OSTALB-KULTUR Montag, 21. Februar 2011 In die Spannung, da ...€¦ · „Invierno porteño“...

1
OSTALB-KULTUR Montag, 21. Februar 2011 16 terkarieren – letztlich steht sie auf verlo- renem Posten. Vor der tatsächlichen Wirklichkeit, in der sich „Dschungelcamp“ und Bürger- aufstand von Marokko bis zum Jemen medial gegenüberstehen, wirkt Murillos ironisch-bitterer Blick auf den Siegeszug des Reality-TVs indes fast schon putzig. Er hat die „Vermischten Meldungen“ als „Stück für sechs Stimmen“ bezeichnet. Das verlangt die Phantasie der Regie, die Kreuzhage bei ihrem ersten Murillo „Dark Play“ schon auszeichnungswür- dig gezeigt hat. Sie muss den Stimmen Bilder verleihen. Zusammen mit der Bühnenbildnerin Ariane Scherpf greift die Intendantin zu der in solchen Fällen bewährten Methode und kommentiert die Erzählung im Vordergrund durch szenische Darstellungen hinter einem durchsichtigen Vorhang. Es treten auf die Mutter des „Möchte- gern-Separatistischen Cyberpunk-Teen- agers“, die vor dessen pornogeschwän- tigen Details“ (so der Untertitel des Mu- rillo-Stückes) sehen möchte, kann sich vertrauensvoll an Youtube wenden. In erster Linie geht es natürlich nicht um die Verrohung der Zeige- und Sehsitten, sondern um das Eindringen des Veröf- fentlichten ins Private. Da mag die sich als roter Faden durch die Handlungs- fragmente ziehende Schilderung vom Ende des Finanzpolitikers noch so be- redt die locker-flockige Wirklichkeits- leugnung durch TV-Soaps und Co. kon- gerten Gewalt- und Todesfantasien hilf- los kapituliert; der anonyme Mann mit dem Faible für einen Dokumentarfilm über Paviane, in dem es vor allem ums Kopulieren geht. Dessen Schilderung implantiert er nahtlos in den Besuch bei alten Freunden, deren Idylle in der Abge- schiedenheit auf rätselhafte Weise zu Bruch geht; es tritt auf eine sich künstle- risch gebärdende hysterische Mittel- schichtstussi, die mit einem malenden Kater ins Fernsehen drängt; und es tritt auf der skrupellose TV-Macher, der pau- senlos auf der Suche nach der quoten- steigernden Humantouch-Story ist. Damit klar wird, wie Fiktion und Reali- tät unaufhaltsam ineinander übergehen, wechselt das Personal in stetig zuneh- mendem Tempo die Seiten des durch- sichtigen Vorhangs, immer kürzer wer- den die Sequenzen. Steven King, Roald Dahl und Hazy Osterwald (der mit dem „Kriminal-Tango“) tanzen quasi Hand in Hand durch die Welten, wie die bewegli- che Wampe Max Rohlands, musikalisch verfolgt vom rosaroten Panther. Bestes Handwerk liefert Katharina Kreuzhage mit Kirsten Potthoff, Claudia Sutter, Mike Langhans, Max Rohland und Gregor Weisgerber ab, „versiert“ wie der Pavian aus der Doku. Sie gibt dem Af- fen Zucker und signalisiert durch Affen- masken und äffisches Menschenverhal- ten zugleich, wie wir uns durch Medien zum Affen machen lassen. Aber sind wir tatsächlich der Medien willfährige Opfer? Dringen sie tatsäch- lich unaufhaltsam ins Private vor? Sind wir Voyeure, wenn wir am Ende zuse- hen, wie Claudia Sutter als eine für alle stumm und reglos auf der Mattscheibe ihre Zukunft sterben sieht? Katharina Kreuzhage hat viele schlüssige Bilder für die Frage nach der medialen Vereinnah- mung der Gesellschaft gefunden – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ach, die mediale Welt hat sich selbst be- schleunigend in rasender Eile weiterge- dreht, seit sich der Finanzminister des US- Staates Illinois, R. Owen Robertson, in auswegloser persönlicher Situation vor laufenden Kameras auf einer Pressekon- ferenz eine Kugel durch den Kopf gejagt hat. Heute lädt, wer auf sich hält, hand- verlesene Fernsehjournalisten zu sich ein, um vor laufenden Kameras zu erklären, warum man sich nicht erschießen wolle. Die Zeit der Ehrenmänner, selbst jener von Adel, ist Geschichte. Deshalb hat Ka- tharina Kreuzhages Inszenierung des Murillo-Stückes „Vermischte Meldun- gen“ als europäische Erstaufführung am Theater der Stadt Aalen im Wi.Z etwas rührend Antiquiertes. Ein handwerklich sauber gezeichneter Comic über die Ent- äußerung des Privaten an die Medien. WOLFGANG NUSSBAUMER Starker Tobak selbst für einen abgebrüh- ten Reporter. Max Rohland schildert aus der dunklen Tiefe des Bühnenraumes die Szene – bis zur Verformung des Kop- fes durch das Geschoss. Der in fahriger Bewegung seine Bahn ziehende Glut- kegel der Zigarette unterstreicht den Be- richt. Zuvor hat der Scheinwerfer kurz die zu schriller Pose versammelten Pro- tagonisten des Abends eingeblendet. Sie werden das Ding schon schaukeln und dem Schrecken seine Spitze nehmen. The Show must go on. So weit, so gut. Seit sich Robertson vor über 20 Jahren in einem wörtlich genommenen Akt der Selbstjustiz vor Publikum entleibt hat, konnte die Öffentlichkeit noch häufig Zeuge echter Hinrichtungen werden. Exemplarisch Saddam Hussein mit dem Strick um den Hals. Wer „die ganzen blu- In die Spannung, da fällt ein Schuss Kreuzhage findet für Carlos Murillos „Vermischte Meldungen“ am Theater der Stadt Aalen sinnfällige Bilder Als Täter und Opfer der Mattscheibe agieren (v.l.n.r.) Mike Langhans, Gregor Weisgerber, Claudia Sutter, Max Rohland und Kirsten Potthoff. (Foto: M. Diemer, Theater der Stadt Aalen) Mit magischer Kraft der Stimme Christian Brückner liest geradezu fesselnd „Die Toten“ aus James Joyce „Dubliners“ Brückner und lässt Einzelheiten der ers- ten Begegnung aufblitzen. „Mir hat Rolf sehr geholfen, dass ich ganz schnell hier reingewachsen bin.“ Diesem also wid- met der inzwischen Ergraute den Abend. Die gepflegte Farbe teilt er im übrigen mit anderen Vertretern der ersten Stun- de und einem Großteil des Publikums. Mit magischer Kraft entführt die Stim- me des Erzählers in die Welt Dublins An- fang des 20. Jahrhunderts. Christian Brückner gelingt es vom ersten bis zum letzten Satz nach fast anderthalb Stun- den die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf den Erzählverlauf zu fokussieren. Ge- bannt folgt das Publikum dem unver- gleichlichen Timbre der Stimme, die mit Mitteln der Sprechkunst lebendige Bil- der mit unglaublicher Detailgenauigkeit in den Köpfen der Zuhörer hervorruft. Einer Erzählung, die eigentlich ohne viel Handlung und ohne eigentlichen Höhe- punkt auskommt, einen durchgehenden Spannungsbogen zu verleihen, ist große Kunst, die wohl kaum einer wie Christi- an Brückner durchzuhalten im Stande ist. Der Autor James Joyce zeichnet mit viel Liebe zum Detail sowohl die leblosen Gegenstände, die wie ein Genregemälde wirken, als auch die