OSCHWAND LEBEN MIT EINER HIRNVERLETZUNG … · zog sich die heute 48-jährige Frau eine schwere...

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Oberaargau Montag 27. Dezember 2010 Rosmarie Christen ist halbseitig gelähmt. Bei einem Reitunfall zog sich die heute 48-jährige Frau eine schwere Hirnverletzung zu. Sie lag sechs Wochen im Koma, ihr Schädel ist mit Knochen- zement repariert. Rosmarie Christen trägt ihre Bürde mal mit Gram im Herzen, mal mit einem Lachen im Gesicht. Ein Besuch in den Buchsibergen. «Warum ich?» Der Unfall, der das Leben OSCHWAND LEBEN MIT EINER HIRNVERLETZUNG Rosmarie Christen schiebt Iselle ein Stück Brot ins Maul. Sie streicht ihr über die Nüstern und tätschelt ihr den Hals. Iselle, ein stattliches Halbblut-Pferd, schnaubt, in der Kälte bilden sich Wölkchen. Plötzlich sperrt Ros- marie Christen den Mund auf. So, als möchte sie laut lachen. Ein kehlig-dumpfer Schrei ertönt. 17 Jahre sind vergangen seit dem fatalen Ausritt. «Das hat Iselle ja damals nicht absichtlich gemacht», sagt die Mutter. Die 48-jährige Rosmarie Christen ist in den Buchsibergen zu Hause. Auf dem Hof ihrer El- tern, die im Schnerzenbach, ei- nem Weiler unweit des Dörf- chens Oschwand, Pferde züch- ten. Der grosse Tisch in der Küche ist das Herz des Hauses. Hier speist die Grossfamilie, hier sit- zen Freunde und Bekannte. Ros- marie Christen hat vier jüngere Schwestern, zwei wohnen im Stöckli. Die Jack-Russell-Terrier Nina und Fidiwitz zotteln um die Tischbeine. Schäferhund Lucky beschnuppert Ankömmlinge. Rosmarie Christen sitzt in ihrem Rollstuhl am Tisch. An ihrem Platz klebt ein Blatt Papier auf der Tischplatte. Das Alphabet ist aufgedruckt, jeder Buchstabe hat ein Kästchen. Wenn sie etwas mitteilen will, deutet sie auf ih- ren Gesprächspartner, dann geht es schnell: Mit dem linken Zeige- finger tippt sie Buchstabe für Buchstabe an. Sie bildet Wörter und Sätze ohne Punkt und Kom- ma. Die Blätter begleiten Rosmarie Christen durch den Alltag. Im Schlafzimmer, auf der Toilette, in der Stube, im Auto. Rosmarie Christen nimmt ei- nen Schluck Kaffee, sie gluckst und hustet. Manchmal läuft der Kaffee in den Kehlkopf. Oder wieder zum Mund heraus. Auch den Speichel können ihre Lippen und ihre Zunge nicht stoppen. Ihre rechte Körperseite ist ge- lähmt. Der Fuss, das Bein, der Arm, die Hälfte der Lippen und der Zunge. Sie schielt auf dem rechten Auge. Ihre Schädelhälfte haben die Ärzte damals vor 17 Jahren mit synthetischem Kno- chenzement wieder aufbauen müssen. Rosmarie Christen buchstabiert ihren Befund: «He- miplegie.» «Ich habe es nie akzeptiert, ich vergleiche zu viel mit früher.» Wie meinen Sie das? «Ich werde traurig, wenn ich sehe, was hätte werden können. Vielleicht sogar Karriere. Der Be- ruf ist das Schwerste. Darum träume ich auch so viel. Ich habe kürzlich geträumt, ich sei am Ar- beiten.» Kann man ein solches Schicksal überhaupt jemals akzeptieren? «Ich frage mich immer: Warum ich?» Gibt es eine Antwort? «Ich glaube, der Glaube würde helfen.» Und, hilft er? «Wenn der Pfarrer die Predigt hält, geht es besser. Es beruhigt, es sind gute Worte.» Ein Oktobertag im Jahr 1993. Rosmarie Christen, 31-jährig, rei- tet mit ihrem Freund durch die «Ich werde traurig, wenn ich sehe, was hätte werden können. Vielleicht sogar Karriere. Der Beruf ist das Schwerste.» Rosmarie Christen Freiberge im jurassischen Les Bois. Plötzlich stürzt sie vom Pferd. Kein Grund zur Sorge, sie ist eine versierte Reiterin. Ihr Freund stoppt, dreht sich um und sieht, dass Rosmarie nach den Zügeln greifen will. Er reitet wei- ter. Dann muss es passiert sein: Iselle trifft Rosmarie Christen mit dem Huf an die rechte Schlä- fe. Sie wird sofort ohnmächtig, sinkt ins Koma. Die