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Zehn Jahre nach der Nelkenrevolution von 1974, die in Portugaldie Demokratie einläutete, treffen sich fünf Kriegsveteranen zu

einem Abendessen mit anschließendem Besäufnis imRotlichtbezirk Lissabons. Ein einfacher Soldat, ein Funkoffizier,

ein Leutnant und ein Oberstleutnant reden, lamentieren,rechtfertigen sich und klagen an, der Fünfte in der Runde, ein

Hauptmann, hört schweigend zu. Es wird eine Nacht vollerGespräche und Geschichten werden, eine Nacht, an deren Ende

keiner dieser Männer ungeschoren bleibt. Mit geradezuwollüstiger, diabolischer Boshaftigkeit beschwört Lobo Antunes

die von Kriegstraumata, Sexual- undMinderwertigkeitskomplexen beherrschte Welt seinerAntihelden herauf und erzählt von ihren Ängsten und

Missetaten, aber auch von ihren Wünschen und Sehnsüchten.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geborenund hat Medizin studiert. Während des Kolonialkrieges war er

als Militärarzt in Angola, arbeitete danach in der Psychiatrieund war lange Jahre Chefarzt einer Psychiatrischen Klinik in

Lissabon. Lobo Antunes’ mit zahlreichen Preisen, zuletzt demCamões-Preis, ausgezeichnetes Werk ist in über dreißig

Sprachen übersetzt.

António Lobo Antunes bei btbElefantengedächtnis (73424) Der Judaskuß (73390) Einblick indie Hölle (74240) Die Vögel kommen zurück (73387) Reigen

der Verdammten (73388) Die Leidenschaften der Seele (73386)Die natürliche Ordnung der Dinge (73389) Das Handbuch der

Inquisitoren (73926) Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht(73131) Was werd ich tun, wenn alles brennt? (73298) Guten

Abend ihr Dinge hier unten (73655) Einen Stein werd ich lieben(73760) Mein Name ist Legion (74413) An den Flüssen, die

strömen (74596) Rückkehr der Karavellen (74779)

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António Lobo Antunes

Fado AlexandrinoRoman

Aus dem Portugiesischenvon Maralde Meyer-Minnemann

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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte

Papier Lux Cream liefert Stora Enso, Finnland.

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Juni 2015

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 1983 António Lobo Antunes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002Luchterhand Literaturverlag, München, in der

Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © plainpicture / apply picturesDruck und Einband: CPI books GmbH

CP · Herstellung: scPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-74930-0

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Besuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!

Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel»Fado Alexandrino« bei Publicações Dom Quixote, Lissabon.

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Dieses Buch ist meinen Freunden gewidmet:Helena Silva AraújoJosé Almeida CostaLuís Sobrinho

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Now the years are rolling by meThey are rocking evenlyI am older than I once wasYounger than I’ll beBut that’s not unusualNo it isn’t strangeAfter changes upon changesWe are more or less the sameAfter changes we are more or less the samePaul Simon, The Boxer

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Erster TeilVor der Revolution

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1Den Koffer hinter sich herschleifend, verließ er inmitten sei-

ner Kameraden die ausgeblichene Kaserne und sah sogleich aufder anderen Seite des Zaunes auf dem Bürgersteig eine Art Mee-resungeheuer aus Gesichtern, Körpern und Händen, das sie imZwölfuhrmittagsgrau von Encarnação erwartete, in dem die Am-pellichter aufs Geratewohl schwebten wie im Nebel hängendeFrüchte aus Licht. Irgendein unsichtbares Flugzeug pfiff über denWolken. Ein Trupp Kadetten kam im Laufschritt vorbei, kaute denSchotter des Kasernenhofes mit den Kiefern der riesigen Stiefel,von einem Unteroffizier angefeuert, dessen leere Augen denender Porzellanhunde in den Vitrinen ähnelten.

– Was für ein beschissener Märzbeklagte sich der Gefreite links neben ihm, der als Fahrer

gearbeitet hatte und einen Sack über der Schulter trug, der vollvon dem afrikanischen Plunder war, den zerlumpte, einarmigeSchwarze den Soldaten auf Urlaub in den Cafés von LourençoMarques aufs Auge drücken: Pfeifen aus Blech, Armreifen ausDraht, fürchterliche, mit dem Taschenmesser unterm Wellblechder Elendssiedlungen eilig hergestellte Götzen. Und er dachte, Ichbin in Lissabon und in Mosambik, sehe gleichzeitig die Häuserder Sozialsiedlung und die Bäume im Busch, die kleinen, gichti-gen Gärten und die von Maschinengewehren verwüsteten Stroh-hütten, den Oktopus mit seinen fröhlich sehnsüchtigen Armen,der uns ruft, und die ungeheure, gigantische Stille, die den Hin-terhalten folgt und von einem leisen Wimmern erfüllt wird, wievom Klagen des Regens: er spähte unter den Mercedes auf demPfad durch den Busch, und der Typ, der drei Handbreit über ihmim doppelstöckigen Bett schlief, starrte ihn bereits mit der gei-

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stesabwesenden Zerstreutheit Verstorbener bei Totenwachen an,deren Lächeln mild geworden ist wie die liebenswürdige Gleich-gültigkeit auf Fotos. Er sah den Kommandeur wieder, wie er sichin der Turnhalle der Kaserne vom Bataillon verabschiedete, dasätzende Glitzern der randlosen Brille, die Finger, die sich weich zuden in Habtachtstellung stehenden, fast an die Rückwand gelehn-ten Soldaten ausstreckten, und dachte, Ich bin immer noch in Mo-sambik, sitze innerhalb des Stacheldrahtverhaus an der Bar undschaue dem Herannahen der Nacht zu: der Sanitäter hatte beimAbendessen die Tabletten gegen Malaria ausgeteilt, ein feinerNieselregen fällt am Nachmittag in Encarnação, am Nachmittagin Lissabon, läßt aus den Kisten den sanften Duft nassen Holzesaufsteigen, den runden Erdgeruch, und bald darauf werden Hun-derte von Insekten auf dem Teerbelag erscheinen und sich sum-mend in den Straßen verteilen wie im Buschwerk von Omar, bissie ganz allmählich in der Ferne in der Dunkelheit der Unterstän-de verschwinden. Der Gefreite, der Fahrer gewesen war, wechsel-te seine Last von einer Schulter auf die andere und atmete empörtdie Feuchtigkeit der Luft ein:

– Das ist vielleicht ein Scheißwetter hier.Die Köpfe drängten sich an die Gitterstäbe, die Gesichter bar-

sten in riesigem Gelächter, wirre, schrille, vermengte Stimmenriefen uns. Ein alter Unteroffizier in weißem Kittel erschien ge-langweilt rauchend an der Tür eines Gebäudes mit einem rotenKreuz auf der Fassade, schlurfte wieder hinein, und der Soldatsah die Ecke eines Schreibtisches, Glasschränke, die Skala mitden immer kleiner werdenden Buchstaben, die dazu diente, Kurz-sichtigen Beklemmungen zu verursachen. Lissabon, dachte erenttäuscht, achtundzwanzig Monate träumt man von dieser ver-dammten Stadt, und am Ende ist Lissabon das hier, während einBierlastwagen auf dem Schotter quietschend am Wappentor undam Spielzeuggewehr der Wache vorbeifuhr, Bruchstücke vonSandeman Portwein und Binaca Zahnpasta auf den Dächern auf-tauchten, die Offiziere in der Messehütte Karten spielten und auf

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die Abendsuppe warteten. Doch heute würde es keine Angriffegeben, es würde nie mehr Angriffe geben: es war Schluß mit denPfaden durch den Busch, den Bombardierungen, dem Hunger,den Massakern, und da bin ich wieder im Encarnação-Viertel undbei den wie kariöse Zähne faulen Häuschen in der Nähe der stin-kenden offenen Kiefer der Siele, auf denen Kapverdianer mit ge-zückter Hacke lustlos hämmern.

– Das gibt garantiert eine Grippe, prophezeite der Fahrer,acht Tage Wärmflasche und Zitronentee, bis das Niesen vorbei ist.

Er schwitzte in der Koje, die Waffe am Kopfende und unend-liche Müdigkeit in den Gliedern, Ich werde sterben. Der Arzt be-trachtete ihn zerstreut, die Hände in den Taschen, eine halbeStunde später wies ihn jemand an, sich auf den Bauch zu legen,und im selben Augenblick jagten sie ihm eine Spritze gegenSumpffieber in die Hinterbacke, und der Schmerz breitete sich imFleisch aus, als würde plötzlich im Hintern ein Backenzahn glü-hend brennen. Vollkommen reglos, mit geschlossenen Augen,spürte er auf dem Kissen das eigene Blut gegen den Hals hüpfenwie ein verängstigtes Tier, das entwischt, und um ihn herum dasruhige Geräusch der Bäume und der Stimmen, die ihnen von deranderen Seite der Gitterstäbe in wirrem Jubel etwas zuriefen:Jedes Blatt, dachte er, ist eine zitternde Zunge, jedes Auge einherausstehender Knoten im Holz, jeder Körper ein sich neigen-der, erschreckender und überschwenglicher Zweig. Der Leutnantvon der Allgemeinen Verwaltung kam selbstvergessen an dem imMercedes ausgestreckten Schatten vorbeigetrabt, dessen Mundsich in einem Seufzer ohne Ende auseinanderzog, und umarmteauf dem Bürgersteig einen alten Mann, der mit der Spitze desSpazierstocks nicht entzifferbare Initialen von Gefühlen in dieLuft schrieb. Er stolperte über den Koffer, vermied vorsichtig denBettnachbarn mit den Füßen, der auf dem Pflaster Lissabons ineiner widerlichen Eingeweidepfütze lag, wandte den Blick ab, umdas Einschußloch im Ohr nicht zu sehen, und bemerkte, daß derOktopus aus Menschen, der sie in glücklicher Qual erwartete,

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sich am Wappentor in Koliken wand und reckte und dabei die Sol-daten einen nach dem anderen unter dem Geheul fleischfressen-der Küsse verschlang: Sie werden mich auch fressen, befürchteteer, von Panik erfaßt, sie werden mich mit ihren Tentakeln aus Är-meln, Hemden, Krawatten, Regenmänteln, Hosen und traurigen,abgetragenen Witwenkleidern verschlingen, mir mit ihrer stür-mischen, gebieterischen Zuneigung die Gelenke zermalmen. DerLeutnant aus der Verwaltung nahm ein brüllendes Kind auf denArm, ein Feldwebel verschwand seinerseits in einem Strudel ausGezerre und Schulterklopfen, und der Soldat erinnerte sich dar-an, wie er im Busch, den Mörser auf dem Rücken, in der Stille desMorgens schräg durch die Büsche zur verlassenen Eingeborenen-siedlung gegangen war, wo ein paar glanzlos laue Glutherde vorsich hin starben.

