perspektive21 - Heft 15

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perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik Heft 15 • März 2002 Der Islam und der Westen Streit um Zivilisation und Sicherheit nach dem 11. September Mit einem Beitrag von Bassam Tibi Glaser

description

Der Islam und der Westen

Transcript of perspektive21 - Heft 15

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perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

Heft 15 • März 2002

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Bücher zumThema „Islam“

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Vorwort 3

Thema

Markus Meckel 5Zentrale Fragen der Zukunft der

transatlantischen Beziehungen und der europäischen Sicherheit

Klaus Faber 11Gefährdung der Zivilisation

Bassam Tibi 39Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

Magazin

Lars Krumrey 65Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

Inhalt

Der Islam und der WestenStreit um Zivilisation und Sicherheit

nach dem 11. September

Page 4: perspektive21 - Heft 15

Impressum

2

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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg

RedaktionKlaus Ness (ViSdP)

Lars Krumrey

Klaus Faber

Christian Maaß

Madeleine Jakob

Klara Geywitz

Benjamin Ehlers

AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61

14469 Potsdam

Telefon0331 - 200 93 – 0

Telefax0331 - 270 85 35

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Internethttp://www.spd-brandenburg.de

Gesamtherstellung, Vertriebkai weber medienproduktionen

hebbelstraße 39

14469 potsdam

Page 5: perspektive21 - Heft 15

Bernard Lewis, ein auch in Deutschland

bekannter Orientalist, vertritt die Auffas-

sung, dass sich die kulturell-politische

Kluft zwischen dem Westen und dem

Islam seit längerer Zeit eher vertiefe als

schließe. „Islam: What Went Wrong?“ –

lautet der Titel einer seiner neueren

Publikationen, mit der er eine Frage auf-

nimmt, die sich auch die Intellektuellen

und die politischen Klassen in den ver-

schiedenen islamischen Ländern stellen.

Die Antworten,vor allem zur Gewichtung

der inneren und äußeren Entwicklungs-

faktoren, weisen eine große Variations-

breite auf, die sich kaum auf einen

gemeinsamen Nenner bringen läßt. Im

Islam selbst sind Erklärungen weit ver-

breitet, die eine Verantwortung für den

Abstieg von einer mit dem christlichen

Westen gleichrangigen, vielleicht sogar

überlegenen Position zur jetzt kaum zu

leugnenden Stagnation in erster Linie bei

Nicht-Muslimen suchen, in der Vergan-

genheit etwa bei Mongolen oder Kreuz-

rittern, in etwas neuerer Zeit bei Englän-

dern, Franzosen, bei Amerikanern, Israelis

oder Juden.

Der 11. September 2001 hat deutlich

gemacht, dass die damit verbundenen

Fragestellungen nicht nur historisch-kul-

turelle Bedeutung haben. Angesprochen

sind in diesem Zusammenhang die trans-

atlantische Zusammenarbeit und die Be-

ziehungen zwischen Staaten und Gesell-

schaften verschiedener Kulturkreise, aber

auch das Zusammenleben von Men-

schen mit unterschiedlicher Religion und

mit nicht immer übereinstimmenden

Auffassungen zur Lebensgestaltung in

einem gemeinsamen Staat, z.B. in

Deutschland. Nach dem 11. September

des letzten Jahres hat es einige Schwan-

kungen in der öffentlichen Meinung

gegeben, die sich zwischen Zustimmung

zum militärischen Vorgehen in Afghani-

stan und Skepsis oder Ablehnung beweg-

ten. Die Distanz zwischen Europa und

den Vereinigten Staaten in der Beurtei-

lung des künftigen Kampfes gegen den

Terror ist zur Zeit in den Vordergrund der

Debatte getreten. Das lässt manchmal

vergessen, daß im Grundsatz nach wie

vor Übereinstimmung in der Lagebewer-

tung und ebenso im Handeln besteht.

