am Schluss ihrer Prioritaumltenliste ein steckte das Telefon weg und machte sich auf die Suche nach dem naumlchsten Taxistand Sie wollte so schnell wie moumlglich zuruumlck ins Hotel Mit ziemlicher Sicherheit wuumlrde Konrad dort auf sie warten Die Haumlnde in die Hosentaschen ge-bohrt die breiten Schultern etwas vorgeschoben die blauen Augen stuumlrmisch wuumlrde er ihr mit seiner Koumlrpersprache unmissverstaumlnd-lich klarmachen dass er immer noch grantig war Obwohl sich da-hinter wie sie genau wusste nur seine Besorgnis um sie verbarg

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Sie laumlchelte in sich hinein Gelegentlich ging ihr sein Gluckenver-halten etwas auf die Nerven Aber nur sehr gelegentlich

Im Hotel angekommen wartete sie ungeduldig an der Sicher-heitskontrolle am Eingang waumlhrend ein Uniformierter sie mit dem Scanner abtastete und ihre Handtasche durchleuchtet wurde End-lich oumlffnete ihr ein weiszlig livrierter Angestellter die groszlige Glastuumlr Sie betrat das klimatisierte Innere und lieszlig ihren Blick uumlber die Ein-gangshalle fliegen

Doch im Foyer konnte sie Konrad nicht entdecken Auch als sie vor der Herrentoilette leise seinen Namen rief bekam sie keine Antwort Bei der Rezeptionistin erkundigte sie sich ob die Konrad vielleicht gesehen habe was aber verneint wurde

Sie fuhr hinauf in den fuumlnften Stock und schloss die Tuumlr zu ihrem gemeinsamen Zimmer auf

Leere gaumlhnte ihr entgegen Jene kuumlhle stille Leere die keinen Zweifel daran lieszlig dass sich kein lebendes Wesen in dem Raum aufhielt Sie oumlffnete die Badezimmertuumlr Auch hier war niemand Mit abwesender Miene versuchte sie das ungute Gefuumlhl das sich in ihrer Magengegend ausbreitete wegzureiben Sie ging zum Fens-ter und schaute hinunter ob er sich am Swimmingpool aufhielt Im Wasser war niemand und nur zwei der Liegen waren besetzt ndash die Hitze und der Staub luden nicht zum Sonnenbaden ein Kon-rad konnte sie nirgends entdecken

Unbewusst drehte sie an dem Ring den sie seit einigen Wochen an der linken Hand trug Bei jenem unvergesslichen Abendessen in der gemuumltlichen Trattoria die von seinem Cousin in Ottensen ge-fuumlhrt wurde hatte Konrad ein abgegriffenes Lederkaumlstchen aus der Tasche gezogen den Deckel geoumlffnet und ihr wortlos hingeschoben

Auf schwarzem Samt schimmerte ein Schatz Ein Ring etwa einen Zentimeter breit tiefes sattes Gold von mattem Glanz mit sechs rundgeschliffenen leuchtend gruumlnen Steinen besetzt Waumlh-rend sie voumlllig uumlberrumpelt auf den Ring starrte hatte er ihre linke Hand genommen und ihn ihr auf den Ringfinger gestreift

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raquoMein Ururgroszligvater Dominic Santino hat ihn eines Tages vor Lipari beim Fischen in seinem Netz gefundenlaquo murmelte er und kuumlsste ihre Fingerkuppen langsam eine nach der anderen bis je-des ihrer Nervenenden gluumlhte raquoUnd seitdem traumlgt ihn immer die Donna der Familie helliplaquo

Auch jetzt wurden ihr noch die Knie weich wenn sie an seinen Kuss dachte und auch dass sie anfaumlnglich gar nicht begriffen hatte dass er ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte

Nein laumlchelte sie unwillkuumlrlich in sich hinein ein Antrag war das nicht gewesen Ein Antrag haumltte eine Antwort benoumltigt Typisch Konrad hatte er ihr klargemacht dass er beabsichtige mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen Die Erinnerung an die Nacht die folgte jagte ihr einen lustvollen Schauer uumlber die Haut und sie kehrte nur muumlhsam in die Wirklichkeit zu-ruumlck