– Wenn das Wetter so bleibt, beklagte sich der Fahrer, ehr-lich, dann ist nicht mal mit meiner Seele mehr was anzufangen.

Das Flugzeug brach, die Räder wie Füße aggressiv vorge-streckt, durch die Wolken und näherte sich der verborgenen Pistedes Flughafens wie eine große unbeholfene, steife Taube vollerquadratischer Fensterporen und einem dicken roten Streifen aufdem Metallrücken. Langsam, mühsam, als fügte er die Teile ei-nes vergessenen Spiels zusammen, stellte er in sich die Stadt wie-der her, die er zwei Jahre zuvor unter Schiffsgetute und Militär-märschen verlassen hatte, als das Schiff sich von der Kaimauerlöste, vom Gekreisch der Familienmöwen verfolgt, die wie rie-sige, angstvolle Totenvögel um den Rumpf flogen und über denOlivenwellen die geöffneten Januarregenschirme schwenkten. Eswar das erste Mal, daß ich meinen Vater fliegen sah (dachte er, aufder Matratze ausgestreckt, während ihm die Maschinen des Passa-gierdampfers die Lunge durchwalkten und den Urin in der Harn-blase schluchzen ließen), und er flog in meiner Erinnerung in derSpur der sich entfernenden Schiffsschrauben immer weiter undstritt sich mit den Vögeln um sein Gischtabendessen, bis der ein-zige Brief meiner Schwester in Mosambik ankam:

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Abílio ich hoffe sehr daß du wenn du diesen Brief erhältstbei guter Gesundheit bist wie ich und mein Sohn Gott sei Danktrotzdem Vitor keinen einzigen Centavo für das Kind gibt undmir hier vor der Tür immer noch unglaubliche Szenen machtSchläge Drohungen Gerede Abílio ich habe eine sehr traurigeNachricht für dich es ist nämlich so: Vater hat gestern den Löffelabgegeben als sie im Fernsehen die Volkstanzgruppen gaben undich hab das erst gemerkt als ich ihm sagte er soll ins Bett gehenich habe ihm mit dem Finger an die Schulter getippt und er ist zurSeite aufs Sofa gefallen wie eine Puppe und hat natürlich auchnoch die Lampe unserer verstorbenen Mutter mit dem Ellen-bogen auf den Boden gestoßen die die so durchsichtig ist daß manden Glühfaden sehen kann und die ihr die Dame geschenkt hatbei der sie als Putzfrau gearbeitet hat Dona Márcia vom Kurz-warenladen hat mir versprochen mir eine gute Klebe zu gebengestern haben wir Totenwache gehalten und es sind fast alleNachbarn gekommen Senhor Honório der Chef Salgado undCousine Esmeralda und die Nichten die die Gelähmte von Num-mer vierzehn gebracht haben die Arme in ihrem Rollstuhl erin-nerst du dich daran wie wir Steine an ihre Fensterscheiben gewor-fen haben und sie Spitzbuben Spitzbuben geschrien hat OnkelVenâncio von der Post hat sich um die Papiere für die Sterbeur-kunde gekümmert die Beerdigungskosten werden in Raten ansBeerdigungsunternehmen gezahlt falls du was über hast schick esschließlich war er dein Vater und es ist nicht gerecht daß ich allesallein blechen soll es gab zwei Kränze einen kleinen mit einer lilaSchleife von den Freunden aus dem Café und einen von mir der soschön war daß Osório der vom Fußball zu mir gesagt hat Ver-dammich Fräulein Otília da möchte ich ja auch gleich den Löffelabgeben und ich warf ihm gleich zurück keine Angst bei dem Hu-sten den Sie immer haben werden wir nicht lange darauf wartenmüssen der Beerdigungszug war echt toll sechs Taxis und dreiAutos eine Kollegin aus der Fabrik hat mir den Rock und dieMantille geliehen alle fanden es schade daß du nicht da warst und

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schicken dir ihr Beileid und Grüße hoffentlich kommst du schnellund wohlauf zurück denn man sieht hier so viele Krüppel auf derStraße ich schicke dir eine Umarmung deine Schwester MariaOtília Alves Nunes Adieu fünfhundert Escudos würden mir schonweiterhelfen.

Jetzt (dachte er, als er den Brief zu Ende gelesen und den Um-schlag im Koffer verwahrt hatte) fliegt der Alte mit geöffnetemRegenschirm unter der Erde weiter, den Mund voller Schlammund Erdklumpen, und die kleinen unsteten Rentneraugen be-trachten eingehend ein Schiff, das es nicht gibt, wie es sich vollerSoldaten nach Afrika entfernt, immer unbedeutender auf demUrkundenpapierblau des Flusses. Der Fahrer prüfte, so wie dieZunge langsam und vorsichtig einen schmerzenden Zahn abta-stet, argwöhnisch den niedrigen Himmel Lissabons: Walzen rau-her dunkler Wolken ohne Ruder, und das seltsame Gefühl vonHohlheit, von Leere, als ob das Dach der Stadt aus einem Hangunendlich vieler durchsichtiger Stufen bestünde, die zu keinerTür führen.

– Mindestens eine Lungenentzündung, sah der Typ vorausund schüttelte bekümmert den Kopf wie nach der Explosion derMinen auf dem Buschpfad, als sie sich stumm, ohne zu wissen,was sie tun sollten, um einen mit ausgestreckten Armen und Bei-nen daliegenden Körper versammelt hatten, der blutete.

Der Oktopus hinter den Gitterstäben wurde ganz allmählichkleiner, Trauben von Menschen entfernten sich, einen Soldatenumringend, über den kleinen Platz von Encarnação, auf dem derVerkehr geduldig wie ein großer erschöpfter Ochse kreiste undmit seinen Rauchfladen die mageren Bäume im Rund düngte, dieauf die Wachsplacken der Häuserwände die zarten Bronchienspu-ren ihrer Zweige druckten. Nur eine kleine Gruppe blieb beharr-lich am Wappentor kleben, bereits so nah, daß er die Gesichterund die Arme erkennen konnte, die die zugeklappten Regenschir-me an die Brust drückten (bang wie die Schwarzen, die sich ver-geblich mit einer Dose in der Faust am Stacheldraht eingefunden

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hatten und auf Essensreste des Bataillons hofften), Frauen, Män-ner, Greise mit von der resignierten Hoffnung armer Leute ein-gekerbten Falten, grobe Schuhe, in den weichen Stein des Bür-gersteiges gepflanzt wie unförmige Felsbrocken. Die Rekrutenstreiften sie abermals im Vorbeitraben, aufgestachelt von denSchreien des Spießes und des Unteroffiziers, der ihm wie ein Hir-tenhund folgte und dabei einen Dicken beschimpfte, der mühsamam Ende der Kolonne trudelte und in Verzweiflung und Erschöp-fung zerfloß, während die schäbigen Gebäude der Kaserne sichhinter seinem Rücken duckten: Jetzt war Schluß mit dem Militär,Schluß mit dem Schießen, Schluß mit dem Tod, Schluß damit,Nacht für Nacht im Unterstand durch ein kleines Loch nach demraschen orangefarbenen Licht der Waffen zu spähen. Ein, zwei,drei begierige Hände packten den Fahrer am Blouson, an den Ab-zeichen, an den Knöpfen der Uniform, als würden sie unter sichein kostbares Erbe aufteilen, eine winzige Alte mit Umschlagtuchhängte sich weinend an seine Taille, lehnte scheu, zufrieden, ge-rührt ihr Gesicht an seinen Bauch, meine Schwester konnte sicherwegen des Kleinen nicht kommen, und die Bitterkeit des Neides,weil niemand da war, der ihn rief, ihn schob, ihn mit Küssen näß-te, der Fahrer lächelte betäubt, begriff es nicht, Wir sind noch im-mer in Afrika, verfolgen noch immer die Spuren der Kerle, durch-queren immer noch die weiße Stummheit der Kriegsmorgen,stinken nach dem Maniok der Bastmatten und nach dem langsa-men Geruch der Schwarzen, stehen immer noch vor dem explo-dierten Unimog und der aus den Fugen geratenen Wirbelsäule desim Lenkrad erhängten Fahrers. Er trat, den Koffer ziehend, ausdem Wappentor und suchte mit den Blicken, ohne sie zu finden,die Bushaltestelle: Scheiße, sogar die Autobushaltestellen sind indiesem Land nicht mehr da, wo sie waren. Die Leute gingen inmechanischer Hast an ihm vorbei, Gesichter, Brüste, Glieder be-wegten sich mit wirrer Schnelligkeit. Ein Blinder tastete flinkdie Ecken mit seinem Aluminiumstock ab, der Lautsprecher ir-gendeiner Verlosung glitt, von einem gebieterischen Lieferwagen