Von den Autoren des Heftes werden

die verschiedenen Themenansätze zum

Verhältnis zwischen dem Islam und dem

Westen aufgenommen. Sicherheitspoliti-

sche Probleme spielen dabei ebenso eine

Rolle wie kulturhistorische Fragen zur

Säkularisierung und zur Entwicklung von

fundamentalistischen Strömungen im

Islam. Eine schnelle Erledigung des The-

mas werden wir nicht erleben. Ein nicht

in erster Linie tagespolitisch orientierter

Blick auf den Stand der Dinge kann des-

Vorwort

3

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“,

Page 6: perspektive21 - Heft 15

4

halb sinnvoll und angemessen sein. Wir

hoffen, mit den Beiträgen eine Diskus-

sion zu eröffnen, an der auch andere teil-

nehmen können und sollten. Wir freuen

uns auf Ihre Reaktion.

Die Redaktion

perspektive 21 im InternetDie Hefte 10 - 14 sind im Internet unter www.spd-brandenburg.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.

Page 7: perspektive21 - Heft 15

5

Die schrecklichen Terroranschläge vom

11. September 2001 haben nicht nur New

York und Washington getroffen, sondern

sie haben die gesamte freie Welt erschüt-

tert. Instrumente des alltäglichen Lebens

in einer modernen Gesellschaft wurden

in tödliche Waffen verwandelt und gegen

uns gewendet. Die Reaktion der Alliierten

war einhellig: tiefes Mitgefühl und Soli-

darität mit dem amerikanischen Volk.

Und nicht nur die Regierungen zeigten

den USA ihre volle Unterstützung. Zahl-

lose Menschen teilten die Empörung und

die Trauer um die unschuldigen Opfer,

ihre Angehörigen und Freunde. Spontan

entstanden Mahnwachen vor zahlrei-

chen US-Botschaften in aller Welt, nicht

nur in London, Paris oder Berlin, sogar in

Moskau. Auch in islamischen Staaten

herrschte tiefe Betroffenheit.

Die Attentate verlangten auch eine

politische Reaktion. Der Sicherheitsrat

der Vereinten Nationen hat schon am 12.

September in der grundlegenden Resolu-

tion 1368 die Anschläge von New York

und Washington einmütig, also mit chi-

nesischer und russischer Zustimmung,

verurteilt und erstmals festgestellt, dass

terroristische Anschläge eine Bedrohung

des Weltfriedens und der internationalen

Sicherheit darstellen. Der Weltsicher-

heitsrat hat damit eine Weiterentwick-

lung des bisherigen Völkerrechts vorge-

nommen und die Voraussetzungen für

ein entschiedenes, auch militärisches

Vorgehen gegen den Terrorismus

geschaffen.

Und der NATO-Rat signalisierte den

Vereinigten Staaten noch am gleichen

Tag die Bereitschaft, erstmals den „Bünd-

nisfall“ nach Artikel 5 der Washingtoner

Vertrages zu erklären, was am 2. Oktober

geschah. Die europäischen und kanadi-

schen Verbündeten zeigen damit:Sie sind

entschlossen, den Worten der Solidarität

auch Taten folgen zulassen.

Zentrale Fragen der Zukunftder transatlantischen Beziehungenund der europäischen Sicherheit

