Unverkäufliche Leseprobe aus - bücher.de

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Yrsa SigurðardóttirNebelmord

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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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prolog

28. januar 2014Zentrale: Wo seid ihr?

TF-LÍF: Die Felseninseln liegen direkt vor uns. Wir sindgleich da.

Haltet die Augen offen. Sucht die Wasseroberfläche ab, so-lange die Sicht so gut ist. Vielleicht seht ihr den Vermissten.

Machen wir. Trägt er eine Schwimmweste?

Nein, wahrscheinlich nicht. Ihr sucht nicht nach einem Le-benden. Er gilt als tot.

Okay. Noch haben wir nichts gesehen. Könnte er inzwi-schen untergegangen sein?

Schon möglich. Er liegt seit zwei Tagen im Wasser und hatvermutlich keine Luft mehr im Körper. Und es ist noch zufrüh, dass er wieder hochtreibt. Das Meer ist verdammtkalt. Ich glaube nicht, dass sich schon Gase gebildet ha-ben.

Habt ihr euch die Strömungen angeschaut?

Wir vermuten, dass er in der Hafnarvík-Bucht an Land

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treibt. Oder am Landeyjar-Strand. Es gibt keine genauenAngaben, wann er ins Meer gestürzt ist.

Verstanden.

Gerade ist noch eine Meldung reingekommen. Der Polizei-wagen steht schon am Hangar. Knacken, undeutlich. Ichhab dich nicht verstanden, die Verbindung ist schlecht.

War nicht so wichtig. Wir haben noch drei Seemeilen voruns und können die Insel jetzt gut erkennen.

Seht ihr die Leute?

Nein, dafür sind wir noch zu weit weg.

Wie geht’s dem Polizisten? Ist er noch munter?

Ich glaub schon, ich frag ihn mal. Knacken, undeutlich. Ja,es geht ihm gut. Er hat noch Farbe im Gesicht. Mal sehen,wie’s nach dem Abseilen aussieht.

Ja. Lachen.

Wir drosseln das Tempo. Westlich der Insel treibt etwas imWasser, ungefähr eine Seemeile von hier. Das schauen wiruns mal genauer an.

Ja, wäre aber ungewöhnlich, wenn das der Mann ist. Ermüsste schon viel weiter weg sein.

Ich nehme mal das Fernglas. Knacken, Rauschen. Scheiße,das ist ein Mensch.

Tot? Oder lebt er vielleicht noch?

Definitiv tot. Er treibt auf dem Rücken. Keine natürlichenBewegungen.

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Tja, damit war zu rechnen. Das muss der Vermisste sein.Aber holt ihn erst, wenn ihr euch abgeseilt und die Leuteraufgeholt habt. So lautet die Order. Verstanden?

Verstanden. Wir drehen um. Der kommt nicht weit. Kna-cken. Verdammt, hörst du mich?

Ja, was ist?

Wir haben noch eine Leiche entdeckt. Im Wasser direkt ne-ben der Insel, sie hängt wahrscheinlich an einem Felsvor-sprung.

Was? Bist du sicher?

Ganz sicher. Das ist ein Mensch. Und er ist tot.

Verdammte Scheiße. Ihr habt nur einen Transportsack da-bei, oder?

Ja, es war nur von einer Leiche die Rede. Was sollen wirmachen?

Beide raufholen. Deckt eine mit einer Decke ab und schnalltsie auf die Bahre. Ich hole eine Genehmigung ein, währendihr euch abseilt. Vielleicht müsst ihr auch erst zurückfliegenund noch eine zweite Tour machen. Sonst könnte es Schwie-rigkeiten mit den Passagieren geben. Aber mein Gefühl sagtmir, dass die Finanzabteilung auf einer Tour besteht.

Wir warten auf weitere Anweisungen. Wir fliegen jetzt überdie Insel. Mein Gott, da liegt einer auf der Treppe vor demLeuchtturm. Neben ihm kniet jemand. Scheint ein Mann zusein, und neben ihm kniet eine Frau. Das sieht nicht gutaus!

Ist der Mann bei Bewusstsein?

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Er bewegt sich nicht. Scheiße. Weitere Flüche, Knacken.

TF-LÍF, was ist los?

Die Frau hat ein Messer! Anscheinend hat sie den Mann indie Seite oder ins Herz gestochen. Das kann ich nicht richtigerkennen. Er bewegt sich immer noch nicht.

