Pacher, Walter - Wenn Kinder Ihre Macht Erproben

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Walter Pacher Wenn Kinder ihre Macht erproben scanned by unknown corrected by md Machtkämpfe in der Familie müssen nicht sein: Wenn Eltern die Eigenständigkeit der größer werdenden Kinder respektieren, ihnen altersgemäße Freiräume lassen - ihnen aber auch die Sicherheit und Geborgenheit klarer und deutlicher Grenzen geben. Der erfahrene Gordon-Trainer zeigt, wie es ohne Niederlagen geht, wenn Kinder und Eltern unterschiedliche Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse haben. ISBN 3-451-04 793-4 Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1999 Umschlaggestaltung: Joseph Pölzelbauer Umschlagfoto: Hartmut W. Schmidt Fotografie Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Wenn Kinder Ihre Macht Erproben Pacher, Walter

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Walter Pacher

Wenn Kinder ihre Macht erproben

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Machtkämpfe in der Familie müssen nicht sein: Wenn Eltern die Eigenständigkeit der größer werdenden Kinder respektieren, ihnen altersgemäße Freiräume lassen - ihnen aber auch die Sicherheit und Geborgenheit klarer und deutlicher Grenzen geben. Der erfahrene Gordon-Trainer zeigt, wie es ohne Niederlagen geht, wenn Kinder und Eltern unterschiedliche Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse haben.

ISBN 3-451-04 793-4

Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1999 Umschlaggestaltung: Joseph Pölzelbauer

Umschlagfoto: Hartmut W. Schmidt Fotografie

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Inhalt Die Ohnmacht gegen die Macht ..............................................6

1. Vorwurfslos und doch wirksam ........................................10 1.1. Brigitte und der Besuch des Chefs. Oder - Prototyp eines unangenehmen Gespräches.................................................11

1.1.1. Wozu denn Gesprächsschulung? ...........................11 1.2. Die Mutter „in der Zwickmühle"......................................13

1.2.1. Mehr Freiheit oder eine festere Hand? ...................13 1.2.2. Formen der Vorwürfe ..............................................13 1.2.3. Aufgeräumtes Zimmer - ohne Machtanwendung?..15 1.2.4. Wodurch ist die schlechte Stimmung entstanden? .16 1.2.5. Auf drei zählen ........................................................17

1.3. Das tieferliegende Problem der Tochter ........................18 1.3.1. Brigittes unausgesprochenes Bedürfnis..................18 1.3.2. Wirksame Rede ohne Vorwurf ................................18

2. Aktives Zuhören + Ich-Botschaft ......................................19 2.1. Aktives Zuhören (AZ) .....................................................20

2.1.1. AZ oder Verstehen bewirkt Änderungsbereitschaft 20 2.1.2. Ich-Botschaft oder - zu meiner Person stehen........21 2.1.3. Du-Botschaft oder - Rede ohne Wirkung ................22

2.2. Brigittes Zimmer ist aufgeräumt .....................................25 2.2.1. Aufräumen leicht gemacht.......................................25 2.2.2. Brigitte lenkt ein - oder „das wirksame Gespräch" ..25 2.2.3. Ein Brainstorming ....................................................27 2.2.4. Änderungsbereitschaft durch AZ.............................28

3. Bedürfnisse fordern ihr Recht...........................................31 3.1. Mit Kanonen auf Spatzen schießen...............................32

3.1.1. Struppige Haare und der Rechtsanwalt ..................32 3.1.2. Sagen, was ich denke oder was ich fühle? .............33 3.1.3. Bedürfnis des Vaters ...............................................33 3.1.4. Bedürfnis des Sohnes .............................................33 3.1.5. Bedürfniskonflikte oder Wertkonflikte......................34

3.2. Die Änderungsbereitschaft beginnt................................37 3.2.1. Ein wirksames Gespräch.........................................37 3.2.2. Über seine Bedürfnisse sprechen ...........................40 3.2.3. Bedürfnisse erfahren ...............................................40

3.3. Drei Grundbedürfnisse drei Grundprobleme..................45 3.3.1. Das echte Bedürfnis schnell und sicher finden .......45

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3.3.2. Die drei Bedürfnisse, die jeder Mensch hat ............46 3.3.3. Die drei Grundprobleme..........................................47 3.3.4. Grundbedürfnis 1 : Freiheit......................................48 3.3.5. Grundbedürfnis 2: Gerechtigkeit .............................49 3.3.6. Grundbedürfnis 3: Annahme ...................................50 3.3.7. Genügend abgedeckte Bedürfnisse........................50

3.4. Familie Milon auf Lösungssuche....................................52 3.4.1. Der Vater studiert Ferienangebote..........................52 3.4.2. Lösungen oder Bedürfnisse ....................................53 3.4.3. Das Sechs-Punkte-Lösungs-Verfahren...................55

4. Das Problem mit den Problemen ......................................61 4.1. Problemstellung als Unterhaltung..................................62

4.1.1. Spiele zum Problemewälzen...................................62 4.1.2. Mit Problemstellungen spielerisch lernen................63 4.1.3. Jeder sucht sich sein Problem ................................65

4.2. Problem als Entscheidungshilfe.....................................66 4.2.1. Problem oder Schwierigkeit?...................................66 4.2.2. Die Mutter als Problemlösungs-Maschine...............67 4.2.3. Fragen, Fragen, Fragen ..........................................67 4.2.4. Mitarbeit durch Problemstellungen..........................68

5. Freiheit und Macht..............................................................69 5.1. Wie Herr Praktik seine Kommunikationsfähigkeit erweitert. Oder - Wer den Drücker hat, hat auch die Macht .70

5.1.1. Ein Meister der Kommunikation?! ...........................70 5.1.2. Das Familiengespräch.............................................71 5.1.3. Moderne Gesprächsverhinderer..............................72 5.1.4. Das Kind will wollen, was es will .............................73 5.1.5. Die Angst der Eltern ................................................74 5.1.6. Ohne Macht geht es nicht .......................................77

5.2. Mehr Freiheit oder eine festere Hand ............................78 5.2.1. Der Mann und der Wellensittich ..............................79 5.2.2. Erdrückung oder Erziehung - das ist die Frage.......81

5.3. Mein Kind - Gegenstand oder Mensch? ........................83 5.3.1. Dressur oder Erziehung? ........................................83 5.3.2. Beat soll ins Internat................................................83 5.3.3. Subjekt - Objekt. Mensch oder Gegenstand ...........85 5.3.4. Strafe oder natürliche Folgen..................................86 5.3.5. Immer diese Entscheidungen und nie sicher sein können, wie's richtig ist......................................................88 5.3.6. Meine Urteilsfähigkeit ..............................................92

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5.4. „Freiwilliger Zwang" oder natürliche Folgen?.................94 5.4.1. Sascha und die Faszination des Wassers ..............94 5.4.2. Statt Strafe: logische Folgen ...................................96

5.5. Macht vom ersten Tag an ..............................................98 5.5.1. Das Neugeborene erlebt seine Mutter als Macht....98 5.5.2. Wie Sie die Kraft bekommen, auf Macht zu verzichten ..........................................................................99 5.5.3. Machtabbau...........................................................100

5.6. Ein Erziehungsstil der vierten Art.................................101 5.6.1. Zwischen allen Stühlen .........................................101 5.6.2. Positiver Umgang mit Macht .................................103 5.6.3. POG: das Problemorientierte-Gespräch ...............104 5.6.4. Die verweigerte Mithilfe im Haushalt .....................104 5.6.5. (1) Notsituation der Mutter (starke I-Bo)................105 5.6.6. (2) Blockieren (= passive Macht)...........................105 5.6.7. (3) Angebot für ein Gespräch................................106 5.6.8. Festigkeit ohne Dirigismus ....................................108

6. „Warum?" und „Wozu?"..................................................112 6.1. Machtabbau ohne Verlierer -Vergangenheit und Zukunft............................................................................................113

6.1.1.Verlierer ..................................................................113 6.1.2. Warum ist mein Kind so widerspenstig? oder: Oliver im Restaurant ..................................................................113 6.1.3. Auf den Blickwinkel kommt es an..........................114 6.1.4. Schlußfolgerung ....................................................118 6.1.5. Kinder sind sooo widersprüchlich! Oder das einheitliche Wunschbild...................................................118 6.1.6. Hannelore und ihre asthmatische Mutter ..............119

6.2. Zusammenfassung ......................................................121 6.2.1. Grund und Zweck menschlichen Handelns...........124

7. Annahme oder Leistung ..................................................125 7.1. Gepflegtes Heim und schmutzige Hände. -Oder: Wie Karl aus der Familie herausfällt. .........................................126

7.1.1. Wenn…, dann…....................................................127 7.1.2. Die Macht negativer Gespräche............................128 7.1.3. Die Macht positiver Gespräche .............................129 7.1.4. Reise in die eigene Vergangenheit: unangenehme Macht am eigenen Leib ...................................................132 7.1.5. Diktatoren, Eltern und Macht.................................133

7.2. Sich schenken lassen und der Zwang zur Leistung ....136

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7.2.1. Ein hilfloses Geschöpf...........................................136 7.2.2. Das Pferd im Morast..............................................138 7.2.3. Die Wirkung einer Rede ........................................139

8. Allgegenwärtige Schuld...................................................140 8.1. Zwei Familien in einer unangenehmen Situation.........141

8.1.1. Der Stich ins Auge.................................................141 8.1.2. Schuldfähigkeit ......................................................142

8.2. Der Malermeister..........................................................144 8.2.1. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten ....................144 8.2.2. Goldene Gelegenheiten ........................................146 8.2.3. Positiver Umgang mit Schuld ................................148 8.2.4. Der Ausgang der Geschichte ................................149 8.2.5. Wie es mit den beiden Familien weiter ging..........150 8.2.6. Versöhnung ...........................................................152

8.3. Frau Bittmann und das Loslassen ...............................154 8.3.1. Wenn sich Kinder schweigend absetzen ..............154

8.4. Wie Kinder gerne heimkommen...................................157 8.4.1. Das Klima der gegenseitige Achtung ....................157 8.4.2. Konflikte werden offen ausgetragen......................157 8.4.3. Beide Seiten sollen sich wohl fühlen.....................157 8.4.4. Freiraum gewähren ...............................................158

8.5. Kurzfassung: Wie meine Kinder gerne heimkommen .159 8.6. Mit der „richtigen" Grundhaltung zu einem sinnvollen Leben ..................................................................................160

8.6.1. (1) Ehrfurcht vor dem Leben .................................160 8.6.2. (2) Ehrfurcht vor meinem Kind ..............................161 8.6.3. (3) Vertrauen in mein Schicksal ............................162 8.6.4. (4) Geschenkt durch Loslassen.............................162 8.6.5. Ein bißchen Lebensweisheit: Mehr sinnvolles Leben durch…............................................................................162 8.6.6. Grundbedürfnisse vermitteln .................................162 8.6.7. Zu seiner Schuld stehen........................................163 8.6.8. Die Parabel vom Wind und der Sonne..................163

Nachwort: Eine Idee und ihre Entwicklung........................165

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Die Ohnmacht gegen die Macht

Seit 1979 gebe ich Erziehungskurse. In diesen vergangenen 20 Jahren mußte ich eine allgemeine Zunahme von Brutalität in unserer Gesellschaft feststellen. Und die Reizschwelle, mit bedrohlichen Gegenständen selbst in Familien aufeinander los zu gehen, wird immer tiefer. Hier nur einige Beispiele, die ich persönlich miterlebt habe:

Da ist der 14jährige Daniel, welcher kurzerhand ein Stuhlbein auseinander bricht, weil er von der Mutter nicht zum Sportplatz gefahren wird. Gemäß seiner Methode werden immer mehr Stühle demoliert und Türschlösser im ganzen zweistöckigen Haus herausgebrochen. Daniel zu mir: Meine Methode funktioniert 100%ig. Ich komme zu allem, was ich will. Daniel wendet Macht an. Was tun? Mit Gegenmacht reagieren? Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?

Nicolas ist 15 Jahre alt. Sein Vater hat eine Autore-paraturwerkstätte. „Wenn Nicolas auf dem Areal ein Kundenauto mit Schlüssel findet, wird sofort eine Runde gedreht", klagt mir seine Mutter am Telefon. Nicolas sei schon das zweite Mal mit einem Kundenauto und seinen vier Freunden ohne Führerschein in die Stadt gefahren. Es ist uns unmöglich, das ganze Areal abzuschließen und von allen Autos die Schlüssel an uns zu nehmen. Nicolas kommt immer wieder zu einem Schlüssel. Die darauf folgenden heftigen Diskussionen über diese jugendlichen Heldentaten ringen dem Sprößling nur ein müdes Lächeln ab. Wir haben schon alles probiert: „Strenge, Güte, Drohungen, Versprechen - alles wirkungslos!" Nicolas arbeitet offensichtlich mit Macht. „Was sollen wir den

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machen? Nicolas in Ketten legen, oder was sonst?" klagen mir die Eltern.

Die 14jährige Christa will zu einem Fest. Die Eltern erkämpfen sich die Bedingung: „Aber um Mitternacht bist du zu Hause!" Um 2.00 Uhr ist ihr Bett immer noch leer. Die Mutter bleibt wach. Als Christa endlich um 3.00 Uhr auftaucht antwortet sie auf die Frage der Mutter, wo sie so lange geblieben wäre: „Das muß ich dir nicht sagen!" Ihre Rücksichtslosigkeit ist ihre Macht.

Der 10jährige Hermann kommt am Sonntagabend aus einem Pfadfinderlager nach Hause. Zuerst erzählt er lautstark seine Erlebnisse. Es hat ihm gut gefallen. Doch als man ihn zum Abendessen ruft, kommt er nicht. Statt dessen reißt er alles mögliche aus seinem Rucksack und schmeißt es in der Wohnung umher. Als die Mutter eingreifen will, beschimpft er sie mit „Blöde Kuh".

Hermann nimmt das Schulbuch seiner Schwester, hängt es als Dach über seinen Kopf, streckt die Zunge raus und ruft laut: „Bääääääääääääääää!"

Die Eltern beginnen alleine zu essen und müssen sich die Eskapaden ihres Sohnes ohnmächtig mit ansehen. Alles Zureden nützt nichts, denn Hermann wendet Macht an. Die Eltern fragen mich: „Wie soll denn das noch weiter gehen?"

Der 3jährige Julius besteht beharrlich darauf, nur das Dessert zu essen. Alles andere verweigert er: Gut zureden, strafen, mit dem Löffel füttern. Nichts nützt. Das dabei erzeugte Geschrei ist so penetrant laut, daß es die Nachbarn hören. Peinlich, peinlich. Mit seinem Machtgeschrei erzwingt er sich sein Dessert. Auch hier die Frage, soll man mit Gegenmacht reagieren?

Aber auch die kleinen Szenen sind nicht zu übersehen und machen vielen Eltern das Leben schwer: Der täglich

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Kampf ums Zähneputzen. Die umständlich nervensägende Prozedur bis die Kinder endlich im Bett sind! Das Gekreische, immer genau während des Telefonierens, etc., etc.

Ganz automatisch lassen wir jetzt in Sekundenschnelle einen ganzen Strauß von Lösungsideen durch unseren Kopf laufen.

Doch eines habe ich in den vergangenen 30 Jahren gelernt: All die genialen Lösungsideen - sie sind allesamt wirkungslos. Denn unsere Kinder wachsen heute mit dem Selbstverständnis heran, das Recht zu haben alles zu besitzen, was ihnen gefällt, und das Recht zu haben, alles zu tun, was ihnen gefällt. Das Wort gehorchen wird zum Fremdwort.

Mit viel Aufwand, mit viel Idealismus versuchen heutige Eltern ihre Kinder ernst zu nehmen, auf sie einzugehen, sie in ihrer Eigenart zu verstehen. Was sie ernten, ist ein schnodderiges, freches Zurückmaulen. Der Macht der Kinder steht die Ohnmacht der Eltern gegenüber. Das tut weh!

Heute genügt es nicht mehr einfach lieb zu sein und für die Kinder Verständnis zu zeigen. Dieses Buch versucht auf das selbstsichere Verhalten der allzuselbstsicheren heutigen Jugend, wirksame Entgegnungen aufzuzeigen.

Zürich, im Sommer 1999

Walter PACHER

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Dank gebührt meiner Frau Margareth und meinem Schwiegersohn Willi Frey-Pacher, welche stets kritisch mitgelesen und korrigiert haben.

Besonderer Dank gebührt Silvia Jockei, welche mit unermüdlichem Einsatz das ganze Buch auf PC geschrieben hat. Durch ihr Mitdenken und mutiges Korrigieren hat sie wesentlich zum guten Gelingen beigetragen.

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1. Vorwurfslos und doch wirksam

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1.1. Brigitte und der Besuch des Chefs. Oder - Prototyp eines unangenehmen Gespräches.

1.1.1. Wozu denn Gesprächsschulung?

Wenn wir in die Ferien fahren und wir für das Gepäck keinen Platz im Auto finden, bittet der Vater: „Brigitte, bitte hole uns den Autogepäckträger aus dem Keller." -Warum sollte Brigitte den Gepäckträger nicht holen?

Wozu denn Gesprächsschulung? Doch bei folgendem Beispiel mit Mutter und Tochter

wird die Lage schon schwieriger: Die Mutter beginnt: „Brigitte, heute Abend kommt mein Chef zum Abendessen. Bitte nimm die Eisenbahnanlage aus dem Wohnzimmer und räume dein Zimmer auf." Brigitte: „Nein, morgen will ich die Eisenbahnanlage noch fertig bauen. Die muß da bleiben." - Die Mutter: „Aber das Geleise kommt direkt aus deinem Zimmer heraus durch das halbe Wohnzimmer und zudem noch dort vorbei, wo der Gast sich hinsetzen wird. Mit diesen Schienen am Boden kann ich ja deine Zimmertüre nicht zumachen. Und ich will nicht, daß mein Chef deinen Saustall sieht." -Brigitte: „Saustall, bitte sehr! Ich fühle mich wohl so, und dein Chef ist mir egal! Der macht sowieso immer nur so blöde Bemerkungen zu mir." - Die Mutter: „Werde nicht frech! Es geht schließlich um meinen Arbeitsplatz." -Brigitte: „Ich räume nicht auf, der soll unseren Saftladen nur sehen!" - Die Mutter: „Du bist eine störrische Ziege. Kann man denn mit dir kein einziges vernünftiges Wort reden?" - Brigitte: „Mit mir schon, aber mit dir nicht. Du

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hast einfach immer recht, basta!" - Die Mutter: „Was du mir da vorwirfst, stimmt überhaupt nicht! Du merkst gar nicht, wie oft ich auf dich eingehe. Und der Besuch? Da geht es ja gar nicht ums Rechthaben, sondern nur darum, daß du aufräumst!" - Brigitte: „Du wirfst ja mir immer vor, ich sei eine Egoistin und nehme auf dich keine Rücksicht. Das stimmt nämlich auch nicht! Sondern immer muß ich wegen dir auf andere Leute Rücksicht nehmen. Bei anderen Leuten lobst du mich über allen Klee, wie begabt ich wäre, wie gut ich schon Geigenspielen könne. Und wenn wir wieder alleine sind, höre ich nur Gemecker von dir." - Die Mutter: „Du bist ja wirklich eine Egoistin! Da arbeite ich für die Familie, damit wir nicht jede Mark umdrehen müssen, und du sagst schnodderig: ,Das ist mir egal.' Das Geld hast du aber noch immer genommen." - Brigitte beginnt zu weinen: „Du bist gemein! Da schiebst du mir Geld zu und sagst, damit könne ich machen, was ich wolle, und dann wirfst du mir vor, ich würde das Geld einfach nehmen!" - Die Mutter: „Ich meine es ja nur gut mit dir." - Brigitte: „Gut mit mir! Gut mit mir! Du arbeitest und bist den ganzen Tag weg, und wenn du nach Hause kommst, bist du nervös und hast immer viel zu erledigen. Für mich hast du nie Zeit. Da kommt heute irgend so ein Mann zu dir. Ihr redet den ganzen Abend über hochgescheite Dinge, und mir ist es langweilig. Und dann soll ich noch aufräumen. Nein, nie!" - Die Mutter mit fester Stimme: „Und du wirst aufräumen, sonst…" - Die Tochter, mit „frecher" Schulterbewegung: „Ja, was sonst… Sags!" - Der Mutter verschlägt es ob diesem Ton die Sprache. Sie dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet. Brigitte bleibt heulend zurück. Vor Erscheinen des Chefs räumt die Mutter dann noch schnell das Schlimmste auf die Seite. Brigitte ist zweifellos Siegerin geblieben.

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1.2. Die Mutter „in der Zwickmühle"

1.2.1. Mehr Freiheit oder eine festere Hand?

Die Mutter befindet sich in einer echten Zwickmühle, einer echten Notsituation: Denn entweder gibt sie nach, dann ist sie die Verliererin, und das Kind wird sich immer mehr herausnehmen. Oder aber die Mutter spricht ein Machtwort, dann wirft ihr die Tochter vor: „Mama, du bist einfach eine Diktatorin!" Die Kernfrage für die Mutter lautet also:

„Wie kann ich meinem Kind klare Grenzen setzen, ohne in eine dirigistische Grundhaltung zu fallen?"

Doch zuerst fragen wir uns, was ist eigentlich zwischen

Mutter und Tochter abgelaufen? Beide machen sich gegenseitig Vorwürfe. Beide schieben einander die Schuld für die verfahrene Situation zu. Beide kämpfen um die Macht. Diesen Kampf gewinnt das Kind immer. Die Eltern sind die ständigen Verlierer.

1.2.2. Formen der Vorwürfe

Der vorwurfsvolle Ton ist allgegenwärtig. Wir merken ihn schon gar nicht mehr. In der Politik strotzt es nur so von Vorwürfen. Ehepaare haben oft nur einen Ton auf ihrer Geige: den vorwurfsvollen. Stellen Sie sich einmal in ein Einkaufszentrum hinter ein Gestell, und beobachten Sie

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die Mütter/Väter mit ihren Kindern. Sie werden feststellen, daß fast jede Frau/jeder Mann den gleichen Ton hat, nämlich den vorwurfsvollen.

Und überhaupt: Von Eltern gut gemeinte Ratschläge sind oft verdeckte Vorwürfe. Kleine und große Kinder werden mit völlig sinnlosen und nervenden Sätzen traktiert, wie: „Paß aber auf!" oder: „Fahr dann nicht so schnell mit dem Fahrrad!" oder: „Du mußt es eben richtig machen!" oder: „Ich habe kalt, ziehe einen Pullover an!" All diese gut gemeinten Ratschläge, sind nur verkappte Vorwürfe in dem Sinn: Alleine kannst du das doch nicht. Ungebetene Ratschläge sind eben auch Schläge.

Eine andere Form des Vorwurfs ist der Befehl: Man lasse sich nicht täuschen! Jeder Befehl ist schließlich der Vorwurf, daß der andere nicht von selber auf die Idee kommt, dieses oder jenes zu tun.

Eine weitere Form des Vorwurfs ist das Lösungen verteilen: Anita sagt zu ihrer Mutter: „Mami, mir bläst es das ganze Papier vom Tisch." Die Mutter antwortet schlagartig: „So mach doch das Fenster zu." - Matthias sagt beim Weggehen: „Es regnet ja draußen!" Und die Mutter antwortet nahtlos: „Du kannst doch den Regenmantel anziehen." - In jedem dieser Beispiele bedeutet es: Du bist so dumm, daß ich dir das Allereinfachste sagen muß.

Eine weitere Form des Vorwurfes besteht im Schnellhilfe-Verfahren. Wenn der kleine Oskar mit der verwickelten Schnur am Schlitten kämpft, springt der Vater ein. Wenn Ursula mit dem Dreirad umfällt, wird sie von ihrer Mutti aufgestellt. Wenn das Binden der Schnürsenkel zu langsam geht, heißt es schnell: „Du bist sogar zu dumm, die eigenen Schuhe zu binden!" Und die Mutter bindet mit böser Miene unter ruckartigen Bewegungen die Schuhe, „damit wir endlich einmal fertig

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werden", wie sie sehr bestimmt sagt. Das Wort „Erziehung" bedeutet für viele Kinder nur: Verbote, Befehle, Vorwürfe und wieder Vorwürfe.

Es gibt nur eine Zerstörungskraft, die größer ist als die Atombombe:

Unsere millionenfachen Vorwürfe, die wir gedankenlos um uns herumschleudern.

Das größte aller Übel ist der Vorwurf.

1.2.3. Aufgeräumtes Zimmer - ohne Machtanwendung?

Doch die Mutter steht immer noch vor der gleichen Frage: „Wie kann ich Brigitte ohne Machtanwendung dazubringen, die Eisenbahnanlage zu verräumen und ihr Zimmer aufzuräumen?" Sehr schnell läßt man sich zu Sätzen hinreißen, wie z.B.: „Du bist selber schuld, wenn ich zum Staubsaugen deine Sachen zusammen wischen und wegräumen muß.", oder: „Dazu läßt du immer noch deine Zimmertüre sperrangelweit offen! Unser Besuch heute Abend wird sich was denken!" Beide Sätze enthalten Vorwürfe und sind nicht nur wirkungslos, sie reizen Brigitte sogar zu Widerstand. Brigitte wird ihr Zimmer nach solchen Vorwürfen nicht aufräumen! Es gibt nur einen einzigen Weg, Brigitte zum Einlenken zu bewegen:

In dem Maß, in dem die Mutter mit Brigitte vorwurfslos reden kann, in dem Maß wird Brigitte

bereit sein zum Einlenken. Liebe(r) Leserin, diesen Satz wollen Sie mir nicht so

recht abnehmen? Bitte gedulden Sie sich etwas. Nehmen Sie einfach

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vorderhand zur Kenntnis, daß ich im Laufe meines Lebens durch zahlreiche gute und schlechte Erfahrungen zu obigem Kernsatz gelangt bin.

1.2.4. Wodurch ist die schlechte Stimmung entstanden?

1. Durch die Eisenbahnanlage: Sie wurde sozusagen per Zufall so angelegt. Ohne

Besuch hätte die Mutter nichts gegen die Linienführung der Geleise gehabt. Diese ist an sich auch nicht schlecht. Auch die Idee, am anderen Tag an der Anlage weiter zu arbeiten, ist nicht verwerflich. Durch den Besuch von Mamas Chef aber wirkt die Anlage plötzlich als Störung.

2. Durch die Mutter: Sie ist nervös wegen des Besuches ihres Chefs. Sie ist in

Gedanken voll mit dem bevorstehenden Ereignis beschäftigt. Es ist ihr wichtig, heute Abend einen guten Eindruck zu hinterlassen. Deshalb empfindet die Mutter die Eisenbahnanlage als Störung und die Weigerung der Tochter als unverschämt!

3. Durch Brigitte: Sie wußte nichts von dem Besuch. Als schwächstes

Glied in der Kette der drei Personen ist es Brigitte, die weichen muß. Das ärgert sie. Deshalb bedeutet für sie der Besuch eine Störung.

Im dem obenstehenden Gespräch machen sich Mutter und Tochter gegenseitig Vorwürfe. Folge? Die Emotionen gehen hoch, und unschöne Worte fallen. Wie könnte man solches vermeiden? Hier mein Vorschlag:

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1.2.5. Auf drei zählen

Egal, um welchen Konflikt es sich handelt, es sind immer drei Faktoren, welche eine Situation schwierig machen. Deshalb: Kommen Sie in Erregung, zählen sie langsam und bestimmt auf drei. Fragen Sie sich: „Was hat zur schlechten Stimmung beigetragen? - eins, zwei, drei woran liegt es? - eins, zwei, drei." - Denken Sie an diese drei magischen Zahlen:

(l) = Raum und Zeit (2) = Situation des Kindes (Brigitte) (3) = Meine Situation Nach obiger Betrachtung können Mutter und Tochter

schon viel sachlicher und ruhiger miteinander umgehen. Denn jetzt ist beiden klar: Eine Handlung oder ein Verhalten ist selten an und für sich gut oder schlecht, es kommt auf die Umstände an.

Betrachten wir einige andere Beispiele: (1) Wenn Kinder beim Malen alles verschmieren, werde

ich die Umgebung oder den Ort ändern und zu einem Zeitpunkt malen, wo wir alleine sind (= Raum und Zeit).

(2) Wenn mein Kind Fieber hat und deswegen schlecht aufgelegt ist, kann ich sein Gejammer besser ertragen (= Situation des Kindes).

(3) Wenn ich Kopfschmerzen habe und nervös bin, werde ich dies den anderen mitteilen und mich eventuell zurückziehen (= meine Situation).

Nach solchen Überlegungen haben sich die Emotionen wieder gelegt, und es wird möglich alles ruhiger zu besprechen.

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1.3. Das tieferliegende Problem der Tochter

1.3.1. Brigittes unausgesprochenes Bedürfnis

Brigitte hat nicht nur das Bedürfnis, mit der Eisenbahn morgen weiterzuspielen, sondern sie möchte auch von ihrer Mutter als gleichwertig akzeptiert werden und nicht wie ein gut dressierter Hund gehorchen müssen. Im obigen Gespräch fühlt sie sich nicht verstanden, nicht ernst genommen und alleingelassen. Als Rache dafür legt sie sich quer, nicht nur bei der Eisenbahnanlage, sondern auch beim Zimmeraufräumen und überhaupt. Brigitte legt sich also quer, weil sie sich nicht ernst genommen fühlt. Dabei gilt die Regel:

Die Änderungsbereitschaft von Brigitte beginnt erst, wenn sie sich verstanden fühlt.

Wie aber kann die Mutter mit Brigitte ein Gespräch so vorwurfslos führen, daß sie sich ernst genommen und verstanden fühlt? Das ist möglich mit zwei Werkzeugen: „AZ und I-Bo" (AZ = Aktives Zuhören; I-Bo = Ich-Botschaft). Wie das geht, untersuchen wir im nächsten Abschnitt. Als Abschluß gilt:

1.3.2. Wirksame Rede ohne Vorwurf

Regel Nr. 1: Vorwürfe sind unwirksam und wirken blockierend. In dem Maß, in dem meine Rede

vorwurfslos ist, wird sie wirksam.