Personen in Klei- dung, Physiognomik, Gestik und Ge- fühlsregungen, die die Figuren porträt- haft zum Leben erwecken. Man meint die Klaviermusik der Nichte Mary Jane zu hören, die Paare tanzen zu sehen und die beiden alten Tanten Kate und Julia umsichtig-besorgt sich um ihre Gäste kümmern zu sehen. Der alljährliche Sylvesterball findet im verschneiten Dubliner Winter im Haus der drei Gastgeberinnen statt. Die Hauptperson, Neffe Gabriel Conroy nebst Gattin, lässt etwas auf sein Er- scheinen warten. Er verwickelt das junge Dienstmädchen Lilly in ein freundlich gemeintes kleines Gespräch. Sie ver- wahrt sich gegen seine von ihr als zu- dringlich empfundenen Fragen nach ei- ner baldigen Hochzeit. Auch seine kleine Aufmerksamkeit will sie zurückweisen. Gabriel entflieht in die Mitte der versam- melten Gesellschaft. Im nächsten missglückenden Zwiege- spräch mit einer jungen Dame der Ge- sellschaft fühlt sich Gabriel an den Rand gedrängt und genötigt, den inquisitori- schen Fragen nach seinen Urlaubsplä- nen und der beharrlichen Einladung, nach Galway mitzukommen, höflich auszuweichen. Hier wird bereits die „un- heilbare Einsamkeit der Seele“ angedeu- tet, die am Schluss der Erzählung kulmi- niert, als der Literat Gabriel von inniger Zweisamkeit mit seiner Frau träumt und erfährt, dass diese all die Jahre die Erin- nerung an einen toten Jungen bewahrt hat, der sie liebt und der ihretwegen starb. wid Auf die seitliche Wand des Bilderhauses ist ein großformatiges Foto eines Mannes vor einem Fachwerkhaus projiziert. Auf der Bühne steht Christian Brückner. Der große Rezitator hat zu Ehren des verstor- benen Mitbegründers des Gschwender Musikwinters, des Ochsenwirts Rolf Kuhn, die Erzählung, „Die Toten“ aus James Joyces Sammelband „Dubliners“ ausgewählt. Ein Vierteljahrhundert ist es her, seit der Gschwender Musikwinter aus der Taufe gehoben wurde. Christian Brück- ner gehört zu den ersten Künstlern, die in das kleine Dorf mit den großen kultu- rellen Ambitionen eingeladen wurden. Martin Mühleis erinnert an die Anfän- ge, bei denen Rolf Kuhn mit seinem Witz, seiner Bildung, seiner Offenheit immer dabei war. Ein Original eben. „Ich mochte ihn sehr“, bekennt Christian Percussionisten Daniel „Topo“ Gioia in den Raum. Dunkel kommt der Sound von Bratsche und Kontrabass. Das Kla- vier setzt eine hellere Klangfarbe darauf. Die Gitarre meldet sich mit Solotakten zu Wort. Lebhaft verschaffen sich die Rhythmusinstrumente Wärme in der kalten Jahreszeit. Eine schräge Einlage kommt von Bratsche und Klarinette, bis das Sopransaxofon, warm geworden, liebliche Melodiereigen entströmen lässt. Das Sopraninstrument schafft vita- le Tieftöne. Der Bläser wechselt zur Kla- rinette. Der Bass brummt zufrieden aus der Tiefe. Doch zu früh gefreut, der Pia- nist flieht von der Bühne. Der Gesang von Bratsche und Klarinette wird leiser, bis er fast zur Unhörbarkeit verebbt. Mit einem sehnsuchtsvoll gestriche- nen Kontrabass-Intro beginnt „Quizas, quizas, quizas“. Das Warten auf etwas, was dann vielleicht doch nicht eintritt, wie die Wunderheilung des Pianisten. Esko Laine improvisiert meisterhaft mit dem Bogen und erweitert die „beschei- dene“ Literatur für den Bass als Soloin- strument. Der Mann