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herabbrüllend, vorüber: verschwunden waren die Typen mit derspeckigen Aktentasche und dem dreckigen Hemdkragen, die inden Straßencafés am Meer den Soldaten, die sich einschifften,afrikanisches in portugiesisches Geld umwechselten, zwölf fürhundert, fünfzehn für hundert, einundzwanzig für hundert, drei-ßig für hundert. Kein einziger Umriß klebte mehr an den Gitter-stäben, ein rotblonder, mit Sommersprossen übersäter Junge, derden Korb eines Krämerlehrlings auf der Schulter trug, erklärteihm, Gehen Sie zwei Blocks runter bis zum Elektroladen, da be-kommen Sie den Siebenundvierziger. Die Iris des Jungen warengrün, umringt von winzigen gelben Sprenkeln, der Regen glichfeuchtem, zart in der Luft glitzerndem Staub, die Holzhütten derZigeuner umgaben das Stadtviertel mit dem stinkenden Chaoseines afrikanischen Slums: Kinder, humpelnde Esel und auf denWellblechplatten der Dächer Steine und Autoreifen. Ob es dasenge Haus in Buraca hinter den Eisenbahnschienen und dem trau-rigen Nachtgeheul der Züge noch gab? (Der Koffer streift die Fer-sen wie ein Schwanz.) Das Foto meines Neffen in einem Muschel-rahmen auf dem protzigen Fernseher? Im Gehen versucht er sichan die Zimmer zu erinnern: das Bad, das Schlafzimmer, die Dek-kel von Pralinenschachteln, die an den Wänden als Bilderrahmendienen, die ständig kaputte Wasserspülung, die die Streben derFenster wie Knochen rappeln läßt. Leute, fast alles Frauen, stan-den schweigend da und warteten auf den Bus: Morgen, sang manin Angola, als ich mal dort war, oder eine Kerze in Muxima an-zünden, ich werde zum Fort von São Paulo gehen, werde dasgallefarbene Wasser der Bucht ansehen. Der Siebenundvierzigerbleibt schließlich mit einem schrillen Bremsenseufzer stehen,und die Frauen beginnen mit gesenktem Kopf einzusteigen, nach-dem die Metalltür sich wie ein Paravent lärmend zusammen-gezogen hat. Der Fahrer trommelt mit den Fingern auf das Lenk-rad und fährt dann unter Blechdosengeschepper unvermitteltan. Der Soldat klammert sich an eines der verchromten Rohreoder an die Lederstreifen, die von der Decke herunterbaumeln,

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hält den Koffer zwischen den Knien und erlebt das zitternde Vor-überziehen von unbekannten Straßen, Boulevards, Gebäuden,kleinen ausgemergelten, flusigen Plätzen unter einem Himmelaus Flusen. Hin und wieder klingelt eine Glocke, das Fahrzeugwird unter mehrfachem Federquietschen langsamer und erstirbtschließlich in einem allerletzten Erschaudern: die, die einsteigen,und die, die aussteigen, haben den gleichen sauren, trüben Seiten-blick, die gleiche verschossene Kleidung, die gleichen unendlichfernen, gealterten Gesichter. (Als er sich in der Kaserne vomFeldkaplan verabschiedete, dachte er, Diesen Kerl werde ich nunnie mehr wiedersehen, die Stimme von diesem Kerl werde ich niemehr auf dem Kasernenhof hören, niemals mehr werde ich sei-nem nutzlosen Lateingebrabbel vor den Särgen lauschen.) DerBus rollt mühsam und gemächlich an, noch mehr Gebäude, nochmehr Häuser, ehemaliges Brachland, jetzt von einem Hautaus-schlag aus Hütten bedeckt, Bürgersteige voll Müll, Kindern undHunden. Wie Hunde und Kinder sich in diesem Land ähneln,dachte er, sich in Afrika ähnelten: der gleiche bettelnde Gesichts-ausdruck, die gleichen glanzlosen Haare, die gleichen liliensten-gelschlaffen Gliedmaßen. Der Bus fährt ächzend unter einemverfallenen Aquädukt hindurch, biegt in der Nähe der Eisenbahnnach links ab, deren Schienen hin und wieder durch die Lücken ineinem Rohrdickicht zu erahnen sind, und beginnt asthmatischden Hang nach Buraca hinaufzuklettern: Irgend etwas ist hiervertraut, irgend etwas Undefinierbares, Intimes, das ich ebenso-gut kenne wie diese kleinen gefliesten Veranden, diese Vogelkäfi-ge vor den Fenstern, diese an Wäscheleinenbäuchen aufgehängtenHemden.

– Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, als hier Häuser mitkleinen Gärten für Kohl und Kleinvieh standen (würde er mirspäter im Restaurant sagen, wo wir uns viele Jahre später, zehnoder zwölf Jahre nach unserer Rückkehr aus dem Krieg, trafen).Damals, Herr Hauptmann, wirkte Damaia wie eine Wüste, einstinkender Bach stolperte aufs Geratewohl über die Steine, mein

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Vater hatte zwei Ziegen an einem Pflock festgebunden, die denganzen Tag lang empört meckerten.

(Rührt euch, befahl der Major in der Turnhalle der Kaserne,und Schluß war mit Mosambik, voller Kraft mit dem rechten Fußauf den Boden stampfen und in diese Kraft den Ekel legen, den ihrin mir auslöst, die Toten, die Einbeinigen, die Verwundeten, dasFehlen von Zigaretten, frischem Essen, Briefen, Frauen, außer dereinen oder anderen spindeldürren, desinteressierten, dickbäuchi-gen Afrikanerin in Lumpen.) Er sieht plötzlich ein schmales drei-stöckiges, zwischen einen Krämerladen und ein bröckliges, be-tagtes Gebäude geklemmtes Haus, zieht eilig am Lederband derGlocke, Ich bin angekommen, und die müden Mitreisenden blik-ken ihn erschrocken an: ein Glatzkopf wächst überrascht hinterder Zeitung hervor wie die Nilpferde im Zoo aus dem Wasserbek-ken, mit dicken, von Nachrichten und Buchstaben beschlagenenBrillengläsern. Er schubst hustende Fahrgäste mit dem Ellen-bogen, undeutliches Murren verwebt sich mit dem Knattern desMotors, er steigt aus, am Arm den Koffer, der seinen welken Zornüber den geriffelten Boden schleift, und steht blöd auf dem Bür-gersteig und schaut dem Bus nach, der sich mit der indolentenGemächlichkeit von Fettleibigen mit seiner schläfrigen, gleich-gültigen Ladung entfernte.

– Ich wußte auch nicht, was ich machen sollte (würde derLeutnant über den Fisch, die Rübenschößlinge und die gekochtenEier hinweg zu mir sagen), was ich auf so viele Fragen, auf so vie-le Küsse und so viel unerwartete Aufmerksamkeit, so viel Inter-esse für mich antworten sollte. Sie tasteten mich ab, um sich zuversichern, daß ich es war, vermischten ihren lebendigen Atemmit meinem von Toten getränkten Atem, und da kam mir der Ge-danke, Und jetzt? Haben Sie, als Sie zu Hause ankamen, Undjetzt? gedacht, Herr Hauptmann? Haben Sie nicht gedacht, wiezum Teufel werde ich das alles vergessen? Waren Sie nicht ver-ängstigt, allein in Lissabon, mit diesem Raum von Tagen vor sich,von Stunden, die mit irgend etwas möbliert werden mußten, ha-

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ben Sie nicht gedacht, wie schwer es ist, die Uniform auszuziehenund Zivilist zu sein, ich kann doch nur einen Schießprügel in dieHand nehmen und auf Negerjagd im Busch gehen?

– Als ich in Buraca aus dem Bus stieg, war meine Schwesternicht da, sagte der Soldat, sie war mit dem Kleinen oder weiß ichwem einkaufen gegangen, und ich habe ewig lange vor der Haus-tür gewartet.

– Steh da nicht rum und guck mich wie ein Blödi an, kommrein, sagte sie

und der Soldat erblickte eine Frau etwa in seinem Alter miteiner Plastiktüte in einer Hand und einem kleinen Jungen an deranderen, die ihn mit dürren, irgendwie zufriedenen, irgendwie ge-nervten Pupillen anschaut, die Tür mit der Hüfte aufhält, ihm imlangen schmutzigen Korridor (noch mehr Mülleimer, Fußmatten-zungen, Stuck an der Decke, der sich in Schimmel auflöst) brüskvorangeht und den Beutel in der Küche auspackt, wo das Eisbär-grummeln des Kühlschranks anschwillt, während der Sohn ihn,mitten im Zimmer zwischen einem Mobiloilkalender mit einemMädchen mit umwerfenden nackten Brüsten und dem Aquariumdes abgestellten Fernsehers stehend, mit schreckensweiten Augenprüfend ansieht. Er setzt sich ängstlich auf die Sofakante (Da istmein Vater gestorben), trifft auf das Foto des Alten auf einemBord, das alte Foto eines Mannes mit Schnurrbart und Uhrkette,beeindruckend wie ein Papst auf seinem Jahrmarktsthron, stehtmit einem Satz auf, aus der Küche kommen Geräusche zusammen-stoßender Topfdeckel, das Zuknallen von Schubladen, ein Schemelfällt um, er geht zum Fenster, und da sind die heruntergekomme-nen Häuser des Viertels, der eklige Sandplatz, auf dem Fußballgespielt wurde, wobei die Tore durch Steine oder Flaschenscher-ben, Haufen aus Bauschutt angezeigt wurden, Männer, die Unratmit einem Stock durchwühlen, und weiter oben das verschosseneGrün von Monsanto an einem entmutigenden Mittag im März.