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2. Aktives Zuhören + Ich-Botschaft

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2.1. Aktives Zuhören (AZ)

2.1.1. AZ oder Verstehen bewirkt Änderungsbereitschaft

Die Behauptung steht im Raum: Je besser sich Brigitte verstanden fühlt, desto eher wird sie ihren Widerstand aufgeben. Wie erreicht man das im Alltag?

Dies geschieht durch Umschalten. Einmal Aktives Zuhören, einmal Ich-Botschaft. Beim „Aktiven Zuhören" versuche ich, die Bedürfnisse und Probleme des anderen zu erfassen, wenn möglich so prägnant, daß dem anderen seine Lage klarer wird. Das Wesentliche am AZ ist: Ganz beim anderen zu sein, ganz bei seinen Gefühlen, ganz bei seiner inneren Not. Gelingt dies, fühlt sich der andere verstanden. Dadurch wird er bereit zur Änderung. „Richtiges" AZ ist vorwurfslos und deshalb für den anderen annehmbar.

Warum ist das AZ für den Anfänger so schwer? „Alle Menschen interessieren sich für sich, nur ich interessiere mich für mich!" So könnte man das Gefühl eines Durchschnitts-Menschen überschreiben. Tatsächlich braucht das Eingehen auf den Mitmenschen mehr Energie, als die Beschäftigung mit sich selbst. Deshalb muß man die Hinwendung zum Ändern bewußt üben. Aktives Zuhören ist anstrengend. Man unternimmt ja den Versuch, hinter den unklaren, oft verschlüsselten Reden des ändern dessen eigentlichen Beweggrund herauszuhören.

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2.1.2. Ich-Botschaft oder - zu meiner Person stehen

Mit der Ich-Botschaft (I-Bo) versuche ich, dem ändern meine Bedürfnisse und meine Probleme zu erklären. Nur so kann er mich verstehen. Das Wesentliche an der I-Bo ist: Ganz bei mir zu bleiben, ganz bei meinem Bedürfnis, ganz bei meinem Problem, ohne jeden leisen Seitenhieb, ohne den anderen zurechtzuweisen. Ohne vom Anderen etwas zu erwarten. Gelingt dies, wird der andere, also auch mein Kind, mich ernst nehmen und auf meine Argumente eingehen. Eine richtige I-Bo ist vorwurfslos und deshalb für den anderen annehmbar.

Die Begriffe AZ und I-Bo haben wenig zu tun mit den Wörtchen ich und Gefühl. Wenn die Mutter sagt: „Kurt, ich habe das Gefühl, du bist müde und solltest ins Bett", so ist dieser Satz keine Ich- Botschaft, trotz der Wörtchen ich und Gefühl. Der Satz ist ein versteckter Befehl, denn die Mutter will etwas von Kurt. Er beinhaltet einen Vorwurf. Und wenn der Vater sagt: „Kurt, ich habe das Gefühl, ich muß dir gleich das Dreirad wegnehmen", so ist das nur eine schlecht verdeckte Drohung an das Kind.

Mit Aktivem Zuhören allein kann ich natürlich kein Gespräch führen. Eine Mutter kam einmal mit dem Bericht in den Kurs, ihr Versuch des vorwurfslosen Verhaltens sei kläglich gescheitert. Nachdem sie den ganzen Abend lang einfühlend aktiv zugehört hat, konterte ihr Sohn: „Mami, du redest so komisch!" Und ihr Mann hat gleich nachgedoppelt: „Wirst du langsam schwerhörig?" Viele Gespräche werden deshalb schwerfällig und unnatürlich, weil im Übereifer oft versucht wird, zu lange und zu gründlich aktiv zuzuhören. So kommt das Gespräch ins Stocken.

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Ebenso falsch ist es, nur von sich zu reden. So fühlt sich das Gegenüber nicht verstanden. Wahre Weisheit liegt im sinnvollen Wechsel zwischen AZ und I-Bo.

2.1.3. Du-Botschaft oder - Rede ohne Wirkung

Der Vollständigkeit halber muß ich noch die „Du-Botschaft" erwähnen. Ich nenne sie auch die sogenannte unwirksame Botschaft. Mit der Du-Botschaft will ich etwas vom andern: Ich will ihn ändern, er soll mir gehorchen. Er soll meinen Rat annehmen. Er soll von mir lernen.

Der Empfänger einer solchen Botschaft fühlt sich bevormundet. Deshalb leistet er Widerstand und kapselt sich ab. Jeder Änderungsversuch mißlingt.

In dem Maß, in dem ich im Gespräch mit meinem

Kind einmal ganz bei ihm bin, und dann in gleicher Weise ganz bei mir bleibe, in dem Maß fühlt sich das

Kind ernst genommen und wird änderungsbereit. Hier und da höre ich bei Eltern den Einwand, das alles

sei doch viel zu umständlich und langwierig. Dazu fehle einem doch schlicht die Zeit! Darauf sind drei Dinge zu antworten:

Tatsächlich kann man nicht den ganzen Tag in dieser Art miteinander reden. So meine ich das auch nicht. Im sogenannten konfliktfreien Bereich ist alles erlaubt. Solange meine Befehle befolgt werden, ist alles in Ordnung. Wenn aber irgendwann, irgendwie schwarze Sturmwolken aufziehen und die Spannung steigt, ist es

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von Vorteil zu wissen, wie man richtig handelt. Solange Sie, liebe(r) Leserin, mit Ihrer Methode Erfolg

haben, ist nichts gegen sie einzuwenden. Ich richte mich an jene, die mich ratlos fragen: „Warum muß ich meinen Kindern alles dreimal sagen?" oder: „Den Kindern kann man ja sagen, was man will, man kann ihnen drohen, die größten Vorträge halten: Es bleibt alles beim Alten. So kann das doch nicht weitergehen! Ich habe das ewige Anpredigen satt!"

Diese Eltern möchte ich ermutigen: Es muß wirklich nicht im gleichen Trott weitergehen. Es gibt meiner Meinung nach einen Ausweg und zwar mit dem in diesem Buch beschriebenen PACHER-Modell.

Zunächst einmal könnten Sie versuchen, zu dem chaotischen Zimmer eine andere Haltung einzunehmen. Es könnte ja sein, daß ein Künstler beim Anblick des chaotischen Zimmers von Brigitte begeistert ausruft: „Eine herrliche, kreative Unordnung! Es reizt mich gerade an den halbfertigen Puppen weiter zu machen, die da herumhängen. Ich möchte in den Körben wühlen mit den vielen Stoffresten, Lederstücken und Stricksachen spielen. Und die in den verschiedensten Farben ausgetrockneten, verstreuten Pinsel - sehen richtig malerisch aus!"

Ein solcher Versuch hat zwei Vorteile: Erstens regen Sie sich weniger auf. Sie können besser damit leben. Zweitens: In dem Moment, in dem Brigitte keinen Druck mehr von Ihnen spürt, beginnt auch bei ihr eine Sinnesänderung. Und eines Tages ist sie sauber und ordentlich.

Natürlich können Sie Brigitte mit Macht zwingen, Ordnung zu halten. Wenn sie staubsaugen, werfen Sie Farben, Stoffe und Puppen in eine Kiste und verstauen alles im Keller. Sie können ihr auch das Taschengeld

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verweigern. Sie können die Tochter in ein Internat stecken. Nur eines können sie nicht: Weil Druck immer Gegendruck erzeugt, leuchtet es Ihnen bestimmt ein, daß sie mit Druck keine Freiwilligkeit erreichen können. Und sie werden so auch nie die Zuneigung Ihrer Tochter gewinnen.

Haben Sie Geduld. Das Leben ist besser, als wir gemeinhin annehmen. Das Leben macht manches wieder gut, was wir nicht können. Das Leben ist größer, als wir Menschen. Das Leben macht keine Fehler. Bei Ihrer Brigitte ist noch manches möglich.

Haben Sie Vertrauen ins Leben. Haben sie Vertrauen in die Entwicklung ihres Kindes. Bitte lesen Sie weiter. Am Ende dieses Abschnittes wird Brigittes Zimmer erstaunlich sauber sein.

Bei genügend Übung brauchen Sie mit solchen verstehenden Gesprächen weniger Zeit, als mit jeder anderen Methode. Vor allen Dingen wiederholt sich das Streitgespräch nicht täglich.

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2.2. Brigittes Zimmer ist aufgeräumt

2.2.1. Aufräumen leicht gemacht

Wir haben nun alle Aspekte besprochen, welche dazu beitragen könnten, das leidige Problem des Aufräumens zu lösen.

In Wirklichkeit ist es in vielen Situationen ganz einfach. Reden Sie ohne Vorwürfe, und die Situation wird sich stetig bessern. Mir sind persönlich viele schwierige Situationen bekannt, welche sich nur durch eine positivere Sprache zum Besseren gewendet haben.

Nehmen Sie immer wieder einen neuen Anlauf, und versuchen Sie mit ihrem Kind möglichst vorwurfslos zu reden. Das Resultat wird Sie erstaunen! Das Handwerkzeug dazu kennen Sie jetzt: Es sind dies AZ und I-Bo. Also abwechslungsweise mit AZ ganz bei Brigitte und mit I-Bo ganz bei sich selber sein. Und so immer hin und her. Wie ein solches Gespräch in der Praxis aussehen könnte, will ich hier notieren. Mir ist klar, daß das folgende Gespräch in Wirklichkeit nicht so „schlank" ablaufen wird. Es ist auch nur ein Beispiel für eine vorwurfslose Rede. Ich beginne bewußt mit den gleichen Sätzen, wie oben:

2.2.2. Brigitte lenkt ein - oder „das wirksame Gespräch"

Die Mutter sagt zu ihrer Tochter: „Brigitte, heute Abend kommt mein Chef zum Abendessen. Bitte, nimm die Eisenbahnanlage aus dem Wohnzimmer und räume dein

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Zimmer auf." - Brigitte: „Nein, morgen will ich die Eisenbahn noch fertigbauen, die muß da bleiben." - Die Mutter: „Aber die Geleise gehen ja direkt vor dem Sessel durch, wo der Gast sich hinsetzten wird." - Brigitte, schon leicht gereizt: „Dein Chef ist mir egal, der macht sowieso immer nur blöde Bemerkungen zu mir."

Die Mutter will schon sagen: „Jetzt werde bloß nicht frech!" Doch sie besinnt sich auf das soeben Gelesene sagt: „Irgendwie paßt dir der Besuch heute Abend nicht." - Brigitte: „Ganz und gar nicht! Ihr redet den ganzen Abend hochgescheite Sachen und ich bin nirgends mehr." - Die Mutter: „Du hast das Gefühl, mir sei der Chef wichtiger als Du." - Brigitte: „Ja, ganz genau." -Die Mutter: „So, wie du das sagst, fühlst du dich von mir einfach auf die Seite geschoben. Deine Äußerung trifft mich sehr. Denn einerseits bist du für mich zusammen mit Papa die wichtigste Person auf der Welt. Andererseits ist es mir wichtig, daß der Chef einen guten Eindruck von uns allen bekommt." - Brigitte: „Mich macht es einfach wild. Dem Besuch erzählst du immer ich sei die liebste, die gescheiteste, die gut Geige spielt und was weiß ich. Und kaum sind wir alleine, fängt deine Meckerei wieder an." - Die Mutter: „Du meinst, wenn ich weniger reklamieren würde, wärest du auch umgänglicher." - Brigitte: „Ja, ganz genau! Ich möchte es doch mit dir schön haben. Aber so, wenn ich die ganze Zeit herumkommandiert werde, wie ein 4jähriges Kind, stinkt es mir grausam!" - Die Mutter: „Also gut, ich bin jetzt freundlich zu dir, und dafür räumst du auf."

Pause Brigitte: „Nein, nicht so schnell. Ich weiß ja nicht, ob du

morgen nicht wieder schimpfst mit mir." - Die Mutter: „Du hast in dieser Sache kein Vertrauen zu mir." - Brigitte: „Ja, wirklich nicht!" - Die Mutter erschrocken:

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„Das ist aber schlimm für mich! Du bist „bockig" und räumst nicht auf, weil du von mir enttäuscht bist. Und ich schimpfe mit dir, weil du „bockig" bist. Da beißt sich ja die Katze in den Schwanz (= Teufelskreis). In dem Fall müßten wir irgendetwas herausfinden, daß du deine Eisenbahnanlage nicht abreißen mußt und der Besuch trotzdem dein unordentliches Zimmer nicht sieht." - Die Tochter hebt fragend die Schultern.

2.2.3. Ein Brainstorming

Die Mutter holt Papier und Bleistift und sagt: „Wir schreiben jetzt einmal auf, was wir beide machen könnten, daß du die Eisenbahnanlage aufgebaut lassen kannst und der Gast nicht in dein Zimmer hineinsehen kann.

Nach einer halben Stunde steht folgendes auf dem Papier:

- Brigitte nimmt nur die Teile bei der Türschwelle und beim Sofa weg. Alles andere bleibt, wo es ist.

- Wir hängen eine große Decke an die Türe von Brigittes Zimmer, so daß der Besuch nicht ins Zimmer sehen kann und die Eisenbahn doch unten durch fahren kann.

- Wir lassen alles sein und erklären dem Besuch: „Brigitte hatte keine Zeit zum Aufräumen gehabt, weil sie die ganze Anlage aufgebaut hat." - Wir schieben die Sitzgelegenheit für den Besuch zur Seite an einen Ort, wo der Besuch die Anlage auf dem Teppich gut besehen kann. Dieser letzte Vorschlag hat bei Brigitte so eingeschlagen, daß die beiden „Frauen" die Umplatzierung der Sessel gleich in Angriff genommen haben. Dann sagte die

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Mutter: „Jetzt gehe ich noch einkaufen für heute Abend. Du kommst ja schon alleine zurecht."

Als die Mutter wieder nach Hause kommt, gehen die Schienen zwar immer noch in Brigittes Zimmer. Dieses aber ist aufgeräumt. Für die Eisenbahnanlage bekam Brigitte vom Besuch ein Lob.

Warum hatte dieses Gespräch eine solch positive Wirkung?

2.2.4. Änderungsbereitschaft durch AZ

Regel Nr. 2: Die Änderungsbereitschaft beginnt erst, wenn sich das Kind verstanden fühlt

Es fühlt sich verstanden, wenn ich mit AZ seine Gefühlslage erfaßt habe.

Das unwiderstehliche Rülpsen Die ganze Familie, bestehend aus Vater, Mutter und den beiden Söhnen Max und Moritz, 11 - und 12jährig, machen einen Sonntagsausflug. Sie kehren in einem Gartenrestaurant zum Mittagessen ein. Bis das Essen kommt, trinken die beiden Buben noch eine kalte Limonade. Davon bekommt Moritz das Rülpsen.

Max tut's ihm gleich, beide müssen lachen und wiederholen das Kunststück. Die Eltern bitten: „Hört auf!" Das aber ist nicht so einfach. Der eine muß einfach rülpsen. Der andere macht’s ihm nach. Alle müssen lachen. Die Eltern noch einmal: „Bitte hört jetzt auf!" Es gelingt nicht. Die Kinder können nicht aufhören zu lachen.

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Die Eltern versuchen jetzt ein sog. „vorwurfsloses Gespräch", welches ihnen nicht so ganz gelingt (verdeckte Vorwürfe): Vater: „Hört mal, Max und Moritz, wir haben ja Verständnis für eure Rülpserei, aber in einem Restaurant macht man das einfach nicht." (Verkappte Du-Bo) ein Moment Ruhe, dann geht die Kicherei wieder weiter. Vater nimmt einen zweiten Anlauf: „Einerseits ist es uns wichtig, daß für euch der Sonntag auch angenehm sein soll, aber ein bißchen muß man sich im Leben schon anpassen." (Verkappte Du-Bo) Daraufhin schwenken die Kinder auf Konfrontation ein. Sie sagen: „Aber in China darf man rülpsen!" Vater: „Wir sind aber nicht in China!" (Du-Bo) Moritz: „Dafür kann ich nichts!" Vater versucht den Ausspruch weise zu ignorieren und sagt: „Wir möchten euch ja nicht vom Mittagessen ausschließen, aber…" (Verkappte Du-Bo) Max: „So lange ich nichts Warmes in den Magen bekomme, rülpst es bei mir immer weiter. Die Kicherei nimmt wieder zu. Es ist sooooo lustig. Immer mehr Gäste drehen sich nach dem Tisch um. Die Eltern fühlen sich machtlos. Da reißt dem Vater die Geduld. Er sagt mit fester, harter Stimme: „Jetzt ist sofort Ruhe, sonst krachts!"

Die Rülpserei ist wirklich schlagartig weg. Die gute Stimmung aber auch. Der Rest ist ein langweiliges Mittagessen ohne Gerülpse, aber mit Genörgel.

Info Bedürfnisse der Kinder: Sie möchten einen vergnügten Sonntag verbringen,

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miteinander etwas tun. Sie haben Spaß am Rülpsen. Das ist sooooo lustig. Keine Rücksicht auf andere nehmen zu müssen, einmal ganz ausgelassen sein, frei sein, um zu machen, was ihnen gerade einfällt.

Bedürfnisse der Eltern: Sie möchten mit der ganzen Familie etwas unternehmen.

Sie wünschen sich einen gemütlichen Sonntagsausflug mit gemütlichem Mittagessen. Gerne würden sie auch mitlachen wegen der Rülpserei.

Doch wegen der Gesellschaft wünschen sie, daß sich die Kinder anständig benehmen und sie nicht als schlechte Erzieher dastehen.

Sie möchten sich nicht vor den anderen Gästen blamieren, sondern als eine intakte Familie wirken, einmal Zeit haben und einmal reden, was sie interessiert. Welche Möglichkeiten gäbe es denn, das Rülpsen abzustellen, ohne die gute Stimmung zu verlieren?

Positives Beispiel Der Vater sagt: „Hört mal Kinder, wir sind euch in

keiner Weise böse. Uns aber ist die Situation so peinlich, daß wir handeln müssen: Habt ihr eine Idee?" Schweigen. Vater: „Ich habe eine. Mami bleibt mit Max hier sitzen. Ich setze mich mit Moritz auf die andere Seite des Restaurants hinter das Haus, so daß wir uns nicht mehr sehen. Wenn das Essen kommt, sitzen wir dann wieder zusammen. Was meint ihr dazu? - Gesagt, getan. Das „Rülpsen" und „Kichern" war weg, die gute Stimmung ist geblieben.

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3. Bedürfnisse fordern ihr Recht

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3.1. Mit Kanonen auf Spatzen schießen

3.1.1. Struppige Haare und der Rechtsanwalt

Ein kleines Städtchen, weitab der großen Welt. Der Rechtsanwalt des Ortes hat einen 17jährigen Sohn. Seit einiger Zeit fällt Manuel etwas aus dem üblichen Rahmen. Er trägt seine Haare in „knalligen" Farben, kauft sich neue Bluejeans, aber solche mit Rissen und teure Cowboystiefel mit hohen Absätzen. Der Vater versteht die Welt nicht mehr. Er versucht mit seinem Sohn ein nicht gerade glückliches Gespräch:

Der Vater: „Was ist denn mit dir los? Bist du nicht mehr ganz normal! Du siehst ja aus wie eine schlechte Mischung zwischen einen Seeräuber und einem Mädchen." -Manuel: „Was willst du von mir? Ich bin alt genug, um mich kleiden zu können, wie ich will." - Der Vater: „Wenn du Erfolg im Leben haben willst, mußt du dich nach den Gepflogenheiten des Landes richten. Wir sind doch keine Plattfußindianer! Wir sind Mitteleuropäer!" - Manuel: „Was hast du gegen Indianer? Das sind auch Menschen, du mit deinem Standesdünkel!" - Der Vater: „Wir haben unsere europäische Kultur geschaffen, und diese gilt es zu bewahren!" - Manuel: „So tief werde ich nie sinken! Jeder umweltbewußte Mensch muß gegen eure Ausbeutermentalität protestieren." - Der Vater: „Werde nur nicht frech! Von dem verstehst du nichts! Zieh dich gefälligst anständig an, das ist gescheiter." -Mehrere, teils harte, unerfreuliche Gespräche zwischen Vater und Sohn konnten Manuel nicht bewegen,

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sich anders zu kleiden. Als Rechtsanwalt in diesem Städtchen, wo jeder jeden kennt, ist dies für den Vater peinlich, sehr peinlich einen so extrem auffälligen Sohn zu haben. Woran mag die Hartnäckigkeit des Sohnes liegen? Warum konnten sich die beiden Männer nicht finden? Warum wurde die Konfrontation immer härter?

3.1.2. Sagen, was ich denke oder was ich fühle?

In ihren Gesprächen ist keiner der beiden Männer mit sich selbst kongruent (mit sich übereinstimmend). Anstatt ihre berechtigten Bedürfnisse beim Namen zu nennen und sich ihre Gefühle gegenseitig zu sagen, schießen sie mit Kanonen auf Spatzen. Sie bemühen die höchsten Wertvorstellungen völkischer Kulturen, um über Kleidung zu streiten. In Wirklichkeit geht es den beiden um handfeste Bedürfnisse, welche bei beiden nicht (mehr) abgedeckt sind:

3.1.3. Bedürfnis des Vaters

Der Vater interessiert sich keineswegs für die spezielle Aufmachung seines Sohnes. Viel näher liegt ihm, daß sein Ruf bei seinen Kollegen angeschlagen ist. So aber hat der Vater ganze Weltanschauungen mißbraucht, um seinen Sohn zu bewegen, sich anders zu kleiden.

3.1.4. Bedürfnis des Sohnes

Der Sohn interessiert sich noch viel weniger für die Aus-

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beutermentalität der europäischen Geschäftswelt. Auch die peinliche Situation des Vaters bemerkt der Sohn nicht. Der Sohn hat nur ein Bedürfnis vor Augen, sich von seinem übermächtigen Vater bewußt zu distanzieren/lösen und das Gefühl zu haben, bei seinen Kollegen dazuzugehören.

Verwunderlich ist nun, daß man auch bei völlig anderen Themen und abstrakten Werten wie Demokratie, Religion oder Moral ebenfalls ganz gehörig ins Streiten geraten kann. Woher mag das rühren? Warum will eigentlich der eine Mensch den anderen Menschen von gewissen Ansichten überzeugen, wie Modeströmung, Musik, Kunst? Er kann ja aus dem Ergebnis für sich keine Vorteile gewinnen.

Die Antwort ist einfach: Hinter jeder Verteidigung eines Wertes verbirgt sich insgeheim ein persönliches Bedürfnis, welches man befürchtet, nicht mehr befriedigen zu können.

Parallel zum vordergründigen, vom Verstand geprägten Wertkonflikt besteht ein tiefgründiger, verdeckter, vom Gefühl geprägter Bedürfniskonflikt. So lange also der gefühlsmäßige Bedürfniskonflikt nicht besprochen worden ist, wird sich im verstandesmäßigen Wertbereich nichts bewegen/verändern.

3.1.5. Bedürfniskonflikte oder Wertkonflikte

Unter Bedürfnis verstehe ich: starke Gefühle, wie Zugehörigkeit, Sicherheit, Geborgenheit, Beliebtheit, Erfolg, Selbstverwirklichung, Freiheit, Verstanden werden oder Ansehen.

Unter Werten und Wertvorstellungen verstehe ich

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Meinungen, Regeln und Grundsätze, die ich als gut und sinnvoll ansehe, weil sie das Zusammenleben beeinflussen. Früher waren solche Werte fest und beständig. Sie tönten z.B. so:

Sie kamen in Redewendungen zu tragen, wie: „Kleider machen Leute"; „Morgenstund' hat Gold im Mund"; „Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht"; „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß essen, was übrig bleibt"; etc.

Zu den Wertvorstellungen gehören auch die sogenannten „Man-Sätze", wie: „Mit vollem Mund spricht man nicht."; „So etwas tut man, als anständiges Mädchen nicht."; „Den Teller ißt man leer."; etc. oder Aussagen, wie: „Ein rechter Junge weint nicht."; „Ein Mädchen spielt mit Puppen und nicht mit Autos." - Später bei erwachsenen Kinder lauten die Sätze: „Du bist ein Mann und willst Kindergärtner werden? Das ist doch ein Frauenberuf!"; „Du kannst doch als Frau nicht Automechaniker(in) werden? Das ist doch ein Männerberuf!"

Tieferliegende Grundsätze können Gedanken zu Themen, wie: Demokratie, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Recht auf Leben etc. sein. In der heutigen Zeit sind Werte und Wertvorstellungen einem ständigen Wandel unterworfen, was die Erziehung nicht einfacher macht. Da nun die ganz persönlichen Bedürfnisse bei beiden Männern nicht genügend abgedeckt sind, argumentieren sie mit Wertvorstellungen, in der Meinung, ein stärkeres Druckmittel zu haben, um damit zu seinen persönlichen Bedürfnissen zu gelangen.

Solange nun über diese unterschwelligen Bedürfnisse auf beiden Seiten nicht offen geredet werden kann, bewirken Wertargumente nur Verhärtung.

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Nun ist es für die Eltern legitim und sinnvoll, ihren Kindern Wertvorstellungen zu vermitteln. Die Frage ist nur wie und welche? - Wie kann ich die Wertvorstellungen meines Kindes beeinflussen, ohne es zu bevormunden?

Kleine und große Konflikte sind goldene Gelegenheiten, mit seinem Kind in ein aufbauendes

Gespräch zu kommen. Das nun folgende Gespräch versucht eine Antwort zu

geben:

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3.2. Die Änderungsbereitschaft beginnt

3.2.1. Ein wirksames Gespräch

Mit Absicht beginnt das hier folgende Gespräch gleich wie das erste: Ein kleines Städtchen, weitab der großen Welt. Der Rechtsanwalt des Ortes hat einen 17jährigen Sohn. Seit einiger Zeit fällt Manuel etwas aus dem üblichen Rahmen. Er beginnt sich die Haare wild zu färben, kauft sich neue Bluejeans, aber solche mit Rissen und teure Cowboystiefel mit hohen Absätzen. Der Vater versteht die Welt nicht mehr. Trotzdem versucht er mit seinem Sohn ein Gespräch in verstehender Grundhaltung zu führen.

Der Vater: „Was ist denn mit dir los? Bis du nicht mehr ganz normal! Du siehst ja aus wie eine schlechte Mischung zwischen einen Seeräuber und einem Mädchen." - Manuel: „Was willst du von mir? Ich bin alt genug, um mich kleiden zu können, wie ich will." - Der Vater: In Gedanken bereits mit einem Angriff beschäftigt, besinnt sich auf das PACHER-Buch und sagt gelassen: „Das ist nur allzu wahr. Ich muß mich erst daran gewöhnen, daß mein Sohn bald „erwachsen" ist." - Manuel: „Genau! Es ist höchste Zeit, daß du das kapierst!" Der Vater (denkt schon wieder an Verteidigung; er entschließt sich aber für ein AZ): „So, wie du das sagst, gehe ich dir schon seit einiger Zeit ganz schön auf den Wecker." - Manuel: „Ganz genau! Ich bin kein 1jähriges Kind mehr, welches sich so anziehen muß, wie die Mutter will." - Der Vater: „Aha, und jetzt bist du 17 Jahre alt, und nun komme auch noch ich und sage, wie du dich anziehen sollst." - Manuel: „Ja, ganz genau!" - Der Vater: „Du hast

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das Bedürfnis, dich endlich so anzuziehen, wie deine Kollegen, denn in deinem Verein, willst du gut ankommen." - Manuel: „Ja, ganz genau, jetzt hast du's endlich kapiert!" - Der Vater: „Okay, ich hab's endlich kapiert. Jetzt weiß ich, was du willst. Aber das ist genau die eine Hälfte. Die andere Hälfte bin ich: Ich habe nämlich auch ein Bedürfnis, nämlich das Bedürfnis, bei meinen Berufskollegen gut anzukommen und als guter Familienvater zu gelten." - Manuel: „Und ihr gescheiten Leute meint, das liege an der Kleidung." - Der Vater: „Natürlich nicht. Ich sage auch nicht, daß ich Recht hätte. Ich weiß nur, wenn wir auf der Straße einem meiner Anwaltskollegen begegnen würden, hätte ich schlagartig das Bedürfnis senkrecht in den Erdboden zu versinken. Oder positiv gesagt: Es ist einfach mein Bedürfnis mir einfach ganz wichtig, daß die anderen gut denken von mir."

Und nach einer Atempause: „Schließlich geht es um meinen Arbeitsplatz. Ich nehme schon genügend Unannehmlichkeiten auf mich, nur um die Stelle halten zu können, unter anderem auch den Krawattenzwang und die Auflage, immer schön gekleidet daherzukommen. Heute ist man schnell weg vom Fenster. Und ich getraue mir nicht vorzustellen, wie es dann mit unserer Familie weiter gehen würde, wenn ich plötzlich ohne Job wäre. Da nehme ich eben den Krawattenzwang und die steifen Umgangsformen dieser Herren auf mich." - Pause – Der Vater spricht weiter: „Ich bin da in einer echten Notlage. Mein Problem heißt: Einerseits würde ich mich auch gerne salopper kleiden, und einerseits sollst du herum laufen können, wie es dir gefällt. Anderseits habe ich Angst, ich könnte wegen „unpassender/unerwünschter" Aufmachung meine Stelle verlieren. Deshalb passe ich mich an. Und ich hätte gerne, du würdest dich auch anpassen."

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Manuel: „Und hoffentlich erkennst du jetzt auch mein Bedürfnis. Ich bin auch in einer Notlage. Ich bin es eben satt, von dir immer ferngesteuert und herumkommandiert zu werden. Ich kann ja nicht ewig Kind bleiben. Und ich habe auch Angst, meine Kollegen im Verein würden sich totlachen, wenn ich mit einer Krawatte daher käme. Darum muß ich mich von dir absetzen." - Der Vater: „Und du meinst, dazu eignen sich am besten Kleider. Da sehen es alle." - Manuel: „Ja genau!" - Der Vater: „Dann stecken wir ja beide in der gleichen Notlage." Mit diesem Satz stellt sich Vater auf die gleiche Ebene, wie sein Sohn. In der Folge hat es der Vater wirklich fertig gebracht, in den folgenden Gesprächen keine Vorwürfe mehr zu machen. Und deshalb ging das Gespräch irgendwann wie folgt weiter: Der Vater: „Dein Problem lautet also: Einerseits möchtest du ja mit mir gut auskommen (positiv), und einerseits würdest du dich nicht so extrem gegen mich stellen, wenn wir beide keine Spannungen miteinander hätten. Andererseits bist du entschlossen, dich äußerlich und innerlich von mir abzusetzen/lösen. Denn du möchtest endlich als erwachsener Mensch dein eigenes Leben leben."

