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Tatjana Kuschtewskaja Mein geheimes Rußland Reportagen Mit 70 Fotos Grupello Verlag

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Tatjana Kuschtewskaja

Mein geheimesRußland

Reportagen

Mit 70 Fotos

Grupello Verlag

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Aus dem Russischen vonGanna-Maria Braungardt, Claudia Catz,Verena Flick und Alexander Nitzberg

Die Deutsche Bibliothek – CIP Einheitsaufnahme

Kuštevskaja, Tat’jana:Mein geheimes Rußland : ReportagenTatjana Kuschtewskaja [Aus dem Russ. vonGanna-Maria Braungardt, Claudia Catz,Verena Flick und Alexander Nitzberg]1. Aufl. – Düsseldorf : Grupello Verlag 2000

ISBN 3-933749-41-7

1. Auflage 2000

© by Grupello VerlagSchwerinstr. 55 • 40476 Düsseldorf

Tel.: 0211–491 25 58 • Fax: 0211–498 01 83Umschlaggestaltung: Thomas Klefisch

Druck: Müller, GrevenbroichAlle Rechte vorbehalten

ISBN 3-933749-41-7

DAS AUGE LIEST MIT – schöne Bücher für kluge LeserBesuchen Sie uns im Internet unter: wwwwww..ggrruuppeelllloo..ddeeHier finden Sie Leseproben zu allen unseren Büchern, Veranstal-tungshinweise und Besprechungen. e-mail: [email protected]

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INHALT

»Ohne meinen Mosaikstein bliebe die Epoche unvollständig« 7Nicht mehr und nicht weniger! 9Eine russische Venus 14Wolf Messings Geheimnis 18Michail Kalaschnikow 25Das letzte Gespräch mit Eisenstein 28Über das Talent zu lieben 34»Ich habe mein Leben in ein Theaterstück verwandelt ...« 38Der Donnergott heißt auf Kamtschatka »Biljukai« 42Der Judaismus von Mütterchen Pelageja 45Die Großmutter 47Der Tempel – die Wohnstätte der Götter 49Das Geheimnis des Schamanen 55Schunja 60Die Diamanten Jakutiens 64Das Jakutentreffen 67Dessert auf nenzische Art 71Das Wasserkraftwerk von Bratsk 73Kants Schädel 75Das Echo des Krieges 79Dieses Thema ist tabu! 84Die Feuerinsel 87Kampfdelphine 90Fotos, die lügen 93»Ich war Agent des KGB« 94»Ich lebte in der geheimsten Stadt Rußlands ...« 99Turkmenischstunde 107Ein Studentenfoto 115»Zuerst muß er tot sein ...« 117Udmurtische Glasmalerei 120Das Märchenhaus von Mütterchen Taissa 124Einladung zur Hochzeit 129Auf dem Land 132»Da war so ein Fall ...« 137Die Geschichte eines Tuches 140Der Zigeunerbaron 143

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Mönche 148Die Katze aus Kasan 154Eine Grille namens »Caruso« 155Das Geheimnis ewiger Jugend 157Ein Brief aus Bijsk 160»Ich lebe gut ...« 163Die Kommunisten 164Laut Gedachtes 166Gratis-Äpfel 170Epilog 172

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Es gibt nichts Menschlicheres im Menschen als den Drang,die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden.

F. I. Tjutschew

Wer sagt uns, daß alles verschwindet? R. M. Rilke

»OHNE MEINEN MOSAIKSTEIN

BLIEBE DIE EPOCHE UNVOLLSTÄNDIG«

Es gibt zweierlei Rußland. Das eine sehen die Deutschen aufdem Bildschirm oder in Büchern deutscher Fernsehjournalisten.Das andere Rußland erzählt selbst von sich. Es schreibt über sichund sieht sich von innen, und das ist sachkundiger und tiefer.

Ich habe dieses Buch als Montage von Fotodokumenten unddokumentarischen Erzählungen angelegt. Entstanden ist eineCollage, in der sich das unbe-wegliche Bild »bewegt« – einliterarisches Experiment miteiner Camera Obscura –, am Bei-spiel eines einzelnen Lebenswerden das Leben, die Ge-schichte, der Alltag, die Sittenund Traditionen des gesamtenrussischen Volkes eingefangen.

In diesem Mosaik, dessenOriginalität auf der Einheit desUnvereinbaren und der Verbin-dung des Unverbindbaren be-ruht, treten die Fotos in einenüberraschenden Dialog mit derLandschaft der menschlichenSeele am Ende dieses Jahrtausends. Dieses Genre hat Solscheni-zyn als »Erfahrung der künstlerischen Analyse« definiert. Wirleben in zwei Dimensionen gleichzeitig – im Jetzt und im Einst.Und wichtig ist, wie Rußlands Vergangenheit mit dem Heute inWechselbeziehung steht.

Ein besonderes Merkmal guter Dokumentarprosa ist dieVerdichtung, möglichst wenig Wasser. Ich wünschte mir, meine

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Dokumentarerzählungen so zu schreiben, daß beim Lesen Ge-dankenketten, Erinnerungen, Assoziationen entstehen.

In das Buch sind Reportagen, Skizzen, Essays, interessanteSzenen und Porträts von Menschen eingegangen, von deneneinige die Welt bereits verlassen haben. Mich aber haben sienicht verlassen. Das Buch enthält alles, was mein Leben in dernachstalinistischen Ära bestimmt hat.

»Ohne meinen Mosaikstein wäre die Epoche unvollständig«,habe ich vor langer Zeit auf die erste Seite meines Tagebuchsgeschrieben. Viele Jahre später fand ich bei dem SchriftstellerAndrej Platonow den bemerkenswerten Gedanken: Ohne michist das Volk nicht vollständig.

Das Leben ist ein Gemälde von Symbolen, und jeder, der dirbegegnet, ist eine Stimme von draußen. Ich habe häufig dieHelden meiner Reportagen und Dokumentarfilme fotografiert.Als es mehr als tausend Fotos waren, bemerkte ich ein Phäno-men: Die Bilder strahlten plötzlich ein »Ortsgedächtnis« aus.Bilder, auf denen Augenblicke festgehalten sind, die, so sollteman meinen, längst in die Lethe eingegangen sind, beweisen:Die Vergangenheit verschwindet nicht, sie geht in eine für unsnicht sichtbare Dimension über.