Ans Fenster gelehnt drehte sie nervoumls an dem Ring und blickte hinaus uumlber die ausgedehnten Elendsquartiere zu den Geschaumlfts-vierteln von Pune Hinter den Hochhaumlusern verdunkelte sich die Welt Schwarze Wolken ballten sich zusammen schoben sich uumlber die Daumlcher und blaumlhten sich zu himmelhohen Gebirgen auf Schneeweiszlige Gewittertuumlrme bildeten sich und wurden von dem aufkommenden Sturm wieder zerfetzt Der Horizont kochte Es drohte offenbar ein schweres Unwetter

Zunehmend beunruhigt versuchte sie wieder Konrad zu errei-chen Nachdem sie es geschaumltzte zwanzig Mal hatte klingeln lassen beendete sie den Anruf Sie zog ihr verschwitztes Oberteil und die Hosen aus und stellte sich unter die Dusche

Erst jetzt bemerkte sie wie hungrig sie war und entschied in der Lounge eine Kleinigkeit zu essen Nachdem sie sich abgetrock-net hatte zog sie leichte Sommerjeans eine luftige gelbe Bluse mit kurzen Aumlrmeln und Leinenslipper an Anschlieszligend waumlhlte sie noch einmal Konrads Nummer

Diesmal allerdings bekam sie eine Verbindung Erregt lief sie im

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Zimmer umher aber alles was sie houmlren konnte waren Verkehrs-geraumlusche und irgendein unverstaumlndliches heiseres Gebabbel

raquoHallo Konradlaquo rief sie aufgeregt raquoIch kann dich nicht verste-hen hellip Konrad helliplaquo

Jemand lachte dann wurde die Verbindung unterbrochen Ent-taumluscht schaltete sie ihr Telefon aus Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen von ihm gewesen und dass sie angerufen hatte wuumlrde er bald auf seinem Display sehen und sie zuruumlckrufen Kon-rad trug sein Handy ab und zu in der Hosentasche und es war schon vorgekommen dass es durch den Druck eingeschaltet wurde ohne dass er es gemerkt hatte

Erleichtert uumlber die plausible Erklaumlrung schrieb sie eine Nach-richt fuumlr ihn auf den Briefblock des Hotels dass sie in der Lounge sein wuumlrde legte den Zettel gut sichtbar aufs Bett nahm ihr Note-book und fuhr dann hinunter in den dritten Stock in die Lounge Als die automatische Tuumlr sich vor ihr oumlffnete blies ihr ein arkti-scher Wind entgegen Die Raumlume waren wie auch die Restaurants des Hotels auf so unangenehm kalte Temperatur heruntergekuumlhlt dass es sie mitten in der bruumltenden indischen Hitze froumlstelte was sie daran erinnerte dass in Hamburg praktisch Winter herrschte Sie rief den Wetterbericht auf ihrem Computer auf und fand ihre Annahme bestaumltigt Schnee und Temperaturen unter dem Gefrier-punkt Es sei eine ungewoumlhnliche Wetterlage hieszlig es vonseiten der Meteorologen

Sie bestellte einen Cappuccino und ein paar Haumlppchen mit Thunfisch und Lachs und probierte anschlieszligend die Nummer des unbekannten Anrufers auf ihrem Handy

Eine maumlnnliche Stimme die muumlde und abgekaumlmpft klang mel-det sich raquoKroetzlaquo

raquoGuten Tag Herr Kroetzlaquo sagte sie raquoHier ist Nina Rodenbeck Sie haben mich angerufen Ihre Nummer ist jedenfalls auf meinem Display Ich kann mich nicht erinnern dass wir uns kennenlaquo

raquoOh Frau Rodenbeck gut dass Sie sich meldenlaquo sagte der

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Mann raquoIch bin der Arzt Ihres Vaters Er liegt bei mir in der Klinik und es geht ihm nicht sehr gut Sie sollten so schnell wie moumlglich vorbeikommenlaquo