Mein Problem hingegen lautet: „Einerseits bin ich ein liberaler Typ. Eigentlich habe ich die Haltung: leben und leben lassen, egal, was da komme. Anderseits aber meine ich, ich müsse bei Hitze und Kälte eine Krawatte tragen, nur damit mich meine Kollegen akzeptieren und weil ich Angst habe, ich würde an Ansehen verlieren. Auch denke ich, ich müsse mich den Gepflogenheiten anpassen. Und das alles, um meine Stelle nicht zu verlieren und um ein gesichertes Einkommen zu haben. - Da stellt sich doch wirklich die Frage: Was können wir beide tun, damit du dich so anziehen kannst, wie es dir gefällt, und ich das

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ungute Gefühl verlieren kann, bei meinen Kollegen schief angesehen zu werden? Hast du eine Idee?"

Pause. Es kam keine Idee. In diesem speziellen Fall ging es so weiter: In den

folgenden Tagen wurde dieses Thema nicht mehr berührt. Jedoch begann Manuel, sich langsam, aber stetig „angepaßter" zu verhalten. Schließlich hatte der Sohn zwei Garderoben im Kasten hängen: a) seine eigenen Punker-Kleider und b) die sogenannte Vater-Garderobe. Mit jedem weiteren Schritt der Abnabelung wurde das Verhältnis der beiden Männer besser.

3.2.2. Über seine Bedürfnisse sprechen

Besonders in der Kinderziehung ist das geduldige Besprechen von offenen und verborgenen Bedürfnissen nötig. Sie eignen sich vorzüglich dazu, mit seinen Kindern über Sinn und Wert des Lebens nachzudenken. Geht man in einer Familie solchen schwierigen Gesprächen aus dem Weg, wird man je länger desto mehr im Familienkreis nur noch über banale, ungefährliche Dinge sprechen. Die Kinder spüren dies sofort und werden entsprechend farblos, indifferent. Ein böses Erwachen ist die unausbleibliche Folge, wenn die Kinder sich plötzlich von den Eltern abwenden und ihre eigenen Wege gehen.

3.2.3. Bedürfnisse erfahren

Wenn ich mein Kind frage, wie es ihm jetzt gehe, womit es sich beschäftige, kommen abweisende Antworten, oder es läuft mir einfach davon.

Wie aber öffnet sich mein Kind, so daß ich solche

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Gespräche mit ihm führen kann. Sehr oft halten sich die Kinder einfach die Ohren zu, wenn ich schon einen positiven Anlauf genommen habe. Was ist denn da zu machen?

Auf Grund meiner Erfahrung getraue ich mir folgendes zu sagen: Mein Kind redet erst dann über seine inneren Gefühle und Bedürfnisse, wenn es absolut sicher ist im folgenden Gespräch keine Vorwürfe zu bekommen. Das ist eine schwere Aufgabe, welche die meisten Erwachsenen üben müssen. Eines gilt als sicher: Das mißlungene Velorennen - oder - muß denn Fluchen sein? Der Kay und der Winni veranstalten auf einem asphaltierten Feldweg ein privates Velo-Rennen zu zweit. Sie fahren nebeneinander. Eine Rechtskurve ist für den rechtsfahrenden Winni zu schnell. Es drückt ihn nach links, und er verfängt sich mit Kay. Schneller, als man sie sehen kann, liegen beide am Boden. Beide müssen ihre Vehikel nach Hause tragen. Als die Eltern von Kay ihrem angeschlagenen Hobby-Rennfahrer gegenüberstehen, beginnt dieser wie aus der Kanone geschossen: „Der Winni, der ist dann ein huren verd… A…! Der kann doch nicht Velo fahren! Der Scheißkerl hat ja Angst, in die Kurve zu liegen. Der Schafs… Fährt der mir in die Seite rein, einfach so! Der Angsthase, der - der Kompanietrottel vom Dienst!"

Nachdem Kay seinen diesbezüglichen, schon ordentlich großen Wortschatz verschossen hat, sagt Vater: „Du bist jetzt sofort still. Bei uns wird nicht geflucht!" Kay: „Da kann ich doch nichts dafür, daß der ein so huren verd… A… ist." Vater: „Still, oder sonst fängst du eine. Bei uns

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wird nicht geflucht. Verstehst du!" Für Kays Eltern steht es außer Diskussion. Fluchen liegt unter ihrer Würde. Deshalb finden sie ihren Befehl gerechtfertigt: Bei uns wird nicht geflucht! Und sie bestimmen: Für jeden Fluch geht ein 20ziger in die Familienkasse. Doch bei aller Härte bleibt die Wirkung gleich Null. Der Trick mit der Familienkasse hat auch nicht funktioniert. Im Gegenteil. Kay wird bei seinen Kollegen der reinste Flucher-Held, für die Eltern völlig unerklärbar. Sie können sich einfach nicht erklären, was den Jungen zu dieser Flucherei so reizt. Sie sagen mir: „Was soll man da denn machen? Wir werden hart bleiben müssen und wenn wir dem Jungen das Fluchen rausprügeln müssen." Erfolg? Kay übt sich weiter im Fluchen, allerdings nur, wenn es die Eltern nicht hören. INFO Kai möchte blindlings drauflosfluchen - auf keinen Rücksicht nehmen müssen - seiner Wut Luft zu machen - jetzt Widerstand spüren, um angreifen können den Moment der Stärke auskosten - sich stärker als die andern fühlen - allen zu zeigen: Ich kann es besser! -Den andern klein zu machen, dadurch wird er größer als Mutiger dazustehen (z. B. bei seinen Eltern) - den Moment der Stärke auszukosten - sich stärker, wie die andern zu fühlen. - Im Gefühl der Stärke herumkommandieren - den andern beschuldigen, um nicht selber schuld zu sein. - Das alles tut ja so wohl! Für Kai heißt im Moment der Sinn des Lebens: „Ich bin jetzt stark!"

Darum nicht das Fluchen verbieten, sondern über „wahre Stärke" reden.

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Positives Beispiel Wie könnte so ein Gespräch positiv ablaufen?

Steigen wir irgendwo in das Gespräch ein: Die Eltern von Kay hören geduldig zu, bis Kay seinen bereits be-achtlich großen einschlägigen Wortschatz verschossen hat. Nun versucht Vater, die Bedürfnisse von Kay zu erfassen.

Vater sagt: „Du hast aber eine schöne Wut im Bauch. Kay: „Und was für eine!" Vater: „Wenn du auf der inneren Seite gefahren wärest, du hättest die Kurve bekommen." Kay: „Natürlich, spielend! Deshalb mußte ich Winni doch zusammensch… Winni macht mein Velo kaputt, und ich soll noch freundlich zu ihm sein? Nie! Dem mußte ich es sagen, aber richtig!" Vater: „Die Flucherei hat dir richtig gut getan. So konntest du deiner Wut richtig Luft machen." Kay: „Ja genau." Vater: „Und jetzt ist dir wieder wohler." Kay: „Richtig." Vater: „Für dich ist Fluchen megagut." Auf diesen komischen Spruch weiß Kay nicht genau, was er sagen soll. Nun schaltet sich Mutter ein: „Wie dir zumute war, können wir jetzt verstehen. Das ist aber genau die Hälfte der Situation. Die andere Hälfte sind meine Gefühle: Mir tut das Fluchen in den Ohren weh. Ich mag solche Wörter einfach nicht hören. (Bedürfnis) Wenn ich mir vorstelle, daß du auch bei anderen Gelegenheiten so fluchst und alle hören das, denken die Leute, was ist das für eine Familie? Dann schäme ich mich fürchterlich und möchte mit niemandem mehr reden. (Bedürfnis) Zudem bin ich folgender Überzeugung: Wenn ich den anderen schlecht mache und verfluche, wird er mir den Fluch irgendwann zurückzahlen." (Wertvorstellung)

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Vater ergänzt: „Ich bin obendrauf der Meinung: Es wird am meisten von den Leuten geflucht, die keinen Beruf haben, die auf dem Bau arbeiten, die immer folgen müssen. In ihren Biertisch-Diskussionen können sie mit Fluchen alle großen Leute durch den Kakao ziehen und erklären, wie blöd alle zusammen sind. In ihrer Vorstellung werden die Politiker ganz klein, und die Arbeiter fühlen sich wenigstens beim Fluchen stark und gescheit. Je blöder die andern, desto gescheiter sind sie. Weiter bin ich der Meinung: Je selbstsicherer ein Mensch ist, desto weniger hat er es nötig zu fluchen." (Wertvorstellung)

Pause. Mutter schließt das Gespräch salomonisch ab: „So oder

so, mir ist es einfach wohler bei Menschen, die nicht fluchen." (Bedürfnis)

Alle bleiben gemütlich sitzen und wenden sich den kaputten Velos zu.

Mein Kind wird mich akzeptieren und ernst nehmen, wenn es spürt, daß ich sein innerstes Bedürfnis erfaßt

und ihm dieses einfach und klar sagen konnte. Es gilt natürlich auch das Umgekehrte: Mein Kind

wird mich erst akzeptieren und ernst nehmen, wenn ich ihm mein Bedürfnis und meine Gefühlslage

verständlich erklären kann.

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3.3. Drei Grundbedürfnisse drei Grundprobleme

3.3.1. Das echte Bedürfnis schnell und sicher finden

Bei längerer Beschäftigung mit dieser Frage zeigt es sich, daß es eigentlich nur drei Grundbedürfnisse gibt, und Kinder werden in dem Maße weniger Widerstand gegen unsere Wünsche, Befehle und Absichten hegen, je besser diese drei Grundbedürfnisse abgedeckt sind. Sie heißen: Freiheit, Gerechtigkeit, Annahme. Diese drei Grundbedürfnisse jedes Menschen und im Besonderen auch jedes Kindes sind auf folgender Tafel dargestellt. Sie sind mit Absicht als Gefühle beschrieben, denn es ist nicht relevant, ob ein Kind objektiv Freiheit hat oder objektiv gerecht behandelt wird oder objektiv angenommen wird. Was einzig gilt, ist sein subjektives Gefühl frei zu sein, sein subjektives Gefühl gerecht behandelt zu werden und angenommen zu sein. Was einzig zählt, ist die Stimmung, in der das Kind lebt.

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Die drei Grundbedürfnisse

3.3.2. Die drei Bedürfnisse, die jeder Mensch hat

Werden diese drei Bedürfnisse nicht bis zu einem gewissen Grad abgedeckt, so werden aus diesen drei Grundbedürfnissen drei Grundprobleme. Dann sieht es so aus:

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Die drei Grundprobleme

3.3.3. Die drei Grundprobleme

Im PACHER-Modell steht ein Mensch vor einem Problem, wenn er sich mindestens zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten entscheiden muß. Zum Beispiel bei „Freiheit/Macht": Will ich meine Freiheit in Gesprächen abklären, oder wende ich einfach Macht an? -Mit dem Wort Problem werden wir uns noch später beschäftigen. Doch bleiben wir vorerst einmal bei den Bedürfnissen.

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3.3.4. Grundbedürfnis 1 : Freiheit

Freiheit ist ein großes Wort. Jeder Mensch will frei sein. Besonders Kinder drängen nach Freiheit. Doch wie sicher können Kinder schon mit Freiheit umgehen? Ein Kind, ja jeder Mensch nimmt sehr viel Beschwerlichkeit für seine persönliche Freiheit auf sich. Ein Kind verzichtet auf Essen, - erduldet Strafen; ja, es lügt sogar für seine Freiheit. Wie sollen Eltern damit umgehen?

Einerseits sind Eltern ja bereit, ihrem Kind die nötige Freiheit und Selbständigkeit zuzugestehen. Denn es ist ihnen klar: Als ein Individuum mit einem freien Willen steht dem Kind das Recht auf seine persönliche Freiheit existentiell zu. - Andererseits sind Kinder oft nicht in der Lage die Tragweite ihres Handelns abzuschätzen.

Wo aber liegt die Grenze zwischen verantwortungsbewußter Führung und Mißbrauch elterlicher Macht? Wie stelle ich mich persönlich zu Strafe, zu Verboten, zu Entzug von Taschengeld, kurz: Wie stelle ich mich zu Entzug von Freiheit?

In einem Familienklima der persönlichen Verantwortung und Toleranz wächst ein Kind automatisch in den Gebrauch seiner Freiheit hinein. Es lernt mit Freiheit positiv umzugehen. Denn in einem Familienklima des Vertrauens und der Verantwortung lernt das Kind von selbst, daß jede Freiheit ihre Grenzen hat. Meine Freiheit endet nämlich dort, wo die des ändern beginnt. Es gilt nun auch für das Kind, diese Trennlinie zu finden und anzuerkennen.

Freiheit und Macht sind wohl die schwierigsten Gegensätze, mit denen sich auch schon die Kinder auseinander setzen müssen, um später als Erwachsener in eigener Verantwortung ein Leben in Freiheit meistern zu

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können. Schlußfolgerung 1: Fühlt sich ein Kind ständig kontrolliert und eingeengt,

wird ihm also seine persönliche Freiheit nicht zugestanden, reagiert es entweder mit passivem Widerstand oder mit übermäßigem Freiheitsdrang. So wird sein unverzichtbares Grundbedürfnis zu seinem Grundproblem: „Das Kind gewöhnt sich an, sich seine Freiheit mit Macht zu holen."

3.3.5. Grundbedürfnis 2: Gerechtigkeit

Der Mensch ist bereit, viel Geld und Zeit einzusetzen, nur für das Gefühl, gerecht behandelt zu werden. Auch ein Kind hat das starke Bedürfnis, nicht ungerecht beschuldigt zu werden.

Viele Menschen hören das Wort Schuld nicht gerne. Wir sind aber täglich, ja stündlich mit dem Gespenst der Beschuldigung umgeben. Allzu gerecht sein zu wollen, erzeugt immer aufs neue ungerechte Beschuldigungen. Jedoch in einem Familienumfeld von Verstehen und Vergeben lernt ein Kind, mit Ungerechtigkeit positiv umzugehen.

Das Schlimmste ist wohl das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Kinder sagen sehr schnell: „Ich bin nicht schuld, der andere ist schuld" etc. Wie gehen wir Eltern damit um?

Schlußfolgerung 2: Fühlt sich ein Kind in der Familie unverstanden, nicht

ernst genommen, fühlt es sich sozusagen im Wege stehend, dann sucht es sich ein Opfer, einen Schuldigen.

Das Kind entwickelt einen Beschuldigungsdrang für

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alles und jeden. Es entsteht ein Drang zur Rache. So wird sein legitimes Grundbedürfnis nach

Gerechtigkeit zu seinem Grundproblem: „Das Gefühl von Ungerechtigkeit, bewirkt einen unablässigen Beschuldigungsdrang."

3.3.6. Grundbedürfnis 3: Annahme

Das stärkste Bedürfnis jedes Kindes ist wohl das Gefühl, sich verstanden zu wissen. Ein Kind tut die unglaub-lichsten Dinge nur für das Gefühl, von seinen Eltern beachtet, geachtet und ernst genommen zu werden.

In einem Klima der Sicherheit und Geborgenheit kann ein Kind von seinen Nöten reden ohne Angst, von den Eltern getadelt oder gar fallen gelassen zu werden. Das Kind kann seelisch erstarken und sich später in der Welt behaupten.

Hingegen empfindet ein Kind sehr schnell, ob man es um seiner selbst wegen liebt oder nur seiner Leistung we-gen. In einer Umgebung ständigen moralischen Druckes reagiert das Kind entweder mit völliger Entmutigung oder mit übermäßigem Leistungsdrang und Perfektionismus. So wird sein legitimes Grundbedürfnis nach Annahme zu seinem Grundproblem: „Annahme erzwingen durch Leistung."

3.3.7. Genügend abgedeckte Bedürfnisse

Wir fassen zusammen: Wenn ein Kind diese drei Grundbedürfnisse nicht zu einem genügenden Grad abdecken kann, wird es unwillig, kratzbürstig, unausstehlich, entmutigt oder aggressiv. Weil das Kind

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nicht auf seine Grundbedürfnisse verzichten will/kann, versucht es sie auf Umwegen, also hintenherum zu erlangen. Es beginnt z.B. zu lügen oder zu stehlen. Und so werden seine drei Grundbedürfnisse zu seinen drei Grundproblemen, nämlich:

Freiheit durch Macht

Gerechtigkeit durch Beschuldigung Annahme durch Leistung

Als Mutter oder Vater versuche ich jetzt, durch AZ schrittweise von den vordergründigen Äußerungen meines Kindes zu seinem eigentlichen Grundbedürfnis vorzustoßen. Jetzt fühlt es sich verstanden und wird dadurch offen für Lösungsvorschläge.

Doch schon taucht die nächste Schwierigkeit auf: Nehmen wir an, eine Familie hätte bereits etwas Übung im Formulieren von Bedürfnissen. Sie achten auch darauf, daß alle Familienmitglieder ihre Bedürfnisse vorbringen können. Geht es aber um klare und schnelle Lösungen, harkt es irgendwie. Woran kann das liegen? Das wollen wir im kommenden Abschnitt untersuchen:

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3.4. Familie Milon auf Lösungssuche

3.4.1. Der Vater studiert Ferienangebote

Papa Milon hat schon seit einigen Wochen alle möglichen Ferienvorschläge sämtlicher Zeitungen studiert. Schließlich hat er die optimale Lösung gefunden. Diese teilt er seiner Familie während dem sonntäglichen Familienmittagessen mit. Der Vater beginnt:

„Hört mal, meine Lieben, ich kann euch die eleganteste, die beste aller Ferienmöglichkeiten offerieren." – Die Stirnen des 14jährigen Maxi und der 15jährigen Laura zeigen bereits Faltenansätze. Doch der Vater berichtet begeistert weiter: „Wir fahren in die Dolomiten", erklärt er mit Überzeugung. „Dort ist ein herrliches Wandergebiet, noch nicht so vom Tourismus überschwemmt. Es gibt noch wohltuende Ruhe in der Einsamkeit. Und dazu noch äußerst billig! Wir haben ja ein schönes großes Zelt. Das müssen wir doch endlich einmal gebrauchen."

Die Jungmannschaft kann nicht mehr still bleiben. Maxi hat sich am schnellsten gefaßt: „Du hast ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ohne uns zu fragen einfach bestimmen!" - Laura doppelt nach: „Was soll ich bloß in dem menschenverlassenen Steinhaufen von Dolomiten? Sonst fällt dir nichts ein!"

Der Vater: „So seid doch vernünftig! Ihr wißt noch gar nichts und sagt schon NEIN. Das ist doch nicht vernünftig. Jetzt hört doch zuerst einmal zu: Also, wir machen Wanderfer…" - „Wanderferien? Wanderferien?" tönt es da dem Vater entgegen.

Da meldet sich die Mutter: „Also, wenn ich auch etwas sagen darf. Tagsüber wandern und abends das Zelt

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aufstellen und unter einfachsten Bedingungen abkochen.. Solche Ferien mache ich nicht mit! Ich mache nur Ferien ohne primitives Kochen und Abwaschen in einem Zelt. Wir machen Hotelferien!" - Den Vater haut es fast vom Stuhl: „Ins Hotel? Die ganze Familie? Wer soll das bezahlen? Nein, das Geld haben wir nicht. Ihr seid eine undankbare Bande. Da opfere ich nun Stunden für die Suche. Ich rechne und überlege und jetzt diese Reaktion." - Pause.

Der Vater: „Na gut, dann werden wir halt modern und machen ein Brainstorming. Wir sammeln jetzt Ideen, aber wertfrei, so wie wir das gelernt haben.

Tochter Laura beginnt: "Ich will, nach Rimini und dort Badeferien machen." - Sohn Maxi: „Das ist das letzte! Ich will nach Norwegen und dort in einem Blockhaus an einem See wohnen, wenn möglich mit ,finnischer' Sauna." - Doch das holt Mutter aus der Reserve: „In so eine primitive Hütte, womöglich ohne Strom. Nein, Nie! Für mich gilt nur: Ferien im Hotel." - Doch schon sagt der Vater: „Und an mich denkt niemand? Ich sitze tagtäglich in einem Büro mit Klimaanlage und habe zu wenig Bewegung. Ich will doch wenigstens in den Ferien einmal wissen, was mein Körper noch leisten kann. Es bleibt dabei: Wir fahren zum Wandern!"

Jetzt entsteht eine wilde Diskussion mit den unmöglichsten Vorschlägen. Gegen Abend sind alle erschöpft. Aber eine Lösung ist nicht in Sicht. Wie sollten sich diese Vier auch einigen können?

3.4.2. Lösungen oder Bedürfnisse

Bei Milons funktionierte das Brainstorming nicht. Grund? Alle Beteiligten dieser Familie sind lösungsorientiert. Der Vater hat zwar gesagt: „Wir sammeln jetzt Ideen." Die

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gefundenen Ideen sind aber samt und sonders Lösungen. Lösungen aber eigenen sich schlecht für ein Brainstorming. Warum? Bei Lösungsvorschlägen gibt es wenig Variationsmöglichkeiten. Beispiel:

Die Tochter Laura sagt: „Ich habe das Bedürfnis Ferien in Rimini zu machen." Dieser Satz ist die Lösung für ihr Bedürfnis, an der Sonne zu liegen, faul sein zu können, abends durchs kleine Städtchen zu schlendern und Blicke auf sich ziehen zu können.

In Rimini baden kann Laura natürlich nur in Rimini. Jedoch das Bedürfnis an der Sonne zu liegen, zu faulenzen, das Bedürfnis in einer Diskothek ihre geliebte Musik hören zu können, das kann sie auch anderswo.

Der Sohn Maxi sagt: „Ich habe das Bedürfnis meine Ferien in Norwegen in einer Blockhütte am See zu verbringen." Das ist die Lösung für sein Bedürfnis nach dem großen Abenteuer, nach Überlebenstraining und nach Freiheit. Das kann Maxi auch anderswo erleben.

Die Mutter sagt: „Ich bin nur bereit, in einem Hotel Ferien zu machen, ohne Kochen, ohne Hausarbeit." Das ist die Lösung für ihr Bedürfnis, einmal nicht Hausfrau, einmal nicht Dienstmädchen der Nation spielen zu müssen, sondern sich auch einmal bedienen zu lassen. -Der Vater sagt: „Ich habe das Bedürfnis in den Dolomiten zu wandern." Es ist seine Lösung für das Bedürfnis nach viel Bewegung, nach Sport, nach irgendwelcher körperlicher Leistung. Dieses Bedürfnis kann er nicht nur in den Dolomiten befriedigen.

Zusammenfassung: Wenn also Laura unbedingt in Rimini sein will, wenn Max unbedingt ein Blockhaus in Norwegen beziehen will, wenn die Mutter auf einem Hotel beharrt und wenn der Vater unbedingt in den Dolomiten wandern will, dann kann auch bei dem besten

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Brainstorming keine Einigung erzielt werden. Begründung? Die Teilnehmer haben samt und sonders Lösungen formuliert. Lösungen aber bieten, wie schon geschrieben, kaum Variationsmöglichkeiten.

Wenn hingegen die Familienmitglieder nicht Lösungen, sondern ihre Bedürfnisse möglichst anschaulich schildern, dann muß die Tochter nicht unbedingt in Rimini in der Sonne liegen. Dann ist die Blockhütte nicht die einzige Variante für Abenteuerferien. Dann kann die Mutter ihre Haushaltsabstinenz nicht nur in einem Hotel genießen (sondern wenn die Familie beschließt grundsätzlich auswärts zu essen oder wenn die „Kinder" versprechen das Kochen zu übernehmen), und dann kann der Vater seinem Bewegungsdrang nicht nur in den Dolomiten nachgehen.

Zusammenfassung: Will eine Gruppe, in unserem Fall Familie Milon innerhalb einer überschaubaren Frist zu brauchbaren Resultaten kommen, wird der Leiter also die Lösungsvorschläge der Beteiligten zuerst in ihre „echten" Bedürfnisse zurückverwandeln müssen. Und siehe da! Dann geht es plötzlich!

3.4.3. Das Sechs-Punkte-Lösungs-Verfahren

Eine gute Hilfe ist das klassische Sechs-Punkte-Lösungs-Verfahren. Es hat sich in Wirtschaft und Industrie bestens bewährt. Es eignet sich auch sehr gut für den Familienkreis (siehe Zeichnung). Allerdings muß man die Reihenfolge der sechs Schritte getreu einhalten.

Nehmen wir an, die Familie Milon würde sich also des bekannten Sechs-Punkte-Lösungs-Verfahrens bedienen. So könnten wir sagen: den Anfang haben sie schon ganz gut gemeistert. Sie haben bereits die Lösungsvorschläge

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(2) der Beteiligten in Bedürfnisse (1) zurückverwandelt. Sie haben alles schön auf ein Papier notiert. Bitte, beachten Sie nebenstehende Tafel. Die sechs Punkte lauten: 1. Bedürfnis und Problemstellung schriftlich notieren. 2. Lösungsvorschläge ,wertfrei' sammeln (Brainstorming). 3. Bewertung und Zielsetzung der Lösungen. 4. Lösung wählen. 5. Planen. 6. Resultat prüfen (Evaluation).

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INFO Familie Milon also hat vorschnelle Lösungen in Bedürfnisse zurückverwandelt:

Dolomiten in - Bewegungsbedürfnis des Vaters Rimini in - Bedürfnis nach Tanz und Bekanntschaften

Sechs-Punkte-Lösungs-Verfahren Norwegen in - Bedürfnis nach Abenteuer Hotel in -

Ruhebedürfnis Nun schreitet Familie Milon zu Punkt 2, zum

Brainstorming, Gedankensturm, wie das auf Deutsch heißt.

Es hat aber den Nachteil, daß es nur in Gegenwart von Humor erfolgreich sein kann. Denn es beruht auf

der Tatsache, daß die Phantasie für neue, originelle Ideen nur beflügelt wird, wenn man die ausgefallensten und dümmsten Sachen einbringen darf, ohne bewertet, ohne verurteilt zu werden. So beginnen Milons unbeschwert, und Papa schreibt: - Kreuzfahrt im Mittelmehr, - Bergsteigen am Mont Everest, - Vater kauft sich eine Taucherausrüstung und lernt in Rimini tauchen, - man zeltet im Park eines Hotels und läßt sich von diesem das Essen ins Zelt servieren, - Vater und Sohn machen eine Höhlenexpedition, - man kauft sich ein großes Wohnboot und macht eine Kanalwanderung in Norddeutschland und Holland, usw. usw. usw. Irgendwann zieht Vater einen Strich und stellt die Frage:

„Welche Kombinationsmöglichkeiten fallen euch ein?" Diese Frage leitet zu Punkt 3 über: Bewertung und Zielsetzung. Jetzt darf man nach Lust und Laune

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bewerten, kombinieren, streichen. Familie Milon findet folgenden Kompromiß: Ferien an einem Bergsee in einer günstigen Pension.

Vater und Sohn können sich einige Tage absetzen zwecks Wanderung und Höhlenforschung. Die Tochter kann baden und im nahen Kurort tanzen. Mutter aber sitzt bequem auf dem Balkon und liest einen spannenden Liebesroman, der schon lange in ihrem Nachtkästchen liegt.

Bei Punkt 4 geht es nur noch um die Wahl des Bergsees: Titisee, Gardasee, Schluchsee, Plattensee, Wannsee, Wörthersee.

Die letzten beiden Schritte: Planen (5) und Resultat prüfen (6) können wir getrost der Familie Milon alleine überlassen.

Bei diesem Vorgehen fühlen sich die Kinder ernst genommen. Sie können mitmischen. Und siehe da, die störrischsten Kinder werden plötzlich interessiert und kompromißbereit. Die versöhnende Wirkung ist vielleicht der wichtigste Nebeneffekt dieses Sechs-Punkte-Konfliktlösungs-Verfahrens. Thomas Gordon nennt dies ‚Familienkonferenz’.

Regel Nr. 3: Durch die Unterscheidung von

Bedürfnis und Lösung wird eine gute Lösungsfindung erleichtert.

Anziehen für den Kindergarten Magda zieht sich für den Kindergarten nur zögernd an. Sie trödelt, beginnt zu spielen, und jammert dann immer: „Mami, ich möchte bei dir bleiben. Mami, ich bringe die Hose nicht rauf. Mami, ich möchte mit dir spielen und

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nicht in den Kindergarten. Draußen ist es so kalt. Die Schuhe sind blöd, die kann ich nicht binden. Mami (mit Umarmung), ich hab dich sooooo gern und will bei dir bleiben." Mutter muß jeden Tag nachhelfen, sonst kommt die Kleine zu spät in den Kindergarten. Doch sie geht gern in den Kindergarten. Info Magda hat ein Spielchen entdeckt:

Sie spielt Anlehnungsbedürfnis: Das Schönste auf der Welt ist doch, sich angenommen zu fühlen. Durch ihr Verhalten erzwingt sie sich diese Zuwendung und übt Macht aus. Jedesmal wenn Mama schwach wird und nachhilft, ist Magda Siegerin. Ihr Blickwinkel heißt:

Sinn des Lebens ist: „sich mit mir beschäftigen - ich bin der Mittelpunkt". Wie kann man in dieser Situation positiv beginnen? In etwa so: Mutter beginnt: „Du möchtest jetzt ganz lange bei Mama sein, denn bei Mama ist es sooooo schön. Allein anziehen ist nicht lustig. Du möchtest jetzt mit Mama gemeinsam etwas machen. Wenn ich dich jetzt anziehen würde, das wäre schön! So schön wie jetzt soll es immer bleiben. Aber deine Mama möchte auch etwas. Ich möchte auf den Bus, aber ich möchte nicht rennen. Deshalb möchte ich dich schnell anziehen. Gell Magda, es ist ganz blöd: Du gehst gerne in den Kindergarten und freust dich auf die Spielsachen, aber so schnell anziehen und gar nicht mit

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Mama spielen können, ist nicht lustig. Und ich möchte nicht jeden Tag schimpfen müssen mit dir. Das mache ich gar nicht gern. Jeden Tag habe ich Angst, du kämest zu spät, deshalb bin ich jetzt ganz nervös. Und ich muß noch so viel arbeiten - die Wohnung aufräumen und ein gutes Mittagessen kochen, das dir schmeckt. Und dann habe ich Zeit für dich, und ich freue mich, wenn du mir dann um den Hals fällst. Das wird schön sein." Sagt die Kleine: „Da habe ich eine ganz andere Idee: Ich gehe jetzt in den Kindergarten, damit du ein gutes Mittagessen machen kannst, und wenn ich heimkomme, fällst du mir um den Hals, und wir essen alles weg, was du gekocht hast“.