Als ich das vergangene Leben auf dem Papier wiederer-weckte und den Text mit den Fotos verband, hatte ich denWunsch, die Vergangenheit neu und mit Abstand zu sehen undmeine Fähigkeit zu überprüfen, »mich lange und klar zu erin-nern«, wie der Linguist Wladimir Dal einmal eine besondereFähigkeit des russischen Volkes charakterisierte.

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NICHT MEHR UND NICHT WENIGER!

»Nicht mehr und nicht weniger!« – so lautete das geheimnis-volle Motto im Wappen der Vorfahren dieses Mannes, die im 12.Jahrhundert aus Frankreich geflohen und vom Schicksal nachRußland verschlagen worden waren.

Ich lernte Lew Sergejewitsch Termen kennen, als er schonweit über achtzig war. Ein Mann mit dem bizarrsten Schicksal,von dem ich je erfahren habe. Während unseres Gesprächsüberkam mich plötzlich Verzweiflung – ich glaubte, ich würdenicht über ihn schreiben können, würde es einfach nicht schaf-fen. Dieser Mann war wie ein gewaltiger Berg. Stellen Sie sicheinen der höchsten Gipfel der Erde vor, etwa den Mount Eve-rest. Den sollen Sie besteigen. Aber Sie sind kein Bergsteigerund besitzen auch keine geeignete Ausrüstung. Nur Sandalen.Und so beginnen Sie den Aufstieg.

Dieses Gefühl hatte ich bei der Begegnung mit diesem Mann.Während er mir von seinem unglaublichen Leben erzählte,schrieb ich, inspiriert von seinem Bericht, eifrig mit, schrieb undschrieb. Doch dann, wieder allein, verzweifelte ich: Sein Lebenin einer kurzen Skizze zu erfassen, war unmöglich! So vieleswar zu beschreiben: begeisterter Beifall in den bestenKonzertsälen der Welt, erstaunliche Erfindungen, Begegnungenmit den größten Berühmtheiten seiner Zeit – Albert Einstein,Charlie Chaplin, George Gershwin, Bernard Shaw, Rockefeller,Lenin, Stalin – erstaunlich unterschiedliche Menschen habensein Schicksal tangiert. Es gab in seinem Leben Reichtum,Ruhm, eine große Liebe – und Jahrzehnte Gefängnis, Lager,Zeiten schrecklichen Hungers, so schlimm, daß »den Dochodja-gi* davon die Haare ausfielen. Die Menschen wurden kahlköp-fig.« Er mußte lernen, sich zu wehren, um Chaos, Armut, Hun-ger und Rechtlosigkeit zu überstehen. »Wie ich überlebt habe?Das sind schlimme Erinnerungen.«

Dabei hatte alles so wunderbar angefangen. Er wurde 1896 ineiner Adelsfamilie geboren, studierte am St. Petersburger Kon-servatorium und parallel an der Elektrotechnischen Militär-

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* Dochodjagi – vom Hunger ausgezehrte, entkräftete, apathisch gewordene Häftlinge.

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hochschule, dem späteren Leningrader Polytechnischen Insti-tut. Sein Diplomprojekt zum Studienabschluß 1926 war dererste sowjetische Fernseher, ein Gerät mit einem für die dama-lige Zeit riesigen Bildschirm – ein Meter mal ein Meter. Stalingefiel die Erfindung so sehr, daß er sie sofort für geheim erklärteund befahl, diesen Wunderbildschirm für den Grenzschutznutzbar zu machen. Deshalb wurde der Erfinder des ersten

sowjetischen Fernsehers in keinemLexikon erwähnt. So war das da-mals. Bereits zuvor, in den 20er Jah-ren, hatte der begabte Erfinder undMusiker das erste elektronischeMusikinstrument gebaut und ihmseinen Namen gegeben: Theremino-vox (Termens Stimme, in Europa als»Ätherophon« bekannt geworden).Durch Handbewegungen in derLuft vor einem Metallschirm wur-den Töne erzeugt, eine wundervol-le, großartige Musik aus demNichts. Der erste, den diese Erfin-

dung faszinierte, war Lenin. In der Erfindung steckte ein Ge-heimnis – sie konnte nicht nur als Musikinstrument, sondernauch als Alarmanlage zu Überwachungszwecken genutzt wer-den. »Weltrevolution in der Musik« schrieben die Zeitungen inDeutschland, Frankreich und England, wo Lew Termen in den20er Jahren mit großem Erfolg gastierte. In den 30er Jahren ginger dann auf Vorschlag des Volksbildungskommissariats fürzehn Jahre nach Amerika – Konzerte in der Carnegie-Hall, eineigenes Studio, unzählige Anhänger, eine Firma, die Äthero-phone produzierte. In sein Studio kamen George Gershwin,Maurice Ravel, Jascha Heifetz, Yehudi Menuhin – alle berühm-ten Musiker jener Zeit. Zu seinen Besuchern zählten die Schrift-steller Bernard Shaw und Gerhart Hauptmann und die Regis-seure Charlie Chaplin und Sergej Eisenstein. Albert Einsteinspielte mit ihm zusammen moderne Jazzimprovisationen nachGershwin – bestimmt ein großartiges Duo! Einstein suchtedamals nach einer Analogie zwischen Musik und Raumbildern.Und Lew Termen war von der Idee besessen, ein Mu-sikinstrument zu erfinden, das die Töne nicht nur durchHandbewegungen, sondern durch die Bewegung eines tanzen-

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den Körpers erzeugte, so daß der Tanzende die Musik gleich-sam »diktierte«.

Lew Termen wurde Millionär. Er war reich, berühmt und gut-aussehend. Häufiger Gast in seinem Studio war der jungeOberst Eisenhower, der ganz vernarrt war in das Ätherophon.Zu Termens Freunden gehörten die Millionäre Dupont,Rockefeller und Ford.

Dann kam eines Tages die große Liebe, und er heiratete einesehr schöne Frau – die begabte schwarze Tänzerin Lavinia Pool.