Der Schreck fuhr ihr in die feinsten Nervenveraumlstelungen Sie schwankte als haumltte sie ploumltzlich den Halt verloren Ihr Vater ihre einzige seelische Zuflucht der Anker in ihrem Leben

raquoMein Vater Warum liegt er im Krankenhaus Als ich ihn zu-letzt gesprochen habe ging es ihm sehr gutlaquo Sie konnte nicht ver-hindern dass ihre Stimme zitterte

raquoEr ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk gebrochen Das waumlre zwar nicht so schlimm aber er ist auf ein Holzbrett ge-stuumlrzt aus dem ein Nagel geragt hat helliplaquo

Nina sog erschrocken die Luft durch die Zaumlhne raquoUnd Was ist passiertlaquo

raquoIhr Vater ist genau auf den Nagel gefallen und der hat seine Niere zerfetzt hellip Seine einzige Niere Jetzt haumlngt er rund um die Uhr an der Dialyse helliplaquo

raquoO Gottlaquo sagte Nina leise die genau wusste wie sehr ihr Vater sich immer gefuumlrchtet hatte weil er nur eine Niere besaszlig raquoWie lange wird er das muumlssenlaquo

Der Arzt zoumlgerte kurz raquoBis er eine Spenderniere bekommen hat Und die Aussichten sind angesichts der langen Warteliste nicht gut hellip Es dauert oft Jahrelaquo Er raumlusperte sich raquoDie hat Ihr Vater aber nicht helliplaquo

raquoKoumlnnte ich ihm eine spendenlaquo unterbrach sie ihn mit haumlm-merndem Herzen

Gedankenverloren beobachtete sie zwei farbenpraumlchtige Bie-nenfresser die wie Kolibris vor der berankten Hausfassade gegen-uumlber schwirrten und Insekten fingen Eine heftige Windbouml wir-belte sie auszliger Sichtweite hoch in die Wolken Sie wandte sich ab Wie sollte ihr Leben ohne ihren Vater aussehen Sofort schaumlmte sie sich fuumlr die egoistische Anwandlung anstatt zuerst an seine Lage und Gefuumlhle zu denken

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raquoKomme ich als Spenderin infrage Waumlre das eine MoumlglichkeitlaquoraquoJalaquo sagte der Arzt raquoJa wenn es eine Uumlbereinstimmung gibt

dann ist das kein Problem Und bei nahen Verwandten ist das oft der Fall Kommen Sie schnelllaquo

raquoIch bin gerade in Indien in Pune aber ich werde den ersten Flug nehmen den ich erwische Es kann leider sein dass ich erst morgen oder uumlbermorgen einen bekomme Sobald ich mehr weiszlig melde ich michlaquo

raquoGutlaquo sagte der Arzt raquoIhr Vater weiszlig uumlbrigens nicht dass ich Sie angerufen habe helliplaquo

raquoDann sagen Sie es ihm lieber auch nicht sonst regt er sich nur auf Ich melde mich so schnell ich kannlaquo

Sie verabschiedete sich legte auf lieszlig sofort ihren Laptop hoch-fahren und blaumltterte durch die Internetseiten auf der Suche nach einem Flug der noch am heutigen Abend von Bombay abging

Nach einer ihr schier endlos erscheinenden Stunde in der sie sich den Mund fusselig geredet hatte lehnte sie sich erleichtert zu-ruumlck Die Lufthansa hatte doch noch einen freien Platz Um Mit-ternacht war Abflug Nun galt es den Transport nach Bombay zu organisieren Je nach Verkehrslage wuumlrde sie im Taxi vier bis sechs Stunden brauchen es sei denn es gab einen Flug von Pune zu der Millionenstadt an der Westkuumlste Das wuumlrde man ihr an der Re-zeption sagen koumlnnen Sie lief den langen Hotelflur entlang und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss

Zu ihrer groszligen Erleichterung gab es einen Flug Laumlcherliche zwanzig Minuten wuumlrde er dauern Auf ihre Bitte hin erledigte der Concierge die Buchung und bestellte ein Taxi Beruhigt fuhr sie wieder hinauf in die fuumlnfte Etage

Auf dem langen Gang sah sie schon von weitem dass der Wagen des Reinigungspersonals vor der offenen Tuumlr ihres Zimmers stand Sie stieszlig die Tuumlr auf

Gluumlcklicherweise war das Zimmermaumldchen so gut wie fertig mit Aufraumlumen Es leerte gerade noch den Papierkorb buumlckte sich