Anhang zum Generalbericht des Politischen Ausschusses der NATO-PV

von Markus Meckel

Page 8: perspektive21 - Heft 15

In einer Sitaution der Verletztheit und

des Schmerzes, die wir alle teilen, stellt es

eine große Leistung der US-Administra-

tion dar, in diesem Maße besonnen auf

die Ereignisse zu reagieren, obwohl der

innenpolitische Druck, rasch Handlungs-

fähigkeit zu demonstrieren, groß war. Es

war wichtig, nicht in die Falle zu tappen,

Angst und Drang nach Vergeltung zur

Richtschnur des eigenen Handelns zu

machen. Denn wir haben es mit einer

neuen Generation des Terrorismus zu

tun. Die Selbstmordattentäter erheben

keine konkreten politischen Forderungen

oder Ziele. Sie wollen den Terror verallge-

meinern. Sie setzen auf eine Eskalation

der Gewalt, welche die internationalen

Beziehungen belastet und plurale und

liberale Gesellschaftsstrukturen destabi-

lisiert bzw. zerstört. Sie wollen keine

Reformen. Kompromisse kann es mit

ihnen nicht geben. So sieht sich die US-

Administration derzeit mit einem Di-

lemma konfrontiert: Eine rein symboli-

sche militärische Vergeltung ist nicht

mehr möglich. Nun kann es sich nur noch

eine effektive Maßnahme handeln, die

gezielt die Infrastruktur der Terroristen

und ihre Helfer trifft, oder die zur Ergrei-

fung der Drahtzieher der Attentate führt.

Die Anschläge in den USA haben uns

die mit der internationalen Verflechtung

einhergehende Verwundbarkeit unserer

Gesellschaft schlagartig vor Augen ge-

führt. Computernetzwerke steuern den

Verkehr, die Energie-, Wasserversorgung

sowie den Kommunikationsfluß. Die Ter-

roristen machen sich bei ihren Operatio-

nen die Bedingungen der Globalisierung

zu nutze: den zivilen Flugverkehr, interna-

tionale Finanzmärkte und das Internet.

Daher bedarf es auch einer globalen Ant-

wort auf diese Bedrohung. Im Ringen mit

dem Terrorismus kann es keinen schnel-

len Erfolg geben. Es bedarf vielmehr einer

langfristigen, global angelegten Strate-

gie, die dem Gegner das Wasser abgräbt.

Die USA haben sich in den vergangenen

Wochen erfolgreich darum bemüht, eine

internationale Koalition zur Bekämpfung

des Terrorismus zu schmieden. Eine sol-

che Koalition bildet die Voraussetzung,

um effektiv gegen den internationalen

Terrorismus vorgehen zu können. Es wird

die zentrale Herausforderung sein, diese

Koalition zusammenzuhalten und auf

eine langfristig angelegte gemeinsame

Strategie zu verpflichten. *Allein die UNO

dürfte dazu in der Lage sein, den gemein-

samen Anstrengungen einen solchen

dauerhaften Rahmen zu bieten.

Die Anschläge haben auch die Unter-

scheidung zwischen „äußerer“ und „inne-

rer“ Sicherheit verwischt. Auch wenn die

Anschläge das Ausmaß kriegerischer

Handlungen erreicht haben, sind in der

Auseinandersetzung mit dem Terroris-

mus in erster Linie gezielte polizeiliche

Aktionen zur Bekämpfung von Verbre-

chen nötig. Die kleine Zahl von Extremi-

Markus Meckel

6

Page 9: perspektive21 - Heft 15

Zentrale Fragen der Zukunft der transatlantischen Beziehungen und der europäischen Sicherheit

sten gilt es zu identifizieren und zu isolie-

ren, sie festzunehmen und ihnen in

einem rechtsstaatlichen Verfahren den

Prozeß zu machen. Neben einer stärkeren

internationalen Zusammenarbeit von

Justiz und Polizei dürfte der Austausch

von Erkenntnissen der Geheimdienste

eine wichtige Rolle bei der Warnung vor

drohenden Anschlägen und bei der Ver-

folgung der Täter spielen. Ebenso ist eine

stärkere Regulierung internationaler

Finanzströme erforderlich, um die Extre-

misten von ihren Finanzierungsquellen –

neben Drogen- und Waffenhandel offen-

sichtlich auch spekulative Börsenge-

schäfte – abzuschneiden.