Sofort abseilen! Lass erst unseren Mann runter, danach denPolizisten.

Verstanden. Ich muss jetzt aufhören und den Männern hel-fen. Shit.

Was ist?

Die Frau dreht total durch. Sie schreit was, wahrscheinlichmeint sie uns. Mein Gott, jetzt lacht sie hysterisch.

Sag unserem Mann, er soll vorsichtig sein. Er soll sich direktlosmachen und damit rechnen, dass die Frau ihn angreift.Und er soll das Messer im Blick behalten. Sag ihm, er darfnotfalls auch Gewalt anwenden. Und schärf ihm ein, dassda nicht viel Platz ist. Nicht, dass er auch noch ins Meerstürzt. Wenn sie nicht näherkommt, soll er einfach ruhigwarten und sich erst vom Landeplatz wegbewegen, wennder Polizist unten ist.

Verstanden. Gaui geht zuerst runter. Dann der Polizist. Ichsag es ihm.

Viel Glück!

Danke. Das ist echt die Hölle hier.

Knacken, das Gespräch reißt ab.

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1. kapitel

26. januar 2014Der Flug ist wie eine verschwommeneWiederholung, als sei das alles schon mal passiert. Nachdem Aufwachen konnte Helgi sich nur an einzelne Passagenaus seinem Traum erinnern, doch während des Flugs fällter ihm wieder ein. Nichts Besonderes oder Geheimnisvolles,nur einzelne Momente, die seine Phantasie letzte Nacht pro-duziert hat: das Flattern im Magen, wenn der Hubschrauberabhebt, taube Fußsohlen vom Vibrieren des Stahlbodensund das unangenehme Gefühl, etwas Wichtiges zu Hausevergessen zu haben. Anderes passt wiederum nicht: HelgisMitreisende sind zum Beispiel ganz anders als in seinemTraum, obwohl er sich nicht mehr richtig an ihre Gesichtererinnern kann. Er weiß auch gar nicht mehr, wie das Aben-teuer ausging, kurz bevor ihn der Wecker in aller Herrgotts-frühe wachrüttelte. Im Winter ist er es nicht gewohnt, sofrüh aufzustehen, denn Fotografen haben meistens keinenGrund, vor dem ersten Morgenlicht das Haus zu verlassen.Aber es gibt Ausnahmen, so wie jetzt. Dabei hätte er genau-so gut ausschlafen können, denn der Flug wurde mehrmalsverschoben, bis sie gegen Mittag endlich grünes Licht beka-men. Trotzdem verfolgt ihn der Traum weiter, vielleicht weil

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er dachte, sie wären nur zu zweit, er und Ívar, der ihm vonder ganzen Sache erzählt hat. Erst am Flughafen hat er er-fahren, dass noch zwei weitere Passagiere mitkommen. Die-ser seltsame Zufall beunruhigt ihn mehr, als er sich eingeste-hen will.

Helgi beugt sich zum Fenster und späht hinaus. Der Lärmdes Hubschraubers ist immer noch genauso ohrenbetäubendwie beim Start in Reykjavík, als die Rotorblätter anfingen,sich zu drehen, und die Ohrenschützer in dem schwerenHelm dämpfen das Dröhnen kaum. Vermutlich bringt dieSicherheitsausrüstung bei einem Unfall nicht viel, wenn manaus dieser Höhe abstürzt. Er rückt den Helm zurecht, damitdas Dröhnen leiser wird, aber ohne Erfolg. Wahrscheinlichsind die Ohrenschützer gar nicht dafür da, die Geräusche zudämpfen, sondern um bei dem ständigen Lärm im Hub-schrauber eine Unterhaltung zu ermöglichen. Die bishernicht stattgefunden hat. Die vier Passagiere hören die Pilotenzwar ein paar Worte wechseln, mischen sich aber nicht indas Gespräch ein. Vielleicht werden die anderen nach derLandung ja ein bisschen lockerer, aber eigentlich ist es Helgiegal. Es ist auch ohne Smalltalk übers Wetter und derglei-chen eine irre Erfahrung, auf einer winzigen Felseninsel mit-ten im Meer zu übernachten.

