Osorno 1. Rundbrief Merle BackmeyerIch bin jetzt doch schon einige Zeit hier, habe meinen Alltag und...

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Osorno 1. Rundbrief Merle Backmeyer Lieber Solikreis, Ich bin jetzt doch schon einige Zeit hier, habe meinen Alltag und meinen Platz soweit gefunden. Und stehe vor der Herausforderung, dass was für mich mittlerweile eindeutig und selbstverständlich ist, jemandem zu erklären, der an der Position steht, an der ich vor etwa 3 Monaten stand. Gar nicht so einfach! Und daran merke ich erst, wie viel sich bei mir schon getan hat. Aber ich werde mein Bestes versuchen! Zum Abschied aus Deutschland kann ich nur sagen, dass er mir nicht so schwer fiel, wie ihr euch es vielleicht vorstellt, weil ich eine Person bin, die, wenn sie sich entschieden hat, etwas zu tun, danach auch komplett dahinter steht. Und trotzdem habe ich vorher nicht darüber nachgedacht, dass es echt komisch ist, etwas hinter sich zu lassen, was einem so vertraut ist, wo man seinen sicheren Platz hat und was, wie alles, seine guten und schlechten Seiten hat, für eine Zukunft mit großem Fragezeichen, wo ich keinen vorher kannte, nicht wirklich eine Idee von Land, Ort oder Arbeit hatte. Das ist schon nochmal was anderes, was mir vorher nicht so bewusst war. Ich mache meinen Freiwilligendienst bei der Fundación Christo Joven, die von zwei deutschen Pfarrern vor etwa 50 Jahren gegründet wurde, Padre Pedro und Padre Vincente. Sie ist aufgeteilt in ein Jungen- und ein Mädcheninternat, ein Studentenwohnheim, auch nach Geschlechtern getrennt, und eine Schule vom Kindergarten bis zum Abschluss. Ich arbeite im Mädcheninternat mit, das eingerichtet wurde, um Mädchen, deren Familien auf dem Land wohnen, ab der 8. Klasse die Möglichkeit auf einen Abschluss ihrer Schulausbildung zu geben. Dies ist hier notwendig, da Städte in Chile im Vergleich zu Deutschland weiter auseinander liegen und mit weniger ausgebauten Straßen verbunden sind. Dazwischen liegen Dörfer, die keine weiterführende Schule haben. So reisen die meisten Mädchen sonntags abends im Durchschnitt 2 Stunden mit dem Bus an. Vormittags assistiere ich im Unterricht der Schule der Fundación. Um euch einen Einblick in meine Motivation und Ansichten vor meiner Ankunft zu geben folgt eine Art Poetry Slam, den ich während meinem Aufenthalt im Flughafen in Santiago geschrieben habe. Während des Fluges erst ist mir bewusst geworden, warum ich gehe und dass ich nicht fliehe, sondern dass ich nur gehen kann, weil ich in Deutschland vieles habe auf das ich bauen und mich verlassen kann.

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Osorno 1. Rundbrief Merle Backmeyer

Lieber Solikreis,

Ich bin jetzt doch schon einige Zeit hier, habe meinen Alltag und meinen Platz soweit

gefunden. Und stehe vor der Herausforderung, dass was für mich mittlerweile eindeutig und

selbstverständlich ist, jemandem zu erklären, der an der Position steht, an der ich vor etwa 3

Monaten stand. Gar nicht so einfach! Und daran merke ich erst, wie viel sich bei mir schon

getan hat. Aber ich werde mein Bestes versuchen!

Zum Abschied aus Deutschland kann ich nur sagen, dass er mir nicht so schwer fiel, wie ihr

euch es vielleicht vorstellt, weil ich eine Person bin, die, wenn sie sich entschieden hat, etwas

zu tun, danach auch komplett dahinter steht. Und trotzdem habe ich vorher nicht darüber

nachgedacht, dass es echt komisch ist, etwas hinter sich zu lassen, was einem so vertraut ist,

wo man seinen sicheren Platz hat und was, wie alles, seine guten und schlechten Seiten hat,

für eine Zukunft mit großem Fragezeichen, wo ich keinen vorher kannte, nicht wirklich eine

Idee von Land, Ort oder Arbeit hatte. Das ist schon nochmal was anderes, was mir vorher

nicht so bewusst war.