aus dem finnischen Hyvinkää, einem Dorf vergleichbar mit Gschwend, wie der Bratschist aus Nürn- Ganz und gar nicht wie geplant verlief der zweite Klassikabend beim Gschwen- der Musikwinter. Feurige lateinamerika- nische Tänze und Jazzarrangements spielten die sechs Musiker, von denen vier feste Mitglieder bei den Berliner Phil- harmonikern sind. Der Bechstein-Flügel auf dem Podium der Evangelischen Kir- che allerdings wurde kaum strapaziert. HELGA WIDMAIER Der gesundheitlich angeschlagene Pia- nist Raphael Haeger schaffte noch das „Besame mucho“ des Anfangs. Versiert überbrückte Ensemblegründer Martin Stegner den Ausfall des Mannes am Kla- vier mit zwei für die Bratsche adaptierten Soloetüden von Astor Piazzola. Zum Libertango meldet sich der Pia- nist aus Trossingen zurück. Hoffnungs- frohes Aufatmen im Ensemble. Das Pro- gramm im Sixpack scheint gerettet. Ru- hig gleitet ein Bolero von Django Rein- hardt dahin. Dann bricht winterliche Kälte über Buenos Aires ein. Piazzolas „Invierno porteño“ bläst mit kaltem Wind vom aus Argentinien stammenden berg keck kommentiert, sorgt nicht nur für eine sichere Grundierung, sein Bass ist omnipräsent. Improvisation heißt das Motto nach der Pause. Launig geben Bratschist und Altsaxofonist Manfred Preis ein paar Takte moderner Musik zum Besten. Hät- te man sich auch noch eine Dreiviertel- stunde weiter vorstellen können. Doch der Abend war ja der lateinamerikani- schen Musik gewidmet. Eine Kompositi- on des Kubaners Mario Bauza „Let the Mambo in“ entfacht ein temperament- volles Trommelfeuerwerk von Gioia. Launig führt Martin Stegner durchs Programm, das nolens volens zum „Not- programm“ mutiert ist. „Kaum ist der Pianist weg, macht sich schon der Gitar- rist breit.“ Helmut Nieberle ist der Tau- sendsassa aus Regensburg, der das Kla- vier-Intro von „Milonga melancolica“ auf seiner siebensaitigen Gitarre spielt. Leise klagend setzt die Bratsche ein und wird einfühlsam von der Gitarre beglei- tet. Das begeisterte Publikum ertrampelt sich die Zugaben „Tres palabras“ von Oswaldo Farres und zu guter Letzt zieht die Karawane mit der Zwerggitarre Uku- lele alle in ihren Bann. Wenn der Mann am Klavier ausfällt ... Bolero Berlin konzertierte mit einem feurigen lateinamerikanischen Programm beim Gschwender Musikwinter Viel Improvisation auf höchstem musikalischem Niveau kennzeichnete den Klassik- abend mit „Bolero Berlin“ des Gschwender Musikwinters. (Foto: wid) arcata stuttgart Am Samstag, 26. Februar, spielt das Kammerorchester „arcata stuttgart“ unter der Leitung von Patrick Strub Stücke von Mozart in der Barbara- Künkelin-Halle in Schorndorf. Das Programm gibt interessante und ab- wechslungsreiche Einblicke in die Entwicklung des jungen Komponis- ten im Alter zwischen 15 und 19 Jah- ren. Hallissimo Zum Auftakt des neuen Programms „Passion – Ostern – Pfingsten 2011“ der Musik an St. Michael spielt am Samstag, dem 26. Februar, um 18 Uhr, das Ensemble „Hallissimo“ in der Schwäbisch Haller St. Michaels- kirche. Zu hören sind bei dem Kon- zert Werke von J.S.Bach (Konzert für Oboe, Violine und Streichorchester), Samuel Barber, P.I. Tschaikowsky und Tadeusz Baird. Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei. SCHAUFENSTER