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kurz und fischte ein Stuumlck Papier unter dem Bett hervor zerknuumlllte es warf es in ihren Muumlllbeutel und verabschiedete sich dann mit einem Laumlcheln Nina druumlckte ihr ein Trinkgeld in die Hand und schloss die Tuumlr Dass die Nachricht fuumlr Konrad nicht mehr auf dem Bett lag bemerkte sie nicht

Sie setzte sich ans Fenster und waumlhlte unter Umgehung seines Sekretariats die direkte Nummer des Bernhardiners in der Konzern-zentrale um ihn von ihrer Entscheidung zu unterrichten

Begeistert schien er anfaumlnglich nicht zu sein raquoSie brechen ab bevor Sie uumlberhaupt angefangen haben Warum Ihr Ruumlckflug ist doch erst Ende naumlchster Woche vorgesehenlaquo

raquoMein Vater liegt schwer verletzt in der Universitaumltsklinik in Hamburglaquo Sie schilderte ihm die Umstaumlnde des Unfalls und die schrecklichen Konsequenzen raquoIch habe furchtbare Angst um ihn helliplaquo sagte sie dann leise

Der Bernhardiner reagierte wie sie gehofft hatte raquoAber Nina natuumlrlich haben Sie meine volle Unterstuumltzung Lassen Sie das Ticket einfach umschreiben Ich werde in der Zwischenzeit sofort anregen dass sich alle in der Firma typisieren lassenlaquo

Nina dankte ihm uumlberschwaumlnglich raquoDas ist wirklich unglaub-lich lieb von Ihnen Dr Bernhard Das werde ich Ihnen nie ver-gessenlaquo

Fuumlr Sekunden wuumlnschte sie dass sie das nicht so voreilig ver-sprochen haumltte aber selbst wenn es sie ein Abendessen mit ihm kosten wuumlrde war der Preis billig Solange sie ihn auf Abstand hal-ten konnte

raquoSchicken Sie mir Ihre Ankunftszeit dann lasse ich Sie von mei-nem Fahrer abholenlaquo bot ihr Bernhard sofort an

raquoDankelaquo sagte sie raquoAber das wird nicht noumltig sein Ich habe meinen Wagen am Flughafen abgestellt helliplaquo

raquoMeine liebe Nina es ist mir ein Vergnuumlgen Ihnen helfen zu koumlnnen hellip Vielleicht koumlnnen wir in den naumlchsten Tagen helliplaquo

raquoHallolaquo fiel sie ihm ins Wort raquoHallo Dr Bernhard Ich kann

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Sie kaum noch verstehen hellip Hallo Die Verbindung helliplaquo Sie kratzte mit den Fingernaumlgeln uumlbers Handymikrofon schaltete das Geraumlt dann ab und steckte es weg

Nachdem sie den Anruf hinter sich gebracht hatte probierte sie gefuumlhlt alle zwei Minuten immer und immer wieder Konrad zu erreichen aber stets vergeblich Zerrissen zwischen der Angst um ihren Vater und der Sorge warum Konrad sich nicht meldete machte sie sich ans Packen

Fuumlr die Ankunft in Hamburg legte sie eingedenk des Wetter-berichts einen Rollkragenpullover ein waumlrmendes Funktionsshirt zum Darunterziehen und den federleichten Daunenmantel ins Uumlbernachtungsgepaumlck

Sie sah auf die Uhr Noch hatte sie Zeit eine Kleinigkeit zu essen bevor sie an Bord des Flugzeugs etwas bekam Noch einmal waumlhlte sie Konrads Nummer

Konrad lief in diesem Augenblick auf der Suche nach ihr von der Lakshmi Road kommend auf das achteckige Gebaumlude des Fruit Markets zu Er rechnete fest damit Nina dort anzutreffen Das Klingeln seines Telefons uumlberhoumlrte er in dem gellenden Hupkon-zert der Autos

Am Eingang des Parkhauses blieb er stehen Auch hier waren die Straszligen und die Staumlnde die um den Fruit Market aufgebaut waren uumlberfuumlllt Eine bunte Menschenmenge wimmelte durcheinander aber nirgendwo konnte er einen blonden Kopf entdecken