Im Helm rauscht es, dann ein Knacken und eine ferneStimme: »Wenn Sie Luftaufnahmen machen möchten, hal-ten Sie sich bereit!«

Helgi murmelt etwas Unverständliches. Es ist ihm unan-genehm, dass alle an Bord seine Stimme über die Sprechan-lage hören können. Kurz nach dem Abheben musste er demPiloten schon einmal Antwort geben. Der hatte ihm angebo-ten, über den Skerjafjörður zu fliegen, damit er Fotos vondem dort stattfindenden Polizeieinsatz machen konnte. Am

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liebsten hätte Helgi ihn gebeten, einfach weiterzufliegen,aber das wäre unhöflich gewesen. Am Ende hat er die blin-kenden Blaulichter durchs Fenster fotografiert, während derPilot den Hubschrauber schräg gelegt hat, und jetzt sitzt ermit diesen unnützen Luftaufnahmen da, die er später unauf-fällig wieder löschen wird.

Helgi tastet nach der schweren Kameratasche und ärgertsich, dass er sie vorhin wieder eingeräumt hat. Jedes Mal,wenn er sich vorbeugt, bohrt sich der Sicherheitsgurt in sei-ne Schulter, als wolle er ihm sagen, es sei sicherer, nicht aufdem Boden herumzuhantieren. Wobei ihm der Gurt im Falleines Absturzes ebenso wenig helfen wird wie der Helm.Trotzdem wünscht sich Helgi den Gurt zurück, als der Co-pilot nach hinten klettert, ihn abschnallt und ihm, nachdemer ihn an einer Sicherheitsleine festgemacht hat, die Seiten-tür öffnet. Mit weichen Knien lehnt er am Türrahmen, hebtmit zitternden Händen die Kamera und versucht unter denwachsamen Blicken seiner Mitreisenden möglichst cool zuwirken. Zum Glück musste er aus dieser Position keine Fo-tos vom Festland machen. Jetzt kann er sich wenigstens ein-reden, dass er einen Sturz ins Meer überleben würde.

Helgi kämpft mit dem Schwindel und ringt nach Luft.Die Gewissheit, nicht aus dem Hubschrauber stürzen zukönnen, beruhigt ihn keineswegs. Er mustert die raue Was-seroberfläche tief unter sich und spürt den unwidersteh-lichen Drang, die Sicherheitsleine zu kappen und sich ein-fach fallen zu lassen. Das Meer würde ihn freudig begrüßen.Doch er widersteht der Verlockung, denn der Wind blästihm heftig entgegen, und der Salzgeschmack erinnert ihngnadenlos an das, was ihn da unten wirklich erwarten wür-de: entsetzliche Kälte und der sichere Tod. Helgi schlucktund schließt für einen Moment die Augen. Am liebsten wür-

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de er den Copiloten bitten, die Tür zuzumachen, und sichwieder auf seinen Platz setzen.

Aber da muss er jetzt durch. Wenn er Schwäche zeigt,schicken sie ihn womöglich mit dem Hubschrauber wiederzurück. Oder die Angst setzt sich in ihm fest, und er trautsich nachher nicht, sich abzuseilen. Wenn er jetzt kalte Füßebekommt, verspielt er seine Chance. Jetzt oder nie. Konzen-triert nimmt er die Hand vom Türrahmen und hebt die Ka-mera hoch. Durch die Linse wirken die gewaltigen Gefahrenharmloser, werden zu Motiven, die er einfangen möchte,sein Griff wird sicherer, und die schwere Kamera ruht festin seinen Händen. Jetzt sieht er nur noch das, was er foto-grafieren will.

Der Wind weht das ungute Gefühl fort. Mit versiertenHandgriffen zoomt Helgi die Felseninseln näher heran, sodass sie auf ihn zuzufliegen scheinen, als könnten sie es garnicht erwarten, ihn zu sich zu holen. Er macht ein paar Fo-tos von den vier Felsen und zoomt dann weiter, bis die größ-te und höchste Insel die gesamte Linse einnimmt.

»Sehen Sie, dass es vier sind? Nicht drei.«Helgi wird wieder in den Lärm und die Unberechenbar-

keit gerissen, greift nach dem Türrahmen und nickt demPiloten zu, der ihn von seinem Sitz aus anlächelt.

»Erstaunlich, dass man so falsch gezählt hat.«Helgi lächelt verkrampft zurück und wendet sich dann

wieder seinem Motiv zu. Warum hatte man die vier Inseln,die wie Krallen aus den Wellen ragten, Þrídrangar, Drei Fel-sen, genannt? Von den Westmännerinseln oder der SüdküsteIslands hatten die Leute vielleicht nur drei Inseln gesehen,aber irgendwann mussten sie das Missverständnis bemerkthaben, denn jede Insel trug einen eigenen Namen: Kúlu-drangur, Þúfudrangur, Klofadrangur und Stóridrangur –

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Kugelfels, Hügelfels, Spaltfels und Großer Fels. Es ist ein-deutig, bei welcher Insel es sich um Stóridrangur handelt,aber die anderen kann Helgi nicht unterscheiden.