– Sie hat mich gefragt, ob ich vorhätte, bei ihr zu Hausezu bleiben, sagte der Soldat zu mir. Mir war noch immer ganz

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schwindlig vom Saufen, als würde ich gerade aufwachen, und siefragte mich nur, ob ich vorhätte, bei ihr zu Hause zu bleiben,als würde sie nichts weiter auf der Welt interessieren, verstehenSie, Herr Hauptmann, bleibst du nun oder bleibst du nicht, viel-leicht kann man im Wohnzimmer für ein paar Tage Platz schaf-fen.

Die Plastikgardinen waren noch immer dieselben, nur warensie grauer und trauriger, dieselben häßlichen einfachen Möbel,derselbe Porzellanteller aus dem Algarve auf der Anrichte, überallderselbe Geruch nach verstopfter Toilette und Verwahrlosung,die Rentnerzeitungen des Vaters in einer Ecke gestapelt, die gel-ben Ecken hochgebogen wie Truthahnkrallen, und die Über-raschung eines grellfarbigen Männerjacketts auf einem Bügel ander Wäscheleine, die quer durchs Zimmer, von einer Seite zur an-deren verlief und auf der sich die Wäscheklammern wie Plastik-spatzen, im Schnabel Socken, Unterhosen mit Knopf, festgekrallthatten, ein ungewöhnliches Hemd mit hawaiischen Tänzerinnen,die ihre Hintern in einen Palmenhimmel recken. Die Schwesterkam aus der Küche zurück und wischte sich die abgekauten Fin-gernägel am Rock ab:

– Einen Monat nachdem unser Vater gestorben war, hat siesich mit dem Cousin der Concierge zusammengetan, sagte derSoldat, einem Mulatten, der im Flughafenrestaurant arbeitete,immer, sogar nachts, eine Sonnenbrille und jede Menge Ringetrug und sie mit Kindern und Schlägen fertigmachte. Endergeb-nis: ich mußte mir woanders ein Zimmer mieten.

– Du siehst grün aus, erklärte die Schwester nachdenklich.Hast du dich in Mosambik nicht ordentlich ernährt?

Was für eine Entfernung trennt uns, überlegte er: du redestmit mir wie mit einem Fremden, kein Kuß, keine Liebkosung,nicht einmal ein Schatten von Zärtlichkeit: er schloß die Augen,und der Oktopus aus Gesichtern, Gesten, Rufen, angespanntemGelächter bewegte sich wieder in seinem Kopf, am Wappentor derKaserne, am nebligen Morgen von Encarnação.

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– Sogar nachts eine Sonnenbrille, eine von diesen mit Gold-rand, vollkommen undurchsichtig, Herr Hauptmann, wiederhol-te der Soldat langsam und betrachtete den Bierschaumkreis imGlas. Man konnte beim besten Willen nicht feststellen, wohin derKerl gerade guckte.

– Du hast doch nicht etwa eine von diesen komischen Krank-heiten mitgebracht? fragte die Schwester argwöhnisch, währendsie die Stoffrosen in einer Vase zurechtrückte. Nissen in der Bla-se, Würmer im Magen oder so, was weiß ich, so was Anstecken-des.

Der Sohn, der auf dem Boden saß, vergnügte sich damit, eineZeitschrift zu zerreißen, es fehlten Möbel, fehlten Bilder, derRaum hatte über die Maßen zugenommen, der Don Quichotteaus Ton bedrohte mit zerbrochener Lanze unnütz die Lampe. Undauch Risse und Streifen und Flecken an den Wänden, eine bit-tere Schlampigkeit, die er nicht kannte. Die Schwester wischteeilig hier und dort mit einem Tuch herum, strich die verkrumpel-ten Kissen auf dem Sofa glatt, ereiferte sich über eine Schmeiß-fliege, die durchs Fenster hereinkam und weite, aufgebrachteKreise im Zimmer zog: Das Postflugzeug, dachte er, das immeram Donnerstagmorgen vom Busch aus unsichtbar summte unddas die Schwester mit spektakulär ausholenden Gesten verfolgte,damit sie sich nicht über mich aufregte, mich nicht anschrie,Du hast deinen Platz hier zu Hause verloren, verschwinde, wäh-rend der Mulatte den Schlüssel ins Schloß steckte (einen flin-ken, entschlossenen Besitzerschlüssel) und ihn undurchdringlichvon der Schwelle her hinter der berühmten Goldrandbrille an-starrte.

– Ich hab nicht mal in dieser Nacht dort geschlafen, erklärtemir der Soldat mit einer dicken Lippe aus weißer Flüssigkeit überdem Mund und wie zum Laufen nach vorn gebeugten Schultern.Ich bin im zweiten Stock einer Pension in Calhariz untergekom-men, wo mir die Züge die ganze Nacht lang in die Ohren fuhrenund das Licht der Waggons an der Decke entlangglitt wie diese

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Aufeinanderfolge zittriger kleiner Quadrate am Ende der Filme inder Kantine der Kaserne. Das Bett hüpfte stundenlang, und ichstellte mir vor, es hätte Räder unter der Matratze und ich würdedurch einen Trichter aus Häusern durch Buraca nach Monsanto,zu den Kirchtürmen, den schrecklichen Vierteln in Amadora, denBeeten im Park rattern: daher wachte ich mit wahnsinnigen Nie-renschmerzen und einem Lokomotivenheulen in den Ohren auf,das können Sie sich gar nicht vorstellen, Herr Hauptmann.

Und draußen erwartete ihn Lissabon, geschlossene Läden,packpapiergraue Nebelfalten, Autobusse, die mit ihren Schein-werferhänden die kältestarre Morgenstille wegschoben, an einerBushaltestelle ausgeschnittene Pappfiguren, das alles bis um neunUhr aushalten müssen, um in eine Apotheke gehen und Aspirinkaufen zu können.

– Ich war damals verheiratet und hatte eine kleine Tochter,sagte der Leutnant und lächelte den Löffeln des Kellners zu, derihm Fleisch servierte. Ich wohnte in der Rua da Mãe-d’Água ne-ben dem Brunnen, und nach den Intimitäten, selbst wenn derLichtschalter aus war, sah ich den runden Ball der Papierlampe,die einem riesigen Mond ähnelte, der japanische Gespenster in dieDunkelheit säte. (Der Atem der Frau neben ihm und der Tochterim anderen Zimmer überschwemmten die Wohnung mit einemRaunen aus Geräuschen, die an- und abschwollen wie das leichteRascheln eines Kleides. Ein elektrisches Haushaltsgerät begannplötzlich im Dunkeln wie ein Traktor zu brummen, der einenHang hinaufklettert, auf dem Bücherschrank hielten die Zeigerdes Weckers reglos die Arme ausgebreitet, und der runde Papier-mond schwebte an einem grünen Strick oben von der Decke, an-gepustet vom süßen Atem der Sterne da draußen, die den Steineneines unlösbaren Damespiels glichen. Die Zeit, verdammte Schei-ße, hat auch mich verschluckt, denkt er, dieses Bier schmecktnach Bodensatz.) Wenn ich durch die Rua da Mãe-d’Água gehe,erinnere ich mich meistens nicht an das Gebäude, an Inês, die, mirden Rücken zugekehrt, lautlos auf den Turnschuhen in der Küche

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hin und her geht, wobei ihr die ausgefransten Jeans auf die Fersenfallen: Sehen Sie, Herr Hauptmann, wie leicht man die Dingevergißt.

– An dem Nachmittag bin ich auf Arbeitssuche zu meinemOnkel gegangen. Der Alte hatte einen Lastwagen, machte Umzü-ge, es bestand die Möglichkeit eines kleinen Anteils am Geschäft,und am nächsten Tag lud ich bereits Kommoden, Tische, Stühle,Waschmaschinen, Klaviere auf und ab, wobei mir zwei arme Ker-le im Blaumann mit ausgegangener Zigarette im Mund halfen,die auf dem Rücken, von einem Schulterblatt zum anderen, ilídioin ausgewaschenen Lettern trugen.

– Du bist also gestern angekommen, wie? bellte lautstarkmein Onkel Ilídio aus dem Kabuff von seinem Trümmerschreib-tisch, während er, ohne hinzusehen, in saudreckigen Rechnungenwühlte, in dem winzigen Raum, der ihm als Büro diente und dermit Kalendern, Blumentöpfen, Kästen mit Ferngläsern, Spinn-weben, Papieren und Schubladenschränken mit Intarsien voll-gestopft war.