Er machte einen Schritt auf die Straszlige und stolperte in ein klaffendes Loch das sich zwischen der zerkluumlfteten Bordsteinkante und dem aufgebrochenen Straszligenbelag unter vertrocknetem Gruumlnzeug versteckte Er strauchelte konnte sich aber eben noch fangen Dabei rutschte ihm sein Handy aus der Hemdtasche in das Loch

Er buumlckte sich weit vor und streckte die Hand danach aus als er aus den Augenwinkeln eine verkruumlppelte Bettlerin auf verstuumlm-

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melten Gliedmaszligen bemerkte die durch den Schmutz stur auf ihn zurobbte Zwar versuchte er ihr auszuweichen aber er war fest in der Menge eingekeilt und konnte weder vor noch zuruumlck Die Bettlerin stoppte urploumltzlich direkt vor ihm und uumlbergab sich in hohem Bogen

Auf seine Fuumlszlige und auf das Handy das in dem Loch lagEr senkte langsam den Kopf und starrte auf seine ruinierten

Sneaker Die currygelbe koumlrperwarme Masse sickerte durch die Ventilationsloumlcher auf seine bloszlige Haut der Saum seiner hellen Leinenhosen tropfte Das Handy konnte er nicht mehr sehen Es war vollstaumlndig unter dem stinkenden Schleim begraben

Die Bettlerin oumlffnete ihre weitgehend zahnlose Mundhoumlhle und lieszlig ein heiseres Kichern entweichen raquoSorrylaquo stammelte sie

Konrad sah sie an Sie hatte den Kopf wie ein Vogel schraumlg gelegt und blickte flehentlich zu ihm hoch wobei sie eine Hand in den Schleimberg schob mit zwei Fingerstuumlmpfen unbeholfen zupackte sein Handy hervorzog und ihm das tropfende Geraumlt mit einem zit-ternden Laumlcheln entgegenstreckte

Konrads Augen klebten an den Fingerstuumlmpfen Aus dem zwei-ten Glied des Zeigefingers ragte ein gelblich weiszliges Stuumlck Knochen

Lepra schoss es ihm durch den Kopf und er zuckte zuruumlckSofort rief er sich zur Ordnung Die Gefahr sich bei einem

Leprakranken anzustecken war zwar theoretisch moumlglich das wusste er erforderte aber einen laumlngeren wirklich engen Kontakt mit einem Kranken und auch dann war es unwahrscheinlich Auszliger dem war Lepra heute heilbar

Er untersuchte das Handy mit den Augen Die Fluumlssigkeit war soweit er erkennen konnte in jede Ritze gesickert Das rote Signal das sonst immer zuverlaumlssig rechts oben in der Ecke blinkte wenn E-Mails ankamen war erloschen Ob es nur die Anzeige betraf oder sein Geraumlt eines scheuszliglichen Todes gestorben war hatte er nicht vor zu untersuchen

raquoBehalt eslaquo knurrte er

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Die Bettlerin quiekte erfreut wischte das Telefon liebevoll mit einem Zipfel ihres schmutzigen Saris ab und lieszlig es in dem Beutel verschwinden den sie um den Hals trug

Waumlhrenddessen holte Konrad sein Schweizer Messer aus der Hosentasche beugte sich vornuumlber zerschnitt die Schnuumlrsenkel seiner Schuhe und stieg vorsichtig aus

raquoDie kannst du auch behaltenlaquo sagte er zu der Bettlerin was ihr ein erneutes zahnloses Quieken entlockte

raquoThank you Sir thank youlaquo stieszlig sie hervorEr nickte und lief barfuszlig zu einem Stand der unter einem Son-

nenschirm Flaschenwasser verkaufte Er erstand so viel wie er tra-gen konnte zog sich in eine Hausecke zuruumlck und kippte das Was-ser uumlber seine Fuumlszlige und den unteren Teil der Jeans bis er sich nicht mehr vor Ekel schuumltteln musste Als er hinuumlber zu der Bettlerin sah war diese verschwunden Seine Schuhe ebenfalls