Chancen, dass sie überlebt, sind klein. Sa- gen die Ärzte im Berner Inselspi- tal. «Ich wollte nicht erwachen», buchstabiert Rosmarie Christen. Die Ärzte versuchen, die Pati- entin mit Musik von Polo Hofer zurück ins Leben zu holen. Mu- sik, die sie über alles liebt. Nichts. Die Ärzte gewähren sogar einem Handaufleger Zutritt ans Kran- kenbett. Nichts. Nach sechs Wo- chen öffnet Rosmarie Christen das eine Auge. Langsam kommen die Lebensgeister wieder. Aber es ist anders als früher. Rosmarie Christen kann nicht sitzen, nicht stehen, nicht reden, nicht schlu- cken. Sie wird mit einer Magen- sonde ernährt. «Wie ein Dubbeli» habe sie sich gefühlt. Nach der Schulzeit hatte Ros- marie Christen das Haushalts- lehrjahr besucht. Sie lernte Kran- kenschwester, später Operati- onsschwester. Sie arbeitete auch im Inselspital. Susanne Wetz, ei- ne gute Freundin aus Herzogen- buchsee, war damals Stations- sekretärin. «Ich sehe dieses Bild von Rosmarie vor mir: wie sie durch den Gang geht. Mit ihrem dicken langen Zopf. Der war so le- bendig und fröhlich wie sie.» In den Ferien flog sie rund um den Globus, ratterte im Safari-Jeep durch die afrikanische Steppe, stürzte sich mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug. «Am schönsten ist es zu Hause. Wenn ich weggehe, ist alles so un- bekannt. Ich brauche mein Bett. Ist das komisch?» Nein, überhaupt nicht. «Und die Hunde sind hier. Sie sind meine Seelentröster.» Wie meinen Sie das? «Hunde merken, wenn es mir schlecht geht. Sie sind viel treuer als Menschen. Und Nina ist soli- darisch mit mir. Ein Ross hat sie am Auge getroffen.» Ist das Galgenhumor? «Ja, das ist Galgenhumor. Sorry.» 1987, sechs Jahre vor dem Unfall, kandidierte Rosmarie Christen auf der Liste der Jungen SVP Kanton Bern für den Nationalrat. Die Sympathie für die SVP ist ge- blieben. «Ich bin eine Blocher- Anhängerin.» Genau so ist sie Fan von Barack Obama, der als Plastikfigürchen auf der Küchen- ablage lächelt. Das Draufgängertum ist noch da. Nur anders. Rosmarie Chris- ten kann messerscharf werden. «Die Leute erschrecken manch- Vor dem Unfall: Rosmarie Christen bei einem Ausritt in der Region. Bilder zvg mal», sagt die Mutter. Wenn der Tochter etwas nicht passt, buch- stabiert sie Unflätiges. Oder sie schlägt sich mit der flachen Hand an den Kopf. Oder sie zeigt den Vogel. Manchmal spreizt sie drei Finger zum Schwur und zwingt so den Gesprächspartner, seine Worte zu bekräftigen. Mit Flos- keln und Schmeicheleien punk- tet vor diesem Gericht niemand. Wenn sie Menschen kennen- lernt, fragt sie nach dem Stern- zeichen und verteilt Etiketten: treu, stolz, geizig. Sie meint es ernst. «Röntgen», nennt es die Mutter. Rosmarie Christen ist im Sternzeichen Skorpion geboren. «Skorpione sind giftig.» Sie ka- schiert ihre Parteinahme nicht. Oder kann sie nicht kaschieren. Nach dem Unfall: Rosmarie Christen mit ihrer Mutter. Vor dem Unfall: Rosmarie Christen an einer Springkonkurrenz. Thomas Peter «Am schönsten ist es zu Hause. Wenn ich weggehe ist alles so unbekannt. Ist das komisch?» Rosmarie Christen «Ich werde immer komischer im Geist. Verschroben und engstir- nig.» Jetzt fängt Rosmarie Christen Feuer. Mit trockenem Humor wischt sie ihr Elend weg, als wäre es eine lästige Fliege. Der vierfüs- sige Gehstock würde ihr das Spa- zieren ohne fremde Hilfe erleich- tern, sie benutzt ihn nie. «Der ist für alte Leute.» Sie teilt es mit ei- nem breiten Grinsen mit. Und sie kokettiert. «Sind Sie sicher, dass ein Artikel über mich eine gute Idee ist? Bin ich genug interes- sant?» Und sie flachst. «Fürs Foto bin ich zu wenig hübsch.» Nach einem träfen Spruch streckt sie gewinnend die linke Hand zum Abklatschen aus. Ihre Finger ra- sen über die Buchstaben, mehr-