Ich mache meinen Freiwilligendienst bei der Fundación Christo Joven, die von zwei

deutschen Pfarrern vor etwa 50 Jahren gegründet wurde, Padre Pedro und Padre Vincente. Sie

ist aufgeteilt in ein Jungen- und ein Mädcheninternat, ein Studentenwohnheim, auch nach

Geschlechtern getrennt, und eine Schule vom Kindergarten bis zum Abschluss. Ich arbeite im

Mädcheninternat mit, das eingerichtet wurde, um Mädchen, deren Familien auf dem Land

wohnen, ab der 8. Klasse die Möglichkeit auf einen Abschluss ihrer Schulausbildung zu

geben. Dies ist hier notwendig, da Städte in Chile im Vergleich zu Deutschland weiter

auseinander liegen und mit weniger ausgebauten Straßen verbunden sind. Dazwischen liegen

Dörfer, die keine weiterführende Schule haben. So reisen die meisten Mädchen sonntags

abends im Durchschnitt 2 Stunden mit dem Bus an. Vormittags assistiere ich im Unterricht

der Schule der Fundación.

Um euch einen Einblick in meine Motivation und Ansichten vor meiner Ankunft zu geben

folgt eine Art Poetry Slam, den ich während meinem Aufenthalt im Flughafen in Santiago

geschrieben habe. Während des Fluges erst ist mir bewusst geworden, warum ich gehe und

dass ich nicht fliehe, sondern dass ich nur gehen kann, weil ich in Deutschland vieles habe auf

das ich bauen und mich verlassen kann.

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Fliegend Fliehen (angelehnt an den Song „Je vole“ von Louane)

Weg, weiter, schneller, fort, nur raus hier,

möglichst weit - Südhalbkugel, Chile, Neugier,

ein Meer dazwischen, viele Stunden Flug,

andere Sprache, das ist gut!

Fliege oder fliehe ich?

Für was, vor was, für wen, für mich?

Um mein Herz komplett auszutauschen

Oder um Neues nur zu erweitern?

Ja ich fliehe,

vor Schön-Wetter-Gesprächen

vor dem deutschen Tunnelblick

vor aufgesetzter Höflichkeit und gespielter Toleranz

vor der kleinen, perfekten Welt

vor Leuten, die auf und für alles ein Recht haben

vor Freunden, die berechnend sind

vor Leuten, die mir sagen, wer ich bin,

vor all dem, was „richtig“ ist!

Aber ich fliehe fliegend

Getragen von Erfahrungen

Von meiner Familie, meinen Freunden

Von warmen Worten

Von „Ich vermisse dich“ und von „Ich liebe dich“!

Von der Gewissheit ein Zuhause zu haben

Von dem Wissen niemals alleine zu sein

Von meinem Selbstbewusstsein!

Ich fliehe um meine kleine Welt nicht mit

Lügen, Behauptungen, Vermutungen zu füttern,

um zusammengebastelte, vereinfachte Weltbilder loszuwerden

zumindest um es zu versuchen, um etwas zu machen!

Und ich fliege für mich, für neue Erfahrungen,

für Geben und Nehmen, für Liebe und Hass

Freunde und Trauer,

ich fliege um zu leben!

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Zunächst ein paar allgemeine Informationen, wo, wie und mit wem ich hier wohne. Angela ist

schon seit vielen Jahren die Leiterin des Mädcheninternats und ich wohne zusammen mit ihr

in einem Häuschen. Die Mädchen bewohnen 2 benachbarte Häuschen, jeweils zu zehnt.