Und wie groß das Erstaunen von Mutter: Magda hat sich ohne fremde Hilfe angezogen und ging vergnügt in den Kindergarten. Ich höre das öfters: Das Kind sagt: „Da habe ich eine ganz andere Idee." Doch es wiederholt nur, was Mutter gesagt hat. Es geht hier um das Gefühl von Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung. Gönnen Sie Ihrem Kind solche Erlebnisse der Selbstbestimmung.

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4. Das Problem mit den Problemen

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4.1. Problemstellung als Unterhaltung

4.1.1. Spiele zum Problemewälzen

- Da sitzen vier Personen einen Abend lang beim Kartenspiel. Nach jeder Partie wird laut und engagiert diskutiert.

- Oder da spielen Kinder Seilspringen. Immer kompliziertere Verrenkungen werden ausprobiert.

- Oder die Menschen sitzen beisammen bei Halma, bei Mühlestein, bei Mensch-ärgere-dich-nicht und spielen mit Hingebung.

- Computerspiele jeder Art faszinieren heute jung und alt.

- Schachspieler können einen Abend lang mit äußerster Konzentration auf ihre 64 Felder stieren, um über erfundene und letztlich sinnlose Regeln zu brüten.

Sie alle lösen Probleme spielerisch und anscheinend mit Lustgewinn. Eine ganze Spielzeugindustrie lebt von dem unbändigen Drang, Probleme spielerisch lösen zu wollen/können.

Warum, so stellt sich die Frage, kann dieses Problemlösungs-Bedürfnis nicht in der Erziehung positiv eingesetzt werden? Warum denn eigentlich nicht?

Folgendes Beispiel zeigt die Schwierigkeit: Da ist der Vater, der seinem Sohn zu Weihnachten eine Modelleisenbahn geschenkt hat. Mit Genuß probiert der Sohn alle Möglichkeiten von Eisenbahnunfällen aus. Er läßt immer wieder die Lok mit großer Geschwindigkeit über die Kurve hinausfliegen. Der Vater donnert los:

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„Entweder spielst du jetzt anständig, oder die ganze Anlage verschwindet im Keller. Verstanden!" Hier stellen sich zwei Fragen:

4.1.2. Mit Problemstellungen spielerisch lernen

Frage eins lautet: Ist das Kind ein Chaot, oder lernt es spielerisch an seinen sich selbstgestellten Problemen? Denkt das Kind kindergerecht oder erwachsenengerecht? Ist der Vater problem- oder lösungsorientiert? Wir können ähnliche Situationen in 100 Spielarten beobachten:

- Der kleine Kurt fährt mit seinem Dreirad unentwegt eine Acht, um auszuprobieren, wie viel es braucht, bis das Dreirad umkippt.

- Der Rollbrettfahrer probiert mit Ausdauer und Körperverrenkungen den Randstein zu überspringen.

Diese Kinder suchen sich spielerisch und unbewußt ihre Problemstellung. Das unverdorbene Kind lernt über Problemstellungen. Hinter jeder Problemstellung verbirgt sich ein starkes Bedürfnis nach Abenteuer, nach eigener Welt, nach Spannung etc., etc.

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4.1.3. Jeder sucht sich sein Problem

Wir haben oben bereits festgestellt, daß Kinder die Welt zum großen Teil über Problemstellungen erobern. Kind-liches Spielen ist lustvoller Umgang mit Problemstel-lungen. Wie kann ich also das natürliche Problemlösungs-Bedürfnis in meiner Erziehung nutzbar machen?

Ich wollte ja ein Kind, um Freude an diesem neuen Erdenbürger zu haben. Was liegt näher, als mit ihm interessante Gespräche zu führen. Mit ihm an verzwickten Lösungen herum zu basteln. - Wie gelingt mir das? Über Problemstellungen. Ich benutze alle kleinen und großen kniffligen Situationen, um gemeinsam mit meinem kleinen Gesprächspartner nach dem Was, dem Wie, nach dem Warum und nach dem Wozu zu fragen.

Und wenn es raffinierte Tricks eines Zauberers sind. Sie werden staunen, was sich die Kinder so alles überlegen. Auf diese Art bekommen die Kinder Übung, sich dann auch mit ihren eigentlichen Problemen herumzuschlagen.

Will ich zu meinem Kind ein besseres Verhältnis finden und mit ihm positive Gespräche führen, gelingt mir dies am besten über Problemstellungen. Denn: Kinder können noch fragen und staunen.

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4.2. Problem als Entscheidungshilfe

4.2.1. Problem oder Schwierigkeit?

Allgemein versteht man unter dem Wort Problem: Schwierigkeit, unangenehme Situation, etwas schwer Lös-bares, etwas Unangenehmes, ich brauche/suche Hilfe etc.

In meinem Gebrauch bedeutet das Wort Problem „Entscheidungshilfe". Ich definiere es mit dem Wortpaar: einerseits/andererseits. Jemand steht vor einem Problem, wenn er sich zwischen zwei oder mehr Lösungs-möglichkeiten entscheiden muß. Diese Situation nenne ich die „Fragende Grundhaltung".

Beispiel: Felix hat Schulaufgaben. Er muß sich entscheiden, die Aufgaben schon am Nachmittag zu machen und nachher zu spielen oder jetzt Fußball zu spielen und die Aufgaben später zu machen und dadurch am Abend eine Rüge von Mutter oder Vater einstecken zu müssen. Dadurch bekommt die Mutter ihrerseits ein Problem: Entweder muß sie Felix befehlen, die Aufgaben jetzt zu machen, oder sie entscheidet sich nichts zu sagen und dadurch am Abend das Gestöhn und Gejammer von Felix in Kauf zu nehmen.

Ich habe nur eine einzige Möglichkeit, daß sich mein Gesprächspartner für meine Sache interessiert: Ich

formuliere ein „Problem".

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4.2.2. Die Mutter als Problemlösungs-Maschine

Für viele Kinder sind Eltern Problemlösungs-Maschinen: „Mami, ich kann die Schuhe nicht binden." - „Papi, mein Postkonto ist DM 75.00 im Minus." - „Mami, ich bringe die Arme nicht aus der Jacke raus." - „Papi, die Schulaufgaben sind zu schwer." - „Mami, mich juckt es am Rücken," - „Papi, die Schublade geht nicht mehr in den Kasten rein."

Was machen die Eltern? - Oft ohne nachzudenken, völlig automatisch, beseitigen die Eltern das kindliche Problem. Die Kinder stellen sich die sehr sinnvolle Frage, warum hat es der liebe Gott so eingerichtet, daß jedes Kind Eltern hat? Klar, um seine Problem zu lösen! Die Praxis beweist die Richtigkeit dieser kindlichen Theorie. Wenn Sie drei oder vier Kinder haben, kann Ihr Lösungsautomatismus zu einer ganz hektischen Angelegenheit werden. Was ist hier zu tun oder nicht zu tun?

Für den Antwortenautomaten ein kleiner Hinweis: Drehen Sie das Spiel doch einfach hie und da um, und stellen Sie eine Frage. Die Reaktion ist meist verblüffend. Auch Kinder fallen auf diesen Trick rein. Nach einer verdutzten Pause antworten sie ganz brav, und es ist immer amüsant und auch erstaunlich, auf welche originellen Lösungsideen Kinder kommen können.

4.2.3. Fragen, Fragen, Fragen

Kinder haben fürwahr eine „Fragenden Grundhaltung". Und Kinder können bis zur Erschöpfung fragen:

„Mama, warum ist der Mond nicht immer rund?"

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„Papa, wie reden die Fische unter Wasser?" „Mama, warum muß denn unsere Katze nicht schlafen

gehen wie ich?" „Papa, wo kommst du denn her?" „Mama, wo kommt den die Großmama her?" „Papa, wo kommt den Adam und Eva her?" „Mama, wo kommt denn der liebe Gott her?" Eltern: „Oh Kind, muß denn diese Fragerei sein!" Achten Sie einmal darauf, wie automatisch Sie einfach

antworten. Das Kind hat ein Spiel entdeckt: Sie sind ein Beantwortungsautomat. Oben die Frage rein, unten die Antwort raus.

Die Frage, der wir hier nachgehen, lautet: „Wie muß ich mich verhalten, daß nicht nur ich in der Familie für Lösungen zuständig bin? Wie lösen wir die kleinen Probleme als Familie effizient? Was muß ich tun oder lassen, damit die anderen Familienmitglieder an gangbaren und befriedigenden Lösungen interessiert sind? Wie lösen wir zum Beispiel unser Ferienproblem effizient? Diesen Fragen wollen wir im nächsten Kapitel nachgehen.

4.2.4. Mitarbeit durch Problemstellungen

Regel Nr. 4: Mein Kind wird sich an der Lösungssuche beteiligen, wenn ich sein und mein

Problem klar, verständlich und einsichtig formuliert habe.

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5. Freiheit und Macht

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5.1. Wie Herr Praktik seine Kommunikationsfähigkeit erweitert. Oder - Wer den Drücker hat, hat auch die Macht

5.1.1. Ein Meister der Kommunikation?!

Ein Fußdruck auf die Gummimatte und die große Glastüre zum Einkaufszentrum gleitet lautlos zur Seite. Wortlos stapelt Herr Praktik ein Faxgerät für sein Büro, eine Ge-gensprechanlage, als elektronischer Babysitter für seinen 1jährigen Sohn Claudius, ein Tonbandgerät für seine 7jährige Tochter Viola und ein Computerspiel für den 10jährigen Sebastian, sowie ein Multipack Disketten für seinen eigenen Personalcomputer in seinen Einkaufs-wagen. Wortlos drückt das Fräulein an der Kasse den Totalbetrag und automatisch erscheint das Retourgeld auf der Minigeldrutschbahn. Auf dem Rücken einen Rucksack, in der linken Hand eine schwere Tragetasche, die rechte Hand frei für die nächsten Druckknöpfe - so verläßt Herr Praktik den Ort des Geschehens.

Durch Druck auf die große Fußmatte öffnet sich zum zweiten Male die große Glastüre und wortlos schreitet er auf die nächste Bushaltestelle zu. Der nächste Druck gilt dem gelben Kasten in Schulterhöhe neben dem Fußgängerstreifen. Das Licht wird grün. Ein Druck und die Fahrkarte des öffentlichen Verkehrsmittel rutscht aus dem Automaten. Ein Druck und die Bustüre öffnet sich, ein weiterer Druck und der Bus hält bei der gewünschten Haltestelle. Ein letzter Druck und der Lift steigt mit Herrn Praktik in das elfte Stockwerk.

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Lediglich die Wohnungstüre muß Herr Praktik durch die altmodische Drehung eines Schlüssels öffnen. Herr Praktik betritt sein trautes Heim, drückt seiner Frau einen Kuß auf die Stirn, setzt sich in einen bequemen Leder-sessel und studiert die Gebrauchsanweisung des soeben erstandenen Faxgerätes. Denn - Herr Praktik ist Meister der Kommunikation und Informatik. Er kommuniziert per PC, über Telefax, über Kurzwellen, über Satellit und Internet mit Japan, Nigeria, mit jedem Punkt der Erde. Ein Hobby, bei dem es unserem Herrn Praktik nie langweilig wird.

5.1.2. Das Familiengespräch

Bis hierher hat Herr Praktik kein einziges Wort gesprochen. Auch das Abendessen verläuft mit einer eher zögernden Kommunikation. Erst der Fernseher bringt Leben in die Familie. Bis zu den Nachrichten geht's noch. Aber dann will die Oma den Sissi-Film sehen, der wieder einmal zum aller-, allerletzten Male gesendet wird. Das bringt unseren Sebastian blitzartig in Rage, denn er will sich den harten Krimi ansehen, der ausgerechnet zur selben Zeit ausgestrahlt wird; wogegen Viola auf dem Trickfilm besteht.

Über den Bildschirm flimmert schließlich der Krimi, denn Sebastian hat die Fernbedienung fest unter seinen linken Oberschenkel geklemmt.

Wir leben heute im Druckknopfzeitalter.

Denn: Wer den Drücker hat, hat auch die Macht.

Nach dieser Entwicklung der Dinge flüchtet der Vater in

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sein Arbeitszimmer und liest die umfangreiche Gebrauchsanweisung zu Ende. Dabei hat sich die Mutter darauf eingestellt, heute - wo ausnahmsweise einmal alle zu Hause sind - das Verteilen der Haushaltsarbeiten und den schon längst fälligen Besuch bei Sebastians Lehrer zu besprechen. Ganz zu schweigen von einem gemütlichen Abend mit „Mensch-ärgere-dich-nicht" oder gemeinsamen Geplauder, worauf die Mutter schon so lange wartet.

Aber bei dem Gerangel vor dem Fernsehkasten! Sie flüchtet in die Küche und wäscht, etwas lauter als sonst, das Geschirr und flucht leise vor sich hin: „Oh, trautes Heim, ich könnte dich in Fetzen reißen!"

5.1.3. Moderne Gesprächsverhinderer

So zeigt sich, daß die modernen Kommunikationsgeräte wirksame Gesprächsverhinderer sein können. Das Fernsehen steht hier als Beispiel für all jene technischen Errungenschaften, die sehr oft ähnliche Wirkung haben. Kunststück - hat der Herr des Hauses keine Zeit mehr, mit seiner Frau über die kleinen und noch kleineren Tagesereignisse zu reden. Die Zeit des Abendessens ist ebensowenig dazu angetan. Dann kommen die Nachrichten, die man schließlich doch gesehen haben muß. Und woher soll dabei auch die Stimmung aufkommen, um mit der Familie Karten zu spielen?

Woher kommt es, daß man ständig über den TV-Kasten stöhnt und doch immer wieder davor sitzen bleibt? Woher kommt es, daß man sich unentwegt wegen des Programmes verkracht und sich die Familie trotzdem immer wieder vor der Mattscheibe vereint?

Mit dem Fernsehdrücker können sich die Familienmitglieder um persönliche Gespräche und

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Verantwortung herumdrücken. So ist das Fernsehen, wie auch andere Informationssysteme eine ideale Ablenkungs-maschine. Denn viele wünschen sich am Abend Entspannung und nicht unangenehme Gespräche.

Wir wissen jetzt, was unsere Lieben nicht wollen. Aber was wollen sie denn? Worum geht es letztlich? -Das Kind, sowie der erwachsene Mensch möchte sich frei fühlen, frei von unangenehmen Gefühlen, von mühsamen Argumentationen, frei von der Bevormundung durch die Eltern/andere Menschen. Was nützen mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich nicht tun kann, was ich mir persönlich ersehne?

5.1.4. Das Kind will wollen, was es will

Auch das Kind will wollen, was es will. Es will letztlich Freiheit, und die holt es sich mit Macht. Weil man in vielen Familien nicht fähig ist, miteinander zu reden, kann sich ein Kind anscheinend mühelos seine Macht aufbauen.

Schon im Vorschulalter holt sich das Kind sehr eigenwillig, durch einen leisen Druck auf die Fernbedienung des Fernsehers oder des Videogerätes, bequem im Sofa hängend, die ganze Welt ins Wohnzimmer. Heute macht sich das Kind seine Umwelt Untertan. Mit dem Internet holt sich der junge Mensch die ganze Welt ins Haus. Und mit dem Mofa erweitert er sich seinen Aktionsradius fast unbegrenzt.

Der junge Mensch nimmt sich das Recht zu wollen, was er will. Der Druckknopf ist das Symbol für dieses Recht, alles zu haben und alles zu tun, was er will. Auf Druck öffnen sich ihm alle Türen.

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Kinderwunsch

1. Kinder haben mich gerne, denn ich bin stark. 2. Kinder kommen gerne zu mir, denn ich schimpfe

nicht. 3. Kinder akzeptieren meine Grenzen, denn ich

begründe sie. 4. Kinder reden gern mit mir, denn ich nehme sie

ernst. 5. Kinder öffnen sich mir, denn sie fühlen sich

verstanden.

5.1.5. Die Angst der Eltern

Diesem unbändigen Drang nach Freiheit steht die Angst der Eltern gegenüber, sie könnten den Einfluß auf ihre Kinder noch ganz verlieren. Sie bekommen Angst, ihre Tochter könnte mit einem Kind heimkommen, oder der Sohn könnte das Gefühl der großen Freiheit in Drogen suchen. Sich unbedacht in die Freiheit zu stürzen, kann (heute) teuer zu stehen kommen.

Wie können die Eltern mit dieser unbändigen Forderung der Jugend nach Freiheit umgehen? Täglich fragen sich Tausende von Eltern: „Muß ich bei meinem Kind härter durchgreifen oder muß ich nachgiebiger sein? Braucht mein Kind mehr Freiheit oder eine festere Hand?"

Alles wird zum Schießeisen

Mit Schrecken stellen die Eltern fest, daß der 7jährige Louis plötzlich ohne jeglichen Anlaß auf alles und jeden schießt. Nicht nur ein Ast wird unter seinen Händen zu

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einem Gewehr, auch eine Gurke, eine Banane und ähnliches werden in seiner Hand zu einem Revolver oder einem Schießeisen. Die Eltern sind gegen Gewalt und bestimmen: Wir kaufen dir kein Spielzeug um zu schießen, und in unserer Wohnung wird überhaupt nicht geschossen. Doch alle Kontrolle nützt nichts. Louis schießt auf Mama, auf Papa und auf jeden, der ihm in die Quere kommt. Den Eltern ist das unerklärlich.

Mit allem Möglichen haben es die Eltern schon probiert: mit Güte, mit Strenge, mit Erklären, mit Verbieten. Alles nützt nichts. Das Kind schießt weiterhin auf alles. So kann es doch nicht weitergehen, besprechen sich die Eltern. Wo soll das noch hinführen? Was machen wir denn falsch, fragen sie sich immer wieder.

Wie soll ich bei einem so durch und durch negativen Thema positiv beginnen können?

INFO Wir gehen davon aus, daß jede Handlung des Kindes einen positiven Kern hat. Es gilt deshalb, diesen zu erkennen und positiv auszuwerten. Zum Beispiel beim Thema Schießen. Deshalb die Frage: Inwieweit sind die Bedürfnisse von Louis auch positiv? Louis versucht schon nach wenigen Wochen seines irdischen Daseins, seinen Aktionsradius zu erweitern. Er hat Bedürfnisse: • mit seiner Hand etwas zu nehmen, • mit seinem Arm etwas zu werfen, • mit einem Stock etwas zu treffen, • Pfeile weit weg zu schleudern,

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• mit Pfeil und Bogen noch weiter zu schießen, • mit einer Gummischleuder einen Stein weit weg zu

schießen, • mit Pistole eine Kugel zu schießen (Schießverein) • mit einem Gewehr noch weiter zu schießen (Schieß-

verein) • mit Kanonen kann man noch weiter schießen, • mit Raketen kann man bis auf den Mond schießen. Für Louis heißt der Sinn des Lebens: „Einfluß haben". Dieses Grundbedürfnis ist weder positiv noch negativ. Es ist neutral. Es gilt jetzt dieses Bedürfnis positiv aufzubauen.

Positives Beispiel Louis ist in der besten Schießerei. Plötzlich schießt der 7jährige Louis mit einem legogebastelten Gewehr auf mich. Zunächst reagiere ich nicht. Louis ruft: „Großpapi, du mußt umfallen!" Er schießt noch einmal. Ich falle um und bleibe liegen. Louis kommt, zieht mich hoch und sagt: „Großpapi, du mußt aufstehen." Ich: „Warum? Ich bin tot!" Louis: „Sonst kann ich dich nicht mehr totschießen." Ich sage: „Man kann einen Menschen nur einmal totschießen." Louis: „Aber wenn man spielt, kann man immer wieder totschießen, sonst ist es nicht lustig." Ich bleibe trotzdem liegen und sage: „Für mich ist es aber nicht lustig, immer totgeschossen zu werden." Louis: „Aber für mich schon!" Ich: „Warum ist es für dich lustig, den Großpapi immer wieder totzuschießen?" Louis: „Weil ich dann stärker bin wie du." Ich: „Aber warum ist es nur lustig, wenn du stärker bist wie ich?" Louis: „Dann kann

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ich mit dir machen, was ich will." Ich: „Ah, deshalb ist Totschießenspielen so lustig."

Louis überzeugt: „Ja sicher!" Ich ziehe das Gespräch weiter und sage: „Muß man denn unbedingt schießen?" Louis: „Ja, bestimmt. Der Lehrer hat in der Schule gesagt: ,Im Gebirge gibt es immer mehr Rehe und Hirsche, die fressen von den Bäumen alle Blätter weg und die Rinde sogar auch. Dann gehen die Bäume kaputt. Deshalb muß es Jäger geben, welche alle Tiere, die zu viel sind, abschießen'."

Ich: „Dann kann Schießen gut oder auch schlecht sein." Louis: „Ja, genau!" Ich: „Ja, aber wann ist Schießen schlecht, und wann ist

Schießen gut?" Pause. Louis muß nachdenken. Er geht aus dem Zimmer. Nach

einigen Minuten kommt er wieder und sagt: „Jetzt spielen wir etwas anderes." Ich sage o. k. Louis hat nie mehr mit mir „Totschießen" gespielt.

5.1.6. Ohne Macht geht es nicht

Um es gleich vorweg zu nehmen: In meinen Augen ist es nicht möglich ohne Macht zu erziehen. Es wäre dasselbe, wie wenn ich einen Stausee ohne Staumauer bauen wollte. Deshalb lautet die Frage nicht einfach Macht oder nicht Macht?

Die schwierige Frage lautet: „Wie kann ich meinem Kind klare Grenzen setzen, ohne in eine autoritär-dirigistische Grundhaltung

zurückzufallen?

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5.2. Mehr Freiheit oder eine festere Hand

Ihr 5jähriger Kevin spaziert auf einer Mauerbrüstung balancierend hin und her. Weiter vorne aber geht es schroff in die Tiefe. Sie haben Angst, das Kind könnte sich vergessen, nach vorne rennen und dort abstürzen. Ihr Rufen nützt nichts. Sie rennen hinüber, packen den Kleinen am Arm und reißen das strampelnde und schreiende Bündel von der Brüstung herunter.

Sie haben völlig richtig gehandelt. Trotzdem - was sie taten, war natürlich körperliche Machtanwendung.

Es stellt sich also die grundsätzliche Frage: Habe ich das Recht, einen Menschen - auch ein 5jähriges Kind seiner Freiheit zu berauben und wie ein Stück Holz von der Brüstung weg auf den Boden zu stellen? Einem Tier gegenüber haben wir solche Bedenken kaum. Ein Hund gehört an die Leine, ein Vogel in den Vogelbauer. Mit Tieren kann jede(r) umgehen, wie sie/er will, denn Tiere sind dem Gesetz nach „Ware" und insofern haben sie auch keinen freien Willen, sondern sie haben einen Besitzer.

Wie weit aber kann und darf ich einen anderen Menschen als Besitz behandeln und mir dadurch das Recht anmaßen, ihm Freiheit vorzuenthalten? Die Würde des Menschen besteht ja gerade im Gebrauch seiner Freiheit.

Sie werden antworten, es handle sich hier um eine Extremsituation, das Kind befindet sich schließlich in Lebensgefahr; das Kind kann die Gefahr noch nicht einschätzen, und sie haben doch die Verantwortung.

Wenn Ihr Kind hingegen im Sandkasten spielt und plötzlich Lust verspürt, auf die Schaukel zu sitzen, so billigen Sie diesem Wesen diese Entscheidung zu. Es hat

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ein Recht darauf. Wo aber liegt die Grenze?

5.2.1. Der Mann und der Wellensittich

Vor langer Zeit hatte ich ein Erlebnis, welches mir immer noch lebendig vor Augen steht.

Ich war das erste Mal bei einem älteren Herrn eingeladen. Er hatte einen Wellensittich, der frei herumfliegen durfte. Nach dem Abendessen griff mein Gastgeber zu einer Wolldecke und sagte gelassen: „Ich muß noch den Vogel in den Käfig tun." Kaum hatte der Wellensittich die Wolldecke erspäht, begann eine wilde Jagd. Der Vogel floh, verfolgt von dem Decke werfenden Mann. Als das Tier endlich völlig erschöpft unter der Decke gefangen lag, wurde es mit festem Griff und lautem Gekreische in den Vogelbauer gesperrt.

In meiner Entrüstung erklärte ich dem Mann, mein Wellensittich würde abends sogar gerne in seine Behausung gehen, ohne Schwierigkeit springe er von meinem Finger auf seinen Käfig und dann in den Vogelbauer hinein. Meine ganzen tierpsychologischen Beweisführungen und meine persönlichen Erfahrungen machten ihm keinen Eindruck. Er blieb bei seiner Theorie: Kein Wellensittich wird je freiwillig in seinen Vogelbauer zurückkehren.

Kunststück! Die Verhaltensweise dieses Mannes verwehrt es ihm, so etwas für möglich zu halten. Er beraubt sich der schönsten Erlebnisse mit seinem Vogel. Hier lautete die Frage: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei? Muß der Mann zur Decke greifen, weil kein Wellensittich freiwillig in einen Käfig geht, oder weigert sich der Vogel, weil er vor der täglichen Prozedur schrecklich Angst hat?

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Lieber Leser, ich vermute, daß wir uns jetzt gemeinsam über die Uneinsichtigkeit des Mannes wundern. Denn ich bin davon überzeugt: Bei vogelgerechter Haltung wird ein Wellensittich freiwillig in den Vogelbauer zurückkehren.

Nicht mehr so eindeutig werden Sie mir zustimmen, wenn ich diese wahre Begebenheit folgendermaßen abwandle: Ich bin bei Ihnen zu Besuch. Als die Zeit vorgerückt ist, sagen Sie ihrem Sohn: „Diego, du weißt, jetzt ist es Zeit für ins Bett." Ein langgezogenes „Jaaaaa" ist die Antwort. Diese Spiel wiederholt sich in der nächsten halben Stunde ein paar Mal, bis Ihre Geduld zu Ende ist: „Muß ich dir denn alles mehrmals sagen?" Und schon werden die Klingen gekreuzt mit Argumenten und Gegenargumenten, mit Versprechungen und Drohungen. Als Diego endlich im Bett liegt, sind sie völlig entnervt und erschöpft. Nehmen wir an, ich würde jetzt behaupten, meine Tochter geht immer gerne ins Bett. Wir haben da unsere Zeremonie, auf welche wir uns beide freuen. Das leidige „Zu-Bettgeh-Problem" hat es bei uns nie gegeben. Welche Antwort, lieber Leser, käme Ihnen jetzt über die Lippen? „Lieber Herr Pacher, bleiben Sie doch ehrlich, ohne irgendeinen sanften Druck oder einen etwas weniger sanften Befehlen geht kein Kind freiwillig ins Bett. (Ob Sie's glauben oder nicht - bei meiner Tochter ging es!)

Im Großen und Ganzen sind sich die Eltern einig, daß Machtanwendung nur eine Form von Ohnmacht darstellt. Niemand ist glücklich, wenn er Macht angewendet hat. Jeder ist froh, wenn es ohne geht. Wir verstehen uns oft selber nicht, warum wir so schnell zu Macht greifen. Vermutlich, weil wir uns auf diese Art schnelle Lösungen erhoffen. Aber täuschen Sie sich nicht: Macht wird immer zu einem gefährlichen Bumerang.

Nun stehen wir täglich vor einer Reihe von Entscheidungen, die sich in der Grauzone bewegen: Darf

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ein 14jähriger erst morgens um zwei Uhr heimkommen? Muß ein Kind seine Aufgaben machen? Braucht mein Kind mehr Freiheit oder eine festere Hand?

Wo liegen die Grenzen?

5.2.2. Erdrückung oder Erziehung - das ist die Frage

Eigentlich ist es ja paradox. Eltern wollen ihre Kinder zum verantwortungsbewußten Gebrauch ihrer Freiheit anleiten und finden dazu kein besseres Erziehungsmittel als Macht, also Unterdrückung von Freiheit. In einem meiner Kurse hatte ich einmal einen Vater, der uns allen Ernstes folgendes sagte: „Meine beiden Söhne (10 bzw. 12 Jahre alt) haben sich wieder einmal gehörig und mit Gebrüll im Kinderzimmer geschlagen. Da bin ich rüber gerannt und habe beiden den Hosenboden so richtig versohlt und gerufen: „So jetzt habt ihr's gespürt, daß sich mit Macht keine Probleme lösen lassen."

Auf die Spitze getrieben verleitet diese Grundhaltung zu falschen Fragen in der Art: „Wie kann ich ohne Machtanwendung mein Kind dahin bringen, daß es aus Freiheit das tut, was ich gern möchte?" oder: „Ich will mein Kind zur Freiheit erziehen, vorausgesetzt, daß es mit dieser Freiheit sinnvoll umgehen wird."

Freiheit und Macht sind wohl die schwierigsten Gegensätze, mit denen sich der Mensch auseinanderzusetzen hat. Einerseits möchten die Eltern ihre Kinder zur Freiheit erziehen. Sie sollten in freier Verantwortung ihr eigenes Leben meistern können. Andererseits sind Kinder oft nicht in der Lage, die Tragweite ihres Handelns abzuschätzen. Hier müssen doch die Eltern korrigierend und richtungsweisend eingreifen.

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Wo aber liegt die Grenze zwischen verantwortungs-bewußter Führung und Mißbrauch elterlicher Macht? Wie stelle ich mich zu Strafe, zu Verboten, zu Entzug von Taschengeld etc.? Die 5jährige Barbara schlendert, zwei bröselige Kekse kauend, durch den Korridor. Mutter energisch: „Schau dir mal den Teppich an! Jetzt aber sofort in die Küche! Wir haben vereinbart: Gegessen wird nur in der Küche, sonst nirgends."

Barbara: „Aber ich will sehen, wie Martin (7jähriger Bruder) sein ferngesteuertes Auto herumfährt." Mutter: „Du kannst ja zusehen, aber stelle dich bitte in die Küche." Nach ein paar Minuten sehe ich Barbara, mit den verdrückten Keksen in der Hand, im Korridor auf dem Bauch liegend, jedoch die Füße korrekt in der Küche belassend. Das spitzbübische Lächeln hätte ich knipsen müssen.