Wir sitzen in der winzigen Einzimmerwohnung des greisenLew Termen, die vollgestopft ist mit Kisten und Geräten. Derhagere Mann mit den lebhaften dunklen Augen, fast neunzig-jährig, die ganzen letzten Jahren als bescheidener Mechanikeram Akustik-Lehrstuhl der Moskauer Universität beschäftigt,erzählt schlicht und alltäglich von seiner Vergangenheit, zeigtmir Zeitschriften, Dokumente, Kopien von Artikeln. Plötzlichstelle ich fest, daß ich nur gebannt lausche. Das Mitschreibenhabe ich vergessen. Doch auf einmal verstummt der Greis undsieht aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas Fesselndes zusehen. Ich schaue ihn an: Er ist nicht sehr groß, kahlköpfig, seinlängliches Gesicht voller Runzeln. Aber es geht etwas von ihmaus, das ich mir nicht erklären kann. In dem fast Neunzigjäh-rigen steckt eine große bewußte innere Kraft, die ich auch spür-te, säße er nur schweigend neben mir. Ich wünschte, der Abenddauerte endlos, Termen möge erzählen von seinem erstaunli-chen Leben und nicht mehr aufhören. Was hat er nur mit diesemFenster, denke ich, daß er sich gar nicht davon losreißen kann!Aber ich wage nicht, ihn zum Weitererzählen zu drängen, son-dern warte geduldig. Und fürchte auf einmal, er habe mich undmeine Fragerei satt, ich sei in dieser kleinen Wohnung vollerElektronik, Mappen und Zeichnungen ganz und gar überflüs-sig. Er sitzt ganz ruhig da. Wie ein Berg. Mir kommt in den Sinn,daß es wohl diese innere Ruhe war, seine innere Kraft, die ihndie Jahrzehnte schlimmster Lagerhaft ertragen ließ.

Plötzlich bricht er das Schweigen und kehrt in Gedankenwieder nach Amerika zurück. In mir bohrt die Frage: Wie konn-te er in dieser Zeit zehn Jahre lang in den USA leben? Dahintersteckt bestimmt ein Geheimnis. Der Greis, als hätte er meine Ge-danken erraten, sagt leise: »Ich habe mit den Politikern undamerikanischen Militärs, wie Sie verstehen können, nicht nurüber die Musik gesprochen. Ich mußte herausfinden, ob die

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USA Angriffspläne gegen die UdSSR hegten. Ich erfuhr, daß wirvon dieser Seite nichts zu fürchten hatten und unser künftigerGegner Nazi-Deutschland sein würde. Diese Informationenwaren damals sehr wichtig.«

1938 wurde Lew Termen in die Heimat zurückbeordert. Waser in Moskau sah, entsetzte ihn: Verhaftungen, Folterungen,Denunziationen, Angst. Er mußte erleben, von Freunden ver-raten zu werden. Er redet darüber schlicht und aufrichtig: »Obich den Freunden verziehen habe, die mich verrieten? Ja, ichhabe ihnen verziehen. Wenn ich nicht verzeihen könnte, wäre esum mich öd und leer. Verrat ist heutzutage normal geworden.Ich versuche, diese Menschen zu verstehen und immer daran zudenken, woran der Hahn auf protestantischen Kirchen ge-mahnt: An Petrus, der sich dreimal von Jesus losgesagt hat.Jesus hat ihm verziehen. Also, kann ich schon gar keinen ver-urteilen oder richten. Man muß Vergebung lernen, sonst bleibtman einsam.« »Kann man wirklich alles vergeben?« frage ich.»Ich kann nur eines nicht vergeben – daß unschuldige Men-schen ins Verderben gestürzt wurden. Das Leben ist ein großerWert, niemand hat das Recht, darüber zu verfügen, zu bestim-men, ob jemand leben darf oder nicht.«

Die Verhaftungen liefen auf Hochtouren. Termen war erst einpaar Monate wieder in Rußland, da wurde auch er abgeholt.Der Volksfeind Lew Termen wurde nach Sibirien geschickt, vondort nach Kolyma. Er hackte gefrorenen Boden auf, litt unterErfrierungen, tauschte, wenn er Glück hatte, »was zum Rau-chen« gegen Brot. Doch selbst dort erfand er etwas: eine Ein-schienenlore, die den Gefangenen die Arbeit erleichterte.

Hatte er, ein Freund von Eisenhower, Rockefeller und Chap-lin, dort manchmal an Amerika gedacht? Der Alte lächelt trau-rig. »Meine amerikanischen Freunde waren überzeugt, ich sei1938 gestorben, so stand es auch in ausländischen Lexika: ›LewTermen. 1896-1938.‹ Für sie war ich tot. Aber ich lebte noch. Washat mir geholfen, Kolyma zu überleben? Die Fähigkeit, nicht inWeltschmerz zu versinken, den Rücken nicht zu beugen, unddas Wissen, das alles vergänglich ist. Ich gehörte und gehöre zuden ›freidenkenden Christen‹, deren Aufkommen schon Tolstoiund Leskow prophezeit haben. ›Gott in der Seele‹. Wissen Sie,was das bedeutet? Daß man weiß, das Wesen Gottes ist überall,erst recht in uns. Ich mußte Gott in meiner Seele bewahren ineiner Zeit, da es im ganzen Land keinen Menschen gab, auf den

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ich hören, dem ich glauben wollte, auf den ich aufrichtig undrückhaltlos stolz sein konnte.«

Doch das Schicksal von Lew Termen erfuhr noch eine über-raschende Wendung. Bei Kriegsausbruch wurde der begabteErfinder unter Bewachung nach Moskau gebracht, wo er ineinem geheimen Konstruktionsbüro mit dem künftigen be-rühmten Konstrukteur von Raumschiffen Sergej Koroljew zu-sammenarbeiten sollte. Unter Bewachung, noch immer alsGefangener. Lew Termen erfand ein funktechnisches Gerät, fürdas er 1947 trotz der Begleitumstände den Stalinpreis bekam.Ein außergewöhnlicher Fall! Doch aus der Haft entlassen wurdeer erst 1958, in den sechziger Jahren schließlich rehabilitiert.Seine einstigen Kommilitonen waren inzwischen Akademie-mitglieder oder in Lagern umgekommen. Er aber hatte überlebt,kehrte »von dort« zurück, krank, aber innerlich nicht gebro-chen. Später fand er eine Stelle als einfacher Mechaniker amLehrstuhl für Akustik der Moskauer Universität. Kaum einerder Studenten, die an dem älteren, unscheinbaren Mitarbeitervorbeihasteten, wußte, daß er eine lebende Legende war. EinMythos, ein Samson, ein David, ein Goliath, ein Titan. Er warwie alle und doch anders. Die Zeit der Propheten war inRußland vorbei, ohne recht begonnen zu haben. Alle alten Pro-pheten waren tot oder fragwürdig. Und die echten waren fürdiese jungen Leute zu einfach und zugänglich, zu »wirklich«.