Dann gibt es hier noch Maestros, das sind Handwerker der Fundacion, die Reparaturen

durchführen, die Grundstücke halten, etc. Mit ihnen esse ich zu Mittag, gemeinsam mit den

Padres.

Auf unserem Grundstück des Mädcheninternats gibt es verschiedene Cabañas für das Internat

und die Studentinnen, sowie eine Küche mit Essensraum. Zu Fuß bin ich in weniger als 10

Minuten an der Schule und in 15 Minuten mit dem Bus im Stadtzentrum.

Eine Erfahrung, die ich am Anfang und bis jetzt immer noch mache, ist die, der Unsicherheit.

Ein Gefühl, dass in meinem Leben bisher nicht so ausgeprägt war und was mich echt

weitergebracht und Verständnis gegeben hat.

Ich erinnere mich an einen Moment, wo Angela mir sagte, ich solle doch bitte den Tee

mitbringen – was sich ja echt einfach anhört. Aber es war schon eine Herausforderung für

mich. Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte, weil ich die Abläufe

noch nicht kannte und mir nicht erklären konnte, warum sie ausgerechnet jetzt Teebeutel

brauchte. Dann kam ich in unsere Cabaña und habe den Tee gesucht (wobei sie mir den Ort

vermutlich gesagt hatte) und dann wusste ich nicht, ob alle Beutel oder nur einen. So viele

kleine Entscheidungen, die man auf einmal treffen muss und bei jeder einzelnen diese

Unsicherheit. Und dann das Gefühl, wenn man zurück kommt und hofft alles richtig gemacht

zu haben. Das war echt eine ziemliche Umstellung für mich. Mir ist erst hier so stark

aufgefallen, wie schwer es mir fällt, etwas zu machen, bei dem ich mir unsicher bin und

gegebenenfalls etwas falsch mache, einfach weil ich vorher kaum damit konfrontiert wurde.

Und es hat mir ein Verständnis gegeben für „die andere Seite“. Wenn ich jemand etwas

erklärt habe, habe ich immer gesagt, wenn du was nicht verstehst, frag direkt – und wie viele

haben das nicht gemacht, dabei wäre eine Nachfrage für mich überhaupt kein Problem

gewesen. Jetzt habe ich mehr Verständnis dafür. Es ist nicht, weil dein Gegenüber ein

Problem mit der Frage hätte, im Gegenteil: Ich selbst fühle mich unwohl scheinbare

Selbstverständlichkeiten zu fragen und dann noch immer wieder. Und mit der Angst es dann

immer noch nicht zu verstehen. Ich bin echt dankbar diese Seite hier immer wieder erleben

und kennenlernen zu dürfen.

rechts unsere Cabaña, daneben die der Mädchen

Blick aus unserer Cabaña auf Osorno, Essensraum und Hof

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Ich habe einen „Stundenplan“ von meinem Alltag erstellt, dass ihr euch etwa vorstellen könnt,

wie meine Wochen hier so aussehen.

Einige Sachen sind denke ich selbsterklärend, zu anderen werde ich ein paar Worte verlieren.

Meine Arbeit teilt sich in 2 Bereiche auf, die ich in grün und blau markiert habe.

In Grün sind alle Tätigkeiten in Zusammenhang mit dem Internat markiert. Damit fing mein

Alltag hier erstmal an sich aufzubauen. Ich weiß noch wie Angela mir an meinem ersten

Wochentag sagte, dass ich um 13 Uhr ungefähr runter zum Mittagessen gehen sollte. Das war

wieder eine der unsicheren Situationen. Wohin? Mit wem? Kann ich einfach reingehen? Wo

setze ich mich hin? Bekommt man das Essen? Wartet man mit dem Anfangen? Unsicherheit.