Transcript of OSTALB-KULTUR Montag, 21. Februar 2011 In die Spannung, da ...€¦ · „Invierno porteño“...

Page 1: OSTALB-KULTUR Montag, 21. Februar 2011 In die Spannung, da ...€¦ · „Invierno porteño“ bläst mit kaltem Wind vom aus Argentinien stammenden berg keck kommentiert, sorgt nicht

OSTALB-KULTUR Montag, 21. Februar 2011 16

terkarieren – letztlich steht sie auf verlo-renem Posten.

Vor der tatsächlichen Wirklichkeit, inder sich „Dschungelcamp“ und Bürger-aufstand von Marokko bis zum Jemenmedial gegenüberstehen, wirkt Murillosironisch-bitterer Blick auf den Siegeszugdes Reality-TVs indes fast schon putzig.Er hat die „Vermischten Meldungen“ als„Stück für sechs Stimmen“ bezeichnet.Das verlangt die Phantasie der Regie, dieKreuzhage bei ihrem ersten Murillo

„Dark Play“ schon auszeichnungswür-dig gezeigt hat. Sie muss den StimmenBilder verleihen. Zusammen mit derBühnenbildnerin Ariane Scherpf greiftdie Intendantin zu der in solchen Fällenbewährten Methode und kommentiertdie Erzählung im Vordergrund durchszenische Darstellungen hinter einemdurchsichtigen Vorhang.

Es treten auf die Mutter des „Möchte-gern-Separatistischen Cyberpunk-Teen-agers“, die vor dessen pornogeschwän-

tigen Details“ (so der Untertitel des Mu-rillo-Stückes) sehen möchte, kann sichvertrauensvoll an Youtube wenden. Inerster Linie geht es natürlich nicht umdie Verrohung der Zeige- und Sehsitten,sondern um das Eindringen des Veröf-fentlichten ins Private. Da mag die sichals roter Faden durch die Handlungs-fragmente ziehende Schilderung vomEnde des Finanzpolitikers noch so be-redt die locker-flockige Wirklichkeits-leugnung durch TV-Soaps und Co. kon-

gerten Gewalt- und Todesfantasien hilf-los kapituliert; der anonyme Mann mitdem Faible für einen Dokumentarfilmüber Paviane, in dem es vor allem umsKopulieren geht. Dessen Schilderungimplantiert er nahtlos in den Besuch beialten Freunden, deren Idylle in der Abge-schiedenheit auf rätselhafte Weise zuBruch geht; es tritt auf eine sich künstle-risch gebärdende hysterische Mittel-schichtstussi, die mit einem malendenKater ins Fernsehen drängt; und es trittauf der skrupellose TV-Macher, der pau-senlos auf der Suche nach der quoten-steigernden Humantouch-Story ist.

Damit klar wird, wie Fiktion und Reali-tät unaufhaltsam ineinander übergehen,wechselt das Personal in stetig zuneh-mendem Tempo die Seiten des durch-sichtigen Vorhangs, immer kürzer wer-den die Sequenzen. Steven King, RoaldDahl und Hazy Osterwald (der mit dem„Kriminal-Tango“) tanzen quasi Hand inHand durch die Welten, wie die bewegli-che Wampe Max Rohlands, musikalischverfolgt vom rosaroten Panther.

Bestes Handwerk liefert KatharinaKreuzhage mit Kirsten Potthoff, ClaudiaSutter, Mike Langhans, Max Rohlandund Gregor Weisgerber ab, „versiert“ wieder Pavian aus der Doku. Sie gibt dem Af-fen Zucker und signalisiert durch Affen-masken und äffisches Menschenverhal-ten zugleich, wie wir uns durch Medienzum Affen machen lassen.

Aber sind wir tatsächlich der Medienwillfährige Opfer? Dringen sie tatsäch-lich unaufhaltsam ins Private vor? Sindwir Voyeure, wenn wir am Ende zuse-hen, wie Claudia Sutter als eine für allestumm und reglos auf der Mattscheibeihre Zukunft sterben sieht? KatharinaKreuzhage hat viele schlüssige Bilder fürdie Frage nach der medialen Vereinnah-mung der Gesellschaft gefunden – nichtweniger, aber auch nicht mehr.