Maßnahmen, die den Handlungsspiel-

raum der Terroristen beschränken, brin-

gen es leicht mit sich, dass auch die

Rechte unbescholtener Bürger beschnit-

ten werden. Die Anschläge zwingen uns

dazu, das Verhältnis der Grundsätze

„Offenheit“ und „Kontrolle“ zueinander

zu überdenken. Das kann aber nicht

heißen, dass die Prinzipien der „offenen

Gesellschaft“ einfach zur Disposition

gestellt werden. Wir müssen sicherstel-

len, dass der Schutz des Rechts auf Mei-

nungsfreiheit und der Privatsphäre, die

Bewegungsfreiheit und die Verfahrens-

rechte von Beschuldigten nicht beein-

trächtigt werden. Denn im Kern zielen die

Anschläge darauf ab, die offene, plurali-

stische Gesellschaft zu zerstören, die auf

den Grundsätzen Menschenrechte,

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frei-

heit beruht. Diese Werte müssen wir ver-

teidigen.

Wir befinden uns nicht in einer Ausein-

andersetzung verschiedener „Kulturen“

(confrontation of civilisations). Wir lassen

uns von Extremisten nicht in eine Kon-

frontation judeo-christlicher versus isla-

mische Gesellschaften hineindrängen.

Keine Religion kann die grausamen

Morde und die Verbrechen gegen die

Menschlichkeit rechtfertigen. Dass die

Berufung auf den Islam einen Mißbrauch

der Religion darstellt,hat die Verurteilung

der Anschläge durch beinah alle mosle-

mischen Staaten und religiösen Führer

gezeigt. Gemeinsam werden wir kultu-

relle Errungenschaften gegen Barbarei

verteidigen. Zur „offenen Gesellschaft“

gehört auch ein besseres Kennenlernen

anderer Anschauungen. Die aktuelle

Krise zeigt, dass wir den Dialog zwischen

den Religionen und Kulturen verstärken

müssen. Präsident Bush setzte ein positi-

ves Zeichen, als er kurz nach den Anschlä-

gen in einer Moschee mit moslemischen

Geistlichen für die Opfer betete. Viele

ähnliche Signale für den inter-religiösen

Dialog wurden inzwischen andernorts

gesetzt. Diesen Dialog müssen wir inter-

national führen, aber auch in unseren

Gesellschaften müssen wir uns um Tole-

ranz und Verständnis bemühen. Auch

wenn sich offensichtlich bewahrheitet

hat, dass die Spur der Täter zum terrrori-

7

Page 10: perspektive21 - Heft 15

Markus Meckel

stischen Netzwerk des saudischen Mil-

lionärs Osama Bin Landen führt, sind

pauschale Verdächtigungen der mosle-

mischen Bevölkerung fehl am Platze.

Soziale Isolation und Diskriminierungen

müssen wir verhindern. Es ist Zeit, den

Kontakt zu unseren moslemischen Mit-

bürgern und die Bemühungen um

soziale Integration zu intensivieren.

Auch wenn sich die Folgen noch gar

nicht in ihrem ganzen Ausmaß erkennen

lassen. Eines ist offensichtlich: Die

Anschläge werden unser sicherheitspoli-

tisches Denken grundlegend verändern.

Es hat sich zwar schon bei den zahlrei-

chen Regionalkonflikten und Bürger-

kriege in den 90er Jahren gezeigt, dass

wir es immer weniger mit Konflikten zwi-

schen Staaten zu tun haben. Nun ist

offensichtlich, dass die Grenzen zwischen

äußerer und innerer Sicherheit ver-

schwimmen. Die Drahtzieher und die

Finanzierung mögen von außen kom-

men, aber die Täter haben sich lange Zeit

im Schoße unserer Gesellschaft auf die

Anschläge vorbereitet. Ebenso richten

sich unsere Maßnahmen auf die

Umgang mit anderen Staaten und nach

innen. Jahrelang wurden die Risiken

unterschätzt. Nun müssen wir die Vor-

kehrungen zum Schutz der Zivilbevölke-

rung verstärken. Aber einen absoluten

Schutz kann es nicht geben. So bedarf es

intensiverer Bemühungen, die Verbrei-

tung von leicht herstellbaren und trans-

portierbaren Massenvernichtungswaf-

fen, insbesondere biologischen und che-

mischen, zu verhindern.