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5.3. Mein Kind - Gegenstand oder Mensch?

5.3.1. Dressur oder Erziehung?

Wenn ich mein Kind beeinflussen will, besteht die Gefahr, daß ich es als Gegenstand, als Sache behandle. Meine Erziehung ähnelt dann der Dressur eines Tieres. Durch die Anwendung von Belohnung und Strafe, von Zuckerbrot und Peitsche übe ich Macht aus. Wie kann ich dieser Gefahr entgehen?

5.3.2. Beat soll ins Internat

Der 14jährige Beat muß voraussichtlich die Klasse wiederholen. Die Eltern wollen ihm dies ersparen. Sie wünschen sich von ihrem Sohn auch, daß er das Gymnasium besuchen kann.

Deshalb beschließen die Eltern, Beat in ein erstklassiges Internat zu geben. Beat aber will nicht. Die Eltern versuchen mit Liebe und mit vielen Argumenten, ihren Sohn von der Richtigkeit ihrer Entscheidung zu überzeugen. Es fruchtet alles nichts. Beat bleibt uneinsichtig. Lieber wiederhole er eine Klasse, als in ein Internat zu gehen. Der Vater kann den Widerstand seines Sohnes einfach nicht verstehen. Bei jeder neuen Diskussion wird der Vater derart zornig, daß die Mutter nur noch mit größter Mühe die erhitzten Gemüter zu beruhigen vermag.

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Was ist zu tun? Zwingen oder nachgeben? Welches ist

für die Eltern die schlimmere Entscheidung? Die Eltern von Beat können ihm Verschiedenes sagen:

- „Du gehst jetzt ins Internat. Wir dulden keine Widerrede. Wir wissen, was für dich gut ist."

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- „Wenn du nicht ins Internat gehst, bekommst du weniger Taschengeld, dann verbieten wir dir in den Club zu gehen. Und es kommt ein Privatlehrer ins Haus. Verstehst du!"

- „Wenn du ins Internat gehst, bekommst du dein gewünschtes Mofa und zusätzlich erhöhen wir dein Taschengeld."

Alle drei Verhaltensweisen ähneln einer Dressur. Abgesehen davon, daß alle drei Vorschläge negative Nebenwirkungen haben werden, sind sie eben auch unmenschlich, im wahrsten Sinne des Wortes nicht human.

Was aber könnten die Eltern in diesem Falle unternehmen? Wie könnten die Eltern mit Beat über dieses Problem vernünftig reden? Worin besteht eigentlich die Schwierigkeit, daß die Eltern die Sache mit Beat nicht in Ruhe besprechen können?

5.3.3. Subjekt - Objekt. Mensch oder Gegenstand

Jeder Mensch ist zugleich Subjekt und Objekt. Er ist als Individuum ein freies lebendiges Wesen, also ein Subjekt und gleichzeitig ist er für sich und die ändern ein Objekt. Alle Handlungen, die er als Subjekt begeht, fallen auf ihn als Objekt zurück, positiv oder negativ..

Die Kennzeichen des Subjektseins sind: Freiheit, Kreativität, Ursachlosigkeit.

Die Kennzeichen des Objektseins ist: Unfreiheit. Dies bedeutet: behandelt zu werden, eingeklemmt zu sein zwischen Ursache und Wirkung.

Viele Menschen versuchen, entweder nur als Subjekt, als

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ewig Handelnde zu leben, oder nur als Objekt, als ewig Be- und/oder Mißhandelte zu leben. In beiden Fällen versuchen diese Menschen, sich der Verantwortung ihrer Entscheidungen zu entziehen.

Nur in der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt lebt ein Mensch als selbstverantwortliches Wesen. Der Vater von Beat wäre z.B. nicht verpflichtet, zornig zu werden. Er könnte ebensogut auch friedlich bleiben. Er behauptet aber, bei solch unlogischen Argumenten, wie sie sein Sohn hervorbringt, müsse jeder vernünftige Mensch zornig werden. Der Vater sieht sich lieber als Objekt seines Sohnes, als daß er sich und dem ändern seine Schwäche eingesteht. Umgekehrt will der Vater als reines Subjekt rigoros über das Schicksal seines Sohnes entscheiden, ohne sich zu überlegen, daß die Folgen seiner Einweisung ins Internat unabdingbar auf ihn zurückfallen werden.

Es hilft ihm nichts. Er bleibt Subjekt und Objekt zugleich. Das gleiche gilt natürlich auch für den Sohn. Wie aber kann der Vater auf Beat Einfluß gewinnen und die Situation zu einem guten Ende führen, ohne bei seinem Sohn Macht anwenden zu müssen?

5.3.4. Strafe oder natürliche Folgen

Bei Beat kristallisiert sich etwas ganz Eigenartiges heraus. Seit einiger Zeit macht Beat mit drei Klassenkameraden recht gute Musik.

Beat macht sich jetzt folgende Überlegungen: „Würden meine Eltern mich ins Internat stecken, wäre dies das Ende meiner Träume." (= Er fühlt sich als Objekt.) Er denkt: „Weil zwei Mitglieder der Band in der unteren Klasse sind, hätte das eventuelle Sitzenbleiben für mich den

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Vorteil, daß drei der Band in der gleichen Klasse wären." Beat spekuliert mit Sitzenbleiben. (= Er handelt als Subjekt.) Das wäre natürlich ideal!

Das Sitzenbleiben wäre also in den Augen von Beat eine einmalige Gelegenheit, gemeinsam Musik zu machen, um so mehr, als sich gerade jetzt ein gewisser Erfolg anbahnt. Beat hat nur eines im Kopf: Möglichst viel Musik zu machen. (= Er überlegt als Subjekt.)

Es ist hier nicht relevant, ob die Überlegungen von Beat vernünftig sind oder nicht. Im Moment ist für Beat seine Musikband und die Kameradschaft mit den drei Kollegen wichtiger als alles andere. Darauf will er auf keinen Fall verzichten. Lieber nimmt er eine Wiederholung der Klasse auf sich. (= Beat denkt als Subjekt.)

Als der Vater von diesen ausgefallenen Ideen erfährt, konfrontiert er Beat. Der Vater sagt: „Hör mal Beat, mir gefällt das gar nicht. Wenn du hier die Klasse wiederholen mußt, geniere ich mich vor meinen Freunden und Verwandten. Zudem habe ich dann das Gefühl, dir gegenüber Fehler begangen zu haben, und ich befürchte, daß du mir eines Tages Vorwürfe machen wirst. (= Der Vater handelt als Objekt.) Deshalb habe ich mich entschlossen sehr viel Geld auszugeben, um dir das Internat und dann das Abitur zu ermöglichen." (= Der Vater handelt als Subjekt.)

Diese Aussagen des Vaters machen wiederum den Sohn aggressiv: „Das ist gemein von dir! Wenn du mich zwingst, gegen meinen Willen in ein Internat zu gehen, fühle ich mich von dir versetzt und für deinen Ehrgeiz mißbraucht. (= Sohn reagiert als Objekt.) Wenn ich ins Internat gehen muß, bin ich fest dazu entschlossen, mich dort unmöglich aufzuführen." (= Sohn reagiert als Subjekt:) Der Vater steht perplex da.

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Erst jetzt, da die Fronten klar bezogen sind, kann ein vernünftiges Gespräch beginnen. Motive und Absichten sind jetzt transparent.

Der Vater hat vorn Sohn erfahren, was auf ihn als Objekt zukommen wird. Der Sohn hat begriffen, in welcher Zwickmühle sein Vater steckt. Vater und Sohn haben begriffen, daß sie beide gleichermaßen als Subjekt und Objekt in die Situation verstrickt sind. Jetzt sind beide bereit, die Verantwortung für ihre Entscheidungen selber zu übernehmen. Dieses kurze Gespräch zeigt eine gute Möglichkeit, um mit Konflikten positiv um zu gehen.

5.3.5. Immer diese Entscheidungen und nie sicher sein können, wie's richtig ist

Der Vater von Beat kann letztlich nicht wissen, ob es für den Sohn richtig ist, Musiker zu werden oder eine Akademikerlaufbahn einzuschlagen. Dieses grundsätzliche Unvermögen, in die Zukunft zu sehen, wird ihn bei seinen Entschlüssen vorsichtiger machen.

Je eher der Vater einsieht, daß er seinen Sohn nicht als Objekt, nicht als einen Gegenstand besitzen und behandeln kann, sondern bereit sein muß, die freie Entscheidung des Sohnes zu akzeptieren, desto früher wird es Beat möglich, mit seinem Vater vernünftige Gespräche zu führen.

Je früher Beat einsieht, daß ihm die Opposition gegen seinen Vater nichts einbringt, sondern daß er eben als Subjekt sein eigenes Leben leben muß und daß er auch als Objekt die Folgen tragen muß, desto eher wird er fähig sein, sich richtig zu entscheiden.

Wie könnte ein Gespräch zwischen Vater und Sohn angenehmer und erfolgreicher verlaufen?

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Positives Gespräch

Vater: „Du bist also mit unserem Vorschlag gar nicht einverstanden."

Beat: „Ganz und gar nicht! Ich lasse mich nicht zwingen!"

Vater: „Du fühlst dich von uns fremdbestimmt, direkt vergewaltigt."

Beat: „Ganz genau. Ich muß immer machen, was ihr wollt, aber was ich will, interessiert niemand."

Vater: „Du willst also grundsätzlich was anderes wie Abitur und eine angenehme Beamtenlaufbahn."

Beat: „Genau, den ganzen Tag in einem Büro sitzen ist das doch das allerletzte. Dann lieber gleich ganz tot. Ich will Musiker werden. Mit dem K. und dem B. sind wir gerade dabei eine Band zu gründen, nur für Jugendliche, weißt du, nur für Schüler und so." Beat kommt ins Schwärmen: „Jetzt brauchen wir nur noch Geld für die Instrumente und das Mischpult, Paps. Dann geht's los!"

Vater muß tief schlucken und weiß nicht, ob er heulen oder lachen soll. Schließlich sagt er: „Aber der K. und der B. sind ja jünger wie du. Was willst du mit denen?"

Beat: „Ja schon, aber die spielen beide irre gut! Deshalb will ich sitzen bleiben, damit wir in der gleichen Klasse sind und den gleichen Stundenplan haben. Dann können wir mehr üben."

Dem Vater bleibt die Luft weg. Wortlos sitzt er da und schaut seinem Sohn mit großen Augen verständnislos ins Gesicht, bis er schließlich sagen kann: „Von alledem habe ich nichts gewußt. Warum hast du uns das alles verschwiegen? Nicht ein Wort hast du gesagt."

Beat: „Du machst dich immer lustig über die moderne

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Musik. Dein immer gleicher Spruch heißt ja: Harter Jazz ist organisierter Lärm. Da sag ich halt nichts."

Nach einer Pause sagt Vater: „Du hast uns also nichts gesagt, weil du genau gewußt hast, daß ich dich lächerlich machen würde."

Beat: „Ja, ganz genau!" Vater: „Das muß ich erst einmal verdauen. Also: Wenn

ich dich richtig verstehe, ist dir im Moment deine Musikband und die Kameradschaft mit dem K. und dem B. wichtiger als alles andere. Darauf willst du auf keinen Fall verzichten. Lieber nimmst du eine Wiederholung der Klasse auf dich."

Beat: „Ganz genau! Ich habe ja schon einmal gesagt: Beamter werden in einer großen Firma, das ist schon das letzte, was ich will. Ich will Musiker werden!"

Vater ist immer knapp dran zu sagen: Schlag dir das aus dem Kopf. Das sind alles Hirngespinste. Doch Vater entschließt sich, seinen Sohn ernst zu nehmen und sagt: „Jetzt muß ich erst einmal überlegen, was da zu machen wäre."

In den kommenden Tagen sammeln Vater und Sohn gemeinsam Unterlagen betreffs Musikausbildung.

Beat: „Ja, Konservatorium, das wäre schon toll, aber da braucht es ja Abitur! Das ist schon blöd." Sie gehen miteinander in das Internat und erkundigen sich, ob es hier ein Orchester gibt und welche Instrumente man da lernen kann. In all den Gesprächen übt sich Vater in „Vorwurfs-losem AZ".

Ja, und wie ging's in diesem Falle weiter? Beat ging ohne weitere Diskussionen ins Internat. Er konnte dort Klavierunterricht nehmen. Und das Thema „Berufs-musiker" war längst vergessen.

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Zusammenfassend heißt die Frage: Wie kann ich der Gefahr entgehen, meinen Mitmenschen als Gegenstand, als Objekt zu behandeln (also autoritärdirigistisch zu handeln)? Es ist mit folgenden Überlegungen möglich:

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5.3.6. Meine Urteilsfähigkeit

Ich kann dem Notstand des Dirigismus dann entgehen, wenn ich mir folgendes vergegenwärtige: a) Subjektives Urteil:

Da ich Subjekt bin, ist meine Meinung immer nur subjektiv, das heißt nur von meinem Standpunkt aus richtig. Alle meine Handlungen, seien sie richtig oder falsch, werden auf mich als Objekt zurückfallen. Ich bin Subjekt und Objekt zugleich.

b) Schöpferisches Wesen: Da mein Mitmensch - natürlich auch mein Kind nicht

nur Objekt, sondern ein freies schöpferisches Wesen, also Subjekt ist, muß ich seine Entscheidungen ernst nehmen. c) Wechselwirkung: Objekt/Subjekt

Wenn ich mich dem ständigen Wechsel von Objekt und Subjekt unterstelle, kann ich meinen Zwang zum Dirigismus überwinden. So kann ich mich auch vom Zwang zum Strafen befreien.

Wie das möglich wird, wollen wir im Folgenden besprechen:

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Erdrückung

Erziehung

Erziehung oder Erdrückung. Das ist die Frage.

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5.4. „Freiwilliger Zwang" oder natürliche Folgen?

5.4.1. Sascha und die Faszination des Wassers

Sascha, drei Jahre alt, spielt unten auf der Wiese in einem kleinen Bächlein und kommt mit nassen Schuhen in die Wohnung. Er will trockene Schuhe, die Mutter weiß, daß Sascha schon vor einer Stunde seine anderen Schuhe naß gemacht hat. Sie ist nicht mehr bereit, das Kind ein drittes Mal auf die Wiese zu lassen. Stellen Sie sich nun folgenden Dialog zwischen diesen beiden Personen vor:

Sascha kommt mit nassen Schuhen in die Wohnung. Die Mutter: „Vor einer Stunde habe ich dir verboten mit den neuen, trockenen Schuhen ins Wasser zu treten. Warum hast du es doch getan?" - Sascha: „Ich habe es vergessen." - Die Mutter: „Vergessen?! So etwas vergißt man doch nicht." - Sascha (steht hilflos da): „Ich habe kalt." - Die Mutter (sie hat zwei Möglichkeiten fortzufahren):

a) Strafe: Sie sagt: „Du bleibst jetzt in der Wohnung, und heute

bekommst du nichts zum Nachtessen. Basta." Bei dieser Reaktion wendet die Mutter Macht an. Lohn und Strafe stammen aus einer Zeit, in der wir noch klar umrissene Wertvorstellungen hatten. Dieses Mittel wird heute immer wirkungsloser. Es ist müßig, über Vor- und Nachteile zu diskutieren. Es gilt Besseres zu finden. Wie aber könnte die Mutter reagieren, ohne zu strafen, aber auch ohne nachzugeben? Das ist hier die Frage. Hier die zweite Möglichkeit einer Reaktion:

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b) Logische Folge: Die Mutter: „Gell, in dem Bächlein und in den

Wasserpfützen herumzustapfen ist einfach herrlich. Und wenn das andere Kinder auch machen, kannst du fast nicht daneben stehen bleiben." (Die Mutter versucht mit AZ die Stimmung und die Gefühlslage von Sascha zu erfassen). –

Ich spüre förmlich, liebe(r) Leserin, daß Sie jetzt denken: Wenn ich das noch zugebe, unterstütze ich doch das Kind in seinem Tun!

Das ist ein Trugschluß. Die Mutter hat sich mit ihren Aussagen nichts vergeben. Sie hat das Handeln des Kindes nicht als richtig oder gut bezeichnet, sondern nur als verständlich.

Sascha reagiert mit Kopfnicken und einem überzeugten: „Mmm!" - Die Mutter: „Schade, jetzt kann ich dir keine trockenen Schuhe mehr geben. Die letzten trockenen Schuhe brauchen wir morgen und übermorgen (= logische oder natürliche Folge). Und das Putzen und Trocknen der Schuhe macht mir gar keinen Spaß" (= I-Bo der Mutter)

Die Tatsache, daß Sascha keine weiteren trockene Schuhe mehr bekommt, wirkt so nicht als willkürliche Strafe der übergroßen/übermächtigen Mutter (kein Nachtessen), sondern als logische, natürliche Folge seines Handelns. Und die Aussage, daß es der Mutter keinen Spaß macht, immer nur Schuhe zu putzen, ist eine echte I-Bo. Sascha: „Mami, ich habe kalt." (= Er will nur Objekt sein.) - Die Mutter: „Ja, was machen wir da, damit du nicht mehr kalt hast?" (Sascha soll unbedingt den ersten Vorschlag machen. Das Warten auf die Antwort des Kindes lohnt sich.)

Sich lieber die Zunge abbeißen, als den ersten Vorschlag zu machen.

Sascha (nach einer Pause): „Mami, bitte ausziehen." (=

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Sascha handelt als Subjekt.) Mutter und Sohn bewerkstelligen gemeinsam die Lösung der Situation. Es gibt jetzt zwar keinen Gewinner, dafür aber auch keinen Verlierer.

5.4.2. Statt Strafe: logische Folgen

Mit logischen (= natürlichen) Folgen zu arbeiten ist eine wichtige Hilfe, um die Beziehung zu seinem Kinde zu verbessern. Die Wirksamkeit der logischen Folgen beruht auf dem Grundsatz, daß kein Mensch willentlich etwas tut, von dem er weiß, daß es ihm schaden könnte. Die Menschen tun zwar viel Dinge, die ihnen schaden, doch nur deshalb, weil sie im kritischen Moment fälschlicherweise glauben, sie würden ihnen nützen. Zu diesem Thema rate ich Ihnen, das vorzügliche Buch „Kinder fordern uns heraus" von R. Dreikurs/V. Stoltz zu lesen, erschienen im Klett-Cotta-Verlag, ISBN 3-608-95244-6.

Die Handlung jedes Menschen, besonders aber die der Kinder sind von ihrem Standpunkt aus gesehen in sich logisch. Erwachsene, wie Kinder werden sich nie - ganz sicher nie - durch Machtanwendung, wie eben z.B. Strafe von den Fehlern in ihrer Logik überzeugen lassen. Einsicht/Überzeugung ist nur möglich durch logische Folgen. Das Kind wird sehr schnell begreifen, daß seine Situation die Folgen seiner eigenen Handlungen sind. So entgehen die Eltern dem Zwang, als strafender Gott wirken zu müssen. Sie werden zu Beratern, wie man mit natürlichen Folgen umgeht. Auf diese Art werden die Gespräche mit dem Kind nicht zu einem richterlichen Verfahren, sondern zu einem gemeinsamen Lernprozeß, wie man mit unausweichlichen Folgen im Leben umgehen

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kann. Eltern lernen dabei vor allem, in gespannten Situationen gelassener zu reagieren.

Ich höre oft den Einwand, das sei schon recht und gut, aber nicht immer möglich. Es gibt Situationen in denen keine logischen Folgen auszumachen sind. Das stimmt. Doch als unverbesserlicher Optimist bin ich der Überzeugung, daß jede Situation, die ich positiv meistern konnte, dem Kind in fester Erinnerung bleibt und seine Wirkung haben wird.

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5.5. Macht vom ersten Tag an

5.5.1. Das Neugeborene erlebt seine Mutter als Macht

Das neugeborene Kind ist auf Gedeihen und Verderben seiner Mutter ausgeliefert. Jede Bewegung, das Waschen, auf den Bauch legen und vieles mehr wird von seiner Mutter bestimmt. Seine erste selbständige Handlung ist Schreien. Das Kind erlebt seine Mutter als Machtfaktor.

Die Gefahr ist groß, daß das Kind seine Eltern auch weiterhin nur als Befehlszentrale erlebt. Unbewußt entsteht bei den Eltern die Vorstellung, sie müßten dieses hilflose Geschöpf zu einem brauchbaren Menschen formen. Ebenso unbewußt entsteht die Grundhaltung: „Ich weiß, was für dieses unerfahrene kleine Ding richtig ist."

Das Gegenteil ist wahr: Die Aufgabe der Eltern ist es, die „naturgegebene" Entwicklungsfähigkeit des Kindes zu erhalten. Das Kind, auch das Kleinkind, handelt von seinem Standpunkt aus immer logisch und richtig. Umsichtige Eltern werden darauf achten, seine Eroberung der Welt ohne viel zerschlagenes Geschirr für die Umgebung geschehen zu lassen, mit Gewicht auf dem Passivum „Geschehenlassen".

Unbewußt entwickeln viele Eltern die Vorstellung, sie müßten den Lebensweg ihrer Kinder bis zur Volljährigkeit mitbestimmen und diesen ihre eigenen Wertvorstellungen mit mehr oder weniger Druck vermitteln.

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5.5.2. Wie Sie die Kraft bekommen, auf Macht zu verzichten

Wenn Sie nun wirklich entschlossen sind, in Ihrer Erziehung Macht abzubauen, dann schreiben Sie sich folgende Punkte auf ein großes Stück Papier und hängen es an einen Ort in Ihrer Wohnung, auf den Sie jeden Tag schauen: Ich achte darauf:

- seine Kreativität zu „erhalten" - ich rede mit ihm immer wieder über

Machtanwendung - ich werde achtungsvoll darauf schauen, daß der

Weg seines Lebens nicht gestört wird Deshalb entschließe ich mich, Macht nur als letzte

Notsituation anzuwenden. Zum Beispiel: - bei Gefahr mit schlimmen Folgen - wenn ich in einer Notlage bin - wenn ich erkläre, daß ich ungern Macht anwende

Für die meisten Eltern ist es bestimmt ein einmaliges und unvergeßliches Erlebnis, wenn ihr Kind zu laufen beginnt. Da hält sich das kleine Wesen an einem Stuhl und schaut zur Mama, die in einiger Entfernung in der Hocke ist. Und jetzt steht das Kind vor dem großen Entschluß: „Soll ich es wagen, zur Mama zu laufen?" - Und welch großartiges Gefühl, wenn sich danach beide in den Armen halten. Dies ist ein schönes Bild für Erziehung: Das Kind fühlt sich zu seiner Mutter hingezogen. Dieses Bedürfnis bleibt bis zum sogenannten Vertrauensbruch, bis zu jenem

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einschneidenden Moment, in dem sich das Kind das erste Mal betrogen fühlt.

Wenn ich der natürlichen Entwicklung meines Kindes nicht im Wege stehe, wird diese herrliche Zuwendung der Kinder bleiben, bis sie erwachsen sind. So könnte Erziehung Spaß machen.

5.5.3. Machtabbau

Kontrollierende Grundhaltung

Verstehende Grundhaltung

1. Macht zwingt, sie wirkt willkürlich.

Natürliche (logische) Folgen überzeugen, nicht die Person.

2. Keine logische Beziehung zwischen Fehlverhalten und Folgen

Die Folgen sind dem Fehlverhalten zugeordnet.

3. Moral wird als Druckmittel verwendet.

Kein Element moralischen Urteils.

4. Strafe befaßt sich mit der Vergangenheit.

Natürliche Folgen befassen sich mit dem, was jetzt passiert.

Schlußfolgerung:

Will ich der Rolle eines strafenden Gottes entgehen, so rede ich nicht mehr von Strafe, sondern von

logischen Folgen.

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5.6. Ein Erziehungsstil der vierten Art

5.6.1. Zwischen allen Stühlen

Heute sitzen engagierte Eltern zwischen allen Stühlen. Sie müssen sich zwischen mindestens drei unvereinbaren Erziehungsstilen entscheiden:

a) Der autoritäre Erziehungsstil: Die Grundidee des autoritären Erziehungsstil besagt:

Durch Kontrolle, Korrektur und Dirigismus lernt der junge Mensch das Gute zu wollen. Jeder Mensch, der wirklich will, kann Gutes tun. Wenn sich ein Kind querlegt, dann will es eben nicht. Der Sinn des Lebens wäre demnach: „Moralische Leistung."

b) Der antiautoritäre Erziehungsstil: Die Grundidee des antiautoritären Erziehungsstil (auch

„Laisser-faire"-Methode“ besagt: Vermeiden von Kontrolle. Volle Freiheit ist zu akzeptieren, denn jeder Mensch hat seine richtige Lösung in sich. Durch Erfahrung findet der Mensch seinen richtigen Weg selbst. Deshalb ist Dirigismus nicht nötig. Der Sinn des Lebens wäre demnach: „Jeder lebt sein eigenes Leben, jeder hat die Lösung seiner Probleme in sich. Er hat keine Hilfe nötig."

c) Der SEMI-liberale Erziehungsstil: Da beide obenstehenden Extreme anscheinend auf Dauer

nicht praktikabel sind, praktizieren viele Eltern unbewußt eine Mittellösung, eine Mischform, nämlich den sogenannten „SEMI-liberalen Erziehungsstil". Folgende Grundidee schwingt beim diesem Erziehungsstil unbewußt

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mit: Selbstverwirklichung, so weit als möglich, eigenständige Lebensformen, so weit als möglich. Eigene individuelle Lösung, so weit als möglich. Gewährung von Freiheit, sofern sie vernünftig und richtig gebraucht wird. Richtlinien ja, aber so wenig, wie möglich. Kontrolle ja, aber nicht einengend. Gut sein nicht aus Druck, sondern aus Überzeugung.

Autoritär, oder antiautoritär

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Die Wendung so weit als möglich verführt zum Leistungsdruck durch die Hintertür. Bei genauerem Hin-sehen erkennt man: Wenn ein Mensch die Unterscheidung zwischen Annahme und Dirigismus nicht kennt, rutscht er unweigerlich in den SEMI-liberalen Erziehungsstil hinein.

Aus meiner Sicht ist es aber nicht möglich, aus zwei falschen Sachen eine richtige Sache zu mischen. Was aber sonst?

5.6.2. Positiver Umgang mit Macht

Machtabbau ist in dem Maß möglich, indem es keine Verlierer gibt.

Kinder wenden Macht ohne irgendwelche Skrupel an. Sie haben dabei kein schlechtes Gewissen. Sie tun einfach das, was Erfolg hat. Das ist ihre Stärke. Eltern hingegen wenden ihre Macht nur zögernd, nur als letztes Mittel an. Das ist ihre Schwäche. Wir stehen hier vor der Frage. Welches Verhalten setzen wir der Macht unserer Kinder entgegen?

Greife ich hart durch, dann mache ich das gleiche wie die Kinder: Ich bekämpfe Macht mit Macht. Ich bin überzeugt, daß ich den Teufel nicht mit dem Beelzebub verjagen kann.

Neige ich hingegen zur „Laisser-faire"-Methode, gebe ich nach, bin ich großzügig, dann nehmen sich die Kinder immer mehr Freiheiten/Frechheiten heraus, und ich fühle mich ständig als Verlierer.

Bin ich also dazu verurteilt, immerzu zwischen den beiden Extremen hin- und herzupendeln? - Einerseits versuche ich mit viel Idealismus und Aufwand meinem

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Kind tolerant und einfühlsam zu begegnen. Andererseits falle ich sofort, wenn es nicht klappt, in alte Macht-strukturen zurück und entscheide autoritär, was richtig und/oder was falsch ist. Gibt es da überhaupt eine Lösung?

Es gibt einen vierten, eigenständigen Weg, welcher sich in der Praxis bewährt. Ich nenne ihn den „POG-Weg".

5.6.3. POG: das Problemorientierte-Gespräch

Wie so ein POG in der Praxis aussieht, zeige ich an folgendem Beispiel:

5.6.4. Die verweigerte Mithilfe im Haushalt

Diese Mutter hat zwei Kinder (10 + 12 Jahre alt). Sie sagt: „Seit ich wieder 40% auswärts arbeite, wird mir die Haushaltsarbeit einfach zu viel. Ich habe keine Minute mehr für mich allein und bin ständig unter Zeitdruck. Um eine Mithilfe von euch wäre ich schon sehr froh (= I-Bo der Mutter). Keine Reaktion.

Nachdem die Mutter ihr Anliegen schon einige Male wiederholt hat und keine Reaktion von seiten der Kinder gekommen ist (= das ist normal!), entschließt sie sich am Sonntag zu einer Familienbesprechung. Hier bringt sie ihr Anliegen mit starken Worten vor (= die Mutter handelt als Subjekt).

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5.6.5. (1) Notsituation der Mutter (starke I-Bo)

Die Mutter sagt: „Ich bin in einer Notsituation. Ich habe das Gefühl, meine Arbeit wird gar nicht geschätzt. Niemand von der Familie nimmt mich ernst. Und ich vermute, daß keiner von euch merkt, was ich da leiste. Ich fühle mich nicht ernst genommen. Ich komme mir vor, wie das Dienstmädchen der Familie. Mein Problem/meine Notlage heißt:

Einerseits mache ich den Haushalt gern; einerseits weiß ich, das ihr alle viele Pflichten habt; einerseits gönne ich euch so viel Freiheit als möglich.

Andererseits ist es für mich sehr deprimierend, mich täglich neben meiner Arbeitsstelle im Haushalt abzumühen, und keiner merkt es. So mache ich nicht mehr weiter (= starke I-Bo der Mutter)."

5.6.6. (2) Blockieren (= passive Macht)

Die Mutter sagt laut und vernehmlich: „Ich bin nicht mehr bereit, das Dienstmädchen zu spielen! Irgend etwas muß sich ändern. Ich habe mich entschlossen, die Küche nicht mehr aufzuräumen, bis wir uns zusammensetzen und das Haushaltsthema gemeinsam besprechen (= passive Macht)."