Dadurch, dass Angela bis Ende September eine Vertretungsstelle als Religionslehrerin hatte,

war ich die Vormittage alleine und habe erstmal versucht mich zu sortieren, Spanisch zu

lernen, Eindrücke zu sammeln und ordnen – anzukommen. Nachmittags war ich deswegen

häufig auch alleine mit den Mädchen, die jedoch ganz genau wussten, wie die Regeln sind

und auch meine Stellung als Freiwillige kannten. Dadurch hatte ich eigentlich nie

„Respektprobleme“. Das half mich schnell bei ihnen integrieren und habe schon sehr früh die

Rückmeldung von einigen bekommen, dass sie sich freuen, dass ich viel mit ihnen mache und

für mich ist es auch schön, weil sie nicht viel jünger sind und somit mir das Zusammensein in

gewisser Weise auch Zeit mit Freunden ersetzt. Das gilt natürlich nicht für alle, weil es auch

hier alle Personentypen gibt und manche lieber alleine ihre Sachen machen. Insgesamt sind

meine Nachmittage also sehr flexibel – manchmal mit mehr Zeit für mich, wenn die Mädchen

nach der Schule müde sind (was ich auch gut verstehen kann) und manchmal mit weniger.

Ab Mitte September habe ich dann auch angefangen im Gymnasium im Unterricht zu

assistieren. Wie ihr seht mache ich das vor allem in Mathe, Naturwissenschaften und

Englisch, Fächer, die ich mir ausgesucht habe. Die Klassenstufen entsprechen etwa denen in

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Deutschland. Der frühe Anfang hat mir extrem geholfen mein Spanisch zu verbessern, weil

ich so quasi den ganzen Tag Spanisch gehört habe und auch reden musste. Zum Glück ähneln

viele Fachbegriffe in den Naturwissenschaften den deutschen oder englischen Bezeichnungen,

wodurch ich gut mithelfen kann. Meistens besteht die Hilfe daraus, Schülern im

Einzelgespräch den Stoff nochmal zu erklären oder Fragen zu beantworten. Das geht natürlich

nur, wenn die Schüler eigenständig Aufgaben bearbeiten müssen. Ansonsten höre ich auch

dem Lehrer zu und lerne entweder auch was Neues oder langweile mich, aber insgesamt habe

ich das Gefühl, dass meine „Arbeit“ dort den Schülern, aber auch mir hilft. So habe ich

Einblicke ins chilenische Schulsystem und Unterschiede zwischen deutschen und chilenischen

Schülern erhalten.

Zurück zu meinem Alltag, wo noch das Wochenende fehlt:

Etwa einmal im Monat ist eine „Jornada“ (dt. Workshop) mit den

Mädchen, die Freitagsabends beginnt und bis Samstagmittags

dauert. Dort wird ein soziales Thema mit den Mädchen bearbeitet,

meistens im Gespräch oder Gruppenübungen und einem Spielfilm,

der einigermaßen passt. Ich bin gerade die nächste zum Thema

„Erwachsen werden – mit Freiheiten und Verantwortungen“ am

Vorbereiten. Die Idee kommt daher, dass die Mädchen hier oft ihre

Freiheiten einfordern oder davon träumen, aber Verantwortungen

wie Müll, Putzen, Türen abschließen oder Lichter ausschalten

häufig vernachlässigen und wir dann die unbeliebten „Meckerlieseln“ sind, was für beide

Seiten unangenehm ist.

Meine freie Zeit am Wochenende habe ich bisher dafür genutzt mit Angela die Umgebung zu

erkunden. Am meisten beeindruckt hat mich dabei die unberührte Natur! Wo bei uns schon

längst ein riesiges „Entspannungs-/Kurhotel“ mit Beton-Tiefgarage stehen würde, ist hier

einfach eine große Weite. So enden Straßen dann in Schotterpisten und man wartet auf den

stündlichen Bus – das ist dann auch echte Entspannung! Vor allem jetzt im

Winter/Frühlingsanfang, wo noch keine Touristen und somit auch kein „Tourigeschäft“ ist.