Bis an sein Lebensende erfand und baute Lew Termen neue,ungewöhnliche Instrumente, zum Beispiel solche, die durchAugenbewegungen gesteuert wurden, hielt Vorlesungen, bauteKopien seines ersten Ätherophons, befaßte sich wieder mitForschungen zum Gravitationsfeld, die ihn sein Leben langinteressiert hatten. Er starb kurz vor seinem hundertsten Ge-burtstag.

In meiner Erinnerung ist er einer der eindrucksvollsten,begabtesten Menschen, ohne die ich mir dieses Leben nicht vor-stellen kann. Nicht mehr und nicht weniger.

Als ich an diesem Text arbeitete, stieß ich auf einen Artikel imBerliner Stadtmagazin zitty (Nr. 26/1999) über die Wiederent-deckung des von Lew Termen erfundenen sphärischen Instru-ments, des Ätherophons oder Theremins. In der letzten Zeit, soheißt es dort, erlebt es eine kleine Renaissance.

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EINE RUSSISCHE VENUS

Diese Frau war in ihrer Jugend eine blendende Schönheit miteiner wundervollen Figur. Sie stand vielen russischen Malernund Bildhauern Modell. Es heißt, daß sie 1954 auch Modell fürdas berühmte Bild »Der Frühling« von Arkadi Plastow gestan-den hat, auf dem eine wunderschöne nackte Frau mit langengoldenen Haaren im nicht überdachten Umkleideraum einer

Sauna ihr kleines Mädchen an-zieht, sie bindet ihr ein großeswarmes Wolltuch um. Schnee-flocken fallen, unter ihren Füßenliegt goldenes Stroh, die Baum-stämme über dem Eingang zumBadehaus sind geschwärzt vomRauch, in der Ferne sieht maneinen Abhang, auf dem derSchnee schon getaut ist, kleineHäuschen, Bäume mit Krähen-nestern ... Auf dem Bild erkenntman gleich das Dorf Prislonichaim Gebiet von Uljanowsk, indem der Maler lebte und wo sichbis zum heutigen Tag noch seinAtelier befindet. Dieses Bildeswegen habe ich einmal eineWallfahrt nach Prislonicha ge-macht.

»Der Frühling« ist ein genialesKunstwerk! Diese armseligen dunklen Holzstämme erzeugenim Kontrast zu dem leuchtenden, jungen und straffen Körperder Frau ein trauriges, lebendiges Gefühl. Das ist eines meinerLieblingsbilder.

Und nun sitzt diese Frau, Moskauerin, das Modell des Künst-lers, vor mir. Darja Iwanowna.

»Nennen Sie mich einfach Darja«, sagt sie sanft lächelnd.Ich bin sehr verwundert. Ja, sie ist jetzt eine alte Frau, sie ist

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müde, ihre blauen Augen sind traurig. Von der alten Schön-heit der »russischen Venus«, wie die Maler sie nannten, keineSpur mehr. Aber sie kommt einem nicht armselig und verlas-sen vor. Auf ihrem Gesicht liegt etwas Liebes, Sympathisches,Offenes, etwas Russisches. Was ist es, das ihr diese innereWürde, die Freundlichkeit, das Lächeln, die gute Laune erhal-ten hat?

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»Merken Sie sich, was ich Ihnen jetzt eröffne. Denken Sieimmer an die ›Hygiene des Geistes‹! Wenn sie fehlt, dann ver-ändert sich das Gesicht unweigerlich. Es bilden sich häßlicheFalten, skeptische Vertiefungen, scheinheilige Erschlaffungen,mürrische Mundwinkel und eine neidische Schieläugigkeit!Glauben Sie mir, ich habe mein ganzes Leben keinen anderenMenschen beneidet, ich habe unbeschwert gelebt und michbemüht, allen zu helfen, denen es schlecht ging, und die zu trö-sten, die keinen Mut mehr hatten. Vergessen Sie also nie die›Hygiene des Geistes‹. Weg mit der Verzagtheit und der ver-heerenden Selbstzerfleischung! Da kann man gleich mit einerarmseligen Mimik und dem Schimmel des Überdrusses rech-nen, was sich auch bald im Gesicht abzeichnet. Es drückt sichauch im Körper aus. Und dann werden Sie vergessen, was esheißt, im Sommer spazierenzugehen und die Schultern zu ent-blößen und alles, was man in meinem Alter noch entblößenkann.«

Wir kichern beide. Ich höre ihr zu und blicke von Zeit zu Zeitauf die Reproduktionen verschiedener Bilder, die sie offenbaraus Zeitschriften ausgeschnitten und mit Reißzwecken an dieWand geheftet hat. Wie schön sie war! Besonders auf meinemLieblingsbild »Der Frühling«. Darja erinnert sich:

»Plastow arbeitete rastlos. Und was interessant ist, wenn erSkizzen anfertigte, scherzte er oder erzählte mir etwas. Oder erstellte mir Fragen. Wenn er aber den Pinsel in die Hand nahm,dann schwieg er, wurde ganz ernst und lächelte nicht mehr. Alsob er nichts mehr hörte und sah ... Wissen Sie, wie man ihnwegen dieses Bildes kritisiert hat? Warum, so hieß es, mußte erso eine Armut darstellen, so ein uraltes Dampfbad? Warumhatte er nicht eine gute, moderne Sauna abbilden können, hießes. Er aber schwieg, und eines Tages sagte er mir: ›Weißt du,ohne dieses alte Dampfbad würde auf dem Bild etwas fehlen.‹

Und er erzählte mir noch eine tragikomische Geschichte.Erinnern Sie sich an sein Bild ›Das Abendbrot des Traktoristen‹?Da steht ein Traktor, die Sonne geht unter, der Traktorist schnei-det sich ein Stück von einem runden Bauernbrot ab, und einMädchen schenkt ihm Milch ein. In diesem Bild lebt die russi-sche Seele, so viel Liebe drückt es aus. Und die Kommissionwollte dieses Bild bei einer Diskussion verreißen: Worauf wol-len Sie anspielen, hieß es. Daß ein sowjetischer Traktorist nurBrot und Milch bekommt? Plastow entgegnete: Der Traktorist

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hat schon ein gebratenes Hähnchen gegessen und trinkt nunMilch!«

Wir lachen erneut, und ich betrachte sie in diesen Minutenmit großem Vergnügen. Als ob alle Charakterzüge sich in ihrerfröhlichen, jungen Stimme gebündelt hätten. In dieser Frau, inihrer Erscheinung und in ihrer Stimme war etwas, was michverzauberte. In diesem Augenblick zweifelte ich nicht mehrdaran, daß sich der fünfzigjährige Wassili Kandinsky am Tele-fon in die Stimme einer Unbekannten (die später übrigens seineFrau wurde) verlieben und das Aquarell »An eine Stimme«malen konnte. Darjas Stimme hatte eine ähnliche Wirkung.