Als Folge bleibt das Geschirr in der Küche liegen. (=Die Situation ändert sich.) Nachdem alles Geschirr im Haushalt verbraucht ist, kommen schließlich ungewaschene Teller und Tassen auf den Mittagstisch. Allgemeine Entrüstung; der Vater reklamiert. (= Die Blockierung beginnt zu wirken.) Nun sind alle plötzlich

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daran interessiert, der Mutter zuzuhören. Sie bleibt ruhig, sachlich und sagt: „Ich habe euch schon einmal gesagt, daß ich mich in einer Notlage fühle. Ich wiederhole: Einerseits mache ich den Haushalt gerne, und ich gönne euch so viel Freiheit wie möglich. Andererseits bin ich nicht mehr bereit weiterhin die ganze Arbeit alleine zu machen.

Bei uns läuft es immer gleich: Ich bringe meine Anliegen vor. Ihr sagt nichts, aber ihr tut auch nichts. All unsere Gespräche bleiben wirkungslos. Das ist eure Form von Macht, und ich stehe „machtlos und ohnmächtig" daneben. Ihr wißt, daß ich „Macht" verabscheue und ihr wißt, daß ich mich bemühe, euch alle (Ehemann und Kinder) ernst zu nehmen. Da ist es doppelt schmerzlich für mich, eure rücksichtslose Macht einfach hinnehmen zu müssen. Wenn ihr gedankenlos Macht anwendet, zwingt ihr mich zu einer Gegenmacht. Ich werde aber wie bis jetzt nur „passive Macht" anwenden (z.B.: nicht abwaschen) und nur so lange, bis wir miteinander vernünftig reden können. Ich bin nicht mehr bereit, die Verliererin zu sein."

5.6.7. (3) Angebot für ein Gespräch

Die Mutter fährt fort: „Es ist mir sehr wichtig mit euch über diese Situation zu reden und zu klären, was zu machen ist, damit wir uns alle wohl fühlen können?"

Und siehe da. Bei dieser Familienbesprechung bleiben die Kinder beim Thema und innert kürzester Zeit findet sich eine Lösung. Wieso wurde die „schnelle" Lösung möglich? Es wurden folgende drei Punkte beachtet:

(1) Eigene Notsituation ( = starke I-Bo): Die Mutter spielt nicht die Starke. Sie droht nicht,

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moralisiert nicht, sondern schildert den Kindern ruhig ihre „Notsituation". Sie sendet eine starke I-Bo. Sie schildert ihre Gefühle, ihre Stimmung, ihre Enttäuschung.

(2) Blockieren, handeln (= passive Macht): Die Mutter handelt. Denn sie weiß, sie kann nichts und

niemanden ändern. Sie kann nur ihr eigenes Verhalten ändern.

Eine „Wirkung" entsteht erst, wenn sich die Situation geändert hat. Erst, wenn es nicht mehr wie gewohnt weiter geht, wenn der gewohnte Weg blockiert ist, beginnt die Denkphase. Die Kinder werden ihr Verhalten dann ändern, wenn sie im neuen Verhalten einen Vorteil erkennen.

(3) Angebot zu einem Gespräch: Das Blockieren ist nicht das Ende, sondern der Beginn

des Gespräches. Die Mutter signalisiert: „Es ist mir sehr wichtig, mit euch über meine/die Situation zu reden. Denn mir liegt viel daran, daß wir uns alle wohl fühlen können."

Die POG-Methode besteht aus drei Schritten: 1. Notsituation (= starke I-Bo) 2. Blockieren, handeln (= passive Macht) 3. Angebot zum Gespräche (ohne Verlierer)

Die Kinder können ihre Eltern nur als Menschen aus Fleisch und Blut, mit Freuden und Tränen erleben, wenn die Eltern bereit sind den Kindern ihre Gefühle und Stimmungen mitzuteilen. Verstandesmäßige Argumente wirken wenig. Was ankommt/wirkt sind Emotionen, Gefühle, Stimmungen.

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5.6.8. Festigkeit ohne Dirigismus

Regel Nr. 5: Feste Hand und doch nicht direktiv. Die POG-Methode ist eine wirksame Möglichkeit, dem

Kind feste Grenzen zu setzen, ohne in die autoritärdirigistische Grundhaltung zurückzufallen,

ohne Macht zu mißbrauchen.

Warum muß man auch immer mit dir schimpfen!

Die Prinzessin, oder - Krach beim Kartenspiel Ich bin bei einer Familie zu Besuch. Man einigt sich darauf, nach dem Abendessen Elferraus zu spielen. Anfangs geht alles gut. Plötzlich ruft die 7jährige Christa: „Ihr seid gemein! Weil ich die Jüngste bin, kann ich noch nicht so gut spielen und verliere immer! Ich kann ja nichts dafür, daß ich die Jüngste bin. Ich spiele nur noch mit, wenn ich gewinne." Vater beschwichtigend: „Das macht doch nichts. Irgend-

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wann wirst du dann schon mal gewinnen." Christa: „Aber ich will jetzt gewinnen." Mutter: „Wir spielen ja nicht um zu gewinnen, sondern weil es lustig ist." Christa: „Für mich ist es nicht lustig, immer zu verspielen." Doch Vater verteilt schon wieder die Karten. Da beginnt Christa zu heulen. Vater. „So tu doch nicht so hysterisch! Wir spielen ja nur!" Da wirft Christa alle Karten durcheinander und rennt weg. Wir spielen ohne Christa weiter. Da dreht Christa den Radio so laut auf, daß wir nicht mehr reden können. Vater: „Jetzt machst du den Radio sofort leiser, oder du gehst in dein Zimmer." Einen Moment ist es still. Wir beginnen wieder zu spielen. Aber da beginnt Christa ein Monatsheft zu zerreißen, welches dem Vater gehört. Vater steht auf, rennt rüber und schimpft: „Was fällt dir denn ein? Das ist mein Heft! Das brauch ich noch! Einfach etwas kaputt machen!" Wir beginnen ein drittes Mal mit Spielen. Nach 5 Minuten ruft Christa aus der Küche: „Ich will was zu trinken. Wo ist die Cola-Flasche?" Mutter steht auf und stellt Christa die Flasche auf den Tisch. Vater nimmt Flasche und Christa und verfrachtet beide in Christas Zimmer. Dort heult sie so laut, daß wir uns im Spielen immer gestört fühlen. Da sagt die Mutter zu mir: „Jetzt siehst du's. Jeden Tag geht das so, zwar immer etwas anderes, aber immer das gleiche Theater. Je länger je mehr spielt sich Christa wie eine Prinzessin auf. Wir glauben jetzt bald, mit dem Kind ist etwas nicht in Ordnung. Wir können wirklich keinen Grund finden, warum sie plötzlich so jähzornig und herrschsüchtig ist. Wie soll das nur weitergehen? Wir können ihr doch nicht alles durchlassen. So wird sie im Leben immer anecken."

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Info Bedürfnisse von Vater:

Er möchte einen gemütlichen Spielabend erleben. Er möchte mit der ganzen Familie beisammen sein und Spaß am Spielen haben. Er ist bereit, der Christa so weit als möglich entgegen zu kommen, so daß Christa einlenken könnte. Weil das nicht gelingt, wird Vater laut, er schimpft mit Christa und schickt sie vom Tisch. Auf diesen Moment hat Christa gewartet. Jetzt kann sie auf Konfrontation gehen. Beide, Vater und Tochter, wenden Macht an. Bedürfnisse von Christa: Sie möchte auch Elferraus spielen. Sie möchte auch Spaß am Spielen haben. Die andern sollen sie gewinnen lassen. Sie will gewinnen und zwar immer. Sie will, daß man sie lobt, daß man sich mit ihr beschäftigt. Es muß immer nach ihrem Kopf gehen. Sie will im Mittelpunkt stehen. Im Klartext: Sie will Macht haben. Ihr Lebensgefühl heißt: „Ich bin die Prinzessin, ich habe Macht." Doch Macht kann man nicht mit Macht bekämpfen. Doch was anstelle von Macht? Positives Beispiel Wie wäre das abendliche Kartenspiel noch zu retten gewesen? Beginnen wir von vorne: Ich bin bei einer Familie zu Besuch. Man einigt sich, Elferraus zu spielen. Anfangs geht alles gut. Plötzlich ruft die 7jährige Christa: „Ihr seid gemein! Weil ich die Jüngste bin, kann ich noch nicht so gut spielen und verliere immer! Ich kann ja nichts dafür, daß ich die Jüngste bin. Ich spiel nur noch mit,

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wenn ihr mich gewinnen laßt!" Da sagt Vater: „Du meinst also, es sei ungerecht, wenn die Kleinen genau so spielen müssen, wie die Großen." Christa: „Ja, genau!" Vater: „Ich soll also so schlecht spielen, damit du gewinnst? Da würde ich mich gar nicht wohlfühlen. Meine eigene Tochter anschwindeln? Nein, das mach ich nicht!" Mutter phantasiert weiter: „Wir müßten etwas an den Karten erfinden, daß man mit jedem Jahr, das man jünger ist, leichter gewinnen kann." Christa lächelt unsicher. So was hat sie noch nie gehört. Die andern lachen auch. Vater: „Jetzt sind wir aber alle in einer dummen Situation. Einerseits hätten wir alle Spaß am Spielen, andererseits wollen wir der Christa doch nicht unrecht tun. Ich lege zunächst einmal die Karten auf die Seite, und wir suchen jetzt gute Ideen. Wer hat eine?" Pause. Vater macht einen Vorschlag: „Wir diskutieren über den Rinderwahnsinn." Christa: „Nein, nein, nein, das ist blöd!" Vater: „Ist ja erst 'ne Idee." Mutter: „Wir spielen Blinde Kuh." Christa: „Aber das geht doch nicht in der Wohnung!" Vater: „Wir verteilen die Karten so, daß Christa immer alle guten Karten hat." Christa lächelt ungläubig. Mutter: „Wir legen alle Karten offen auf den Tisch. Da kann jeder dem andern sagen, was er spielen soll." Christa lacht. Ich sage: „Christa und ich spielen zusammen. So sind wir stark und müssen nicht mogeln." Christa ruft: „Oh, ja. Das ist lustig!" und stellt sich zwischen meine Knie. Wir haben noch lange Elferraus gespielt. Was hatten wir eigentlich für einen Streit?

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6. „Warum?" und „Wozu?"

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6.1. Machtabbau ohne Verlierer -Vergangenheit und Zukunft

6.1.1.Verlierer

Wir haben gelesen: Machtabbau ist in dem Maß möglich, in dem es keine Verlierer gibt. Ich kann auch sagen: Das Kind fühlt sich nicht als Verlierer, wenn es sich verstanden fühlt.

Ich kann aber nur dann die Handlungsweise meines Kindes verstehen, wenn mich nicht nur das „Warum?", der Grund seines Handelns interessiert, sondern wenn mich auch das „Wozu?", der Zweck/das Ziel seines Handelns beschäftigt.

Immer wieder gestehen mir Eltern, sie wären zwar entschlossen, in diesem Sinn auf ihr Kind einzugehen. Aber nach drei- oder viermaligem aktivem Zuhören versiege das Gespräch wieder. Und die „eigenartige" Verhaltensweise ihres Kindes ist ihnen immer noch schleierhaft. Und ratlos stehen sie vor der Frage: „Was könnten bloß die tiefer liegenden Gedanken meines Kindes sein?"

Hier ein Beispiel:

6.1.2. Warum ist mein Kind so widerspenstig? oder: Oliver im Restaurant

Die Familie, bestehend aus Mutter, Vater und dem 8jährigen Oliver, machen anläßlich eines Sonntagsaus-fluges in einer Gaststätte einen Zwischenhalt. Die Eltern

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genehmigen sich einen kleinen Imbiß, und Oliver bekommt auch, was er möchte.

Zur allgemeinen Überraschung betreten gute Bekannte das Lokal. Allgemeine, freudige Begrüßung. Man bestellt sich noch etwas zum Trinken und zum Knabbern. Das Gespräch sprudelt fröhlich vor sich hin. Oliver wird immer unruhiger, rennt im ganzen Restaurant umher, wirft eine Tasse um, rennt auf die Straße und muß vom Vater an den Tisch zurückgeholt werden. Alle gutgemeinten Ermahnungen nützen nichts.

Da reißt dem Vater der letzte Geduldsfaden. Er drückt Oliver mit festem Griff auf seinen Stuhl und sagt: „Warum zum Teufel mußt du plötzlich so ekelhaft sein!?" -Und wirklich fragen viele Eltern in ebenso vielen Situationen „Warum?". Z. B.: „Warum ist mein Kind plötzlich wie ein umgekehrter Handschuh? - Inwieweit ist sein Verhalten gestört, völlig neben aller Logik? - Oder kann ich sein Verhalten, wenigstens streckenweise nachvollziehen?" - Mit diese Frage beschäftigen wir uns im nächsten Abschnitt.

6.1.3. Auf den Blickwinkel kommt es an

Jeder Mensch - und auch das Kind - lebt mit einem Bein in der Vergangenheit und mit dem anderen Bein in der Zukunft. Demnach ist auch sein Handeln gleichermaßen von der Vergangenheit, wie von der Zukunft beeinflußt.

Frage ich mit „Warum?" nach dem Grund seines Handelns (Vergangenheit), ergeben sich z.B. folgende Sätze: „Warum ist Konrad in der Schule unruhig?" - Die Antwort könnte lauten: „Weil das Thema langweilig ist." - „Aber warum ist das Thema langweilig?" - „Weil er den Anschluß verpaßt hat." - „Aber warum hat er den

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Anschluß verpaßt?", - „Weil er zu wenig gelernt hat." -„Aber warum fällt Konrad gerade in diesem Fach das Lernen so schwer?" - „Weil er den Sinn der Aufgabe nicht versteht." - Und so kann ich bis ins Unendliche mit dem Wörtchen „Warum" weiterfragen.

Frage ich aber mit „Wozu?" nach dem Zweck/dem Ziel seines Handelns, bekomme ich ganz andere Antworten. Ich habe mehrere Möglichkeiten nach der Zukunft zu fragen, z.B.:

- Was bezweckt/erreicht das Kind durch sein Verhalten?

- Welches bewußte (oder unbewußte! ) Ziel verfolgt das Kind?

- Welchen Vorteil erhofft sich das Kind aus seinem Verhalten?

- Wozu tut mein Kind dieses oder jenes? Bei Konrad könnte dies so tönen: „Wozu ist Konrad in der Schule so unruhig?" - Die

Antwort könnte lauten: „Damit er vom Unterricht ablenken kann." - „Wozu aber will er ablenken?" - „Damit er auffällt (mit guten Noten kann er dies nicht!)." -„Wozu will er denn auffallen?" - „Damit er im Mittelpunkt steht." - „Wozu will er im Mittelpunkt stehen?" - „Damit er das Leben so richtig genießen kann." - Und so kann ich noch endlos mit dem Wörtchen „Wozu" weiterfragen.

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Das Warum und das Wozu

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Konkrete Beispiele zweckhaften/zielorientierten Handelns:

- Wer sich querlegt, lenkt die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen auf sich.

- Wer sich dumm anstellt, bekommt die Hilfe seiner Mitmenschen.

- Wer „krank spielt", bekommt Zuwendung/Pflege. - Wer moralisiert, betont seine moralische

Überlegenheit. - Wer straft, demonstriert seine Macht. - Wer kritisiert, demonstriert seine Überlegenheit. - Wer sich quälen läßt, leidet, um sich moralisch

überlegen zu fühlen. Jeder Mensch verfolgt mit seinem Handeln bewußte

oder unbewußte Ziele! Diese Fragen um Vergangenheit und Zukunft herum überlege ich mir natürlich im stillen, bevor ich mit meinem Kind darüber rede. Im Gespräch werde ich die Antworten in Form von aktivem Zuhören, also als Tatsache - vom Kind genannt/bestätigt - notieren. Auf keinen Fall werde ich Fragen stellen, weil sie hier kontrollierend wirken würde. Anstatt zu fragen: „Könnte dir vielleicht das Thema nicht liegen?" (Mögliche Antworten: „Ja/Nein".), sage ich besser: „Für dieses Thema kannst du dich einfach nicht erwärmen" (AZ). - Anstatt zu fragen: „Was könntest du denn für einen Vorteil haben, wenn du den Unterricht störst?" (= kontrollierend), sage ich besser als AZ: „Wenn dir wieder so ein Gag gelungen ist, dann bist du der Held der Klasse."

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Kehren wir zu Oliver im Restaurant zurück. Schreiben Sie auf ein Stück Papier in Form von aktivem Zuhören nun zuerst das „Warum?", also warum Oliver im Restaurant plötzlich so unruhig wird? - und darunter oder daneben das „Wozu?" zu welchem Zweck Oliver denn unruhig wird bzw. welches Ziel er durch sein Verhalten erreicht.

6.1.4. Schlußfolgerung

Kein Mensch und kein Kind tut etwas ohne Zweck/ohne Ziel. Auch Nichtstun ist Zweck. Normalerweise beschäftige ich mich mit dem „Warum?" meines Kindes. Das ist nur die Hälfte seines Wesens. Wahrhaft verstehen werde ich mein Kind erst, wenn ich die andere Hälfte, das „Wozu?" auch miteinbeziehe.

6.1.5. Kinder sind sooo widersprüchlich! Oder das einheitliche Wunschbild

Bei unserem Oliver merken wir nach einigen ähnlichen Vorfällen, daß er nur unter ganz bestimmten Bedingungen zufrieden ist. So lange sein Idealzustand nicht hergestellt ist, wird Oliver hundert verschiedene Gründe finden, warum er nicht zufrieden sein kann. Alle Schlichtungs-versuche werden nichts nützen.

Die Frage lautet also: „Weshalb lohnt sich für Oliver der große Aufwand, immer neue Schwierigkeiten mit seinen Eltern oder seinen Mitmenschen einzuhandeln? Was erreicht er mit seinem Verhalten?"

Das untersuchen wir an folgendem Beispiel:

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6.1.6. Hannelore und ihre asthmatische Mutter

Hannelore, 28jährig, wohnt bei ihrer Mutter. Sie hätte eine tolle Stelle in Paris. Eigentlich hat sie sich bereits für diese Stelle entschieden. Da bekommt ihre Mutter wieder ihre Asthmaanfälle.

Das bringt Hannelore in Panik. Sie ruft ihre Freundin an und sagt ihr am Telefon: „Ich muß unbedingt mit dir reden. Es geht um meine Mutter."

Nachdem sie sich in einem kleinen Café in einer stillen Ecke getroffen haben, beginnt Hannelore ohne Umschweife: „Hör mal! Ich bin wieder in der gleichen Situation, wie vor einem Jahr. Und das jetzt zum dritten Mal! Zum dritten Mal, verstehst du! Stell dir vor, ich könnte eine tolle Stelle in Paris antreten. Ich habe den Vertrag schon unterschrieben. Aber ich kann ihn einfach nicht wegschicken, denn gerade jetzt bekommt meine Mutter wieder ihre Asthmaanfälle. Die Mutter sagt andauernd zu mir, ich könne sie doch nicht in diesem Zustand alleine lassen. Und überhaupt, könne ich es doch nirgends schöner, freier und billiger haben, als bei ihr. Nun weiß ich nicht, wie ich mich entscheiden soll. Deshalb frage ich dich: Was soll ich bloß machen?"

Die Freundin versucht alle möglichen Lösungen zu finden, doch alle guten Ratschläge fruchten nicht. Bei jedem Vorschlag ist für Hannelore ein negativer Haken dabei. Die beiden Frauen kommen zu keiner Lösung.

Woran mag das liegen? Wenn Sie die Situation von Hannelore genau überlegen, werden Sie feststellen, daß sie sich sehr wohl entschieden hat. Sie hat nämlich für die Unentschlossenheit entschieden. Sie will die Verantwortung für ihren Entschluß nicht übernehmen.

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Diese scheinbare Unentschlossenheit nennen wir Ambivalenz oder Doppelwertung.

Liebe(r) Leserin, wie würden Sie anstelle der Freundin reagieren?

Die Aufgabe und Leistung der zuhörenden Freundin besteht keinesfalls im Lösungen suchen, sondern darin ihrer Freundin Hannelore die Problemstellung möglichst klar und deutlich, aber vorwurfslos darzulegen. Als Vertraute von Hannelore könnten sie z.B. folgendermaßen aktiv zuhören:

„Du bist wirklich in einer unangenehmen Situation. Wie du dich auch entscheidest, es besteht immer die Gefahr einer Fehlentscheidung. Wir Menschen sind in solchen Situation grundsätzlich überfordert. Wir können letztlich nicht wissen, was richtig und was falsch ist. Auch eine Nichtentscheidung ist eine Entscheidung. Das ist das Schlimme! Wir können z.B. auch nicht wissen, wie wir später (in einigen Stunden, Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren) über die jetzige Entscheidung denken/urteilen werden. Tatsache ist: Wir müssen uns im Hier und Jetzt entscheiden und falls nötig lernen mit Fehlentscheidungen zu leben. Das Leben zwingt uns laufend Entscheidungen zu treffen. Ich kann dir keine Lösung anbieten. Ich bin aber bereit, mit dir über dein Problem zu reden, bis dir vielleicht plötzlich alles klar ist und du dich entscheiden kannst."

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6.2. Zusammenfassung

Wir haben uns weiter oben die Frage gestellt, für welchen Zweck/welches Ziel sich für einen Menschen ein solch kompliziertes Verhalten lohnt, nämlich sich immer wieder Schwierigkeiten mit seinen Eltern/seinen Mitmenschen einzuhandeln?

Die Antwort bei Oliver lautet z. B.: Mit seinem störenden Verhalten kann er seine Eltern zwingen, sich mit ihm zu beschäftigen. Auf diese Weise holt sich Oliver Zuwendung, zwar negative, aber immerhin Zuwendung.

Bei Hannelore heißt die Antwort: Mit ihrer Unentschlos-senheit müssen sich ihre Mitmenschen immer wieder mit Hannelore beschäftigen. Sie findet immer wieder einen Grund, sich mit ihrer Freundin oder sonst jemandem zu treffen, um stundenlang ihre schwierige Lage zu besprechen. In ihren Augen ist ihr Verhalten die einzige Möglichkeit, welche sie kennt, zu einer gewissen Zuwendung zu kommen. Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für unsere Erziehung? Viele Kinder sind wahre Meister in ambivalenten Verhaltensspielen. Das ist bei Kindern völlig normal. Wenn ich bei meinem aktiven Zuhören mehr in die Tiefe kommen möchte, ist es mir eine Hilfe, ambivalentes Verhalten bei meinem Kinde zu erkennen. Durch diese Erkenntnisse kann ich mich dem Kind gegenüber entsprechend verhalten.

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Das rätselhafte Mäuerchen Ursula freut sich auf den Kindergarten. Sie zieht sich selber an und geht seit Wochen alleine und pünktlich von Zuhause weg. Ihr Weg führt über einen Hof. Nun spielt sich plötzlich täglich das gleiche ab. Am Ende des Hofes ist eine kleine Mauer, gerade so hoch, daß sich Ursula drauf setzen kann. Da bleibt sie nun sitzen. Die Mutter sieht das vom Küchenfenster aus und ruft: „Du mußt jetzt weitergehen, sonst kommst du zu spät!" Keine Wirkung! Nach dem dritten Rufen geht Mutter runter zu Ursula und sagt: „Jetzt geh doch endlich in den Kindergarten!"

Ursula jammert: „Ich kann allein nicht gehen. Alleine ist es langweilig, und ich habe Angst, ich gehe nur, wenn andere Kinder auch gehen." - Mutter: „Aber du bist doch schon oft alleine gegangen". - Ursula: „Ja, aber ich habe immer so Angst vor dem Fußgängerstreifen, und dann renne ich nach vorne zur Unterführung." - Mutter: „Na gut, dann gehst du eben durch die Unterführung." - Ursula: „Aber die ist so weit weg." - Mutter: „Dann gehst du eben fünf Minuten früher von Zuhause weg." - Ursula: „Aber wenn ich dann aus der Unterführung die Treppe herauf komme, weiß ich nicht mehr, wo ich bin und wo der Kindergarten ist, und dann komme ich zu spät. Ursula fängt an zu heulen: „Und wenn ich dann zu spät komme, dann schimpft die Kindergärtnerin mit mir, und die tollen Spielsachen sind auch schon weg!" Die Mutter wird weich und bringt Ursula in den Kindergarten. Augenblicklich sind die Tränen verschwunden. Ursula kommt stolz an Mamis Hand im Kindergarten an. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Sie bleibt ohne weiteres im Kindergarten, und Mutter geht wieder heim. -Ihr ist das Verhalten von Ursula völlig unerklärlich.

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Info Ursula hat folgende Bedürfnisse: Sie möchte… - nicht allein in den Kindergarten gehen. - nicht allein über die große Straße gehen. - nicht zu spät in den Kindergarten kommen. - daß sich Mammi mit ihr beschäftigt. - ihre Mammi stolz im Kindergarten vorzeigen. Mutter hat folgende Bedürfnisse: Sie möchte… - mit Ursula möglichst wenig Zeit verlieren. - daß Ursula endlich lernt, selbständig in den

Kindergarten zu gehen. Positives Beispiel

Mutter sagt: „Ursula, irgendwie gehst du nicht gerne allein in den Kindergarten." Ursula: „Ja, allein gehen ist nicht lustig." Mutter: „Und dann denkst du dir, Mama soll mit dir mitgehen. Dann bist du nicht allein." Ursula: „Ja ganz genau." Mutter: „Weißt du, ich fühle mich nachher, wenn ich heim komme, gar nicht wohl. Denn eigentlich will ich ja nicht in den Kindergarten kommen. Ich habe doch in der Wohnung sooooooo viel zu tun. Aber dann werde ich wieder weich, und das ist für dich schön." Ursula: „Ja, genau". Mutter: „Weißt du, Ursula, ich habe lange darüber nachgedacht. Und jetzt habe ich mich entschlossen, nicht mehr bis in den Kindergarten mitzukommen. Hast du eine Idee, wie du nicht allein in den Kindergarten gehen mußt und ich zuhause in der Küche arbeiten kann?" Keine Antwort. Mutter: „Gut, ich bleibe jetzt in der Küche und warte, bis dir etwas eingefallen ist."

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6.2.1. Grund und Zweck menschlichen Handelns

Regel Nr. 6: Will ich mein Kind wahrhaft verstehen, werde ich mich sowohl für den Grund

(Vergangenheit), als auch für den Zweck/das Ziel (Zukunft) seines Handelns interessieren.

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7. Annahme oder Leistung

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7.1. Gepflegtes Heim und schmutzige Hände. -Oder: Wie Karl aus der Familie herausfällt.

Ich denke da an die tragische Situation einer mir gut bekannten Familie mit zwei Kindern. Denis, 12jährig, ist umgänglich, einfügsam und - vor allen Dingen - sauber. Karl, 14jährig, ist ein verschlossener Einzelgänger, ein begeisterter Mofa-Fahrer und -Reparierer, aber ungepflegt, mit ewig schmierigen Händen und schwarzen Finger-nägeln. Jedes neue T-Shirt hat im Nu Fettflecken und ist unansehnlich. Deshalb fällt es der Mutter schwer, beide Söhne gleich gern zu haben. Sie ist ewig in Gefahr, Karl zu kritisieren: „Komme mir ja nicht so ins Wohnzimmer. Wasche dich gefälligst zuerst! Meinst du, ich will deinen Dreck auf meiner neuen Polstergruppe?" -„Kind, du gehst mir auf die Nerven. Gehe sofort raus, ich kann dich nicht mehr sehen." Karl macht seiner Mutter offensichtlich einfach das Leben schwer. Es herrscht ständig dieser „vorwurfsvolle" Ton, den ich bei meinen Besuchen mit anhören muß. Keine einzige positive Bemerkung bekomme ich zu hören. - Wie reagiert Karl? Er antwortet schnippisch: „Du kannst mich mal! Ich esse sowieso lieber in der Küche." - Darauf die Mutter: „Du wirst mit uns gemeinsam im Wohnzimmer essen und fertig! Denis kann ja auch sauber sein. Warum du nicht?" - Karl: „Denis ist eben dein Liebling. Das ist mir schon lange klar." - Die Mutter entrüstet: „Rede gefälligst nicht so dummes Zeug! Ich hätte dich genau so gerne, wenn…!" - Ja, wenn was?

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7.1.1. Wenn…, dann…

In dieser Familie läuft alles mit sogenannten „Wenn-dann"-Sätzen: „Wenn du mir nicht so auf die Nerven gehen würdest, dann…!" - „Wenn du nicht immer so ausgefallene Ideen hättest, dann…!" - „Wenn du nur endlich etwas sauberer sein könntest, dann… ja dann könnte ich dich auch lieber haben." Es herrscht hier die Wertvorstellung: Je angenehmer, desto lieber. Je mehr Leistung (sprich Sauberkeit), desto geschätzter. So wurde Liebe in dieser Familie zum Tauschobjekt, zum Leistungsmesser. Wie geht es mit Karl weiter? Alle Drohungen nutzen nichts. Karl wird immer verstockter, frecher, bringt seine Freunde mit nach Hause, die natürlich ähnliche Sauberkeitsauffassungen haben. Es ist ein ewiger Kampf zwischen Mutter und Sohn. - Um die Mutter zu ärgern, rauchen die Freunde in Karls Zimmer auch noch Haschisch. Dies bringt die Mutter so in Rage, daß sie droht: „Ich will in meiner Wohnung diesen Gestank nicht. Mache dich sauber und hör mit dem Zeug auf oder verschwinde!" Und Karl ist verschwunden. Immer öfters kommt er nicht nach Hause. Verweigert standhaft jede Aussage über sein Verbleiben. Läuft später aus seiner Lehre davon und beginnt als Hilfsarbeiter in einer Kühlschrankfabrik zu arbeiten.

Mit einundzwanzig reiht er sich in die Gruppe der

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Drogentoten unserer Stadt ein. - Kommentar der Mutter: „Karl war eigentlich nie lebensfähig!"