Am Sonntagabend kommen die Mädchen dann wieder und wir haben entweder einen kleinen

Gottesdienst oder ich bereite eine kleine Reflexion vor, die aus dem Tagesevangelium und

meinen persönlichen Anmerkungen besteht. Und so startet dann wieder eine neue Woche.

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Erfahrungen/Unterschiede

Schule

Wie schon gesagt, habe ich durch meine Arbeit in der Schule so einige Unterschiede in

den Schulsystemen (aber auch viele Gemeinsamkeiten, also alle Dinge die ich jetzt nicht

spezielle nenne, weil sie mir nicht anders auffallen) feststellen können. So sind Lehrer

hier nur für ein Fach in einem bestimmten „Klassenbereich“ (z.B. 5.&6.) zuständig.

Außerdem müssen sie am Anfang eines Schulhalbjahres eine konkrete Planung aller

Stunden einreichen, an die sie sich auch möglichst halten müssen. Auch gibt es eine

„Inspektoría“ mit einigen Mitarbeitern, die quasi für die Ordnung zuständig sind. Sie

machen die Hofaufsichten oder nehmen die Entschuldigungen an. Schüler, die zu spät

kommen oder sich nicht an die Regeln halten, werden dort hingeschickt und bekommen

Verwarnungen.

Noch zwei persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit der Schule, die ich mit euch teilen

möchte:

Ein Schüler der 6. Klasse hat gesagt, dass er mit der neuen „tía“ (= dt. Tante; so werden hier

die Lehrer oder Aufsichtspersonen häufig genannt) viel besser Mathe versteht. Da war ich

echt stolz, vor allem weil ich erst wenige Stunden in der Klasse war.

Da das Colegio zu der katholischen Fundacion gehört betet die Klasse morgens zu Beginn

immer das Vater unser und das Ave Maria zusammen. Anschließend können die Schüler vor

der Klasse Fürbitte halten. Was mich wirklich berührt hat, ist wie offen die Schüler dort sind

und auch, dass einige in meiner ersten Stunde bei Ihnen, darum gebeten haben, dass ich mich

gut einlebe. Das hat mich echt sehr gefreut!

Offenheit

Generell habe ich den Eindruck, dass hier mit vielen in Deutschland als sensibel und

persönlich geltenden Daten offener umgegangen wird. So werden z.B. die Noten offen

vorgelesen oder es wird nach Notendurchschnitt gefragt, nicht nur unter Mitschülern. Auch

wissen zumindest Familien untereinander über ihr Gehalt Bescheid und reden auch wie

selbstverständlich darüber. Soweit mein Eindruck. So ist es mir zum Beispiel passiert, dass

das Gespräch beim Mittagessen (mit Padre Vincente, seiner Krankenpflegerin, der Köchin,

den Arbeitern) zum Thema Gewicht wechselt und man erfährt, was jeder so wiegt.

Chilenische Einladungen

…und immer wieder stößt man auf neue Sachen. So wurde ich von einem Freund zu seiner

Familie eingeladen. Und so habe ich die Bedeutung chilenischer Einladung kennengelernt:

Die meiste Zeit des Wochenendes war er arbeiten und ich habe mit seiner Nichte, die 6 Jahre

alt ist, gespielt und sie hat mir den Ort gezeigt. Ich war einfach in seinem Haus, ohne dass er

da war. Mit seinen Eltern gespielt, ausgeruht, gemacht, was ich wollte. Es war

selbstverständlich, dass ich da schlafen und mitleben kann, als würden sie mich schon lange

kennen. Und es war ein super schönes, entspanntes Wochenende. Den Spruch „Du kannst

jederzeit wiederkommen“ hört man hier oft und ist auch völlig ernst gemeint und trotzdem

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fällt es mir bisher noch schwer ihn einfach so in Anspruch zu nehmen. Dabei wäre es für die

anderen wirklich kein Problem und sie würden, wenn du kommst, einfach alles genau so

weitermachen und du kannst einfach dabei sein, wo in Deutschland vermutlich schon alles

stehen und liegen gelassen würde und eine gezwungene Konversation am Tisch angefangen

hätte.