Ach, die mediale Welt hat sich selbst be-schleunigend in rasender Eile weiterge-dreht, seit sich der Finanzminister des US-Staates Illinois, R. Owen Robertson, inauswegloser persönlicher Situation vorlaufenden Kameras auf einer Pressekon-ferenz eine Kugel durch den Kopf gejagthat. Heute lädt, wer auf sich hält, hand-verlesene Fernsehjournalisten zu sich ein,um vor laufenden Kameras zu erklären,warum man sich nicht erschießen wolle.Die Zeit der Ehrenmänner, selbst jenervon Adel, ist Geschichte. Deshalb hat Ka-tharina Kreuzhages Inszenierung desMurillo-Stückes „Vermischte Meldun-gen“ als europäische Erstaufführung amTheater der Stadt Aalen im Wi.Z etwasrührend Antiquiertes. Ein handwerklichsauber gezeichneter Comic über die Ent-äußerung des Privaten an die Medien.

WOLFGANG NUSSBAUMER

Starker Tobak selbst für einen abgebrüh-ten Reporter. Max Rohland schildert ausder dunklen Tiefe des Bühnenraumesdie Szene – bis zur Verformung des Kop-fes durch das Geschoss. Der in fahrigerBewegung seine Bahn ziehende Glut-kegel der Zigarette unterstreicht den Be-richt. Zuvor hat der Scheinwerfer kurzdie zu schriller Pose versammelten Pro-tagonisten des Abends eingeblendet. Siewerden das Ding schon schaukeln unddem Schrecken seine Spitze nehmen.The Show must go on. So weit, so gut.

Seit sich Robertson vor über 20 Jahrenin einem wörtlich genommenen Akt derSelbstjustiz vor Publikum entleibt hat,konnte die Öffentlichkeit noch häufigZeuge echter Hinrichtungen werden.Exemplarisch Saddam Hussein mit demStrick um den Hals. Wer „die ganzen blu-

In die Spannung, da fällt ein SchussKreuzhage findet für Carlos Murillos „Vermischte Meldungen“ am Theater der Stadt Aalen sinnfällige Bilder

Als Täter und Opfer der Mattscheibe agieren (v.l.n.r.) Mike Langhans, Gregor Weisgerber, Claudia Sutter, Max Rohland undKirsten Potthoff. (Foto: M. Diemer, Theater der Stadt Aalen)

Mit magischer Kraft der StimmeChristian Brückner liest geradezu fesselnd „Die Toten“ aus James Joyce „Dubliners“

Brückner und lässt Einzelheiten der ers-ten Begegnung aufblitzen. „Mir hat Rolfsehr geholfen, dass ich ganz schnell hierreingewachsen bin.“ Diesem also wid-met der inzwischen Ergraute den Abend.Die gepflegte Farbe teilt er im übrigenmit anderen Vertretern der ersten Stun-de und einem Großteil des Publikums.

Mit magischer Kraft entführt die Stim-me des Erzählers in die Welt Dublins An-fang des 20. Jahrhunderts. ChristianBrückner gelingt es vom ersten bis zumletzten Satz nach fast anderthalb Stun-den die Aufmerksamkeit der Zuhörer aufden Erzählverlauf zu fokussieren. Ge-bannt folgt das Publikum dem unver-gleichlichen Timbre der Stimme, die mitMitteln der Sprechkunst lebendige Bil-der mit unglaublicher Detailgenauigkeitin den Köpfen der Zuhörer hervorruft.Einer Erzählung, die eigentlich ohne vielHandlung und ohne eigentlichen Höhe-punkt auskommt, einen durchgehenden

Spannungsbogen zu verleihen, ist großeKunst, die wohl kaum einer wie Christi-an Brückner durchzuhalten im Standeist.