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Oberaargau Montag27. Dezember 2010

Rosmarie Christen ist halbseitig gelähmt. Bei einem Reitunfallzog sich die heute 48-jährige Frau eine schwere Hirnverletzungzu. Sie lag sechs Wochen im Koma, ihr Schädel ist mit Knochen-zement repariert. Rosmarie Christen trägt ihre Bürde mal mitGram im Herzen, mal mit einem Lachen im Gesicht. Ein Besuchin den Buchsibergen.

«Warumich?»DerUnfall,derdasLebenOSCHWAND LEBEN MIT EINER HIRNVERLETZUNG

Rosmarie Christen schiebt Iselleein Stück Brot ins Maul. Siestreicht ihr über die Nüstern undtätschelt ihr den Hals. Iselle, einstattliches Halbblut-Pferd,schnaubt, in der Kälte bilden sichWölkchen. Plötzlich sperrt Ros-marie Christen den Mund auf. So,als möchte sie laut lachen. Einkehlig-dumpfer Schrei ertönt.

17 Jahre sind vergangen seitdem fatalen Ausritt. «Das hatIselle ja damals nicht absichtlichgemacht», sagt die Mutter.

Die 48-jährige RosmarieChristen ist in den Buchsibergenzu Hause. Auf dem Hof ihrer El-tern, die im Schnerzenbach, ei-nem Weiler unweit des Dörf-

chens Oschwand, Pferde züch-ten.

Der grosse Tisch in der Kücheist das Herz des Hauses. Hierspeist die Grossfamilie, hier sit-zen Freunde und Bekannte. Ros-marie Christen hat vier jüngereSchwestern, zwei wohnen imStöckli. Die Jack-Russell-TerrierNina und Fidiwitz zotteln um dieTischbeine. Schäferhund Luckybeschnuppert Ankömmlinge.Rosmarie Christen sitzt in ihremRollstuhl am Tisch. An ihremPlatz klebt ein Blatt Papier aufder Tischplatte. Das Alphabet istaufgedruckt, jeder Buchstabe hatein Kästchen. Wenn sie etwasmitteilen will, deutet sie auf ih-ren Gesprächspartner, dann gehtes schnell: Mit dem linken Zeige-finger tippt sie Buchstabe fürBuchstabe an. Sie bildet Wörterund Sätze ohne Punkt und Kom-ma.

Die Blätter begleiten RosmarieChristen durch den Alltag. ImSchlafzimmer, auf der Toilette, inder Stube, im Auto.

Rosmarie Christen nimmt ei-nen Schluck Kaffee, sie gluckstund hustet. Manchmal läuft derKaffee in den Kehlkopf. Oderwieder zum Mund heraus. Auchden Speichel können ihre Lippenund ihre Zunge nicht stoppen.Ihre rechte Körperseite ist ge-lähmt. Der Fuss, das Bein, derArm, die Hälfte der Lippen undder Zunge. Sie schielt auf demrechten Auge. Ihre Schädelhälftehaben die Ärzte damals vor 17Jahren mit synthetischem Kno-chenzement wieder aufbauenmüssen. Rosmarie Christenbuchstabiert ihren Befund: «He-miplegie.»

«Ich habe es nie akzeptiert, ichvergleiche zu viel mit früher.»Wie meinen Sie das?