Er war ein kleiner, asthmatischer, beinahe glatzköpfigerMann, dessen Gesichtszüge sich mit einer nicht auf ein bestimm-tes Ziel gerichteten Grimmigkeit kosmischen Ausmaßes konzen-trierten, die vom schwankenden Lungenvolumen genährt wurde:er schwieg alle paar Minuten, schaute den Bügel an, auf dem derspeckige Regenmantel schaukelte, und man sah, wie sich unterdem Hemd die Rippen bang wie die Wammen von Fröschen auf-blähten und wieder einfielen.

– Und kaum von Bord gegangen, pfiff der Alte, erscheinst duhier bei mir und bettelst um eine Anstellung.

Er betrachtete wütend die Knoten der Finger und bellte ihmaufgebracht zu:

– Warst du wenigstens so vernünftig, was zu Mittag zu es-sen?

– Er war immer so, erklärte mir der Soldat, er war auf sichselbst stocksauer, wenn er jemanden mochte.

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Seine Hand bewegte sich am Körper und fegte Gespensterweg:

– Er hatte im November eine Thrombose, die hat ihm die lin-ke Seite gelähmt, ich kümmere mich praktisch um alles. Einesschönen Tages pffffft und – man glaubt es kaum, Herr Haupt-mann, nicht wahr?

– Ich habe mich ein paar Tage später wieder bei der Bankgemeldet, sagte der Leutnant. Ich habe mich ins Büro gesetzt, dieTür geschlossen und gedacht, Es hat überhaupt gar keinen Krieggegeben, ich bin nicht über zwanzig Monate in Mosambik miteinem Gewehr auf dem Rücken rumgerannt, ich habe mir diesenBlödsinn heute nacht ausgedacht: die Ruhr, das abgestandeneWasser, die Toten, die Verwundeten, den Offizier der Pioniere,der einen Arm verlor, als er eine Mine entschärft hat. Ich dachte,Es hat keinen Krieg gegeben es hat keinen Krieg gegeben es hatkeinen Krieg gegeben es hat keinen Krieg gegeben, und begannlangsam zu vergessen. Als sie mir um elf den Kaffee brachten,hatte ich Lissabon nie verlassen, und Afrika war der Name vonFlüssen, die man in der Schule auswendig lernen mußte und dieman gleich wieder vergaß, um sie durch Gebirge, Grammatik undden Eisenbahnknotenpunkt der Beira Baixa zu ersetzen. Ich schau-te die Leute an, Herr Hauptmann, die Sekretärinnen, die Kol-legen, die Angestellten, die Laufburschen, bearbeitete Anträge,blätterte in Angeboten, unterzeichnete Berichte und dachte,Selbstverständlich war ich gestern auch hier, was für einen Scheißhab ich denn bloß getrunken, daß ich heut nacht so viele Träumehatte?

Der Onkel trat aus dem Lager, indem er ihn vor sich herschobund ihm den zornigen, mühsamen Fischatem in den Rückenpustete, und trieb ihn auf dem Bürgersteig entlang (Gemüsekar-ren, Blumenkörbe, Fenster im Erdgeschoß, auf der FensterbankTratschweiber mit Murmelaugen) bis zu einem Eckschild, das ausden Angeln geraten an seiner Eisenstange schaukelte: zwei Stufen,feuchtes Halbdunkel, das nach Gekochtem roch, Tische mit Pa-

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piertischtüchern, ein brüllendes Radio und hinten, am Ende desRaumes, hinter dem Tresen, mit wachsamem Hals ein Typ, der dieverchromten Hebel der Kaffeemaschine rauf- und runterdrückte.Der Onkel hob den Arm, und ein zweiter Kerl legte Gabeln undMesser auf das Tischtuch, die so krumm waren, als hätte einMaultier Minuten zuvor darauf herumgetrampelt, Teller mit an-gestoßenem Rand, einen Krug Wein, zwei Gläser, Brot, ein drei-eckiges Zahnstocherbehältnis aus Plastik. Aus der Diensteifrig-keit des Kellners schloß der Soldat, daß der Alte und er sichkannten.

– Ich esse nichts, schnaufte der Onkel. Und für den Jungenhier ein Steak vom leprakranken Esel.

Man konnte die Gäste im Dunkel der Taverne schlecht erken-nen (Damit die nicht sehen, was für einen Mist sie schlucken,hauchte Senhor Ilídio mit einem grimmigen Kichern), gebeugteGestalten, das Kratzen von Besteck, die undeutliche, von aufein-anderfolgenden Spiegelungen in den Fliesen verteilte Helligkeitdes Herdes. Der Alte ließ ein Streichholz von einem Mundwinkelin den anderen wandern, während er eilig das Fleisch, die Kartof-feln, das Ei, das dicke Brötchenschiff kaute, doch das Mittagessenrutschte fast unzerstört durch die Regenrinne der Speiseröhre.

– Die Rechnungverlangte der Onkel, während er die Schatten ringsum mit

ärgerlichem Sarkasmus betrachtete. Draußen auf der Straße rannder regnerische März des Vortages an den altersschwachen Fassa-den herunter wie die Schminke an einer weinenden Greisin.

– Wir kehrten in das winzige Büro zurück, erklärte der Sol-dat, er saß auf einem gesprungenen, quietschenden Stuhl, und ichstand so reglos wie möglich vor dem Schreibtisch, Herr Haupt-mann, um nicht einen Fünfhundertblattstapel all dieser Papiere,dieses ganzen Mülls umzuwerfen.

(Der Onkel hörte ganz und gar auf, den Soldaten zu bemer-ken, reihte nachdenkliche Striche auf der Rückseite einer entsetz-lich schmutzigen Rechung auf, und plötzlich spähte er mit den

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listigen Augen zu ihm rüber und erklärte mit entschiedenemWispern

– Worauf wartest du noch, du Dummkopf, du hast eben gera-de angefangen zu arbeiten.)

– Am schwersten ist es mir zu Hause gefallen, sagte der Leut-nant. Ich kam aus der Bank, aber da fühlte ich mich wirklich fremd,Herr Hauptmann. Nicht bei der Arbeit, nicht im Restaurant, nichtin der Stadt, im Wagen, vielleicht weil ich die Musik so laut an-stellte, wie es ging, und die Reklame und die Stimme des Sprechersmich zerstreuten, und dann, Sie wissen ja, wie das ist, wenn manfährt, will man nur nicht den Vordermann anfahren und nichtvom Hintermann angefahren werden, und dann sind da die Leuteauf den Bürgersteigen, all diese Gesichter, die immer rennen undwechseln, von denen keines dem anderen gleicht, doch dann park-te ich den Wagen, stieg die Treppe hinauf, steckte den Schlüssel insSchloß, und da war es wieder und wischte mir eins aus, dieses übli-che, merkwürdige Gefühl: Ich schaute die Tische, die Borde, dieAschenbecher an und fragte mich selber, Wo zum Teufel sind dieBäume geblieben, warum sah ich die Bäume nicht, verstehen Sie,den Stacheldraht, die Unterstände, den Busch, ich stellte die Akten-tasche ab, fiel mit der Zeitung aufs Sofa, meine Frau erschien lä-chelnd, und ich beugte mich in der Hoffnung vor, daß aus ihremSchatten ein vertrautes Profil im Kampfanzug auftauchte.

– An jenem Abend mußte ich mit ihm essen, erzählte der Sol-dat. Er hat mich nicht eingeladen. Er hat es mir befohlen, HerrHauptmann. Er lebte in einem Keller neben dem Campo de San-tana in einer winkligen Gasse, die von Barbieren und Katzen be-wohnt war.

Eine alterslose Frau, deren Hals von Vitiligoflecken übersätwar, öffnete ihm schlurfend die Tür, ließ ein heiles und ein ande-res blaues, leeres Auge auf ihm ruhen, das durchdringender zusein schien als das gesunde, und sagte

– Man sieht meilenweit, daß Sie der Neffe von Ilídio sind,kommen Sie rein.

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Wände voller Feuchtigkeitsflecken, voller Löcher von Nä-geln, voller Insektenkotsprenkeln, nicht zusammenpassende Mö-bel, eine aufgeschlagene Zeitschrift auf einem Schaukelstuhl,Fliesen mit dem Benfica-Wappen, das Foto von meiner Mutter aufder Anrichte inmitten von billigen, orangefarbenen geschliffenenGläsern, mit diesem schüchternen, verschämten Ausdruck, denich so wenig kannte.

– Kümmern Sie sich nicht um die Unordnung, entschuldigtesich die Frau, ich war beim Kassenarzt und habe vier Stundengewartet, bis ich drankam.

Das Foto der Mutter verfolgte ihn hartnäckig, ohne Unterlaßdurch das Zimmer wie die Jesusse mit offengelegtem Herzen unddem Kokottenmund auf den Kalendern der Sakristeien, hinten inder Wohnung schlug ein Fenster heftig zu, und der Onkel im Un-terhemd beschimpfte ihn, Hallo, Junge. Er hatte den gewohntenwütenden Gesichtsausdruck, doch eine Art Grimasse drückte sei-ne winzigen Augenlider leicht zusammen. Guten Abend, Senhor,antwortete er und dachte, Ich bringe, verflucht noch mal, nichtdie Lässigkeit auf, ihn anders anzureden. Sie setzten sich schließ-lich an den Tisch mit der ekligen schwarzgelb karierten Wachs-tuchdecke, die Frau rührte in Töpfen, der Onkel kratzte sich ver-legen und schweigend den Nacken mit dem ellenlangen Nagel deskleinen Fingers: unglaublich, wie ähnlich der Alte einer Kröte ist,bemerkte der Soldat, der gleiche runde Leib, die gleichen dünnenGlieder, der gleiche große Mund. Er wollte gerade mit der Ge-müsesuppe anfangen, da kam ein Mädchen im Anorak ins Zim-mer, Hallo, Mutter, hallo, Onkel, und ich, den Löffel in der Luft,mit blödem Gesicht, den Pingpongblick zwischen dem Mädchenund dem Alten: Also hast du tatsächlich die Witwe geheiratet, wieimmer heimlich behauptet wurde, bist du tatsächlich der zehnJahre älteren Tussi ins Netz gegangen, und hat deshalb die Groß-mutter jedesmal protestiert und gekreischt, wenn dein Name er-wähnt wurde, und der Zelluloidball hüpfte vom Onkel zum Mäd-chen, das ihm ein Bündel eiliger, verschwitzter Finger reichte,

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Angenehm, sich an den Tisch setzte, Krümel und Rindenstückemit dem Handrücken wegschob, sich vorbeugte und die Brühezu schlucken begann, eine Magere, Herr Hauptmann, mit einerleichten Kartoffelnase und einer Narbe an der Wange, mit derschnellen, jähen Gestik eines Spatzen.