Ploumltzlich erschuumltterte dumpfes Grollen die Luft Im ersten Augenblick glaubte er dass es in der Stadt einen Terroranschlag gegeben haben musste und sah sich nach einem Fluchtweg um Gleich darauf bemerkte er die schwarze Wand die sich hinter der Stadtsilhouette am Himmel aufbaute Sofort sah er sich nach einem Taxi um fand aber keines das nicht bereits besetzt war

Er spurtete die Straszlige entlang in Richtung Lakshmi Road als eine erste Bouml durch die Straszligen Punes peitschte Donner grollte und Sekunden spaumlter verschwand die Welt hinter einer grauen Wasserwand Auf der Lakshmi Road hatte sich der Verkehr fest-geknaumlult Konrad rannte zwischen den Autos hindurch Ein Taxi fand er nicht

Im Laufschritt hetzte er durch den dichten Regenvorhang und blieb schlieszliglich orientierungslos stehen weil sich bereits ein gelb-lich brauner Strom seinen Weg durch die Straszligen bahnte der alles mit sich riss was er auf der Straszlige losruumltteln konnte Abgerissenes Gruumlnzeug verfaulte Fruumlchte ertrunkene Ratten Holzplanken und Dinge die Konrad wohlweislich nicht naumlher in Augenschein nahm

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raquoNina wo bist dulaquo bruumlllte er seine Frustration und Sorge herausMenschen Fahrzeuge Baumlume ndash jeder Gegenstand war nur ein

Schemen Der Verkehrslaumlrm ging im Rauschen des Wolkenbruchs unter Hilflos starrte er in die graue Regenwelt

raquoSie war hierlaquo sang jemand mit heiserer Stimme raquoUnd sie ging dort entlanglaquo

Wie angewurzelt blieb er stehen und sah sich um War das eine Einbildung gewesen Es dauerte bis sich eine seltsame Erschei-nung aus dem Nebel schaumllte Ein Mann soweit Konrad das unter der kapuzenaumlhnlichen Kopfbedeckung erkennen konnte Er sah genauer hin

Der Mann saszlig auf der steinernen Wegeinfassung unter einem Baum war barfuszlig und hatte ein Bein uumlber das Knie des anderen ge-legt Seine Haut war sehr dunkel der Bart der ihm in langen Zoumlpfen bis auf den Bauch hing weiszliggrau Die ungeschnittenen Fingernaumlgel leuchteten weiszlig Seine Kleidung ndash ein Hemd das er uumlber einer aumlr-mellosen Weste trug und die weiten Hosen ndash war steif vor Schmutz Mit verschmitztem Laumlcheln sah ihn der Mann unverwandt an

Konrad starrte zu ihm hinuumlber War er es der gesprochen hatte Er machte einen Schritt auf ihn zu

raquoWas haben Sie gesagtlaquoDer Mann antwortete nicht aber es kam Konrad so vor als

nickte er Zu seiner Uumlberraschung vollfuumlhrte die knochige Hand des Mannes eine vage Bewegung und zeigte die Straszlige hinunter Oder taumluschte er sich Hatte sich der Mann gar nicht geruumlhrt Kon-rad wartete angespannt und lieszlig ihn dabei nicht aus den Augen Der seltsame Mann zeigte keinerlei Reaktion Sein Blick war leer ein milchiger Schleier hatte sich uumlber die Augen gelegt und es schien als haumltte er sich in sein Inneres zuruumlckgezogen Nur seine aumluszligere Huumllle saszlig dort auf der Mauer

Abrupt wandte Konrad sich ab und lieszlig sich vom Strom der Pas-santen in die Richtung treiben die der seltsame Mann ihm gezeigt hatte

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Der Limousinenservice des Hotels brachte Nina zum Flughafen Schrittweise und dabei unablaumlssig hupend bahnte sich der Wagen seinen Weg durch den Houmlllenverkehr Auf einer Kreuzung wo sonst kompletter Stillstand herrschte draumlngelte sich ein Moped-fahrer halsbrecherisch zwischen den Wagen hindurch und kratzte am Kotfluumlgel der Hotellimousine entlang Ihr Fahrer lehnte sich gestikulierend aus dem Fenster und bruumlllte etwas fuhr dann aber weiter ohne sich um den Schaden zu kuumlmmern Nina dachte an das was man in Hamburg als Feierabendstau bezeichnete und seufzte