«Ich werde traurig, wenn ichsehe, was hätte werden können.Vielleicht sogar Karriere. Der Be-ruf ist das Schwerste. Darumträume ich auch so viel. Ich habekürzlich geträumt, ich sei am Ar-beiten.»Kann man ein solches Schicksalüberhaupt jemals akzeptieren?«Ich frage mich immer: Warumich?»Gibt es eine Antwort?«Ich glaube, der Glaube würdehelfen.»Und, hilft er?«Wenn der Pfarrer die Predigthält, geht es besser. Es beruhigt,es sind gute Worte.»

Ein Oktobertag im Jahr 1993.Rosmarie Christen, 31-jährig, rei-tet mit ihrem Freund durch die

«Ich werde traurig,wenn ich sehe, washätte werdenkönnen. Vielleichtsogar Karriere.Der Beruf ist dasSchwerste.»

Rosmarie Christen

Freiberge im jurassischen LesBois. Plötzlich stürzt sie vomPferd. Kein Grund zur Sorge, sieist eine versierte Reiterin. IhrFreund stoppt, dreht sich um undsieht, dass Rosmarie nach denZügeln greifen will. Er reitet wei-ter. Dann muss es passiert sein:Iselle trifft Rosmarie Christenmit dem Huf an die rechte Schlä-fe. Sie wird sofort ohnmächtig,sinkt ins Koma. Die Chancen,dass sie überlebt, sind klein. Sa-gen die Ärzte im Berner Inselspi-tal.

«Ich wollte nicht erwachen»,buchstabiert Rosmarie Christen.

Die Ärzte versuchen, die Pati-entin mit Musik von Polo Hoferzurück ins Leben zu holen. Mu-sik, die sie über alles liebt. Nichts.Die Ärzte gewähren sogar einemHandaufleger Zutritt ans Kran-kenbett. Nichts. Nach sechs Wo-

chen öffnet Rosmarie Christendas eine Auge. Langsam kommendie Lebensgeister wieder. Aber esist anders als früher. RosmarieChristen kann nicht sitzen, nichtstehen, nicht reden, nicht schlu-cken. Sie wird mit einer Magen-sonde ernährt. «Wie ein Dubbeli»habe sie sich gefühlt.

Nach der Schulzeit hatte Ros-marie Christen das Haushalts-lehrjahr besucht. Sie lernte Kran-kenschwester, später Operati-onsschwester. Sie arbeitete auchim Inselspital. Susanne Wetz, ei-ne gute Freundin aus Herzogen-buchsee, war damals Stations-sekretärin. «Ich sehe dieses Bildvon Rosmarie vor mir: wie siedurch den Gang geht. Mit ihremdicken langen Zopf. Der war so le-bendig und fröhlich wie sie.» Inden Ferien flog sie rund um denGlobus, ratterte im Safari-Jeepdurch die afrikanische Steppe,stürzte sich mit dem Fallschirmaus dem Flugzeug.

«Am schönsten ist es zu Hause.Wenn ich weggehe, ist alles so un-bekannt. Ich brauche mein Bett.Ist das komisch?»Nein, überhaupt nicht.«Und die Hunde sind hier. Siesind meine Seelentröster.»Wie meinen Sie das?«Hunde merken, wenn es mirschlecht geht. Sie sind viel treuerals Menschen. Und Nina ist soli-darisch mit mir. Ein Ross hat sieam Auge getroffen.»Ist das Galgenhumor?«Ja, das ist Galgenhumor. Sorry.»

1987, sechs Jahre vor dem Unfall,kandidierte Rosmarie Christenauf der Liste der Jungen SVPKanton Bern für den Nationalrat.Die Sympathie für die SVP ist ge-blieben. «Ich bin eine Blocher-Anhängerin.» Genau so ist sieFan von Barack Obama, der alsPlastikfigürchen auf der Küchen-ablage lächelt.