– Hast du sie bestiegen? fragte ich und suchte in der Taschenach dem Taschentuch.

Eine Seespinne am Ende eines Armes flog vor uns vorbei, uman der Ecke zu landen, an der die Stabsoffiziere über dem gelbenSenffäßchen wisperten.

– Das war erst sehr viel später, sagte der Soldat, monatelanghat sie sich überhaupt nicht um mich gekümmert. (Und seinMund lächelte fest und hart, aus Kunststoff wie der einer Schau-fensterpuppe.)

– Hat dich der Krieg so stumm wie ein Rabenfisch gemacht?fragte der Onkel aufgebracht. Kannst du reden?

Er aß seine Suppe auf, schneuzte sich an der Serviette und be-deckte einen monumentalen Rülpser mit der Handfläche: Er fühl-te den Bauch von Gasen aufgeblasen wie die Treppen und Gängeder U-Bahn zur Hauptverkehrszeit, jede Menge Windleute, dieüber die Stufen der Eingeweide trabten, Quietschen von Wag-gons, merkwürdige Schlenker, Schaumgepuste: Bin ich nervös,weil ich zurückgekommen und jetzt hier bei den Alten und ihrbin, in dieser engen, übelriechenden Wohnung, die ich nicht ken-ne, und eine Gräte nach der anderen auf die Gabel spucke? Nochnie habe ich so viele in einem einzigen Stück gehabt, Herr Haupt-mann, wie bei jenem beschissenen Abendessen: der Onkel müm-melte, das Kinn auf dem Teller, während das Asthma mühselig inseinem Rachen pfiff. Ich hätte gern noch etwas Olivenöl gehabt,schämte mich aber, darum zu bitten, die Kartoffeln rollten sichum die Zunge, die Rübenschößlinge, die sich nicht zerfransen lie-ßen, verstopften alles. Mir gegenüber hüstelte, die Zigarette zwi-schen den Fingern, der Leutnant:

– Bei der Scheiße, die sie uns im Busch zu essen gegeben

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haben, Herr Hauptmann, hatte ich diese kleinen häuslichen Ver-wöhneinheiten vollkommen vergessen, die feuerfeste, wie der to-te Mund des Vesuvs rauchende Jenaglasschüssel, das Benehmen,das ich beim Militär verlernt habe, die lächerlichen Gesellschafts-tricks, die sie mir beigebracht hatten.

Er nahm unter dem zufriedenen, lächelnden, gespannten Ge-sichtsausdruck von Inês das Soufflé in Angriff, aber es schmeck-te nach nichts. Nichts: nur eine weiche Masse, die er gleichgültigwie ein Strauß mit melancholischer, drängender Ungeduld aß,um so schnell wie möglich den Tellergrund zu sehen, und viel-leicht würden auf dem Porzellan oder dem Plastik oder dem Glasdie freundlichen Figuren der Kinderbreie auftauchen: gutgelaunteMickymäuse, tanzende Donald Ducks, ein in einem Spielzeug-garten seilspringendes Mädchen, eine schwache Entschädigungfür verquälte Mittagessen und peinvolle Abendessen, die einemvon der Maurerkelle des Dienstmädchens in den Mund (Auf-machen) gestopft wurden. Im Küchenhof wuchsen im Sommerdie Pflanzen auf den Blumentöpfen an einem geometrischenSpinnennetz aus Draht in den Himmel. Der Leutnant lächelte, einGlas Wein in der Faust, seiner Frau zu:

– Es war großartig. (So viele Sachen aus Rohrgeflecht imWohnzimmer, dachte er, Stühlchen, Schemel, Rahmen, Borde,und ein jäher Verdacht mahlte ihm die Eingeweide: wo hast dudas Geld dafür her, du Miststück?) Die Stieftochter des Onkels,die über den aufgehäuften Trümmern des Fisches eine Birneschälte, schien sich über seine ängstliche Verlegenheit lustig zumachen:

– Und wie war das da in Afrika? fragte die Alte, als sie denTisch abdeckte und die Teller aufgestapelt in die Küche trug. Siebewegte sich mühsam, zog einen der Pantoffeln nach wie die dik-ke Hündin in der Kaserne, als sie eine Pfote gebrochen hatte undsich beschwerlich, schräg wie ein Schiff schaukelnd, vorwärts be-wegte. Das Mädchen hob das Kinn, um besser zu hören. Ehrlich,war großartig, wiederholte der Leutnant zum besorgten Gesicht

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seiner Frau genau in dem Augenblick, in dem die Tochter im Zim-mer nebenan zu weinen begann, der Onkel verlangte, die Händeungeduldig auf dem Tischtuch ausgebreitet, nach dem Kaffee, dieWasserspülung der Nachbarn entlud sich in einem zittrig rosti-gen Erbrechen: der Soldat ließ seine bescheidenen Pupillen um-herwandern, verweilte am Augapfel der staubigen Glühbirne derLampe, die ohne das schützende Lid eines Schirms an einem ge-flochtenen Kabel von der Decke hing. Aus den anderen Stock-werken drangen ferne gedämpfte Stimmen durch die Wände, derHelikopter transportierte den wie ein wertloses Bündel in einezerschlissene Decke gewickelten unkenntlichen Leichnam nachMueda. Das Mädchen wartete noch immer, das Messer reglos.Der Soldat preßte in einer Art Schluchzer mit so neutraler Stim-me, wie er irgend konnte, aus der Kehle:

– Mehr oder weniger wie hier, Senhora, sagte er.

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2Der Oberstleutnant spähte aus dem zweiten Stock des Kom-

mandeurbüros (zerbeulter Schreibtisch, Fahnen, Regale, der ewiggleiche Anblick des lauen, lastenden, schleppenden Nichtstuns derKasernen): ein Soldat schnitt dort unten das Gras in den Beeten,Köche rupften Hühner, der Radar vom Flughafen kreiselte in derFerne wie eine Sonnenblume aus Draht:

– Alle sind schon gegangen, sagte er, ohne den Mund zu be-wegen, indem er auf das verlassene Portal mit dem Wappen blick-te. Es waren noch ein Oberstleutnant und drei Majore im Raum,alle mit einem Glas Portwein zwischen den Fingernägeln. Einerder Majore schenkte sich aus der auf einem Metalltablett abge-stellten Flasche nach und hob das Glas kritisch auf Augenhöhe. Erhatte Frauenhüften, hängende Wangen und eine kleine Spangemit Orden an der Jacke:

– Erdöl aus Arabien, meinte er beifällig. So was haben wir seitfast dreißig Monaten nicht mehr getrunken.

Der zweite Oberstleutnant bot ringsum spanische Zigarillosaus einem Holzkästchen an, doch der, der aus dem Krieg gekom-men war, beachtete den Tabak nicht: er stand weiter am Fenster,schob mit der Hand den Brautschleier der Gardinen zur Seite undhatte dieser Art von traurigen Geburtstagsfeier den Rücken zu-gewandt, die fünf düstere, verbrauchte Männer abhielten. Diefrisch gestrichenen Wände des Büros dünsteten ein übelkeiterre-gendes Klima aus, das von dem weichen Körper des über denStandarten eingerahmten Admirals herzurühren schien, der siemit den lichtlosen Äuglein eines Spanferkels prüfend betrachtete.Einige hohe Gebäude waren in der Ferne zu erkennen: der Nebellöste sich in langsame schmutzige Lumpen auf, die verblaßten

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und sich in müder Trägheit neu zusammenfanden. Die Majorezündeten sich lustlos scherzend gegenseitig die Zigarillos an, undein saurer, dicker Geruch breitete sich im Zimmer aus: Afrika,dachte der Oberstleutnant, die Erde von Mosambik nach demRegen, Grillen, die zum Nachtgesang die Flügel lösen, der Funk-offizier sehr ernst in Habtachtstellung an der Tür, in der Hand einPapier:

– Erlauben Sie?– Deine Frau? fragte der Kommandeur der Kaserne, der hin

und wieder mit einem Clownstick die Hosen hochzog. Er war derbeste Schüler im Kurs gewesen und ein ordentlicher Fechter, dochhier, vor ihm, kam er ihm wie ein verklemmter, dummer Altervor, der unbedingt gefallen wollte, als bettelte er um eine Anstel-lung.