Wir müssen und wir wollen ein umfas-

sendes Konzept zur Bekämpfung des Ter-

rorismus entwickeln. Es zielt darauf ab,

den Terroristen die Mittel und den Nähr-

boden für die Rekrutierung zu entziehen.

Dieses Konzept setzt auf Krisenpräven-

tion und muss auf politische, wirtschaft-

liche und kulturelle Zusammenarbeit

sowie auf Kooperation in Fragen der

Sicherheit gegründet sein. Die Europäi-

sche Union hat bereits entschieden, im

Rahmen der Entwicklungszusammenar-

beit weitere Anreize für Staaten zu bie-

ten, die sich zur Kooperation bei der

Bekämpfung des Terrorismus bereit

erklären. In Krisenregionen wie dem

Nahen Osten oder Zentralasien gilt es

Perspektiven für die Lösung bewaffneter

politische und wirtschaftliche Stabilisie-

rung, für Frieden und Entwicklung zu

eröffnen.

Wie wir diese neue Herausforderung

meistern, eine umfassende Antwort auf

die neuartige Bedrohung der „offenen

Gesellschaft“ und ihrer Bürger zu finden,

wird den Zusammenhalt im Bündnis und

das transatlantische Verhältnis für die

nächste Generation bestimmen. Die

spontane Solidarität und das entschlos-

sene gemeinsame Handeln bilden ein

gutes Fundament. Nun ist es unsere Auf-

gabe, eine umfassende Strategie zu ent-

8

Page 11: perspektive21 - Heft 15

wickeln, die uns von der Geißel des Terro-

rismus befreien kann. Die Stärkung inter-

nationaler Organisationen, insbesondere

der Vereinten Nationen, wird dabei eine

zentrale Rolle spielen.

Zentrale Fragen der Zukunft der transatlantischen Beziehungen und der europäischen Sicherheit

9

Markus Meckelist Bundestagsabgeordneter und

gehört zu den Gründungsmitgliedern der SPD in Ostdeutschland.

Page 12: perspektive21 - Heft 15
Page 13: perspektive21 - Heft 15

Es gehe darum, so nach dem 11. Sep-

tember eine türkische Stimme, die Zivili-

sation zu verteidigen. Es gebe nur eine

Zivilisation; man gehöre zu ihr oder stehe

außerhalb der Grenzen der „zivilisierten“

Welt.

Der türkische Kommentar, der in seiner

Bewertung an Positionen Atatürks, des

Gründers des modernen türkischen Staa-

tes, anknüpft, findet nicht überall Zustim-

mung. Viele, z.B. der Generalsekretär der

Vereinten Nationen, sprechen lieber von

„Zivilisationen“ als von „Zivilisation“. Die

Entscheidung für den Plural oder für den

Singular ist zunächst nur eine Definiti-

onsfrage ohne weitere Folgen. Wenn die

verschiedenen heute bestehenden Kul-

turkreise „Zivilisationen“ sein sollen, ist

damit der Plural begründet.Wenn wir der

Auffassung zuneigen, für das Zusam-

menleben der Individuen und Gemein-

schaften seien auch im globalen Maß-

stab Grundregeln notwendig und im

Prinzip, nach einem langen Entwick-

lungsprozeß in Europa und Amerika,auch

vorhanden, so wäre für die Summe dieser

Regeln und ihrer Wertebasis „Zivilisa-

tion“, im erwähnten Verständnis, eine

mögliche Bezeichnung. Wer dazu – zur

Notwendigkeit und Existenz gemeinsa-

mer Grundregeln – eine andere Auffas-

sung vertritt, wird die Konzeption einer

globalen, überwiegend westlich gepräg-

ten Zivilisation ablehnen. Fragen stellen

sich in diesem Zusammenhang innerhalb

der einzelnen europäisch-amerikani-

schen Länder, aber auch innerhalb ande-

rer Kulturkreise, z.B. in islamischen

Gesellschaften, oder zwischen verschie-

denen Kulturkreisen. Der 11. September

hat auf diesem Gebiet Probleme sichtbar

gemacht, nicht begründet.