Das Draufgängertum ist nochda. Nur anders. Rosmarie Chris-ten kann messerscharf werden.«Die Leute erschrecken manch-

Vor dem Unfall: Rosmarie Christen bei einem Ausritt in der Region. Bilder zvg

mal», sagt die Mutter. Wenn derTochter etwas nicht passt, buch-stabiert sie Unflätiges. Oder sieschlägt sich mit der flachen Handan den Kopf. Oder sie zeigt denVogel. Manchmal spreizt sie dreiFinger zum Schwur und zwingtso den Gesprächspartner, seineWorte zu bekräftigen. Mit Flos-keln und Schmeicheleien punk-tet vor diesem Gericht niemand.Wenn sie Menschen kennen-lernt, fragt sie nach dem Stern-zeichen und verteilt Etiketten:treu, stolz, geizig. Sie meint esernst. «Röntgen», nennt es dieMutter. Rosmarie Christen ist imSternzeichen Skorpion geboren.«Skorpione sind giftig.» Sie ka-schiert ihre Parteinahme nicht.Oder kann sie nicht kaschieren.

Nach dem Unfall: RosmarieChristen mit ihrer Mutter.

Vor dem Unfall: Rosmarie Christenan einer Springkonkurrenz.

Thomas Peter

«Am schönsten istes zu Hause. Wennich weggehe ist allesso unbekannt. Istdas komisch?»

Rosmarie Christen

«Ich werde immer komischer imGeist. Verschroben und engstir-nig.»

Jetzt fängt Rosmarie ChristenFeuer. Mit trockenem Humorwischt sie ihr Elend weg, als wärees eine lästige Fliege. Der vierfüs-sige Gehstock würde ihr das Spa-zieren ohne fremde Hilfe erleich-tern, sie benutzt ihn nie. «Der istfür alte Leute.» Sie teilt es mit ei-nem breiten Grinsen mit. Und siekokettiert. «Sind Sie sicher, dassein Artikel über mich eine guteIdee ist? Bin ich genug interes-sant?» Und sie flachst. «Fürs Fotobin ich zu wenig hübsch.» Nacheinem träfen Spruch streckt siegewinnend die linke Hand zumAbklatschen aus. Ihre Finger ra-sen über die Buchstaben, mehr-

OberaargauMontag27. Dezember 2010

von Rosmarie Christen zerschnitt

mals schreibt sie «Judihui».«Skorpione sind charmant undhumorvoll», weiss die Astrologie.«Die Direktheit ist RosmariesStärke», sagt Freundin SusanneWetz.

Den Zopf musste RosmarieChristen während der Ausbil-dung zur Krankenschwesterdann bald einmal abschneiden.Er war zu lang und zu schwer, erpasste nicht unter die Haube.Heute trägt sie die Haare zu ei-nem Pferdeschwanz zusammen-gebunden, die Stirnfransen rei-chen bis zu den Augenbrauen.Ihre Haare sind braun, schim-mern rötlich im Licht. Gefärbt.Rosmarie Christen hasst graueHaare, sie reisst sie alle aus. «Bisdu eine Glatze hast», foppt die

Mutter. Die Tochter lacht undbuchstabiert. «Ich bin uralt, weilich so grau bin.» Wieder so einSpruch. Wieder streckt sie dieHand aus, zum Abklatschen.

Erinnern Sie sich an den Unfall?«Nein, zum Glück nicht. Nur dasses heiss wurde.»Mutter: «Das kam vermutlich da-her, weil im Spital ihr Rückenwund gelegen war.»Welches ist Ihre erste Erinne-rung nach dem Aufwachen?«Die Mama, sie war immer da,wenn ich sie brauchte.»

Mehr als ein Jahr blieb RosmarieChristen im Inselspital. JedenTag reiste die Mutter nach Bern.Sie sass am Bett und hoffte. Sie

begleitete ihre Tochter auf demtäglichen Therapie-Marathon.Als Rosmarie Christen nach Hau-se durfte, konnte sie wieder sit-zen, stehen und schlucken. DieSprache blieb im Jura verschol-len.

Es passierte wenige Wochennach Rosmarie Christens Rück-kehr auf den elterlichen Hof: DerFreund verkündete, er wolle aus-wandern. Die Mutter sagte ihm:«Das werden wir jetzt auch nochüberleben.» Und eines Tagesstanden die Möbel vor dem Hof.Die Möbel aus der gemeinsamenWohnung, die Rosmarie Christenvor dem Unfall mit ihrem Freundgeteilt hatte. Diesmal blieb dieErinnerung hängen, sie bohrtesich tief ins Gedächtnis. Nachts

träumt Rosmarie Christenmanchmal von ihrem früherenFreund. Sie sagt ihm die Mei-nung, sie flucht. «Was ich sonstnicht kann.» Sie hat ihn nie mehrgesehen.