Als ich meinen deutschen Studenten, die russische Sprache,Kultur und Kunst studieren, einen Bildband über die Malereides 19. und 20. Jahrhunderts mitbrachte, stellte sich heraus, daßsie nur die Künstler der russischen Avantgarde vom Anfang des20. Jahrhunderts kannten. Wie waren sie erstaunt, als sie meinAlbum betrachteten! Trotz des Sieges des sozialistischen Realis-mus in der UdSSR in den dreißiger Jahren gab es Maler, diewunderbare Bilder im Stil des Neoimpressionismus schufen(L. Bruni, S. Wirsaladse, I. Grabar, W. Dmitrijew, W. Konasche-witsch, P. Kontschalowski, P. Korin, N. Krymow, T. Mawrina,E. Moisejenko, A. Plastow), oder des Expressionismus (A. Dej-neka, J. Pimenow und andere).

»Schade, daß man in Deutschland nur sehr wenige Bücherüber die russische Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts kaufenkann. Die Buchläden führen sie einfach nicht. Der Westen de-monstriert seine Macht und drängt uns seine ästhetischen Ka-nons auf«, sagten die Studenten an jenem Abend. Und ich er-innerte mich an die bitteren, aber gerechten Worte der wunder-baren russischen Malerin Natalja Gontscharowa, die 1962 inParis starb: »Jetzt aber schüttele ich den Staub von meinenFüßen ab und entferne mich vom Westen, da ich seine allesnivellierende Haltung als oberflächlich und unbedeutenderkenne. Ich gehe zum Ursprung aller Kunst zurück – in denOsten. Die Kunst meines Landes ist ungleich tiefer als alles, wasich im Westen kenne.«

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WOLF MESSINGS GEHEIMNIS

Im Frühjahr 1974 mußte die Miliz vor dem Kino »Oktober« inMoskau eine riesige Menschenmenge in Bann halten, geradewie nach einem Rockkonzert. Dabei war »nur« die Vorstellungdes großen Hypnotiseurs, Telepathen und Yogis Wolf Messing,eines Menschen mit ungewöhnlichen, phantastischen Fähigkei-ten, zu Ende gegangen. Ein heiliger Wahnsinn hatte von denMenschen Besitz ergriffen. Ich erinnere mich, wie eine schönejunge Frau mit einem Kind auf dem Arm weinend den Milizio-när anflehte: »Er soll nur einen Blick auf mein Kind werfen.Lassen Sie mich bitte durch. Nur einen einzigen Blick. Er kanndas ganze zukünftige Leben vorhersagen!«

Nur mit großer Mühe konnte ich zu Messing vordringen. Aufdiese Begegnung hatte ich viele Jahre lang gewartet. Ich inter-essierte mich für Hypnose und Telepathie, und eines Tageshörte ich von Messing. Seit dieser Zeit sammelte ich alles überihn: Zeitungsartikel, Plakate, Augenzeugenberichte. MeinKollege, der Musiklehrer Pawel Maier, der von meinem Inter-esse an dem berühmten Magier wußte, sagte einmal zu mir:»Ich habe ein Foto vom jungen Messing, noch von meinemGroßvater. Er hat ihn in Polen fotografiert, wo sie sich vor demKrieg kennengelernt hatten.«

So fiel dieses Foto in meine Hände.Nachdem ich zu Messing vorgedrungen war, nahm ich all

meinen Mut zusammen und bat ihn um ein Interview. EinWunder, daß er mir, einer jungen Journalistin, einer Anfängerin,das nicht ausschlug und einen Termin anbot, den wir allerdingswegen seiner Krankheit zweimal verschieben mußten. Im Som-mer 1974 trafen wir uns schließlich. Er war fast 75 Jahre alt.Graue Haare, aufmerksame Augen hinter einer Brille. Für uns,deren Leben angefüllt war mit Offiziellem und Fünfjahrplänen,war er ein Geheimnis. Er konnte etwas, was keiner vermochte.Als er am 8. November 1974 starb, fühlte ich, daß die Welt ohnesolche Menschen wie Messing erschreckend nüchtern ist.

Zu seinen Lebzeiten und auch später wurde sehr wenig überihn geschrieben. Für die sowjetischen Behörden war er zu rät-

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selhaft und undurchschaubar. Sie brauchten ihn nicht, er war zugefährlich und für den sowjetischen Geschmack nicht moderngenug. Sogar nach der Perestroika, als ich einen Doku-mentarfilm über ihn drehen wollte, von dem ich so lange ge-träumt hatte, wurde ich abgewiesen: nicht zeitgemäß!

Wenn ich mich an meine Begegnung mit Wolf Messing er-innere, fallen mir immer die Worte von Leo Tolstoi ein: »Dort,wo keine Güte, keine Einfachheit und keine Wahrheit ist, istauch keine Größe.«

Wenn ich nur seine wun-derbare aristokratische Ein-fachheit und Güte wiederge-ben könnte. Nach dem Treffenzehrte ich noch lange vomGefühl des Glücks, das beimKontakt mit einem interessan-ten, talentierten und außeror-dentlichen Menschen ent-steht.

Er war eine lebendige, arti-stische Natur. Wenn er er-zählte, war er dramatischund humorvoll, einfach undgeheimnisvoll.

Wolf Messing wurde am10. September 1899 in derNähe von Warschau geboren. In seiner Kindheit war ermondsüchtig. Damit der Junge nachts nicht umherwandelte,stellte seine Mutter einen Wassertrog neben das Bett. So wachteder Junge jedesmal auf, wenn er nachts aufstand und seine Füßeim kalten Wasser landeten.

