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Unverkäufliche Leseprobe aus: Orhan Pamuk Die rothaarige Frau Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch aus- zugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswid- rig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Orhan Pamuk

Die rothaarige Frau

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch aus-

zugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswid-

rig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung

oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

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1 Eigentlich wollte ich Schriftsteller werden, aber nachden Ereignissen, die hier zu schildern sind, wurde ichGeotechniker und Bauunternehmer. Der Leser sollte

aber jetzt, da ich zu erzählen beginne, nicht denken, es seialles längst überwunden. Je mehr ich mich zurückerinnere,umso mehr gerate ich in das Erlebte wieder hinein. So ist mirdenn, als würden auch Sie allmählich damit vertraut gemacht,was es bedeutet, Vater zu sein, und was es bedeutet, Sohn zusein.

1985 lebten wir in einer Wohnung in Beşiktaş, in der Nähedes Ihlamur-Pavillons. Mein Vater, ein hochgewachsener,schlanker, gutaussehender Mann, betrieb eine kleine Apo-theke, die einmal in der Woche Notdienst hatte und dann auchdie ganze Nacht über geöffnet war. An jenen Tagen brachte ichmeinem Vater das Abendessen, das er neben der Kasse zu sichnahm, während ich begierig den Apothekengeruch in micheinsog. Noch heute, mit fünfundvierzig, also knapp dreißigJahre später, liebe ich den Duft alter Apotheken mit ihren Holz-schränken.

Es kamen nicht viele Kunden. Wenn mein Vater Notdiensthatte, vertrieb er sich die Zeit mit einem tragbaren Fernseh-

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gerät,wie sie damals in Mode waren.Manchmal kamen Freundeihn besuchen, Gesinnungsgenossen, mit denen er sich flüsterndunterhielt. Sobald sie mich sahen, unterbrachen sie ihre Unter-haltung, erwähnten lobend, ich sei ja genauso gutaussehendund nett wie mein Vater, und stellten mir Fragen: In welcheKlasse ich denn gehe, ob es mir in der Schule gefalle und wasich mal werden wolle.

Da es meinem Vater dann sichtlich unrecht war, wenn ichdabeistand, packte ich bald den leeren Henkelmann und gingim fahlen Laternenlicht unter den Platanen nach Hause. VonVaters Genossen erzählte ich daheim lieber nichts, denn meineMutter hätte sich gleich gesorgt, mein Vater könne wieder indie Bredouille geraten oder sich aus dem Staub machen, wiedas schon mehrmals geschehen war.

Der ständig schwelende Streit zwischen meinen Elternhatte nicht nur mit Politik zu tun. Manchmal waren sie langaufeinander böse und schwiegen sich an. Vielleicht liebten siesich einfach nicht. Ich spürte, dass mein Vater anderen Frauenzugetan war, und so manche Frau auch ihm. Auf solche Frauenspielte meine Mutter in einer Art an, die auch ich verstand,doch verdrängte ich das alles nach Kräften, denn unter demStreit meiner Eltern litt ich.

Zum letzten Mal sah ich meinen Vater an einem solchenTag, an dem ich ihm das Essen brachte. Ich ging damals in diezehnte Klasse; es war ein ganz normaler Herbstabend. MeinVater sah sich gerade die Nachrichten an. Während er an derVerkaufstheke aß, bediente ich zwei Kunden, einen mit Aspi-rin, den anderen mit Vitamin C und einem Antibiotikum, undich steckte das Geld in die alte Registrierkasse, die beim Auf-springen immer so schön klingelte. Als ich nach Hause ging,

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drehte ich mich noch kurz zu meinem Vater um, und er winktemir von der Tür aus nach.

Am folgenden Morgen kam er nicht heim, das erfuhr icham Mittag von meiner Mutter, die verweinte Augen hatte. Ichdachte mir, er sei wieder zur politischen Polizei geschafft unddort mit Bastonade und Stromstößen gefoltert worden.

Sieben, acht Jahre zuvor war er einmal verschwunden underst nach etwa zwei Jahren wiederaufgetaucht. Damals hattemeine Mutter sich allerdings nicht so verhalten, als würde ihrMann in Polizeigewahrsam gefoltert. Sie war wütend auf ihn.»Er muss ja wissen, was er tut!«, rief sie aus.