Konzerte

Ein weiterer wichtiger Part in meiner Zeit bisher, waren Konzerte. Gleich am Anfang

durfte ich bei einem musikalischen Treffen von Schülern aus ganz Chile die Probe der

Querflöten leiten und habe direkt Eindrücke chilenischer Musik und der chilenischen

Art von Konzerten bekommen. Eine Gruppe fing einfach an zu improvisieren, weil es

hier Namen für bestimmte Stile mit Rhythmen gibt, wo dann Fremde einfach

zusammenspielen können. Da die Schule den Schwerpunkt lateinamerikanische Kultur

hat, gibt es regelmäßig kostenlose Präsentationen, die immer von sehr hohem Niveau

sind. So waren Anfang Oktober zum Beispiel einige kubanische Bands zu Besuch oder

es gab Konzert zum Andenken an eine chilenische Folklore-Sängerin.

Zu Konzerten ist zu sagen, dass sie insgesamt deutlich offener und für alle sind. Es ist kein

Problem später zu kommen oder früher zu gehen und seine Kinder mit Spielzeugen

mitzubringen. Auch sind sie häufig politisch angehaucht, sodass spontane Zustimmungsrufe

normal sind. Und generell wird im Rhythmus mitgeklatscht.

Ultrakapitalismus

Ich erinnere mich als ich in einem Konzert saß und die Tickets für eine Feier am folgenden

Samstag angepriesen wurden. Ein Freund neben mir sagte: „Ohja, das ist ja billig, die werde

ich kaufen.“ Und ich erinnerte ihn nur irritiert daran, dass er über das Wochenende doch

heimfährt und gar nicht in Osorno ist. Darauf meinte nur: „Stimmt, aber ich bin Chilene.“

Und er hat Recht damit. Wenn man mit Kreditkarte zahlt, wird man direkt gefragt, in wie

vielen Raten, auch wenn es nur 50€ im Supermarkt sind.

Als ich letztens mit meiner Schwester telefoniert habe, war sie erstaunt darüber, dass Chile in

vielen Tabellen so gute Wirtschaftswerte hatte, wie sie im Erdkunde-Unterricht feststellte.

Und sie hat Recht: „Die Arbeitslosigkeit ist mit sechs Prozent ähnlich niedrig wie in

Deutschland, die Inflation ebenfalls nicht der Rede wert. Chiles Staatsanleihen sind gut

bewertet. Im Vergleich mit dem als chaotisch geltenden Umfeld in Lateinamerika gelten die

Chilenen als verlässliche Geschäftspartner. Die Infrastruktur funktioniert, es wird gebaut und

investiert, Nah- und Fernverkehr fließen“. (Spiegel-Artikel). Die auf die sozialistische

Demokratie unter Allende folgende Militärdiktatur Pinochets, die von 1973 bis 1990

andauerte, führte unter der Beratung von in den USA ausgebildeten Ökonomen und

Wirtschaftshilfen aus „dem Westen“ radikale Wirtschaftsreformen hin zum Kapitalismus

durch, die zu einem enormen Wirtschaftsaufstieg führten.

Gleichzeitig geht der Armutsforscher Thomas Piketty davon aus, dass 1% der Chilenen 35 %

des Reichtums besitzen, 81 % der erwachsenen Chilenen Schulden haben und 1/5 der

Einwohner laut aktuellen Studien mit seinen Ratenzahlungen im Verzug ist.

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Man kann sich vorstellen, wie die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse daraus folgend

aussehen. Die Mehrheit der Chilenen hängt von den Banken und den Reichen ab. Wer mehr

darüber wissen möchte, kann ich nur den folgenden Artikel empfehlen, den ich größtenteils

mit eigenen Erfahrungen bestätigen kann.

http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-06/chile-neoliberalismus-armutsgrenze-wirtschaft-

reichtum/komplettansicht

So erstmal Gratulation, dass ihr es bis zum Ende durchgestanden habt und falls ihr immer

noch Kraft und Zeit habt, würde ich mich total über Fragen, Anregungen, Bemerkungen oder

Gespräche von eurer Seite freuen. Generell ist es immer schön unerwartete Nachrichten aus

Deutschland zu bekommen!!!