– Ich hatte keine Zeit, ins Krankenhaus zu gehen, antworteteer unwirsch, um augenblicklich seinen barschen Ton zu bereuenund die Schultern hochzuziehen: Sie hatte wegen der Bestrahlun-gen etwas abgenommen, aber du weißt ja, wie das mit den Briefenvon Angehörigen ist: Sie würden uns weniger beunruhigen, wennsie die Wahrheit erzählten. (Und er dachte, Ich kann mich schongar nicht mehr daran erinnern, ob du hübsch warst, als ich dichkennengelernt habe, ich werde die Schublade mit den Fotos auf-machen und über den Müll der Vergangenheit staunen.)

– Ich wette, niemand weiß, daß du zurück bist, lächelte ihmder Kommandeur freundschaftlich zu, während er sich die Hosenetwas kräftiger hochzog. Mein Wagen steht unten für dich be-reit.

Der Funkoffizier machte einen Schritt nach vorn und streck-te die Nachricht aus:

– Am sechsundzwanzigsten brechen wir nach Lissabon auf.Der Freund drückte das Zigarillo mitten im Glasaschenbecher

aus: man konnte die Zufahrten zur Autobahn sehen, noch mehrBäume, übereinandergehäufte Häuser, als stiege die Stadt auf ei-ner dieser beweglichen Bühnen des Casinos in sich selber hinab:

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Herr Geschäftsführer, alle Nutten von Lourenço Marques zu mirnach Haus.

– Du bist nicht der einzige, der in dieser Scheiße steckt, jam-merte der Fechter. Sieh mich an: wer würde sagen, daß ich fünf-undvierzig Jahre alt bin, verdammt? Und jetzt im August, stell dirvor, ich in Guinea.

Er schaute ungläubig auf die Buchstaben, während er in seinerHemdtasche nach Streichhölzern suchte: die Flamme beleuchteteTeile seines langen Gesichts, zwei tiefe, vertikale Falten an derWurzel der Wangenknochen, die braune Narbe des Kiefers, da-hinter eine Landkarte bunter Flecken. Der Funkoffizier putzte dieBrille mit dem Taschentuch. In der Stille ähnelten die Wachpostenkleinen kubischen, zur dunklen Drohung des Busches hinge-wandten Hügeln. Der Oberstleutnant strich sich übers schüttereHaar, hob den Kopf, und der andere traf auf seine hellen, tieflie-genden, ausdruckslosen Augen:

– Übergeben Sie es Major Albuquerque, er soll sich darumkümmern. Sie können gehen.

Er stieg die Treppen der Kaserne hinunter, ohne die Grüße zubeachten, und setzte sich neben den Koffer und den Sack auf dieRückbank des schwarzen Volkswagens des Kommandeurs, den einGefreiter fuhr, der mit seinem blonden Schnurrbärtchen was voneinem Fadosänger hatte:

– Zum Krebsinstitut, befahl er mit belegter, schneller Stimme,in der die beiden Worte einander verschlangen wie zornige Hunde.

Die Reifen lösten sich vom Schotter, der Wagen glitt zumWappentor, wobei er unter mühevollem Dosengeschepper denKotflügel nachzog, und verlor sich im Verkehr von Encarnaçãoim Schatten eines riesigen Lastwagens mit sechs Rädern.

– Lissabon hat sie alle verschluckt, Herr Hauptmann, jeder istin seine eigene Richtung gegangen wie ein Wurf, der sich ver-streut, sagte der Leutnant. Und heute, nach zehn Jahren wiederhier vereint, sind wir nicht mehr dieselben: es ist so viel in dieserZeit passiert.

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Der Funkoffizier stützte die Ellenbogen aufs Tischtuch undbeugte, den Fisch vergessend, den sanften Glanz der Brillengläserzu mir:

– Als wir zweiundsiebzig angekommen sind, gehörte ich derOrganisation bereits seit fünf Jahren an. Sie wollten nicht, daß ichheimlich abhaute oder in den Untergrund ging oder Beamter wur-de: es war wichtig für uns, Herr Hauptmann, Leute in der Armeezu haben, von innen heraus zu begreifen, was passierte, im Inne-ren der Maschine zu wirken: wir wußten, daß die einzige Mög-lichkeit einer Veränderung zwangsläufig von dort kommen würde.

Auf dem Weg nach Sete Rios wandte der Oberstleutnant denBlick kein einziges Mal vom Nacken des Fahrers, vom kurzge-schorenen Haar, den Sommersprossen oder Pickeln oder Pustelnam Hemdkragen. Der Volkswagen roch nach den Zigarillos unddem After-shave des Kommandeurs, in dem in die Tür eingelas-senen Metallaschenbecher häuften und wanden sich Kippen wieWürmer: Warum zum Teufel schreiben sie uns so behutsam nachAfrika, dachte er, als hätten sie es mit Genesenden und Kindernzu tun, warum lügen sie uns mit dem endlosen, konzentrischen,dummen Um-den–Brei-Herumgerede an: Das Kobalt hat mirziemlich gutgetan, Lieber, ich habe überhaupt keine Schmerzen,habe nicht noch mehr abgenommen, der Arzt ist wahnsinnig nett,er kennt dich, er war mit dir im Gymnasium in einer Klasse.

– Und mir fiel sofort ein mickriger Kerl mit großer Nase ein,sagte der Oberstleutnant zu mir, einer, der in Turnen furchtbarschlecht war und ständig um den blöden Priester rumwuselte, derMoralunterricht gab, einer, der immer ganz fromm war, immerspendete, immer zur Messe ging und sich für die Prügel, die wirihm als Kinder verpaßt haben, rächte, indem er den Leuten dieBäuche aufschnitt.

Vor dem Raum, in dem die Sprechstunde abgehalten wurde,gab es viele Kranke, die still und schafsgleich darauf warteten,daß eine Tür aufging und ihr Name gerufen wurde, sie betrachtet,abgetastet, ihnen etwas verschrieben, sie beraten, sie mit einem

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Rezept in der Hand wieder weggeschickt wurden: Kommen Sieim nächsten Monat oder im übernächsten oder im überübernäch-sten, im überüberübernächsten Monat wieder, tut uns leid, viel-leicht haben wir dann ein Bett frei. Leute auf langen Bänken, Pa-pier, Zigarettenkippen und Mandarinenschalen auf dem Boden,das Aschgrau einer granulösen Helligkeit trübte schräg die Ge-sichter, eine Frau im Kittel fegte zwischen tausend Beinen denMüll in ein Holzgefäß. Der Schnuller eines Säuglings fiel auf dieunsäglich dreckigen Fliesen, und die Mutter stopfte ihn geschwindwieder in den zu einem gräßlichen Gebrüll aufgerissenen Mund.Ein gelblicher Mann neben ihm, so dünn, daß er wie aus Drahtgemacht wirkte, las die sorgfältig mit dem Daumennagel gefalte-te Zeitung: die letzte Haltestelle, der letzte Bahnhof, die Endsta-tion: die Typen von den Bestattungsunternehmen müssen hiertäglich vor Anker gehen und ihre Geschäfte abschätzen, Bilanzziehen, die Anzahl der Särge errechnen.

– Natürlich war ich im Ausland, erklärte der Funkoffizier,während er feinsäuberlich die Haut des Fisches mit der Messer-spitze abhob, aber aus nahestehenden Gründen bin ich nicht überParis hinausgekommen. Sie machen sich keine Vorstellung vonder Menge der Informanten, Herr Hauptmann, die die politischePolizei außerhalb Portugals ausgesät hatte.

Er fragte einen Angestellten mittleren Alters, der humpelndein Bündel Wäsche transportierte, nach der Station seiner Frauund landete, indem er gewissenhaft dem komplizierten Rat, denman ihm gegeben hatte, gefolgt, Treppen hinaufgestiegen, überStufen gestolpert war, sich auf Korridoren verlaufen hatte, dievon bleistiftgeschriebenen Sätzen verkratzt waren, schließlich ineinem engen Labor, in dem ein Glatzkopf in Schürze, die Händein den Taschen, eine Reihe Reagenzgläser in einem Holzständerbetrachtete.

– Zehn Jahre, das ist eine verdammt lange Zeit, sagte derLeutnant, indem er gemächlich den Kopf schüttelte. Sehen Siedoch nur, wie ich mich verändert habe.

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– Drei Kinder, Herr Hauptmann, flüsterte der Soldat mir zu.Ich habe ab der zweiten Monatshälfte Mordsschwierigkeiten.

Er versuchte den Weg noch einmal in umgekehrter Richtungzu gehen, doch er fühlte sich verloren in einem Labyrinth ausWänden, Ecken, Stufen, Türen, die sich nicht öffneten, Fahrstuhl-knöpfen, auf die er nicht zu drücken wagte. Hin und wieder be-gegnete er einer von zwei weiblichen Hilfskräften gefahrenenKrankenbahre auf Rädern (eine von ihnen hielt unweigerlich eineFlasche Infusionslösung wie ein Banner in der hochgerecktenHand), auf der, einem Spatzen gleich, ein Typ mit geschlossenenAugen und einem Wasserspeiermund lag. Abblätternde Decken,Stücke von mit rosa Pflaster angeklebten Plakaten, kreisrund undeiweißglibbrig ein riesiger Fleck Auswurf: einen Augenblick langstellte er sich Keller voller Leichen vor, die sich wie er in dem Irr-garten mit spärlichen, vor der gleichförmigen Melancholie desNachmittags verschlossenen Fenstern verliefen, in dem es nachÄther, Desinfektionsmittel und Toilettenpisse roch. An die Stel-le der demütigen, schweigenden Geschöpfe am Eingang trat nundas Echo seiner eigenen Schuhe und der Klang seiner bangenBronchitis (wie wenn er im Radio die Appelle der angegriffenenKompanien hörte, wenn er sich über den Gefreiten beugte, umunter Gepfeife die panisch flehenden Schreie zu hören), bis er zu-fällig eine Schwingtür aufstieß und sich plötzlich inmitten einesvon Betten und weißgestrichenen Nachttischen überschwemmtenSaales befand, in dessen Mitte eine Gruppe Ärzte feierlich konfe-rierte.