Als mein Vater dagegen nach dem Militärputsch einesNachts von Soldaten aus der Apotheke geholt worden war,hatte meine Mutter ihn tieftraurig als einen Helden bezeich-net, auf den ich stolz sein solle, und zusammen mit dem Ge-hilfen Macit hatte sie die Apotheke alleine geführt. Manchmallegte ich damals Macits weiße Schürze an, doch später sollteich natürlich nicht Apothekergehilfe werden, sondern Wissen-schaftler, wie mein Vater sich das wünschte.

Nach diesem letzten Verschwinden meines Vaters küm-merte meine Mutter sich keineswegs um die Apotheke. Sieerwähnte weder Macit noch sonst einen Gehilfen, ja nichteinmal, was aus der Apotheke überhaupt werden sollte. Dasbrachte mich auf den Gedanken, dass mein Vater diesmal auseinem anderen Grund verschwunden war. Aber was heißtschon Gedanke?

Bereits damals war mir aufgefallen, dass die Gedanken unsmal über Worte kommen, mal über Bilder. Manchmal konnteich einen Gedanken mit Worten nicht einmal ausdrücken. EinBild davon, etwa wie ich bei einem Wolkenbruch rannte und

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was ich dabei empfand, war dagegen sogleich zur Stelle. Einandermal konnte ich etwas in Worten formulieren, brachteaber kein Bild davon zustande: von »schwarzem Licht« etwa,vom Tod meiner Mutter oder von der Unendlichkeit.

Ich war eben noch ein halbes Kind. Manchmal gelang esmir, bestimmte Themen zu verdrängen, und dann wieder gingmir ein Bild oder ein Wort, an das ich nicht denken wollte,partout nicht mehr aus dem Kopf.

Mein Vater meldete sich nie wieder bei uns. Bisweilenkonnte ich mir nicht einmal mehr sein Gesicht vorstellen. Ichfühlte mich dann, als wäre der Strom ausgefallen und alles vormeinen Augen verschwunden.

Auf dem Weg zum Ihlamur-Pavillon kam ich eines Abendsan unserer Apotheke vorbei und sah ein großes schwarzes Vor-hängeschloss daran, als sollte sie nie wieder geöffnet werden.Vom Garten des Pavillons wehten Nebelschwaden herüber.

Bald darauf teilte meine Mutter mir mit, dass weder vonmeinem Vater noch von der Apotheke Geld zu erwarten undunsere finanzielle Lage daher desolat sei. Ich selbst gab nurfür Kino, Döner und Comics etwas aus, und zu meiner Schulein Kabataş konnte ich zu Fuß gehen. Ich hatte Kameraden, diealte Comics weiterverkauften oder sie gegen Geld verliehen,doch hatte ich keine Lust, mir am Wochenende vor Kinos oderin Seitenstraßen die Beine in den Bauch zu stehen.

So begann ich im Sommer 1985 in einer Buchhandlung na-mens Deniz in Beşiktaş als Verkäufer zu arbeiten. Ein wichti-ger Teil meiner Aufgabe bestand darin, Schüler abzuschrecken,die bei uns klauen wollten. Hin und wieder fuhr ich mit demInhaber Deniz zum Bücherholen nach Çağaloğlu. Es gefiel De-niz, dass ich mir Autoren- und Verlagsnamen so gut merken

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konnte, und er ließ mich Bücher zum Lesen mit nach Hausenehmen. So las ich in dem Sommer alles Mögliche: Kinderbü-cher, Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde, ausgewählteErzählungen von Edgar Allen Poe, Gedichtbände, historischeRomane über osmanische Kriegshelden und schließlich einBuch über Träume, in dem etwas stand, das mein Leben ver-ändern sollte.

In die Buchhandlung kamen auch mit dem Inhaber befreun-dete Schriftsteller. Wenn der Chef mich vorstellte, sagte erimmer, ich wolle ebenfalls Schriftsteller werden, denn diesenTraum hatte ich mal ausgeplaudert, und je öfter ich den Satznun von ihm hörte, umso mehr glaubte ich selbst daran.

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