»Wissen Sie«, sagte er zu mir, »an Somnambulismus leidenetwas mehr als 5% der Menschen, bei den meisten von ihnengelingt die Hypnose nur bis zum zweiten Stadium, bis zu einemoberflächlichen Schlummerzustand. Wissen Sie überhaupt, wasHypnose ist?«

Und er erklärte mir sehr lebendig, worin sich das zweiteStadium der Hypnose (wenn der zu Hypnotisierende, der ineinen Schlummerzustand fällt, nur das wahrnimmt, was derHypnotiseur sagt) vom dritten, dem Somnambulismus, unter-scheidet, wenn der Hypnotiseur auf der Bühne bei einem Men-

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schen (und sogar bei sich selbst) eine Katalepsie, eine Muskel-verkrampfung, hervorrufen kann. Die Muskelkraft wächst der-art, daß der Mensch zwischen zwei Stühlen liegen kann und seinKörper dabei nur auf dem Hinterkopf und den Hacken ruht.

Nach einiger Zeit kamen wir erneut auf seine Biographiezurück. »Als ich 14 war, bin ich von Zuhause weggelaufen. Ichkonnte wunderbar deutsch sprechen und wollte unbedingtnach Berlin. Ich weiß noch, wie ich im Zug gesessen habe«,erzählte er. »Geld für den Fahrschein hatte ich nicht, und ichversteckte mich unter der Sitzbank, bis der strenge Kontrolleurmich hervorzog: ›Ihre Fahrkarte!‹

Ich bekam es mit der Angst zu tun und wühlte in meinenTaschen, als ob ich den Fahrschein suchte, zog aber nur einenZeitungsausschnitt heraus. Ich konzentrierte alle meine Kräfte,bildete mir fest ein, das sei der Fahrschein, und reichte ihn demSchaffner. Der stempelte ihn ab und ging weiter. Das war meineerste Erfahrung mit Hypnose.«

In Berlin lungerte er auf der Straße herum, hungerte, und einesTages »hörte« er plötzlich auf dem Markt, woran die Leute umihn herum »dachten«. »Ich habe mir zwei Fälle gemerkt«, erzähl-te mir Messing. »Einmal trat ich zu einer älteren Frau und beru-higte sie mit den Worten: ›Regen Sie sich nicht auf, Ihre Tochterschafft es auch ohne Sie, die Ziege zu melken!‹ Ein anderes Malsagte ich zu einem Verkäufer: ›Keine Sorge, Ihr Nachbar gibtIhnen auf alle Fälle die Schulden zurück!‹ Diese Menschen warennatürlich verblüfft. Und ich selbst nicht weniger, fühlte ich dochplötzlich in mir die Fähigkeit, fremde Gedanken zu lesen.«

Bald darauf fand Messing Arbeit in einem Wanderzirkus.Nach einiger Zeit trat er sogar mit einer eigenen Nummer auf.Er konnte nicht nur Gedanken lesen, sondern fand auch ver-lorengegangene Gegenstände wieder, sagte nach der Hand-schrift und nach Fotos die Zukunft voraus, heilte durch Hyp-nose Krankheiten, deren Ursachen psychische Spannungen,Streß und seelische Konflikte waren. Dazu gehörten Schmerzenin den Gelenken, im Rückgrat, Magen- und Darmgeschwüre,Herzarrhythmie, Neurodermitis, Allergien und Diabetes. WolfMessing war der erste, der die Hypnose über die Grenzen derPsychiatrie in die allgemeine Medizin einbrachte. Denn nachseiner festen Überzeugung »wirkt die heilende Kraft der Hyp-nose über psychische Kanäle, das heißt, alle biologischen Pro-zesse im Organismus werden durch Hirnzentren reguliert. Die

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Hypnose neutralisiert tief im Unterbewußtsein sitzende›Komplexe‹ und aktiviert die Abwehrkräfte des Organismus. Esist sehr wichtig, rechtzeitig einzugreifen, damit die funktio-nellen Störungen nicht zu organischen werden.«

Bereitwillig und ausführlich erklärte mir Messing die ver-schiedenen Hypnosearten, die er bei seinen Vorstellungenanwendete, und die Merkmale, die die Hypnose vom natürli-chen Schlaf unterscheiden, doch ich wollte immer wieder zu sei-ner legendären Biographie zurückkehren.

»Meine Brüder und mein Vater sind in Majdanek umgekom-men, meine Mutter ist schon vorher gestorben. Das war eineschreckliche Zeit ...« Messing machte eine Pause, bevor er wei-tererzählte: »Wer weiß, wie sich mein Schicksal gefügt hätte,aber als ich im Wanderzirkus auftrat, wurde Albert Einstein aufden jungen Telepathen aufmerksam. Wir hatten gerade einGastspiel in Deutschland, und Einstein lud mich zu sich ein.«

Bei diesem Treffen war auch Sigmund Freud zugegen, der beiEinstein zu Besuch war. Sie beschlossen, ein erstes Experimentdurchzuführen. Zu Beginn befahl Freud Messing in Gedanken,die Geige zu nehmen und sie dem Physiker in die Hand zudrücken, was er auch tat. Nach weiteren Experimenten ähnli-cher Art gerieten Einstein und Freud völlig aus dem Häuschenund empfahlen Messing, ein Studium an der PsychologischenFakultät der Universität Wilna aufzunehmen, wo Messing auchtatsächlich einige Zeit studierte.

»In den dreißiger Jahren war ich bereits weltberühmt. Ichhatte einen eigenen Impressario, trat sogar in Brasilien, Argen-tinien und Australien auf«, erzählte Messing. »Ich hatte eineMenge Freunde und Verehrer. Immer wenn ich irgendwoerschien, wollten die Menschen sich mit mir fotografieren lassenund Autogramme haben und mir die Hand drücken. Das Foto,das Sie mitgebracht haben, entstand, glaube ich, 1932. Ich wardamals 33 Jahre.«

Als er 1937 in Warschau auftrat, sagte er den Beginn desZweiten Weltkrieges und die Niederlage Hitlers voraus. Davonwurde dem Führer sofort Mitteilung gemacht. Überall in War-schau hingen Plakate mit einem Foto von Messing, die einehohe Belohnung für seine Ergreifung in Aussicht stellten.

Messing wurde gefaßt und ins Gefängnis geworfen. Zer-schunden lag er auf dem nackten Boden der Zelle. Da schoß ihmein Gedanke durch den Kopf: Mit seinen hypnotischen Kräften

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befahl er den Soldaten, die seine Zelle, den Korridor und das Ge-fängnistor bewachten, zu ihm in die Zelle zu kommen. Währendsie unter seinem hypnotischen Einfluß standen und sich ineinem Schlafzustand befanden, schloß er die Zellentür auf undentwich in die Freiheit. Er schlug sich bis zum Fluß Bug durchund fuhr mit einem Boot zum anderen Ufer, in die Sowjetunion.