Zum Abschluss habe ich euch nochmal einen Poetry Slam von mir abgetippt, den ich hier

geschrieben habe (und damit von meinen Ideen hier inspiriert ist, aber keinen direkten

Zusammenhang mit Chile hat). Und natürlich noch ein paar wenige Bilder…

Ich liebe den Kontrast zwischen blauem Meer und weißen Vulkanen vom Grundstück einer Bekannten aus

pure Idylle: Parque Nacional Puyehue Schülerausflug nach Valdivia

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Grenzen ein, grenzen aus,

grenzen an, grenzen ab,

Grenzen begrenzen

Ich wünsche Grenzen, brauche Grenzen Liebe Grenzen

Und Grenzenlosigkeit

Baumgrenze, Schallgrenze,

Sichtgrenze, Schmerzgrenze,

Altersgrenze, Stadtgrenze,

Grenzen in meinem Alltag

Grenzen mich ein, grenzen aus,

grenzen an, grenzen ab,

begrenzen

ich hasse

Obergrenzen Eingrenzung Leistungsgrenzen Begrenzung

Ländergrenzen Abgrenzung

Armutsgrenzen Ausgrenzung

Aber ich wünsche Grenzen, brauche Grenzen

Liebe Grenzen

Und Grenzenlosigkeit

Grenzen geben Richtung

Stabilität, Schutz und Orientierung Stärke, Halt und Sicherheit

Zusammengehörigkeit

Grenzen mich ein, grenzen aus, grenzen an, grenzen ab,

begrenzen

ja, eine Grenze begrenzt, schränkt ein,

setzt Etwas herab, aber gibt obendrein

die Fähigkeit von anderem zu unterscheiden,

gibt Möglichkeit nur selbst zu sein

Grenzen ein, lassen sein,

grenzen ab, nur du allein,

selber sein, anders sein

meist Kreation unserer Gedanken,

deswegen auch veränderbar, Definition lässt sie erst ent-

Und Verteidigung bestehen

Doch ich hasse Grenzkontrollen

Und Waffen, die dabei helfen sollen,

nur aus Verteidigung mit Gewalt

bekommt die Grenze ihren Halt?

Aber ich liebe Grenzen und Grenzenlosigkeit

Ich wünsche mir Grenzen, nicht zwischen Ländern, sondern Menschen,

nicht aus Gittern oder Stacheldraht,

sondern aus Würde und Respekt,

nicht verteidigt mit Waffen oder Gewalt,

sondern mit klaren, ehrlichen Worten.

Ich bin begrenzt,

meine Kraft, mein Können,

mein Mut, mein Kampfgeist,

meine Zeit, meine Wahrnehmung

Grenzen mich ein, grenzen aus, grenzen an, grenzen ab,

Grenzen begrenzen mich

Ich bin unbegrenzt

Mein Platz für Wissen und Erfahrung

Meine Vielfalt und Bedürfnisse Meine Gefühle, meine Liebe

mein Verlangen, meine Sehnsucht

Aber ich liebe Grenzenlosigkeit und Grenzen

Ich habe meine Grenzen,

brauche meinen Raum,

komm mir nicht zu nah, eng mich nicht ein,

lass mich in meinen Grenzen sein.

Grenzen ein, grenzen aus, grenzen an, grenzen ab,

Grenzen begrenzen

Ich wünsche Grenzen, brauche Grenzen Liebe Grenzen

Und Grenzenlosigkeit

Jeder Mensch hat seine schützende Grenze,

jeder Übergriff verletzt ein Menschenrecht.

Warum schützen wir die Grenzen des Staates So gut, und die der Menschen so schlecht?