Schlieszliglich hielt der Fahrer puumlnktlich vor dem Airport und ent-lud ihre zwei Gepaumlckstuumlcke Sie druumlckte ihm ein Trinkgeld in die offene Handflaumlche und rollte ihre Koffer angetrieben von den ers-ten Vorboten eines aufziehenden Gewitters im Laufschritt zum Eingang

Der Flughafen wimmelte seit den letzten Anschlaumlgen und wohl auch weil Pune ein Militaumlrflughafen war von Soldaten und Sicher-heitspersonal Der Sicherheitscheck stellte sich als besonders gruumlnd-lich heraus Sie war froh dass sie inzwischen einen deutschen Pass besaszlig und nicht mit ihrem suumldafrikanischen reisen musste

Eine gut aussehende schwer bewaffnete und voumlllig humorlose Soldatin durchsuchte so akribisch ihr Handgepaumlck wie sie das noch nie erlebt hatte Fast scheiterte es an ihrem elektronischen Schluumlssel fuumlr ihren kleinen Mercedes der in Hamburg am Flug-hafen auf sie wartete

Den Schluumlssel befremdet in den Fingern drehend bohrte die Frau nach was das sei Ein Autoschluumlssel Sie habe noch nie so einen gesehen erklaumlrte sie und musterte Nina misstrauisch

Nina gelang es schlieszliglich sie mithilfe eines ihrer militaumlrischen Kollegen zu uumlberzeugen dass es kein Sprengstoffzuumlnder war Er-leichtert stieg sie die Gangway hoch Von den Boumlen des nahen Un-wetters geschuumlttelt erreichte das Flugzeug in knapp zwanzig Mi-nuten den Flughafen von Bombay

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Wie uumlblich war Bombay-Airport brechend voll Gleich am Eingang wartete hinter Sandsaumlcken und mit Maschinengeweh-ren bewaffneten Soldaten verschanzt die erste Passkontrolle Die Tatsache dass sie kein physisches Flugticket hatte machte es notwendig dass jemand von der Fluglinie kommen und bestauml-tigen musste dass das so in Ordnung sei und sie eine legitime Passagierin

Die eigentlichen Pass- und Sicherheitskontrollen dauerten quauml-lend lange Als sie endlich fertig war hastete sie ungeduldig zum Check-in nur um dort zu erfahren dass der Lufthansa-Flug wegen eines Flugbegleiterstreiks in Deutschland gestrichen worden sei

raquoUnd nunlaquo fuhr sie den indischen Lufthansa-Angestellten an raquoIch muss nach Hamburg helliplaquo Sie presste eine Hand an die ste-chenden Schlaumlfen raquoEs ist mir voumlllig egal wo ich sitze und wenn es auf dem Schoszlig vom Piloten ist helliplaquo

Der Mann verzog keine Miene und sah auf seinen Computer raquoSie sind auf Swiss Air umgebuchtlaquo teilte er ihr schlieszliglich lauml-chelnd mit raquoDer Flug geht etwas spaumlter raus aber Sie koumlnnen in der Lounge in der Abflughalle warten Ihr Anschlussflug nach Hamburg ist auch bereits umgebuchtlaquo

raquoDankelaquo presste sie hervor und nahm die Bordkarte entgegenIn der Lounge angekommen suchte sie sich einen Platz und

ging zur Bar Dort goss sie einen Fingerbreit Wodka in ein Glas nahm ein paar houmlllenscharfe Haumlppchen vom Tresen und lieszlig sich dann in einen der ledernen Sessel fallen Sie packte ihren Laptop aus und schaltete ihn an In diesem Augenblick der relativen Ruhe nachdem sie getrunken und gegessen und sich etwas beruhigt hatte fiel ihr ein dass sie vergessen hatte eine weitere Nachricht fuumlr Konrad hinzulegen dass und aus welchem Grund sie abgereist sei Sie hoffte nur dass er wenigstens ihre Nachricht dass sie in der Lounge auf ihn warten wuumlrde gefunden hatte und daraus ersehen konnte dass ihr nichts zugestoszligen war

Hastig tippte sie seine Nummer ein aber sein Handy blieb

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