Als Messing mir von seinem Gefängnisaufenthalt erzählte,bemerkte er, daß die Natur der psychophysiologischen und bio-chemischen Prozesse im Gehirn während eines Hypnosezu-standes niemals vollständig aufgedeckt werde, allen Untersu-chungen und Theorien zum Trotz. »Das ist ein Geheimnis. Unddies bleibt ein Geheimnis.«

Unsere Begegnung ging ihrem Ende entgegen, und ich woll-te Wolf Messing noch so vieles fragen. Sein Name war schonlange eine Legende, doch keiner wußte, was Wahrheit war undwas Dichtung.

So erzählte man sich zum Beispiel, daß während des Krieges,genauer, im August 1941, eine Schauspielerin mit Messing im Mos-kauer Restaurant »Metropol« an einem Tisch saß und ihn fragte,wann der Krieg zu Ende sei. Er schrieb eine Zahl auf die Serviette,rollte sie zusammen und bat die Schauspielerin, sie erst zu Hauseauseinanderzufalten. Dort las die Schauspielerin: 8. Mai 1945.

»Während des Krieges«, erzählte Messing, »mußte ich oft an-hand von Fotos voraussagen, ob der Mensch noch lebte odernicht. Tausende von Fotos wurden mir vorgelegt, und ich konntemich nicht weigern, besonders wenn Mütter kamen. Ich weißnoch, wie mich eine Frau besuchte, das war noch in Polen, undmir einen Brief von ihrem Sohn aus dem Hospital brachte; erhatte ihr lange nicht mehr geschrieben, und sie wollte wissen, ober noch lebte. Ich sagte ihr, derjenige, der diesen Brief geschriebenhabe, sei tot. Sie weinte und ging. Nach einem Jahr kam sie wie-der zu mir, mit ihrem Sohn: »Hier, mein Sohn lebt noch!«

Ich fragte den Sohn, ob er den Brief selbst geschrieben hatte.»Nein«, antwortete er, »ich hatte eine Handverletzung, denBrief hat mein Bettnachbar geschrieben, der später leider ge-storben ist.«

Als ich mich von Messing verabschiedete, hoffte ich auf eineneue Begegnung. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es einweiteres Treffen nicht mehr geben würde, so lebensfroh erschiener mir damals. Als ob er niemals sterben könnte. Er strahlte soviel Energie und Wärme aus.

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Es wird erzählt, daß Messing nach seiner Ankunft in derUdSSR in den Kreml zu Stalin eingeladen wurde. Am Ende desGesprächs fragte Stalin ihn plötzlich, ob er allein, ohne Passier-schein, aus dem Kreml gehen könne. »Wenn Ihnen das gelingt,dann stellen Sie sich unter mein Fenster, damit ich Sie sehenkann.« Einige Minuten später stand Messing an der verabrede-ten Stelle. Stalin gab ihm mit der Hand ein Zeichen, er solle wie-der zurück zu ihm in sein Arbeitszimmer kommen. Als Messingeintrat, fragte Stalin verwundert: »Wie ist Ihnen das gelungen?«»Ach, ich habe der Wache in Gedanken befohlen, mir zu salutie-ren, als sei ich ein hoher General«, erklärte Messing.

Während des Krieges wurden vom Geld des berühmtenHypnotiseurs zwei Flugzeuge gebaut. Das Dankestelegrammvon Stalin diente ihm lange Zeit als »Schutzbrief« in allen Le-benslagen. Messing trat in Hospitälern auf, er führte hypnoti-sche Heilséancen durch. Er kurierte Alkoholismus und andereKrankheiten. Bei seinen Vorstellungen las er Gedanken, ver-setzte sich selbst in Hypnosezustand, verwandelte sich ineinen Holzstamm und lag völlig steif auf zwei Stühlen. Auchnach dem Krieg fuhr er im Land umher und gab Vor-stellungen. Im Wischnewski-Institut für Chirurgie nahm er anzahlreichen Experimenten teil. Der mit Messing befreundeteJournalist M. Michalkow war Augenzeuge eines dieser Ex-perimente, er erzählte, was er selbst erlebte: Im Wischnewski-Institut demonstrierte einmal ein Yogi, wie er Schmerzreflexestillegt. Es stellte sich heraus, daß Yogis, wenn sie die Schmerz-zonen an Beinen, Händen und Hals neutralisieren, mit einerlangen Nadel in diese Körperteile stechen können. Den Brust-korb aber berühren sie nicht, das sei zu gefährlich. Messinghörte sich aufmerksam an, was der Yogi erzählte, und sagtedann, an die Leute gewandt, die dem Experiment beiwohnten:»Die Brust rühren Sie also nicht an? Ich will Ihnen zeigen, wieman das macht.«

Messing ging ins Nachbarzimmer, wo er einige Minutenbrauchte, um die Schmerzreflexe zu neutralisieren und denOrganismus auf das Experiment vorzubereiten. Mit nacktemOberkörper kam er zurück: »Ich bin bereit.«

Der Assistent reinigte die Nadel mit Spiritus und stieß siedirekt neben dem Herzen durch Messings Brustkorb. Die Nadelkam am Rücken wieder heraus. Als der Assistent sie wieder her-auszog, war kein einziger Blutstropfen zu sehen. Der Yogi war

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verblüfft. Die anderen Anwesenden ebenfalls. Dieser Berichtdokumentiert das erstaunliche Talent Wolf Messings.

Im Alter trat er seltener auf. Man erzählte sich, in Englandhabe er mit einem Bankdirektor eine Wette abgeschlossen, daßer dem Kassierer statt eines Schecks ein weißes Blatt Papier un-terschieben wolle und er darauf eine große Geldsumme ausge-zahlt bekomme, was ihm auch glückte. Erzählungen über Hun-derte solcher »Zaubertricks« begleiten diesen legendären Mann.