Stóridrangur ragt aus dem Meer wie eine schiefe Säulemit steilen Klippen ringsum. Wie die Insel wohl die immer-währende Brandung und die vielen Erdbeben überlebt hat?Sie muss aus unglaublich hartem Gestein sein – es sei denn,sie ist nur der Überrest einer wesentlich größeren Insel, vonden Naturgewalten geformt.

»Wenn Sie möchten, kann ich die Inseln einmal umrun-den und über den Leuchtturm fliegen. Wir haben genugZeit.« Wieder hat sich der Pilot umgedreht und schaut Helgifragend an. Offenbar hat er die Hoffnung aufgegeben, dassdie Passagiere die Sprechanlage benutzen.

Helgi nickt und konzentriert sich dann wieder auf dieMotive. Das milde Licht ist perfekt, das Meer grünblau undrund um die Felseninseln von weißer Gischt gekrönt. DieWasseroberfläche sieht aus wie eine Samtdecke mit Rüschenan den Rändern. Der Leuchtturm wurde gebaut, damit dieInseln den Schiffen bei starker Brandung und Dunkelheitnicht zum Verhängnis werden. Unglaublich, wie man esdamals geschafft hat, ganz oben auf Stóridrangur einenLeuchtturm zu errichten. Damals, zu Beginn des ZweitenWeltkriegs, hatte man keine Hubschrauber zur Verfügung,und das gesamte Baumaterial und die Arbeiter musstenübers Meer zu der Insel und auf die steilen Klippen gebrachtwerden. Ob die Leute damals aus anderem Holz geschnitztwaren? Helgi kann erkennen, wo die Kette zum Klettern amFelsen hängt. Er würde da bestimmt nicht freiwillig hoch-klettern.

Er hat ein paar gute Aufnahmen im Kasten, für die sichdie gefahrvolle Reise bereits gelohnt hat, als die Stimme des

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Piloten erneut in seinem Helm ertönt: »Ist da wirklich genugPlatz für euch vier? Da kann man ja kaum aufrecht stehen!«

Helgi gibt sich unbeeindruckt und konzentriert sich wei-ter aufs Fotografieren. Er hört seine Mitreisenden vor sichhinmurmeln. Der Hubschrauber fliegt jetzt über denLeuchtturm, und die Frage des Piloten ist durchaus berech-tigt. Bis auf das kleine Haus und den viereckigen Lande-platz, der wesentlich später gebaut wurde, gibt es auf Stó-ridrangur nichts als steile Klippen. Neben dem Leuchtturmtürmen sich Felsnadeln auf, die unbesteigbar, steil und zer-klüftet sind. Die Fotos, die Helgi im Internet gesehen hat,waren nur ein schlechter Abklatsch der Wirklichkeit. Wie-der einmal ist die Realität um ein Vielfaches beeindrucken-der als ihr zweidimensionales Abbild. Wie soll er das nurauf Zelluloid bannen? Helgi dreht die Kamera ein wenig,um die Schräglage des Hubschraubers auszugleichen, unddrückt ab. Normalerweise machen ihm weniger spektakulä-re Situationen schon Angst, aber er verdrängt den Gedan-ken und überlässt sich ganz dem Gefühl für das Bildmotiv.Die Küstenwache lässt bei solchen Flügen nur selten Foto-grafen an Bord, und wer kann es sich schon leisten, einenHubschrauber zu mieten? Helgi war überrascht, als manseiner Anfrage zustimmte. Schließlich hat das Leben es nichtimmer so gut mit ihm gemeint. Aber besser könnte es kaumsein, und jetzt müssen die Fotos auch gelingen.

Der Hubschrauber fliegt nun knapp über der Insel, undsie können den viereckigen Landeplatz direkt unter sichnicht mehr sehen. Das einzige Fenster in dem kleinen wei-ßen Gebäude ist zugenagelt, sodass der Leuchtturm sie miteinem blinden Augen anzustarren scheint.

»Willkommen beim Þrídrangar-Leuchtturm!«Die Piloten drehen sich um und grinsen verschwörerisch.

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