Der Unfall hat das Leben aufdem Hof zerschnitten. «Es gibtein Vor dem Unfall und ein Nachdem Unfall», sagt die Mutter.«Aber nicht nur im schlimmenSinn.» Freunde sind verschwun-den, andere, Bekannte, sind zuFreunden geworden. «Es hat ge-siebt», sagt die Mutter. Und dasind die Prominenten. Der Wirtdes Restaurants Sonne auf derWäckerschwend, eines kleinenLokals in den Buchsibergen,machte die Familie mit Polo Ho-fer bekannt. Der Musiker weinte,als er erfuhr, dass die Ärzte ver-sucht hatten, Rosmarie Christenmit seinen Liedern Leben ein-zuhauchen. Auch der Obdachlo-sen-Pfarrer Ernst Sieber ist einregelmässiger Gast bei den Chris-tens. Er hat einmal ein TV-Teamangeschleppt. «Wäre der Unfallnicht gewesen, hätten wir die allenicht kennengelernt», sagt dieMutter.

Die Mutter ist 69 Jahre alt. DerTag wird kommen, an dem sie dieTochter nicht mehr rund um dieUhr pflegen kann. Das Netz derFamilie ist engmaschig. Aber gibtes einen Plan für die Zukunft?Die Mutter steht an der Spüle,stumm rüstet sie Salat. Dann sagtsie: «Irgendwie geht es immer.»Die Finger von Rosmarie Chris-ten kreisen über den Buchstaben.Sie scheint zu überlegen. Dannbuchstabiert sie. «Die Zukunftmacht Angst.»

«Rosmarie macht Fortschritte.Ihre Motorik wird besser. Sie willbesser werden, sie hat einen sehrstarken Willen.» Das sagt Susan-ne Wetz, die regelmässig auf demHof der Christens zu Besuch ist.Logopädin Eliane Bötschi vomSpital Langenthal sagt: «Es gehtimmer noch vorwärts bei Rosma-rie.» Die «Arbeit an der Zunge»,wie es die Logopädin nennt,fruchtet. Irgendwann kann Ros-

«Hunde merken,wenn es mirschlecht geht. Siesind viel treuer alsMenschen. UndNina ist solidarischmit mir. Ein Rosshat sie am Augegetroffen.»

Rosmarie Christen

marie Christen vielleicht wiedereinzelne Worte sagen.

Therapie ist Training. Ohne zukleckern Kaffee trinken bei derLogopädin. Am Einkaufswagendurch die Spitalgänge spazierenbei der Physiotherapeutin. ZuHause von Hand Briefe schreibenund Kreuzworträtsel lösen.Kürzlich waren Mutter undTochter erstmals ohne Rollstuhlin der Migros. Und neuerdingsgeht die Tochter zu Hause sogar

Ein Herz und eine Seele: Rosmarie Christen streichelt Iselle. Das stattliche Halbblut-Pferd traf sie vor 17 Jahren bei einem Ausritt am Kopf. Thomas Peter

ans Telefon. Kennen die Anruferdie Familie, hinterlegen sie ihreNachricht. Kennen sie die Fami-lie nicht, hängen sie wieder auf.Und eine Domäne hat die gelern-te Operationsschwester sowiesobehalten: Wälzen Verwandteoder Bekannte ein medizinischesProblem, ist Rosmarie Christenihre erste Anlaufstelle.

Rosmarie Christen steht aufund geht am Arm ihrer Mutterlangsam zur Tür. Die Beine wa-ckeln. Zum Stall von Iselle sind esnur ein paar Meter. Iselle hat denbesten Platz. Das macht das tägli-che Ritual für Rosmarie Christenleichter. Auf der Internetseite ih-rer Stallung schreiben die Chris-tens: Pferde sind unser Leben,und wir leben für die Pferde.

Dominik Balmer

Dieser Text ist die Abschlussarbeitdes Autors für die Luzerner Journa-listenschule MAZ.

«Es gibt ein Vor demUnfall und ein Nachdem Unfall. Abernicht nur imschlimmen Sinn.»

Die Mutter