11

Gefährdung der Zivilisation

Zur Glaubwürdigkeit der westlichen Politik gegenüber dem Islam

von Klaus Faber

Der Islam und der Westen: Zivilisation und Zivilisationen

Page 14: perspektive21 - Heft 15

Lange vor dem Ende des Kalten Krieges

war zu erkennen, dass der ältere Konflikt

zwischen dem Islam und dem „Westen“

wieder größere Bedeutung erhalten

würde. Die gleichzeitige Abkehr vom

Westen und vom Osten in großen Teilen

der islamischen Welt war dafür ein Indiz.

Für den Iran waren nach der islamischen

Revolution von 1979 die Vereinigten Staa-

ten der Hauptfeind, aber die Sowjetunion

kein Freund geworden. In Afghanistan

kämpften seit dem Ende der siebziger

und in den achtziger Jahren vom Westen,

aber nicht nur vom Westen unterstützte

Aufständische gegen die sowjetischen

Besatzungstruppen. In Algerien und in

anderen arabischen Staaten, die unter

europäische Kolonialherrschaft geraten

waren, hatten zuvor erfolgreiche Auf-

stände stattgefunden. „Dschihad“ war

die häufig verwandte Bezeichnung für

den Befreiungskrieg. Der muslimische

Aufständische nannte sich „Mudscha-

hid“, Dschihad-Kämpfer.

Islam und Christentum stehen sich seit

fast 1400 Jahren im Mittelmeerraum

gegenüber. Über längere Zeitphasen hin-

weg gab es kulturell, politisch und

militärisch zwischen den beiden, meist in

verschiedenen eigenständigen Staaten

organisierten Konfliktparteien keine

größere Gefällelage. Kulturell war im Mit-

telalter auf der iberischen Halbinsel wohl

eher der spanische Islam überlegen, aber

am Ende nicht militärisch, wie 1492 die

Übergabe Granadas und in der zweiten

Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts der

gescheiterte Aufstand der andalusischen

Muslime zeigten.

Vielleicht läßt sich für das Ergebnis

des langen Kampfes zwischen Ostrom

(das in der westchristlichen Tradition seit

langer Zeit „Byzanz“ genannt wird) und

den Muslimen eine umgekehrte Bilanz

ziehen. Dem über viele Jahrhunderte, bis

zum Fall Konstantinopels im Jahre 1453,

geleisteten militärischen Widerstand

Ostroms ist es zu verdanken, dass sich

Ost- und Westchristentum bis dahin

entwickeln und überhaupt weiterbeste-

hen konnten. Karl Martells Sieg bei Tours

und Poitiers über eine größere muslimi-

sche Streifschar aus Spanien hatte dem-

gegenüber, wie insgesamt der Beitrag

des Frankenreichs und seiner Nachfolge-

staaten zum Glaubenskrieg, keine ver-

gleichbare historische Bedeutung,

anders als dies zumeist die Geschichtsü-

berlieferungen des westlichen Christen-

tums darstellen. Der christliche Haupt-

gegner war für den Islam in seinen

ersten Jahrhunderten Ostrom. Die in der

Anfangszeit im Islam verbreitete

Bezeichnung „Rumi“ für die Christen,

auch für die Christen in Spanien, gibt

dieses Erfahrungsbild wieder.