Der Autor James Joyce zeichnet mit vielLiebe zum Detail sowohl die leblosenGegenstände, die wie ein Genregemäldewirken, als auch die Personen in Klei-dung, Physiognomik, Gestik und Ge-fühlsregungen, die die Figuren porträt-haft zum Leben erwecken. Man meintdie Klaviermusik der Nichte Mary Janezu hören, die Paare tanzen zu sehen unddie beiden alten Tanten Kate und Juliaumsichtig-besorgt sich um ihre Gästekümmern zu sehen.

Der alljährliche Sylvesterball findet imverschneiten Dubliner Winter im Hausder drei Gastgeberinnen statt. DieHauptperson, Neffe Gabriel Conroynebst Gattin, lässt etwas auf sein Er-scheinen warten. Er verwickelt das jungeDienstmädchen Lilly in ein freundlich

gemeintes kleines Gespräch. Sie ver-wahrt sich gegen seine von ihr als zu-dringlich empfundenen Fragen nach ei-ner baldigen Hochzeit. Auch seine kleineAufmerksamkeit will sie zurückweisen.Gabriel entflieht in die Mitte der versam-melten Gesellschaft.

Im nächsten missglückenden Zwiege-spräch mit einer jungen Dame der Ge-sellschaft fühlt sich Gabriel an den Randgedrängt und genötigt, den inquisitori-schen Fragen nach seinen Urlaubsplä-nen und der beharrlichen Einladung,nach Galway mitzukommen, höflichauszuweichen. Hier wird bereits die „un-heilbare Einsamkeit der Seele“ angedeu-tet, die am Schluss der Erzählung kulmi-niert, als der Literat Gabriel von innigerZweisamkeit mit seiner Frau träumt underfährt, dass diese all die Jahre die Erin-nerung an einen toten Jungen bewahrthat, der sie liebt und der ihretwegenstarb. wid

Auf die seitliche Wand des Bilderhausesist ein großformatiges Foto eines Mannesvor einem Fachwerkhaus projiziert. Aufder Bühne steht Christian Brückner. Dergroße Rezitator hat zu Ehren des verstor-benen Mitbegründers des GschwenderMusikwinters, des Ochsenwirts RolfKuhn, die Erzählung, „Die Toten“ ausJames Joyces Sammelband „Dubliners“ausgewählt.

Ein Vierteljahrhundert ist es her, seitder Gschwender Musikwinter aus derTaufe gehoben wurde. Christian Brück-ner gehört zu den ersten Künstlern, diein das kleine Dorf mit den großen kultu-rellen Ambitionen eingeladen wurden.

Martin Mühleis erinnert an die Anfän-ge, bei denen Rolf Kuhn mit seinemWitz, seiner Bildung, seiner Offenheitimmer dabei war. Ein Original eben. „Ichmochte ihn sehr“, bekennt Christian

Percussionisten Daniel „Topo“ Gioia inden Raum. Dunkel kommt der Soundvon Bratsche und Kontrabass. Das Kla-vier setzt eine hellere Klangfarbe darauf.Die Gitarre meldet sich mit Solotaktenzu Wort. Lebhaft verschaffen sich dieRhythmusinstrumente Wärme in derkalten Jahreszeit. Eine schräge Einlagekommt von Bratsche und Klarinette, bisdas Sopransaxofon, warm geworden,liebliche Melodiereigen entströmenlässt. Das Sopraninstrument schafft vita-le Tieftöne. Der Bläser wechselt zur Kla-rinette. Der Bass brummt zufrieden ausder Tiefe. Doch zu früh gefreut, der Pia-nist flieht von der Bühne. Der Gesangvon Bratsche und Klarinette wird leiser,bis er fast zur Unhörbarkeit verebbt.