7.1.2. Die Macht negativer Gespräche

Was hat wohl dazu beigetragen, daß Karls Leben diesen Ausgang genommen hat? - Es war die Macht der negativen Redensart seiner Mutter. Die ständig schlechte Stimmung hatte eine unglaublich negative, entmutigende Wirkung auf den Jungen. Die ewigen Vorwürfe und die gefühlsmäßige Abweisung von Karl hatte diesen völlig zermürbt. Durch die ewige Kritisiererei schrumpfte sein Selbstwertgefühl immer mehr. Am Ende war er ein völlig entmutigter junger Mensch, der jede Hoffnung auf Annahme/Zugehörigkeit verloren hatte. Ein unverzichtbares Bedürfnis war nicht abgedeckt: Sein Bedürfnis nach Annahme, das Bedürfnis nach Geborgenheit, das Bedürfnis bedingungslos geliebt zu werden, das heißt geliebt zu werden, um seiner selbst willen, nicht um seiner Leistung willen (in unserem Beispiel um seiner Sauberkeit willen). Ja aber, werden Sie einwenden, muß ich schicksalsergeben ertragen, daß mein Sohn die Handtücher verschmiert, daß er seine Kleider am Boden herumliegen läßt, daß er nach Öl stinkt? Karls Verhalten war ja wirklich unerträglich. Jeder(m) LeserIn wird einleuchten, daß es so nicht geht. Das muß man einem 14jährigen Jüngling doch einmal sagen dürfen. Und wenn er es nicht freiwillig lernt, dann eben mit Gewalt! Jedoch! Die Frage lautet hier nicht, ob tragbar oder nicht

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tragbar. Sie lautet auch nicht, ob schuld oder nicht schuld. Sie lautet: „Wirksames oder unwirksames Gespräch?" - Denn alle Versuche der sorgenden Mutter, all ihre Mahnungen, Drohungen, Erklärungen, Versprechungen, all ihr Ärger zeigten keine gewünschte (= positive) Wirkung. Dieses Buch würde ich nicht schreiben, wenn es in der Erziehung mit Disziplin, Geboten und Verboten heute noch funktionieren würde.

Leider zeigt die Praxis tausendfach, daß Schuldzuweisung und Strafe nichts bringt. Was hätte die Mutter tun sollen, tun können? a) Die Situation einfach ertragen? b) Die Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen? c) Mit harte Konsequenzen einschreiten? d) Karl gut zureden? e) Ihren Sohn belohnen?

Welche Verhaltensweise der Mutter hätte Hoffnung auf Erfolg gehabt? Wie hätte sie Karl eine ordentliche Lebensweise beibringen können? Und wie hätte sie mithelfen können seine Leistungen während der Schul-/Lehrzeit zu verbessern? Und vor allen Dingen, wie hätte sie ihn vor den Drogen/dem Drogentod bewahren können?

7.1.3. Die Macht positiver Gespräche

Wenn ich nun nach all dem Gesagten versuche, ein positives Gespräch aufzuzeigen, so tue ich das im Bewußtsein der Unmöglichkeit, eine seit Jahren verfahrene Situation in einem kurzen Gespräch bewältigten zu wollen. Es soll lediglich skizzenhaft die Grundtendenz eines vorwurfslosen Gespräches aufzeigen. Die Mutter: „Aha, du warst wieder im Keller bei den

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Mofas. Ich sehe es an deinen Händen und am verschmierten Gesicht." (Vielleicht kommt der Satz etwas vorwurfsvoll aus Mutters Mund heraus. Das darf es auch sein. Dieses Gespräch soll wirklichkeitsnah sein.) -Karl: „Natürlich, ich gehe auch nach dem Essen gleich wieder runter. Nur wegen dem Essen wasche ich mich nicht." - Die Mutter: „Du meinst, für die halbe Stunde, die du da schnell raufkommst, lohnt sich der Aufwand nicht (= AZ). - Karl: "Ja, genau! Zudem ist das kein normaler Dreck. Das ist reines, sauberes, teures Kugellager-Fett. Und an den Ellbogen und am Hintern bin ich sauber. Ich mache dir die Stühle nicht dreckig." (Karl kann sich das erste Mal verteidigen, ohne von seiner Mutter unterbrochen zu werden. - Das „Ja, genau!" zeigt an, daß er sich verstanden fühlt.) - Die Mutter: „Also bösartig willst du unser schönes Wohnzimmer nicht dreckig machen." - Karl: „Natürlich nicht, was denkst denn du von mir?" (Bereits leichtes Einlenken). - Die Mutter: „Weißt du, wenn du mit der Mechanikerkleidung, dem verschmierten Gesicht und dem Geruch von Motorenöl dasitzt, vergeht mir der Appetit (= I-Bo der Mutter)." -Karl, angriffig: „Du hast eben fanatische Sauberkeitsvorstellungen! Ich rieche kein Öl!!!" - (Die Mutter fühlt sich angegriffen und holt tief Atem: Dabei besinnt sie sich auf folgendes: Nur jetzt keine Vorwürfe machen!) Die Mutter sagt also: „Das mag sein, vielleicht habe ich wirklich nicht recht, Was soll ich aber machen? Mich stört es einfach ungemein und mir schmeckt z.B. gerade jetzt die Suppe nicht." - Karl, keine Reaktion. (Er ist gewohnt, an diesen Stellen der früheren, unliebsamen Gespräche die typischen Angriffsflächen zum Zurückschlagen zu bekommen. Da dies jetzt nicht eingetreten ist, ist er im Moment ratlos/sprachlos. Was soll er darauf auch sagen?) - Die Mutter: „Jetzt bekomme ich ein Problem: Einerseits gestehe ich dir das Mofa-

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Reparieren zu. Ich begreife auch, daß du dich wegen der halben Stunde nicht umziehen, waschen und kämmen willst. Du fühlst dich ja wohl so. Andererseits möchte ich mein Mittagessen genießen können!" - Karl: „Also gut, dann esse ich in der Küche." - Die Mutter: „Dann schmeckt mir das Essen noch viel weniger. Ich will dich doch nicht von unserem Mittagstisch wegjagen!" (Die Mutter ist konfliktfähig. Sie steht zu der Spannung, die jetzt herrscht). - Karl gereizt: „Was willst du dann machen?" - Die Mutter: „Einfach mit dir reden. Ich will versuchen, dich zu verstehen. Ich hätte gerne, du würdest mich auch verstehen. Dann könnte ich den Salat schon eher mit italienischem Essig und Motorenölgeruch essen." -Karl (Er wird voraussichtlich mit einer schnodderigen Bemerkung ein Rückzugsgefecht einleiten, um das Gesicht zu wahren.) In etwa: „So ein Blödsinn!" - Die Mutter ist weise genug, darauf nicht zu reagieren. Statt dessen beendet sie das Gespräch mit dem wichtigsten Satz unseres Modells, den sie bei jedem Gespräch wiederholt: „Mir ist einfach wichtig, daß wir uns beide wohl fühlen können. Wie das möglich ist, weiß ich auch nicht." Damit ist das Gespräch für diesmal beendet. Beide bleiben am Tisch sitzen.

Was ist in diesem Gespräch abgelaufen? Keiner hat gewonnen, aber auch keiner hat verloren. Die Mutter hat für das Verhalten von Karl Verständnis gezeigt, hat aber trotzdem auf ihre Forderung nach einem „sauberen" Mittagessen nicht verzichtet. Die Mutter ist konfliktfähig. Das bedeutet, das Thema läßt sich wieder aufrollen.

Eine gleichmäßig positive Redeweise, wie im obigen Gespräch hat die gleiche unglaublich positive Wirkung, wie es die negative auch hatte.

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Wenn ich meinem Kind seine Mängel vorhalte, mache ich es schlechter (=Entmutigung). Wenn ich mit meinem Kind positiv rede, mache ich es besser (= Ermutigung).

Die Tragik in Karls Familie lag nun darin, daß der Mutter bzw. dem Vater nur dieses eine Erziehungsmittel bekannt war: „Schimpfen."

Meine gelegentlichen Bemerkungen und Vorschläge bei meinen spärlichen Besuchen konnten da auch nichts ausrichten. Vermutlich wäre der Familie viel erspart geblieben, wenn die Eltern etwas von „Verstehender Grundhaltung" gehört hätten.

7.1.4. Reise in die eigene Vergangenheit: unangenehme Macht am eigenen Leib

Liebe(r) Leserin, legen Sie jetzt dieses Buch beiseite, und versetzten Sie sich in ihre Jugendzeit oder in ihre Kindheit. Sie sind allein, und niemand stört sie. Suchen Sie nach einer Situation, in der sie Macht an sich persönlich negativ erlebt haben. Sehen Sie jetzt jene Person, welche bei Ihnen Macht ungerecht angewendet hat. Wie war Ihnen damals zu Mute? Schließen Sie jetzt die Augen, und empfinden Sie die Situation noch einmal nach. Welche Gefühle hatten Sie damals? Spüren Sie es heute noch körperlich? Geht es Ihnen heute noch heiß und kalt den Rücken rauf- und/oder runter? Spüren Sie einen Druck in der Magengegend?

Wie stehen Sie heute zu dieser Person? Haben Sie ihr vergeben? Verstandesmäßig und gefühlsmäßig? Vielleicht tragen Sie dieser Person verstandesmäßig nichts mehr nach. Und doch: Wenn Ihnen als erwachsene Person etwas Ähnliches passiert wie damals als Kind, z. B. eine Ohrfeige (= körperliche Gewalt/Macht), eine unrichtige

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Beschuldigung (= Ungerechtigkeit) oder eine abfällige Bemerkung vor der Schulklasse (nicht ernst nehmen), so kann dies Ihre Gefühle noch heute durcheinander bringen. Der „übermächtige" Verursacher von damals hat mit Sicherheit dieses Ereignis schon lange vergessen.

Bedenken Sie, liebe Mutter, lieber Vater, daß auch Sie schnell hingeschmissene Anschuldigungen und Drohun-gen rasch wieder vergessen. Für Ihr Kind kann aber ein solch kleines Ereignis zu lebenslanger Verbitterung, Enttäuschung und Entmutigung führen. Unüberlegte Machtanwendung führt immer zu einer gefühlsmäßigen Absetzung des Kindes. Durch derartiges Verhalten verlieren Sie langsam aber sicher die Zuneigung ihres Kindes und wissen oft nicht warum.

7.1.5. Diktatoren, Eltern und Macht

Solange Diktatoren das Instrumentarium der Macht fehlerlos gebrauchen, ist eine Durchbrechung der Macht nicht möglich. Weil aber Eltern Macht nicht als Wissenschaft betreiben, sondern aus Gewohnheit oder als letzte Notlösung unkontrolliert anwenden, wird sie von den Kindern immer wieder durchbrochen. Das Wechselspiel von Macht und Hilflosigkeit aber ist es, was Eltern verzweifeln läßt. Macht ist meistens die letzte Notlösung. Unkontrollierte Macht aber erzeugt Ohnmacht.

Beide Parteien befinden sich in einem Kampf. Je länger dieser Mechanismus eingefahren ist, desto schwerer ist es davon loszukommen. Auch das Kind muß zuerst lernen, Macht richtig zu gebrauchen.

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Dazu folgende, in gekürzter Form notierte Begebenheit, sie ist aufgezeichnet in dem vorzüglichen Büchlein „Der kleine Tyrann" von Jirina Prekop, Kösel-Verlag, München 1988: Es zeigt, daß solch tyrannisches Verhalten kein Einzelfall ist, sondern im Trend der Zeit liegt.

„Wir hätten uns von der zauberhaften Morgensonne nicht täuschen lassen sollen. Als das Ausflugsschiff den Lindauer Hafen verließ, trieb ein kräftiger Regenguß alle enttäuschten Passagiere in das Restaurant, welches sofort überfüllt war. Am Nachbartisch sorgte ein etwa 5jähriger Bub für einen weiteren Sturm. Trotz des Ärgers der Gäste, die bereits ihr Essen serviert bekamen, bestand der Junge darauf, auf dem Tisch zu stehen, um eine bessere Aussicht auf die Wellen zu haben. Das freundliche Bitten seiner Eltern, vom Tisch herunterzukommen, ließ er zunächst unbeachtet. Als diese dann versuchten, ihn herunterzu-heben, schrie er wütend durch das ganze Lokal: „Laß mich los, du blöde Sau!" Er trat der Mutter in den Bauch und biß den Vater in die Hand. Dieses Schauspiel wiederholte sich. Der Junge wurde immer wütender, die Eltern immer verlegener und die Gäste immer verärgerter. Die Eltern nahmen ihn entschlossen vom Tisch herunter, was bei dem Jungen einen noch größeren Tobsuchtsanfall auslöste. Jetzt kamen von den umstehenden Gästen Bemerkungen wie: ,Wenn das meiner wäre, bekam er eine Tracht Prügel'. Die Eltern versuchten mit hochrotem Kopf einzuwenden: ,Das haben wir auch schon probiert, aber es wurde alles nur noch schlimmer.' Für die Eltern gab es jetzt zwei Möglich-keiten, entweder sie gingen mit dem Kind in den Regen hinaus oder sie ließen ihn auf dem Tisch stehen. Beide Entscheidungen aber waren eine Auslieferung der Eltern

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an die Allmacht des Kindes. Sie saßen in einer Falle. Beim Hinausgehen weinte die Mutter leise vor sich hin."

Info Die Eltern stehen vor der Entscheidung zwischen zwei Grundhaltungen: Entweder sie finden solche Kinder frech und stempeln sie als ausgekochte Egoisten ab. Demzufolge entscheiden sie sich innerlich für Härte, Durchgreifen und eiserne Konsequenz. Sie werden Schiffbruch erleiden. Denn einer solchen Sucht nach Macht kann man nicht mit Gegenmacht begegnen.

Oder die Eltern erkennen: Das Kind steckt in einer großen Hilflosigkeit und in einer inneren Not. Denn hinter der zwanghaften Machtausübung des Kindes steckt die Angst vor Verlust der Macht. Im Kind schwingt auch die Angst vor Verlust der Sicherheit und Geborgenheit mit. Letzten Endes ist es eine Angst vor Verlust der Liebe. Ergänzung: In dem Maß, in dem sich das Kind geborgen und geliebt fühlt, ohne etwas leisten zu müssen, in dem Maß, als es sich ohne Gesichtsverlust fallen lassen kann, in dem Maß wird es erkennen: „Ich kann auf Macht verzichten." Dann gibt es weder Sieger noch Besiegte, dann erlebt das Kind, daß es nicht wegen seiner Leistung, sondern um seiner selbst willen geliebt wird.

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7.2. Sich schenken lassen und der Zwang zur Leistung

7.2.1. Ein hilfloses Geschöpf

Da kommt so ein kleines Geschöpf auf die Welt. Das plötzliche helle Licht blendet es. Es liegt hilflos da und kann sich nicht einmal selber vom Bauch auf den Rücken drehen und umgekehrt. Zur Nahrungsaufnahme muß es von seiner Mutter oder einer anderen Person in den Arm genommen werden. Es kann nur schreien. Ohne Mitmenschen würde das Baby in kurzer Zeit sterben.

Was erwarten die Eltern nun von so einem neugeborenen Erdenbürger, daß sie so ohne weiteres bereit sind, ihn zu hegen und zu pflegen und für ihn ihre Lebensge-wohnheiten zu ändern? Warum sind die Eltern bereit, auf vieles zu verzichten? Was bietet so ein neugeborener Erdenbürger, daß die Mutter/der Vater ihn gern hat? Ich meine dreierlei: f ) daß er da ist und daß er lebt g) daß er wächst und sich verändert h) daß er sich schenken läßt Diese drei Bedingungen sind keine Leistung, welche das kleine Wesen mitbringt, um Pflege, Essen und Bett bezahlen zu können. Das Kind läßt sich den Dienst seiner Eltern schenken. Wie herzerfrischend ist doch die Selbstverständlichkeit, mit der ein kleines Kind alles von den Eltern in voller Unschuld entgegennimmt. Es kommt gar nicht auf die Idee, sich unter Leistungsdruck zu setzen mit der Frage, was soll ich für all die Liebe für eine Gegenleistung erbringen? Und gerade in dieser Unschuld liegt die große Produktivität des Kleinkindes.

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Wie schwer hingegen fällt es uns Erwachsenen oft, uns beschenken zu lassen, ohne an irgendeine Erwiderung zu denken. Wie stark ist meist der Drang oder gar Zwang zur Gegenleistung! Er gipfelt in der Weltanschauung: Leben wird sinnvoll durch Leistung. Ein ständiger Leistungs-druck und Frustration von Eltern und Kindern ist die Folge. Während seines Älterwerdens erlebt das Kind zwei Gegensätzlichkeiten des Lebens:

a) Das Erleben, angewiesen zu sein: Dies erzeugt das Gefühl der Abhängigkeit, im positiven

Sinn ein Gefühl der Geborgenheit. Dieses Gefühl der Sicherheit kann nur entstehen, wenn in diesem Bereich von Seiten der Eltern keine Leistungserwartung besteht.

b) Das Erleben, etwas leisten zu können: Dies erzeugt ein Urgefühl der Zufriedenheit. Es ist der

Bereich des Wagens, des Ausprobierens des Risikos. Für das Kind ist dieser Bereich nur dann erstrebenswert und interessant, wenn es sicher ist, jederzeit in den Bereich a) ohne Frust zurückkehren zu können.

In dem Maß, in dem sich das Kind unter Leistungsdruck fühlt, ist es in bezug Leistung blockiert. Es hat das Weltbild des kontrollierenden und strafenden Gottes. In dem Maß, in dem sich ein Kind bedingungslos angenommen fühlt, sich im Urvertrauen sicher fühlt, in dem Maß wird sich seine Leistungsfähigkeit steigern. Es hat das Weltbild des liebenden, des schützenden Gottes.

Das Gefühl des fortwährenden Nichtgenügens verringert die Leistungsfähigkeit. Die Gewißheit, von den Eltern/seinen Mitmenschen bedingungslos geliebt zu werden erhöht die Leistungsfähigkeit.

Leistungssteigerung ohne Druck und Zwang ist möglich, wenn sich ein Kind in einem vorwurfslosen, ermutigenden Klima entfalten kann.

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7.2.2. Das Pferd im Morast

Eine solche Leistungssteigerung konnte ich als Kind mit ansehen:

Ich denke da an eine Begebenheit, die ich als 9jähriger erlebt und heute noch im Gedächtnis habe:

Wir wohnten in einem Villenviertel. Hinter unserem Haus führte eine viel benutzte Naturstraße durch den Wald. Nach einer längerer Regenzeit war die Straße streckenweise aufgeweicht. Ein Fuhrmann mit Pferd und Wagen blieb, mitsamt seiner Frau und einem kleinem Kind mit seiner schweren Fuhre im Morast stecken. Der Fuhrmann schlug immer wieder auf das Tier ein. Mit schnaubenden Nüstern und großen Augen riß der schwere Ackergaul nach vorne und nach hinten zurück. Wieder ein Sprung nach vorne und nach hinten zurück. Resultat? Die Räder bohrten sich immer tiefer in den Morast. Die Frau weinte, und der Mann schwitzte. Schließlich setzte er sich keuchend an den Straßenrand. Ein zufälliger Zuschauer - seiner körperlichen Statur nach aus der gleichen Berufsgattung - schritt schweigend, aber bestimmt auf das erschöpfte Tier zu, spannte es aus, drehte mit ihm einige Runden und rieb ihm mit Baumblättern den Schweiß vom Fell. Nun geschah das Erstaunliche: Als das Pferd wieder voll eingeschirrt war und der Mann zur Seite trat, legte sich der Gaul langsam in den Kummet (= gepolsterter Halsbügel), und der Wagen begann sich langsam zu bewegen. Völlig gleichmäßig, ohne einmal abzusetzen, zog das Pferd den Wagen aus dem Loch wieder auf festen Grund.

Was war geschehen? Dem Tier wurde die Freiheit zugestanden, seinen eigenen Rhythmus zu finden. Wie sehr doch Zwang von außen bremst! Oder positiv gesagt:

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Welche Kraftreserven werden doch bei Freiwilligkeit wirksam. Was vermuten sie, wenn alle Spitzensportler und Olympiasieger von ihren Eltern ständig gezwungen worden wären, wie weit hätten es diese Athleten in ihrer Laufbahn gebracht?

Das ist aber nicht das gleiche, werden Sie mir antworten. Ich kann doch nicht warten, bis mein Kind zufälligerweise Weltmeister im Vokabelnbüffeln werden will. In der Schule müssen eben alle Kinder lernen. Weltmeister hin oder her.

Sie haben vollkommen recht. Und trotzdem, es ist eben falsch zu meinen: Je mehr Zwang, desto mehr Leistung. Die richtige Gleichung heißt: Je mehr Spaß, desto mehr Leistung. Im Alltag heißt das: Je angenehmer das Lernklima, desto besser die Leistung. Ein Vater wird nicht viel Lernmotivation vermitteln können, wenn er den Sohn zwingt, die Glocke von Schiller auswendig zu lernen, während er selber vor dem Fernseher sitzt. Kinder bekommen nur dann Freude an Musik, am Malen, an kreativen Fähigkeiten, wenn es für sie angenehm ist, mit den Eltern etwas gemeinsam zu machen.

7.2.3. Die Wirkung einer Rede

Regel Nr. 7: Eine negative Art zu reden wirkt sehr stark negativ.

Eine positive Art zu reden wirkt noch stärker positiv. Oder:

Wenn ich einen Kaktus setzte, werde ich einen Kaktus ernten.

Wenn ich Rosen pflanze, werde ich Rosen ernten.

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8. Allgegenwärtige Schuld

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8.1. Zwei Familien in einer unangenehmen Situation

8.1.1. Der Stich ins Auge

An einem Sonntag sitze ich mit 11 Personen eines Erzie-hungskurses in angeregtem Gespräch beieinander. Plötzlich läutet das Telefon. Eine Teilnehmerin erfährt, daß ihr 9jähriger Sohn Lukas von seinem gleichaltrigen Freund Stefan mit einer Zeltstange am Auge verletzt wurde. Wir sitzen bestürzt da, während die Mutter sofort nach Hause fährt. - Was war geschehen? Stefan, war seit gestern stolzer Besitzer eines Zeltes. An diesem Sonntagvormittag stellt er das erste Mal hinter dem Haus auf der Wiese mit Lukas das Zelt auf.

Als Stefan die Zeltstangen zusammensetzt, fährt er bei einer ungeschickten Bewegung seinem Freund Lukas mit der Stangenspitze ins Gesicht. Augenblicklich rinnt Blut die rechten Wange herunter. Mit den Händen vor dem Gesicht rennt Lukas heulend ins Haus zu seinem Vater, und dieser fährt blitzartig mit dem Kind ins Spital.

Stefan aber rennt weinend die Wiese hinunter und schreit fortwährend: „Ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld!"

Schuld ist ein schlimmes Wort! Für die Eltern der beiden Kinder ist die Situation peinlich. Wie sollten sie sich verhalten? Wie können sie nach diesem leidigen Vorfall miteinander reden?

Bei den Eltern von Lukas fallen zu Hause gelegentlich so Sätze wie: „Wenn Stefan nicht immer so wild wäre, dann…! Seine Eltern erziehen ihn einfach falsch." -Oder

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„Wenn die Eltern Stefan nicht diese Zelt gekauft hätten, wäre dieser Unfall nicht passiert! Sie verwöhnen ihn einfach zu sehr!"

Auch die Eltern von Stefan besprechen sich zu Hause. Auch sie sind überzeugt: „Unser Sohn Stefan ist nicht schuld. Der Lukas war immer schon ein ungeschicktes Kind. Immer steht er am verkehrten Ort." - Oder: „Unser Stefan ist eben ein Macher und nicht so ein Träumer wie Lukas!"

Unausgesprochen vergrößert sich der Graben zwischen den beiden Familien. Wie aber könnten die beiden Familien über diese heikle Situation reden?

8.1.2. Schuldfähigkeit

Wir stellen uns zunächst die Frage: „Ist ein Kind überhaupt schuldfähig? Das ist eine grundsätzliche Frage. Auf jeden Fall ist das Wort Schuld in unserem Alltag allgegenwärtig. Wenn ich bei einem Autounfall eine Beule verursacht habe, dann schulde ich dem Besitzer z.B. DM 1500, -. Wenn die Versicherung diesen Betrag überwiesen hat, bin ich wieder schuldenfrei.

So weit, so gut. Die Schwierigkeit über Schuld zu reden beginnt dort, wo sie nicht mehr zurückzahlbar ist. Wenn Lukas ein Auge verloren hat, dann können die Eltern mit keinem Geld der Welt das verlorene Auge ersetzen. Sie bleiben somit in Lukas Schuld. Wie gehen Betroffene damit um?

Bei der Frage: Schuld oder nicht Schuld geht es um Ablehnung oder Bereitschaft, das ganze Leben eines Menschen unter die Spannung zwischen Schuld und

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Versöhnung, zwischen Erdrückung und Befreiung zu stellen. Denn entweder hat der Mensch einen freien Willen und ist somit schuldfähig. Oder der Mensch hat keinen freien Willen und ist somit auch nicht schuldfähig. Dann muß der Vertreter dieser Idee damit leben, daß ihm nicht einmal im Ansatz eine freie Entscheidung möglich ist. Er ist Gefangener der Kausalität, das heißt: Er ist eingeklemmt zwischen Ursache und Wirkung.

Nun zeigt uns aber das Wegrennen von Stefan, daß auch Kinder Schuldgefühle haben können und zwar sehr starke. Was bedeutet dies für meinen Erziehungsalltag.

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8.2. Der Malermeister

8.2.1. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten

Hier ein Beispiel, das ich ebenfalls miterlebt habe: Ich bin bei einer Familie mit drei Kindern zum Abendessen eingeladen. Beide Elternteile haben meinen Kurs besucht.

Markus, 8jährig benimmt sich während des Essen einmal sehr ungehörig und wird von der Mutter getadelt. Nach zehn Minuten scheint alles vergessen zu sein. Während ich mich mit dem Vater im Wohnzimmer unterhalte, bringt die Mutter Markus ins Bett. Doch diesmal vergeht außergewöhnlich viel Zeit. Was mag denn nur los sein, daß die Mutter so lange nicht herunterkommt?

Ihr Bericht ergibt folgendes: „Markus ist heute besonders unersättlich und will eine Geschichte nach der anderen erzählt bekommen. Plötzlich sagt er unvermittelt: „Mama, du verbietest mir zu viel." - Die Mutter: „Wie kommst du denn plötzlich da drauf?" - Markus: „Heute beim Abendessen zum Beispiel: Du mußt nicht vor anderen Leuten sagen, was ich falsch mache!" - Die Mutter holt gerade Atem, um zu sagen: „Das war ja auch unerhört, was du dir da geleistet hast - und das noch wenn wir Besuch haben! Da mußte ich ja wohl…!" Aber da besinnt sich die Mutter und versucht ohne Vorwürfe auszukommen und aktiv zuzuhören. Sie sagt: „Du meinst also, ich bin zu streng mit dir." - Markus: „Ja, du schimpfst immer, wenn ich etwas falsch mache." -Die Mutter: „Aha, es ist nicht lustig, einen Fehler zuzugeben und obendrein noch Schimpfe zu bekommen." -Und so ging das Gespräch hin und her. Die Mutter hat immer sorgfältig darauf geachtet, jetzt ihrem Sohn nur keinen

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Vorwurf zu machen. Nur - wie und wann sollte das Gespräch enden, ging es der Mutter durch den Kopf. Doch plötzlich geschieht etwas: Markus hält seine Mutter um den Hals und beginnt jämmerlich zu weinen. Die Mutter versteht die Welt nicht mehr und fragt unsicher: „Aber was ist denn los?" - Markus: „Ich habe es doch gemacht", kommt es stockend aus Markus.

Was war geschehen? Vor etwa drei Wochen machte sich Markus im Nachbarhaus zu schaffen, welches mühelos über die beiden vorgelagerten Gärten erreichbar war. Das durfte Markus auch, denn die beiden Familien mit gleichaltrigen Kindern hatten ein gutes Einvernehmen. Da erregte etwas die Aufmerksamkeit von Markus: Im Hausgang standen einige Kübel mit Farbe und Pinsel, denn der Nachbar hatte soeben die Kellerräume neu gestrichen. Die Versuchung war groß, mit einem der Pinsel in der Farbe zu rühren. Doch dabei blieb es nicht. Die Faszination einer weißen Fläche ist für jeden echten Maler eine unwiderstehliche Herausforderung. So entstanden den Gang entlang braune, wellenartige „Kunstwerke". Plötzlich hört Markus Schritte aus dem oberen Stockwerk. Blitzschnell stellt er den Pinsel in den Kübel und rennt durch den Garten in den eigenen Garten.

Für den Hausherrn war es eine klare Sache: Der Übeltäter konnte nur Markus sein. Beim anschließenden „Verhör" blieb Markus fest bei seinem : „Nein, ich war es nicht!"

Was tun? Beide Familien kamen überein: Im Zweifelsfalle für den Angeklagten. Markus hat keine Strafe bekommen. Und damit war die Sache für die Eltern erledigt. Nicht so für Markus: Drei Wochen lang hat der 8jährige auf eine Gelegenheit gewartet, sein „Schuldgefühl" loszuwerden. Worin bestand denn die Hemmschwelle, daß er nicht gleich die Wahrheit sagen

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konnte? Es war die Angst, zu dem Geständnis auch noch Vorwürfe einstecken zu müssen. Das wollte sich Markus ersparen. Schweigen war da das kleinere Übel. So erweist sich dieses abendliche Gespräch als Test für Markus, wie groß das Risiko von Vorwürfen von Seiten der Mutter ist.

Und siehe da! Mama besteht (das erste Mal) die Prüfung: Sie schafft ein Gespräch ohne Vorwürfe! Jetzt ist das Bedürfnis von Markus, seine Schuld los zu werden so stark, daß es endgültig kein Halten mehr gibt. Er schlingt seine Arme um Mutters Hals, läßt seinen Gefühlen freien Lauf und gesteht all sein Last, die er drei lange Wochen mit sich herumgetragen hatte.

8.2.2. Goldene Gelegenheiten

Solche Gespräche sind goldene Gelegenheiten, bei seinen Kindern aufbauende Gespräche möglich zu machen. Wie schade, daß viele Eltern sich selbst mit unüberlegten Vorwürfen um solch schöne Erlebnisse bringen. Bei diesem Beispiel von Markus sind zwei Begriffe im Spiel: „Schuld" und „Freiheit".

1. Markus hat ein Schuldgefühl: Schuldgefühle müssen einem Kind nicht extra suggeriert

werden. Auch dem 8jährigen Markus war sofort klar, daß er etwas Falsches gemacht hat und deshalb war ihm nicht wohl.