– Meine Frau ist zweiundsiebzig gestorben, am Tag vor un-serer Rückkehr aus Mosambik, sagte der Oberstleutnant, wäh-rend er einen Zahnstocher peinlich genau in gleiche Teile zer-brach, die er parallel zueinander auf dem Tischtuch aufreihte. Erhustete, und seine Schläfen fielen ein wie die eines erschöpftenHundes:

– Ich bin nicht einmal rechtzeitig gekommen, um an derBeerdigung teilzunehmen.

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Und ich dachte, während ich auf die Glatzen, die grauen Haa-re, die verbrauchten Gesichter schaute, die lächelten, kauten undredeten: Sind wir für nichts und wieder nichts gealtert, oder ist ir-gend etwas, wird noch irgend etwas möglich sein? Denn das warfür mich das Schlimmste, die Vorstellung, daß wir uns umsonstden Arsch aufgerissen haben, uns grundlos verbraucht hatten.

– Sogar die Concierge in dem Gebäude, in dem ich in Barcelo-na gewohnt habe, führte der Funker als Beispiel an, ging regel-mäßig zum Typen von der Pide in der Botschaft, um zu erzählen,was die Portugiesen aus dem Haus so machten. Natürlich habenwir uns weit weg davon getroffen, in den Cafés, in den Parks, inKirchen, in der U-Bahn, aber fast immer mit der gleichen Wach-samkeit, den gleichen Vorsichtsmaßnahmen wie in Lissabon.

– Zehn Jahre, Herr Hauptmann, wiederholte ungläubig derLeutnant. Zehn Jahre, und irgendwie hat man’s nicht gemerkt.

Der Oberstleutnant versuchte einen kleinen, schüchternenSchritt in den Krankensaal zu machen (womöglich schwebte dermickrige Mitschüler hier jetzt ungeheuer wichtig herum), er sah,wie ein spinnenartiges Wesen eine Bettpfanne unter Hinterbak-ken hervorzog und sie auf den Boden stellte, schaute eine Sekun-de lang auf spindeldürre, behaarte Schenkel, die sich bewegten,ein Paar riesiger Augenhöhlen, das ihn ohne Neugier und ohneScham ansah, nur wie vage Schwäne auf der Oberfläche vollkom-mener Gleichgültigkeit schwamm, sah ausgestreckte Oberkörper,denen Substanz und Gewicht abhanden gekommen waren, wiedie der Schwarzen von den illegalen Feldern, die die südafrika-nischen Hubschrauber aus dem Busch brachten, er zog nebendem Kommandoposten die Pistole, der Typ sah ihn mit schlaffenGliedern ohne Furcht, ohne Haß an, und ich war unfähig abzu-drücken, zuzusehen, wie er, ohne zu protestieren, auf dem Bodenzusammensackte. Einer der Ärzte schaute ihn, am Strang des Ste-thoskops gehenkt, fragend an: Ob das der Idiot aus dem Gymna-sium war, dachte er, doch in Wahrheit fühlte er sich verschrecktund schwindlig, ohne Worte, und so begann er den Rückzug, bis

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seine Hand das kühle Metall des Türgriffs berührte. Die Ärzte,die plötzlich riesig waren, betrachteten ihn mit einem Ausdruck,der ihm wie ein ungeheurer Vorwurf vorkam: Ehrlich, ich habenicht getötet, schrie der Oberstleutnant stumm, ich habe nichtabgedrückt, ich habe nicht einmal den Lauf der Waffe bis zu denLumpen der Brust gehoben. Er öffnete zutiefst niedergeschlagendie Tür, und wieder die nicht gerade sauberen Korridore, die zer-rissenen Plakate, die mit Bleistift an die Wand geschriebenen Toi-lettenobszönitäten, das übliche Labyrinth aus Desinfektionsmit-tel und Äther, Angestellte, die Eimer oder Bündel oder Kästen mitVerbandsmaterial trugen oder verchromte Wagen voller Blechtel-ler mit Essen steuerten. Auf der anderen Seite der Fenster war derHimmel inzwischen blau geworden über den backsteinfarbenenZähnen der Dächer, den kleinen Balkonen mit Blumentöpfen undPflanzen und dem Saatfeld der Fernsehantennen, deren Früchtezittrige, an Drahtzweigen hängende Regentropfen waren. Ein en-ger Fahrstuhl mit einem Schwarm schwätzender, lachender jun-ger Krankenschwestern spuckte ihn in der Halle aus, in der erwieder auf die traurigen grauen Menschen traf, die schweigendauf die Sprechstunde warteten. Er fragte einen übelriechendenAlten mit Tirolerhut und dann ein Männlein mit finsterem Bart,Wo finde ich bitte das Sekretariat? Die anderen gaben eilig um-fangreiche Meinungen dazu ab, und der Oberstleutnant ging aufsGeratewohl zwischen Holzbänken und Spucknäpfen hindurch,bis er eine Reihe von Schaltern fand, die genauso aussahen wiedie Öffnungen in Hundehütten und für seine Größe zu tief an-gebracht waren. Er bückte sich und traf auf ein milchiges, ge-schminktes Frauengesicht: Was kann ich für Sie tun? Die anderenAngestellten schrieben angeödet, knurrten ins Telefon, schautenin Karteikästen nach. Die Frau hörte ihn auf dem Bleistift kau-end an: sie hatte einen abgebrochenen Vorderzahn, doch die vonCreme bedeckten Wangen wirkten rund und glatt, und ein sanfterDuft stieg aus ihrem Haar auf: Hier ist die Buchhaltung, wenn Sieeine Information brauchen, wenden Sie sich bitte an die Schalter

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dort hinten, und ein von Armreifen scheppernder Arm tauchtevon drinnen auf und richtete die ellenlangen Fingernägel nachlinks: eine resignierte Schlange, das matte Geräusch von Stem-peln, der Oberstleutnant wartete gehorsam im Halbdunkel einesKorridorendes hinter einer greisen Nonne, bis er an der Reihewar, während jemand die ganze Zeit hinter seinem Rücken keuch-te, er bückte sich wieder, Ich hätte gern gewußt, wo. Jetzt war daein Typ mit Diabetikeratem, der ihn aufgeregt, hypernervös inPapieren blätternd, abfertigte, wobei er ständig die Fingergelenkein einem kreisrunden Schwamm naß machte, ein dickes Registervon einem Bord nahm, Seite um Seite mit dem Zeigefinger hin-unterfuhr, einem unsichtbaren Kollegen ein Schimpfwort zu-brüllte, in Heften, noch mehr Registern, losen Dokumenten wühl-te, dann, während er sich mit einem widerspenstigen Feuerzeugeine Zigarette anzündete, bei einem Dossier mit blauem Einbandverweilte, während er es, seine Lippen bewegend, entzifferte, Estut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihre Gattin gestor-ben ist und ihre Leiche das Krankenhaus bereits verlassen hat, dieFamilie hat sie, wie der beigefügten Anmerkung zu entnehmenist, gleich nach der Obduktion abholen lassen. Er dachte, Das istbestimmt ein Irrtum, noch nie hat in Portugal irgendeine Ge-schäftsstelle richtig funktioniert, sie verwechseln Namen, ver-wechseln Daten, verwechseln Leben, verwechseln Kinder in denGeburtskliniken, wie sollte es hier anders sein. Welche Station?fragte er. Keine Station, antwortete träge der Diabetiker, heutehat eine Kranke den Platz der Verstorbenen eingenommen. Mei-ner Frau ging es besser, ich habe erst vor ein paar Tagen einenBrief von ihr bekommen, brüllte der Oberstleutnant, indem erden Schalter so fest packte, daß seine Finger weiß wurden: dieSchlange wogte verwirrt in der Dunkelheit, der Atem wandte denKopf und sagte, Senhor Mendes, könnten Sie mal kurz an meinenSchalter kommen? Senhor Mendes hatte ein Mondgesicht und dieHöflichkeit eines tyrannischen Abteilungsleiters. Der Diabetikerverlosch ehrerbietig, um ihm Platz zu machen, und Senhor Men-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

António Lobo Antunes

Fado AlexandrinoRoman

Taschenbuch, Broschur, 800 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-74930-0

btb

Erscheinungstermin: Mai 2015

Lobo Antunes’ »Schicksalslied« über den portugiesischen Machismo. Zehn Jahre nach der Nelkenrevolution von 1974, die in Portugal die Demokratie einläutete,treffen sich fünf Kriegsveteranen zu einem Abendessen mit anschließendem Besäufnis imRotlichtbezirk Lissabons. Es wird eine Nacht voller Gespräche und Geschichten werden, eineNacht, an deren Ende keiner dieser Männer ungeschoren bleibt. Mit geradezu wollüstiger,diabolischer Boshaftigkeit beschwört Lobo Antunes die von Kriegstraumata, Sexual- undMinderwertigkeitskomplexen beherrschte Welt seiner Antihelden herauf und erzählt von ihrenÄngsten und Missetaten, aber auch von ihren Wünschen und Sehnsüchten.