Mit einem sehnsuchtsvoll gestriche-nen Kontrabass-Intro beginnt „Quizas,quizas, quizas“. Das Warten auf etwas,was dann vielleicht doch nicht eintritt,wie die Wunderheilung des Pianisten.Esko Laine improvisiert meisterhaft mitdem Bogen und erweitert die „beschei-dene“ Literatur für den Bass als Soloin-strument. Der Mann aus dem finnischenHyvinkää, einem Dorf vergleichbar mitGschwend, wie der Bratschist aus Nürn-

Ganz und gar nicht wie geplant verliefder zweite Klassikabend beim Gschwen-der Musikwinter. Feurige lateinamerika-nische Tänze und Jazzarrangementsspielten die sechs Musiker, von denenvier feste Mitglieder bei den Berliner Phil-harmonikern sind. Der Bechstein-Flügelauf dem Podium der Evangelischen Kir-che allerdings wurde kaum strapaziert.HELGA WIDMAIER

Der gesundheitlich angeschlagene Pia-nist Raphael Haeger schaffte noch das„Besame mucho“ des Anfangs. Versiertüberbrückte Ensemblegründer MartinStegner den Ausfall des Mannes am Kla-vier mit zwei für die Bratsche adaptiertenSoloetüden von Astor Piazzola.

Zum Libertango meldet sich der Pia-nist aus Trossingen zurück. Hoffnungs-frohes Aufatmen im Ensemble. Das Pro-gramm im Sixpack scheint gerettet. Ru-hig gleitet ein Bolero von Django Rein-hardt dahin. Dann bricht winterlicheKälte über Buenos Aires ein. Piazzolas„Invierno porteño“ bläst mit kaltemWind vom aus Argentinien stammenden

berg keck kommentiert, sorgt nicht nurfür eine sichere Grundierung, sein Bassist omnipräsent.

Improvisation heißt das Motto nachder Pause. Launig geben Bratschist undAltsaxofonist Manfred Preis ein paarTakte moderner Musik zum Besten. Hät-te man sich auch noch eine Dreiviertel-stunde weiter vorstellen können. Dochder Abend war ja der lateinamerikani-schen Musik gewidmet. Eine Kompositi-on des Kubaners Mario Bauza „Let theMambo in“ entfacht ein temperament-volles Trommelfeuerwerk von Gioia.

Launig führt Martin Stegner durchsProgramm, das nolens volens zum „Not-programm“ mutiert ist. „Kaum ist derPianist weg, macht sich schon der Gitar-rist breit.“ Helmut Nieberle ist der Tau-sendsassa aus Regensburg, der das Kla-vier-Intro von „Milonga melancolica“auf seiner siebensaitigen Gitarre spielt.Leise klagend setzt die Bratsche ein undwird einfühlsam von der Gitarre beglei-tet. Das begeisterte Publikum ertrampeltsich die Zugaben „Tres palabras“ vonOswaldo Farres und zu guter Letzt ziehtdie Karawane mit der Zwerggitarre Uku-lele alle in ihren Bann.

Wenn der Mann am Klavier ausfällt ...Bolero Berlin konzertierte mit einem feurigen lateinamerikanischen Programm beim Gschwender Musikwinter

Viel Improvisation auf höchstem musikalischem Niveau kennzeichnete den Klassik-abend mit „Bolero Berlin“ des Gschwender Musikwinters. (Foto: wid)

arcata stuttgartAm Samstag, 26. Februar, spielt dasKammerorchester „arcata stuttgart“unter der Leitung von Patrick StrubStücke von Mozart in der Barbara-Künkelin-Halle in Schorndorf. DasProgramm gibt interessante und ab-wechslungsreiche Einblicke in dieEntwicklung des jungen Komponis-ten im Alter zwischen 15 und 19 Jah-ren.

HallissimoZum Auftakt des neuen Programms„Passion – Ostern – Pfingsten 2011“der Musik an St. Michael spielt amSamstag, dem 26. Februar, um 18Uhr, das Ensemble „Hallissimo“ inder Schwäbisch Haller St. Michaels-kirche. Zu hören sind bei dem Kon-zert Werke von J.S.Bach (Konzert fürOboe, Violine und Streichorchester),Samuel Barber, P.I. Tschaikowskyund Tadeusz Baird. Der Eintritt zuder Veranstaltung ist frei.

SCHAUFENSTER