2. Die Eltern gestanden dem Kind die Freiheit zu, sich freiwillig zu entscheiden, ob und wann er zu seiner Schuld stehen will. 3. Sie haben ihm den Schritt zum Bekennen erleichtert, durch die Gewißheit, daß er für seine Offenheit nicht noch Vorwürfe und ein Abwenden der Eltern einstecken muß.

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Das Ziel der Erziehung kann nie und nimmer sein, Menschen ohne Gewissen heranzubilden. Im Gegenteil! Die Würde des mündigen Menschen besteht gerade darin, fähig zu sein, seine Fehlhandlungen erkennen zu können und zu seiner Schuldfähigkeit zu stehen. Es ist eine üble Sache, daß wir Menschen im Leben immer gut, stark und fehlerlos sein sollen. Schwachsein und Fehlerhaftsein wird von unserer Gesellschaft kaum akzeptiert. Es wirkt auf mich fast tragikomisch, daß Menschen teures Geld an einen Psychiater zahlen, nur um einmal von den eigenen Schwächen reden zu können, ohne dafür gerügt und/oder mit Lösungen überhäuft zu werden. Der Psychiater verdient sein Geld hauptsächlich mit vorwurfslosem Zuhören. Ein Kind hat das gleiche Bedürfnis, wie Erwachsene, nur hat es nicht das nötige Geld. So ist das Kind dem moralischen Leistungsdruck ausgeliefert, gut, intelligent und angenehm sein zu müssen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu schweigen, zu verheimlichen und langsam aber sicher unaufrichtig zu werden. Dabei hat das Kind ein starkes Bedürfnis mit jemandem über seine Sorgen, Schwächen und Fehler reden zu können. Schuld ist real, keine künstliche Erfindung. Schuld als Waffe gegen den Mitmenschen ist bösartiger Mißbrauch: Ich beschuldige, der andere fühlt sich schuldig. Ich fühle mich besser als der andere. Der andere fühlt sich schlecht, untertänig, despotisch gehorsam. Mit einem Satz: Mit Beschuldigung mache ich mir den anderen „gefügig".

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8.2.3. Positiver Umgang mit Schuld

Ohne positiven Umgang mit Schuld werde ich nie Zugang zur Seele meines Kindes finden. Wenn es eine Situation im Leben gibt, in der wirkliches, vorwurfsloses und echtes aktives Zuhören nötig ist, dann in der Schuldfrage. Und ohne eine positive Erledigung dieser Sache ist kein Verstehen und keine Besserung möglich.

Blenden wir noch einmal zurück zu Lukas und Stefan. Voraussichtlich werden sich die beiden Kinder unbeschwert weiter miteinander vertragen können, denn Kinder haben noch die Fähigkeit zu vergeben und sich zu versöhnen.

Die Eltern der beiden Kinder hingegen werden länger an der Situation „zu kauen" haben. Denn Erwachsene tun sich mit Versöhnen und Vergessen meistens schwerer. Trotzdem - es gibt nur einen Weg, von seelischer Belastung frei zu werden und persönlichen Frieden zu finden: Versöhnung.

Folgende Überlegungen könnten da eine Hilfe sein: Echte und wirksame Konfliktlösung und dadurch echte Versöhnung beginnt mit meiner Erkenntnis, daß meiner Beschuldigung eines anderen Menschen in jedem Falle (m)ein eigenes Problem zu Grunde liegt. Auch werde ich mit meinen Behauptungen vorsichtiger, wenn mir klar wird, daß ich die Tragweite meines Handelns nie richtig und eindeutig einschätzen kann. Zu meiner eigenen Fehlerhaftigkeit und zu meinen Fehldeutungen zu stehen, ist der erste Schritt zum Frieden.

Wenn mir weiter möglich ist zu erkennen, daß die Aggression oder Teilnahmslosigkeit des anderen Menschen in jedem Falle seiner Notsituation entspringt, daß er sich eben nicht anders zu helfen weiß, oder daß er

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gar die Folgen seines Handelns nicht erkennt, kann ich meinen Beschuldigungszwang/drang abbauen. Ich kann mein Kind annehmen, will sagen: Ich kann ihm vergeben.

Wenn ich nicht vergeben kann, habe ich noch nicht richtig verstanden. Nur in dem Maße, in dem ich wahrhaft verstehe, kann ich auch wahrhaft vergeben. Nur wenn ich ganz vergebe, finde ich echten und dauerhaften Frieden.

8.2.4. Der Ausgang der Geschichte

Das Ende des Zeltbaues von Lukas und Stefan war dann schließlich doch nicht so tragisch. Lukas hatte zwar eine große Rißwunde oberhalb des Auges, welche genäht werden mußte. Das Auge selber blieb glücklicherweise heil. Folgende interessante Beobachtung will ich hier erwähnen: Stefan wollte am nächsten Tag so schnell als möglich zu seinem Freund ins Spital. Dies wurde ihm am Montagvormittag während der Schulzeit zugestanden. Natürlich haben die beiden Jungen kein Wort über das sonntägliche Ereignis geredet, aber die Art, wie sie sich in die Augen blickten, sprach Bände und war für beide nötig. Auf diese Weise haben sie sich miteinander ausgesöhnt.

Offensichtlich ging es bei diesen beiden Kindern um Schuld und Versöhnung. So ungern viele Menschen in unserer Kultur über den Tod oder eine schwere Krankheit reden, so unangenehm ist es für viele, sich über das Thema Schuld zu unterhalten. Viele Eltern haben nicht gelernt, mit ihren eigenen Schuldgefühlen positiv umzugehen. Wie sollen sie es ihren Kindern also vorleben. Dadurch verbauen sie ihren Kindern die Möglichkeit, über ihre innersten Schwierigkeiten mit jemand Vertrautem zu reden. In der Tat, leiden unzählige Kinder insgeheim an wirklichen und/oder eingebildeten Schuldgefühlen.

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Irgendwelche Sätze, mit denen Eltern den Kindern Angst machen (wollen). Z. B: „Wenn du jetzt nicht sofort brav bist, gehe ich weg und komme nie wieder zurück!" - Oder: „Der liebe Gott schaut dir immer zu. Er hat genau gesehen, was du wieder gemacht hast." -Oder: „Lieber Willi, ich hoffe sehr, daß du dem Herrn Müller die Tulpen im Garten nicht kaputt getreten hast." Gleichzeitig verteidigen Eltern ihre Kinder zu sehr. Z. B: „Das kann nicht sein, daß meine Kinder die Katze blau angemalt haben." - „Mein Sohn macht so etwas nicht." -„Meine Tochter lügt nicht!" - Anscheinend ist es diesen Eltern wichtig, daß ihre Familie sauber und ohne Schuld, sozusagen mit reiner Weste dasteht und sehr schnell sind die Kinder daran schuld, wenn die Weste etwas farbig wird. Auch solches Reden setzt die Kinder unter Leistungsdruck.

Es geht hier um die Bereitschaft, das ganze Leben eines Menschen unter die Spannung zwischen Schuld und Versöhnung, zwischen Zerstörung und Befreiung des Lebens zu stellen. Unverarbeitete Schuld ist lebensfeindlich/zerstört das Leben. Der mündige Mensch ist ein Individuum, welches Fehlhandlungen erkennen kann. Die Würde des Menschen liegt darin, schuldig werden zu können und dazu auch zu stehen (= selbstverantwortliches Handeln).

8.2.5. Wie es mit den beiden Familien weiter ging

Frau und Herr Botin, so heißen die Eltern von Lukas, ziehen sich zurück. Sie lassen zwar die beiden Kinder miteinander spielen, aber es fallen immer wieder Sätze

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wie: „Gut, gehe halt zu Stefan, aber passe auf, daß er nicht wieder so wild tut." Und ähnliches. Das Ehepaar Botin bemerkt gar nicht, daß ihr allgemeiner Umgangston immer vorwurfsvoller wird. Anfänglich suchen Familie Krüger, die Eltern von Stefan noch den Kontakt. So laden sie, etwa zwei Monate nach dem Unfall an einem Samstag alle Nachbarn zu einem Spielnachmittag mit abendlichem Bratwurstgrillen ein. So können sie die Familie Botin auf unauffällige Art einladen, denken sie.

Doch es kommt folgende Absage: Sehr geehrte Frau und Herr Krüger, wir danken Ihnen für die Einladung. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, daß wir wegen familiärer Verpflichtungen über dieses Wochenende nicht da sind. Indem wir Ihnen gutes Gelingen wünschen, verbleiben wir mit freundlichen Grüßen. Familie Botin.

Vater Krüger ist darüber so erbost, daß er sagt: „Die brauchen nie mehr in unser Haus zu kommen! Die will ich nicht mehr sehen."

Die beiden Frauen jedoch sehen sich zwangsweise, auf der Straße oder im Schulhaus. Solche Begegnungen sind ihnen peinlich, weil die Narbe von Lukas und die leichte Verstellung des Gesichtes immer an das Geschehene erinnert.

Herr Botin wird innerlich immer unruhiger und schneller gereizt. Er fragt sich insgeheim, wie das weiter gehen soll. Mit seinen Nachbarn kann er sich einfach nicht mehr so unbeschwert unterhalten. Sein Umgangston wird unmerklich vorwurfsvoller. Vorwürfe sind aber eine indirekte Form von Schuldzuweisung. Schließlich handelt Herr Botin. Seinen Entschluß teilt er seiner Frau mit: „Ich werde jetzt rüber gehen und Frau und Herrn Krüger zu ei-nem Gespräch einladen." Das Gespräch kommt zustande.

Herr Botin eröffnet das Gespräch, für welches er

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sicherheitshalber Notizen gemacht hat: „Ich habe mich", so beginnt er, „zu diesem Versöhnungsgespräch entschlos-sen, nicht weil ich ein besonders frommer Mann bin, sondern weil ich es persönlich nötig habe. Ich will Frieden haben, damit ich wieder zufrieden leben kann."

Frau Krüger reagiert prompt: „Daran habe ich schon lange gedacht, ich traute mich nur nicht, weil ich dachte, der Anstoß muß von Ihnen kommen. Es ist ja eigenartig", so fährt sie fort: „Die Kinder haben sich schon lange versöhnt, nur wir Erwachsenen nicht." - Herr Botin: „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie das denn weiter gehen soll. So kann es doch nicht für immer bleiben. Da schaden wir uns doch selber."

Frau Botin: „Eigentlich bin ich ja so dankbar, daß es damals so gut ausgegangen ist und daß Lukas seine beiden Augen noch hat. Und ich weiß gar nicht, warum uns immer wieder so ,ungute' Gedanken durch den Kopf ge-gangen sind." - Herr Krüger nimmt den Faden auf: „Wenn Sie vergessen könnten, was damals geschehen ist, wäre ich froh." - Herr Botin: „Ja, ich habe Sie eingeladen, weil ich mich entschlossen habe, Ihnen den Vorschlag zu machen, die Sache als erledigt zu betrachten und sie nie mehr zu erwähnen." - Frau Krüger: „Ja, das würde mir gut tun."

Und so wird die Angelegenheit mit einem guten Tropfen und einem gemütlichen Abend besiegelt. Alle Beteiligten fühlen sich wie von einem Alptraum befreit.

Sie haben sich gegenseitig Freiraum geschenkt, denn sie haben sich vergeben.

8.2.6. Versöhnung

Was ist denn jetzt anders? Früher, mit vorgehaltener Hand hatten beide Parteien in Form von „Beschuldigungen"

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über die Schuldfrage gesprochen. Dadurch wurde der Groll auf beiden Seiten immer größer. Beim oben-stehenden Gespräch hingegen wird über die Schuldfrage in der Grundhaltung der Versöhnung gesprochen. Dies wirkt auf alle Beteiligten befreiend im wahrsten Sinne des Wortes. Neben einem erleichterten Gefühl und wieder-gefundenem Kontakt mit den Nachbarn haben sich die beteiligten Menschen bestimmt ein Magengeschwür oder gar einen Herzinfarkt erspart.

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8.3. Frau Bittmann und das Loslassen

8.3.1. Wenn sich Kinder schweigend absetzen

In einem meiner Kurse war eine Mutter mit drei Kindern im Alter von 18 bis 25 Jahren. Nennen wir sie Frau Bittmann. Sie war sehr stolz auf ihre Familie und betonte des öfteren, daß sie nie ernstliche Schwierigkeiten in der Erziehung gehabt habe. Ihre Kinder seien gehorsam und gut erzogen.

Eine andere Teilnehmerin erzählte, daß ihre erwachsene Tochter des öfteren anruft und ihr von ihren Erlebnissen und Problemen berichtet, da laufen Frau Bittmann plötzlich Tränen über die Wangen, und sie sagt: „Auf diesen Moment warte ich schon seit Jahren. Meine Kinder sind zwar alle sehr nett zu mir, und sie organisieren mir jährlich eine großartige Geburtstagsfeier. Warum aber erzählen sie nichts, aber auch gar nichts aus ihrem Leben? Wie oft habe ich sie schon darum gebeten! Immer wieder bekunde ich Interesse an ihren Freuden und Leiden. Und ich wäre immer bereit, ihnen zu helfen dort, wo es nötig ist. Jedoch - meine Kinder bleiben freundlich, aber stumm/verschlossen. Warum muß das so sein?"

Ich machte an diesem Wochenendkurs einen zweistündigen Spaziergang mit Frau Bittmann. Dabei habe ich folgendes erfahren: Diese Mutter hat ein Leben lang regiert. Sie hat befohlen, gelenkt, entschieden. In einem vertraulichen Gespräch sagte sie mir: Die Kinder nannten mich einfach „General". Sie hat das immer positiv gesehen, denn alles geschah nur zum besten der Kinder

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wie sie meinte. Die Kinder aber waren dazu verurteilt, die Wertvorstellungen ihrer übergroßen, übermächtigen Mutter zu übernehmen. An ein Aufmucken war nicht zu denken! Sie hatten gar keine andere Wahl, als brav zu sein. Die Kinder werden farblos und verschlossen.

Sie tun, was von der Mutter verlangt wird, um überleben zu können. Doch sie bauen im verborgenen an ihrer ganz privaten Gedankenwelt. In der Folge besprechen sie in der Familie nur noch sachliche Informationen und vordergründige Tagesthemen. Die eigentlichen Nöte der Kinder aber sind kein Thema. Oder mit anderen Worten: Diese Kinder konnten ihre inneren Nöte und Konflikte nicht mit ihren Eltern austragen. Sie fühlten sich unverstanden und allein gelassen.

So manipulierte Frau Bittmann ihre eigenen Kinder unbewußt in eine tiefe Unaufrichtigkeit hinein. Sie hatte zwar die Macht, ihre Kinder so kurz zu halten, daß sie sich in jeder Hinsicht anständig benommen haben.

Eltern können ein lügenhaftes Kind so hart und konsequent bestrafen, daß es nicht mehr lügt, oder sie können ein stehlendes Kind so hart und konsequent bestrafen, daß es nicht mehr stiehlt. Doch werden sich solchermaßen behandelte Kinder (wie diejenigen von Frau Bittmann) nie, aber - absolut nie - ihren Eltern offenherzig zuwenden. Denn: Um zu überleben, mußten sie sich innerlich von ihrer Mutter absetzen/trennen. Nur so konnten sie die ewige Bevormundung überstehen. Gerade durch das „An-sich-binden-wollen" und die dadurch ausgeübte Machtanwendung hat Frau Bittmann ihre Kinder verloren. Ich bin davon überzeugt: Mit Dirigismus zwingen die Eltern/Erzieherinnen das Kind in eine noch größere,

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raffiniertere Unaufrichtigkeit hinein, so daß es das Leitbild entwickeln wird: „Ich bin der schlaue Fuchs, den keiner durchschaut." Der schlaue Fuchs wird sich zu Hause fügen. Seine wahren Gedanken und Gefühle wird er verheimlichen. Er wird farblos und undurchsichtig. Bei der ersten Gelegenheit aber, nach dem ersten großen Krach, nach Abschluß der Lehre ist das gut behütete Kind plötzlich entschwunden. Den Eltern bleibt der Schock.

Das erstaunlichste an solchen Vorgängen ist: Meistens stehen die Eltern völlig fassungslos vor dem unerwarteten Scherbenhaufen ihrer, ach so aufwendigen Erziehung. Kurz und bündig: Frau Bittmann betrachtet ihre „Kinder" immer noch als ihren Besitz.

Dieses Buch will Eltern ein solch trauriges Ende ihrer jahrelangen Hingabe und Aufopferung ersparen. Diese Buch zeigt Ihnen den Weg, wie es möglich werden kann, sich mit seinen Kindern ein inniges und offenes Verhältnis bis ins hohe Alter zu bewahren.

Folgende, zusammenfassende Frage stellt sich am Ende dieses Buches: Wie kann sich das Verhältnis vom übergroßen Vater, von der ewig umsorgenden, alles behütenden Mutter langsam wandeln in ein Verhältnis der Freundschaft. Wie kann es Eltern gelingen, zum gerne befragten Berater ihrer erwachsenen „Kinder" zu werden? Oder wie kommen „Kinder" gerne heim?

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8.4. Wie Kinder gerne heimkommen

8.4.1. Das Klima der gegenseitige Achtung

Mein Kind spürt, daß es von mir ernst genommen wird, deshalb beginnt es vernünftig zu reagieren. Ich sage es mir immer wieder: Mein Kind ist nicht mein Besitz. Es ist ein einmaliges Individuum mit dem Recht auf sein eigenes Leben. Wir werden als zwei eigenständige Personen miteinander verkehren. Weil ich das Kind frei gebe, wird es sich mir aus innerer Freiheit zuwenden.

8.4.2. Konflikte werden offen ausgetragen

Mein Kind spürt, daß es mit all seinen Problemen zu mir kommen kann, ohne kritisiert zu werden. Konflikte besprechen wir problemorientiert.

8.4.3. Beide Seiten sollen sich wohl fühlen

Mein Kind spürt, daß ich in Gesprächen nicht gewinnen muß. Es spürt aber auch, daß ich nicht gewillt bin zu verlieren. Wir sind/werden beide konfliktfähig. Ich möchte, daß beide Seiten sich in der Wohnung/im Haus wohl fühlen können. Das ist für mein Kind ein starker Anreiz, immer wieder nach Hause zu kommen.

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8.4.4. Freiraum gewähren

Mir ist bewußt, daß auch jedes Kind seinen Freiraum, seine Intimsphäre braucht. Ich werde sie respektieren.

Jeder Mensch, auch jedes Kind braucht Freiraum zum Atmen, sozusagen einen Garten, der ganz ihm gehört und eine Privatsphäre, in der sich mein Kind frei bewegen kann. Denn es gilt: Wahre Liebe macht frei, die innere Bereitschaft sein Kind frei zu geben, erbringt das schönste aller Erlebnisse: Zuwendung aus Freiheit.

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8.5. Kurzfassung: Wie meine Kinder gerne heimkommen

Anstatt mein Kind immer zu kritisieren, werde ich es als selbständiges Wesen achten. Anstatt meinem Kind ständig Vorwürfe zu machen, werde ich Konflikte problemorientiert lösen. Anstatt zu bestimmen, was zu Hause gemacht wird, soll sich jede(r) wohl fühlen können. Anstatt das Kind an mich binden zu wollen, werde ich ihm den nötigen Freiraum geben.

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8.6. Mit der „richtigen" Grundhaltung zu einem sinnvollen Leben

8.6.1. (1) Ehrfurcht vor dem Leben

Unsere Überlegungen begannen mit der Frage, warum denn Kinder immer anders wollen als wir Eltern. Die Antwort in diesem Buches lautet: Kinder wollen deshalb immer anders, weil sie ein diffuses (= ungenaues), aber starkes Gefühl haben, daß ihre berechtigten Grundbedürfnisse durch Forderungen der Erwachsenen andauernd zu kurz kommen.

Und in der Tat! Sehr schnell neigen Eltern zu der Vorstellung, sie müssen den Wildfang und das Energiebündel von einem Kind zu einem anständigen und gesitteten Menschen zurechtformen. Sie fühlen sich verpflichtet, den anscheinend rücksichtslosen Egoismus des Kindes in den Griff zu bekommen, damit aus ihm ein "soziales Wesen" wird.

Jedoch, wenn ich Erziehung gegen das Leben betreibe, werde ich immer Verlierer sein. Das Leben läßt sich nicht zurückbinden. Ich kann das Wachstum eines aufschießenden Jünglings nicht verlangsamen, indem ich ihm ein Bügeleisen auf den Kopf binde. Ein kleines Pflänzchen kann Asphalt durchbrechen. Hervorbrechende Wurzeln eines Baumes können eine ganze Straße unbefahrbar machen.

Anscheinend kann das Leben auch gelassener warten als die Menschen. Wenn ich ein Samenkorn in meinen Blumentopf versenkt habe, bringt es nichts, jeden Tag mit dem Finger zu bohren, um nachzusehen, ob der Keimling

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schon wächst. Will ich das Leben bremsen, kontrollieren oder verändern, wird es sich gegen mich richten.

Deshalb - die lebenswichtigen Grundbedürfnisse eines Kindes unterdrücken zu wollen, endet mit dem Kampf gegen das Leben. Diesen Kampf werde ich immer verlieren. Das Leben ist größer als ich, und die Psyche meines Kindes ist schon richtig angelegt. Meine Aufgabe ist es, mein Kind in seinen verschiedenen Entwicklungs-phasen zu seinem Besten zu begleiten. Oder anders gesagt:

Meine Aufgabe als Erzieher ist es, ehrfurchtsvoll

darauf zu achten, daß der Fluß des Lebens nicht gestört wird.

Ich achte darauf den positiven Kräften wie der Entwicklung des Willens oder dem Entstehen einer eigenen Persönlichkeit genügend Freiraum zu geben. Ich unterstütze den unersättlichen Wissensdurst und Experimentierdrang meines Kindes.

Je besser die Grundbedürfnisse eines Kindes abgedeckt sind, desto eher ist es bereit auf Wünsche, Ansichten oder gar Befehle seiner Eltern Rücksicht zu nehmen. Dies schafft Freiraum für alle Beteiligten.

8.6.2. (2) Ehrfurcht vor meinem Kind

Ich behandle mein Kind als einmaliges Individuum. Es ist nicht mein Besitz, sondern eher eine Leihgabe an mich. Ich unterstütze (s)eine Entwicklung nach seinen Möglichkeiten. Ich lasse mein Kind Schritt für Schritt los und lasse ihm selber die Verantwortung für sein eigenes Leben.

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8.6.3. (3) Vertrauen in mein Schicksal

Ich habe in Zukunft Vertrauen in mein Schicksal, so kann ich ruhiger und gelassener leben. Den Kampf gegen das Leben werde ich immer verlieren. Deshalb höre ich auf das Leben und handle „lebensgerecht". Die Richtigkeit meiner Entscheidungen/meines Lebensweges erkenne ich erst im Nachhinein.

8.6.4. (4) Geschenkt durch Loslassen

Das schönste Erlebnis/Ergebnis meiner langen Erzieheraufgabe: Mein Kind kommt als Erwachsene(r) aus freien Stücken zu mir zurück und öffnet sich mir als eigenständiges und gleichwertiges Individuum. Je besser ich mein Kind loslassen kann, desto besser bleibt unser Beziehung ein Leben lang.

8.6.5. Ein bißchen Lebensweisheit: Mehr sinnvolles Leben durch…

1. Ehrfurcht vor dem Leben 2. Ehrfurcht vor meinem Kind 3. Vertrauen in die Weltordnung 4. Vertrauen in mein Schicksal 5. Geschenkt durch Loslassen

8.6.6. Grundbedürfnisse vermitteln

Das Gefühl frei zu sein, kann ich vermitteln, wenn ich den Willen meines Kindes achte.

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Das Gefühl von Gerechtigkeit, kann ich vermitteln, wenn ich versöhnungsbereit bin. Das Gefühl angenommen zu sein, kann ich vermitteln, wenn ich Leistungsdruck vermeide.

8.6.7. Zu seiner Schuld stehen

Regel Nr. 8: Eine wahrhaft vorwurfslose Lebenshaltung entsteht durch positive

Verarbeitung der eigenen Schuldgefühle

8.6.8. Die Parabel vom Wind und der Sonne

Der Wind und die Sonne saßen beisammen und schauten auf die Erde hinunter. Sie beobachteten einen Wanderer, der übers Feld zog. Da schlossen die beiden eine Wette ab: Wer es wohl fertig bringen würde, dem Wanderer die Jacke auszuziehen?

Da sagte der Wind: „Das schaffe ich in ein paar Minuten." Er nahm einen gehörigen Anlauf und versetzte dem Wanderer einen kräftigen Windstoß. Die Jacke flog auch hinten hoch und über den Kopf des Wanderers. Dieser verschränkte seine Arme blitzartig, und so konnte ihm der Wind die Jacke nicht über die Arme herunterziehen.

Der Wind zog sich noch einmal zurück, um einen noch größeren Anlauf zu nehmen. Diesen Moment benutzte der Wanderer und knöpfte die Jacke ringsherum zu, er band auch den unteren Schnurzug zu und auch den um den Hals. Doch schon kam der Wind so stark, daß der

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Wanderer umfiel. Er rollte sich zusammen und wartete, bis die Sturmböe vorüber war.

Und nun begann die Sonne ihren Versuch: Sie ließ ihre Sonnenstrahlen direkt auf den Wanderer fallen, dem wurde es endlich wieder angenehm warm, und er setzte seine Wanderung fort. Doch die Sonne hatte Geduld. Dem Wanderer wurde warm und wärmer, und schließlich zog er seine Jacke aus und band sie über den Rucksack. Die Sonne aber zog sich mit einem feinen Lächeln hinter eine Wolke zurück, damit der Wanderer auch ja keinen Sonnenstich bekäme.

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Nachwort: Eine Idee und ihre Entwicklung

Pacher ist seinen ureigensten Weg gegangen: Sein Weg der Problemstellungen. Dieser lange, kurvenreiche Weg begann im Jahre 1960. Damals gründete Pacher einen Diskussionsclub, den er 10 Jahre leitete. Als junger Mann ging er auf die Straße und lud Menschen zum Diskutieren ein. Und sie kamen. Das Mittel? Er verwickelte die Angesprochenen auf der Straße sofort in verzwickte Problem-Fragen: „Wie frei ist der Mensch? Was ist der Sinn des Lebens?" und vieles mehr.

Diese Idee, seine Mitmenschen durch Problemstellungen zu interessieren und zu animieren, war die zündende Idee, welche Pacher bis zum heutigen Tage nicht mehr losgelassen hat. Nachdem er seinen Beruf als Bildhauer wegen eines Berufsexzems aufgeben mußte, machte er sein Hobby zum Beruf.

Seit 1980 nun gibt Pacher hauptberuflich fast täglich seine Kurse „Freude an der Familie". Durch all die Jahre hindurch waren und sind seine Kurse gut besucht. Woran mag das liegen? In der Hauptsache wohl an seiner Problemorientiertheit oder seiner „Fragenden Grundhaltung", wie er das nennt. Dann aber bestimmt auch wegen seines großen Aufwandes, sein Modell immer wieder den aktuellen Situationen anzupassen. Seine Mitarbeiter bezieht er in diesen Entwicklungsprozeß mit ein. Das ist oft zeitraubend und mühsam.

Jedoch hat die Qualität des Modells dadurch sehr gewonnen.

Pacher will nicht einfach ein Modell adaptieren, sondern

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er sucht stets nach dem tieferen Grund, nach der eigentlichen Problemstellung. Er sucht nach Darstellungsmodellen und nach einprägsamen Begriffen. Das war ein langer Weg, welcher mit diesem Buch seinen vorläufigen Abschluß gefunden hat. Pacher sagt: „Theorie und Praxis müssen sich ergänzen. Und etwas salopp: Theorie ohne Praxis ist grau. Praxis ohne Theorie ist gräulich!" Er suchte empirisch nach neuen Erklärungen, nach neuen Definitionen, nach neuen methodischen Hilfsmitteln, bis sich langsam daraus eine Theorie formuliert hat, eine Theorie, welche sich in der Praxis bewähren muß.

Im Laufe seiner Kurstätigkeit sammelte Pacher unendlich viele Problemstellungen seiner Mitmenschen notabene sein klassisches Hobby: „Wir haben zwar alle das gleiche Geld in der Tasche, wir tragen alle ähnliche Kleidung. Wir sehen alle ähnlich aus. Aber wir denken alle sehr verschieden. Und gerade diese Unterschiede interessieren mich. Der eine sammelt Briefmarken, der andere Bierdeckel, und ich sammle Problemstellungen", sagt Pacher schmunzelnd über sich selbst.

Pacher wirkt charismatisch. Er lebt von der Vorstellung, mit seinem Produkt eine zwar kleine, aber wichtige Lücke in der Erwachsenenbildung geschlossen zu haben. Seine Stärke ist seine Praxisnähe. Er bleibt in Tuchfühlung mit den Teilnehmern und zeigt echte Teilnahme an ihren Schwierigkeiten.

Pacher erkennt sehr schnell die eigentliche, tief erliegende Problemstellung des Gesprächspartners und geht sicher auf ihn ein. Es fällt auf, daß er die zwischenmenschlichen Konflikte treffend, haarfein skizziert, problematisiert und seziert, es ist schon fast unheimlich zu sehen, wie treffend er die Probleme und Schwierigkeiten aller Arten erfassen und formulieren

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kann. Pacher wirkt kompetent. Es geht ihm nicht um Methode, bei ihm ist es Lebenshaltung.

Seine Faszination heißt: die jeweilige zentrale Schwierigkeit der Eltern im Umgang mit ihren Kindern ausfindig zu machen und die Logik der Kinder verständlich erklären zu können. Ihm ist es wichtiger, die richtigen Fragen zu finden als perfekte Antworten zu verteilen.

Mit seinen bald 75 Jahren und 25jährigen Berufs-erfahrung bringt Pacher einiges an Lebenserkenntnissen mit. Langeweile ist bei ihm nicht denkbar.

Sein neues Buch „Wenn Kinder ihre Macht erproben" beinhaltet ein neues Erziehungskonzept, welches der heutigen Zeit besonders entspricht. Dieses Buch ist der vorläufige Schlußpunkt der 30jährigen Laufbahn von Walter Pacher, ein Leben mit dem ewig gleichen Ziel, Kinder und Erwachsene in ein befreiendes, partner-schaftliches Verhältnis zu führen.

Barbara Moll