Und immer half er selbstlos anderen Menschen. Er konnteniemals nein sagen. Er heilte, brachte jemanden irgendwo unter,gab Ratschläge, Geld. Seiner Natur nach war er ein Ästhet undhätte sorgenfrei leben können. Aber er lebte und atmete nachRadistschews Motto: »Ich blickte mich um, und meine Seeleschmerzte von den Leiden der Menschen.« Inmitten all deskommunistischen Unfugs, der ängstlichen Sklavenmentalitätund der Verlassenheit schuldig-unschuldiger Seelen half erdurch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten vielen Menschen,in dieser Hölle zu überleben. Er tröstete und rettete, er blieb im-mer, was er war – ein guter Geist. Davon zeugen Hunderte vonBerichten.

Ich erinnere mich, wie ich Messing an dem Sommertag imJahr 1974 verließ. Ich ging durch Moskau und lächelte glücklich,ohne die Menschenmenge und den Straßenlärm wahrzu-nehmen. In meinen Ohren klangen seine Worte wie Musik: »Siehaben mich gefragt, wo ich leben möchte, wenn ich eine Stadtauf der Welt wählen könnte? In Moskau natürlich! In Moskau,in der Nowopestschannaja, der Neuen Sandstraße ...«

Ob er wohl auf meine Frage heute noch genauso geantwortethätte?

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MICHAIL KALASCHNIKOW

Nina Kostjajewa. Nur dank ihr und ihrer Autorität wurde einTreffen mit Michail Kalaschnikow möglich. Mir hat er sechsmalam Telefon abgesagt! Ich rufe aus Moskau an, ich rufe ausIschewsk an, rede ihm zu – doch ich höre nur: Kommt gar nichtin Frage! Aber Nina ist eine in Ischewsk bekannte Persönlich-keit, eine Udmurtin, die erst die Udmurtische Universität und

dann die Moskauer Filmhochschule abgeschlossen hat und nunDirektorin des Historischen Zentrums der Republik inIschewsk ist. Nina Kostjajewa ist eine sehr kluge und gute Frau,die mit mir in Moskau die gleichen Kurse besuchte. Sie setzteihre ganze Autorität ein, und Kalaschnikow ergab sich:»Kommen Sie.« Er war von den vielen Journalisten und vonihren eintönigen Fragen über das Maschinengewehr »Kalasch-nikow« sehr müde geworden. Auf alle Fragen antwortet er

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schon mit vorbereiteten und in den langen Jahren voller Inter-views wiederholten Phrasen.

Er lebt in einem fünfstöckigen Haus aus der Chruschtschow-Ära, er lebt sehr bescheiden. Als er sich für das Treffen mit unsvorbereitete, zog er seinen einzigen braunen Paradeanzug an.Das ist natürlich ungerecht, daß er für seine große Erfindung, dasweltweit bekannte Maschinengewehr Kalaschnikow AK-47,keine einzige Kopeke erhielt. Das Einzige, wovon er genugbesitzt, sind offizielle Auszeichnungen und Popularität. Ich erin-nere mich, wie ich ihn dadurch zum Lachen brachte, daß icherzählte, wie ich auf den Flaggen und Geldscheinen von Mosam-bik und Angola sein legendäres Maschinengewehr AK-47 gese-hen hatte – die Kalaschnikow, die die ganze Welt kennt. Wir tran-ken mit ihm ein Gläschen Wodka. (Ein paar Jahre nach unsererBegegnung wurde in der udmurtischen Stadt Glasow der Wodka»Kalaschnikow« angeboten. Es heißt, daß er sehr rein und starksei.) Und das Gespräch kam zustande. Ich schlug ihm vor, einenDokumentarfilm über ihn zu drehen.

Im Dokumentarfilm aufzutreten lehnte er allerdings ent-schieden ab. »Ich bin siebzig (jetzt ist er neunundsiebzig). DerMenschen bin ich überdrüssig.« Doch wir sprachen miteinanderund saßen dabei in der neun Quadratmeter großen Küche seinerkleinen und sehr bescheiden eingerichteten Wohnung. Mir blie-ben drei Momente unseres Gesprächs in Erinnerung. Erstenserzählte er, wann genau in ihm der Wunsch aufgekommen war,ein neues Gewehr zu konstruieren. »Im Oktober 1941«, berich-tete er, »schossen die Deutschen die ganze Abteilung zusam-men. Mir und noch zwei anderen Soldaten glückte es, heildavonzukommen. Ich erinnere mich mein Leben lang an diesesGefühl der Ohnmacht. Und ich verstand, daß es sinnlos war, mitunserer Büchse gegen die unaufhörlichen Maschinengewehrsal-ven anzugehen.« Zweitens: »Ich lag im Lazarett, und dieseJungs, die von den Deutschen in jener Nacht zusammenge-schossen worden waren, standen mir vor Augen. Nach demLazarett hatte ich zwei Wochen Urlaub, doch ich stieg schon ander Station Mata aus dem Zug aus, wo ich zusammen mit denArbeitern aus meinem Bekanntenkreis diesen Plan (genauer ge-sagt, die Konstruktion des neuen Maschinengewehrs) verwirk-lichte, den ich die ganze Zeit mit mir herumtrug, als ich imLazarett lag. Und 1947 war das Maschinengewehr schon zurSerienproduktion zugelassen.«

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Und das dritte Moment unseres Gesprächs, das mir in Er-innerung blieb: Michail Timofejewitsch sagte, daß er das Ma-schinengewehr erfunden hatte, als es im Großen Vaterländi-schen Krieg die Sache eines jeden war, seine Heimat zu retten.»Doch wenn ich jetzt sehe, wie sich die Leute mit meinem Ma-schinengewehr umbringen ...« – Kalaschnikow schwieg undwandte sich ab, »fällt es mir schwer, darüber nachzudenken. Ichgehe sogar zur Jagd ohne Gewehr. Und ich mag das Schießennicht. Und ich hasse den Krieg.«

Wir verabschiedeten uns von Michail Kalaschnikow und gin-gen auf eine Straße ins abendliche Ischewsk hinaus. In derbenachbarten Bäckerei stand die Tür offen, und der feine Ge-ruch des frisch gebackenen Brotes breitete sich aus. Doch ihnüberlagerte irgendein Brandgeruch, der von der nahegelegenenFabrik ausging. Wir eilten zum Bus: Nina lebte am Stadtrand ineiner neuen Siedlung. Wir schwiegen beide, doch plötzlich sagteNina: »Hast du gemerkt, daß Kalaschnikow mit solcher Lustvon der Vergangenheit spricht und überhaupt nicht von derGegenwart reden will?«

Ja, so war es.

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