Klaus Faber

12

Alte Konfliktlinien

Page 15: perspektive21 - Heft 15

1683 fand die letzte Belagerung Wiens

durch die Osmanen statt. Mit Mühe

wurde die Einnahme der Stadt durch ein

deutsch-polnisches Entsatzheer verhin-

dert. Viele sehen in diesem Ereignis den

Beginn des Niedergangs des Osmani-

schen Reiches. Nach dem 1. Weltkrieg

schien dessen Ende nahe. Der osmanische

Staat verlor alle arabischen und einen

beträchtlichen Teil der kurdischen, näm-

lich die heute im Nordirak liegenden

Gebiete. Armenien sollte nach dem Willen

der siegreichen Westalliierten weite Teile

der heutigen Osttürkei, auch als eine Art

Wiedergutmachung für die Massen-

morde während des Weltkrieges, erhalten,

ein unabhängiger kurdischer Staat in der

gleichen Region entstehen. Große Teile der

türkischen Ägäisküste und der türkischen

Gebiete Thrakiens fielen den Griechen zu,

Istanbul/Konstantinopel war ihnen mehr

oder weniger versprochen.

Der damalige griechische Ministerprä-

sident Venizelos verspielte diese

Gewinne durch noch weiter gehende ter-

ritoriale Ambitionen. Kemal Pascha, der

spätere Atatürk, verhinderte die Auftei-

lung des türkischen Reststaates durch

den Sieg über die Griechen, die in Kleina-

sien eingedrungen waren. Atatürk führte

nach dem türkisch-griechischen Krieg im

Gebiet der islamischen Hauptmacht, die

jahrhundertelang die Christen angegrif-

fen und sich nach 1683 gegen sie vertei-

digt hatte,die bislang tiefgreifendste isla-

mische Kulturrevolution der neueren Zeit

durch. Seine mit diktatorischer Vollmacht

ausgestattete Autorität war dafür die

Voraussetzung. Sie beruhte auf dem

militärischen Erfolg gegen die Griechen,

der nur durch die Unterstützung der

muslimischen Landbevölkerung möglich

wurde. Kemals Armee war im Laufe des

Krieges im buchstäblichen Sinne des

Wortes zu einer Volksarmee geworden,

für die einfache Bauern, soweit sie sich

nicht selbst den Streitkräften anschlos-

sen, Träger- oder andere Versorgungs-

dienste leisteten und Frauen die Muni-

tion bis in die vorderen Linien transpor-

tierten – freiwillig, überzeugt von der

Gerechtigkeit der „eigenen“ Sache.

Kemal erhielt damals, lange vor dem

Ehrentitel „Atatürk“ (Vater der Türken),

den Beinamen „Ghazi“, die Bezeichnung

für den Kämpfer im Krieg gegen die

Ungläubigen (das Wort hat übrigens eine

gemeinsame Wurzel mit dem aus dem

Arabischen über das Italienische einge-

wanderten Begriff „Razzia“). „Ghazi

Magoscha“ heißt im heute türkischen

Nordzypern die Stadt, die von uns West-

Gefährdung der Zivilisation

13

Die Kulturrevolution Atatürks: Wirkung und Interpretation

Page 16: perspektive21 - Heft 15

christen „Famagusta“ genannt wird. Die

neue türkische Bezeichnung wurde

gewählt, weil in der Altstadt 1974 die dort

wohnende türkische Minderheit so lange

den griechisch-zypriotischen Belagerern,

darunter der zypriotischen National-

garde, Widerstand geleistet hatte, bis die

türkische Armee eintraf. 1974 wurden

dann nicht nur die griechisch-zyprioti-

schen Streitkräfte, sondern auch die grie-

chische Bevölkerungsmehrheit aus der

Stadt vertrieben.

Nach dem Ende des griechisch-türki-

schen Krieges einigten sich Venizelos und

Atatürk 1923 auf einen Bevölkerungsaus-

tausch. Fast alle noch in der Türkei leben-

den Griechen wurden nach diesem Ver-

trag nach Griechenland, der überwie-

gende Teil der in Griechenland lebenden

muslimischen Minderheit in die Türkei

„umgesiedelt“. Auf beiden Seiten wurde

dabei niemand gefragt, ob er mit der

Umsiedlung einverstanden sei. Der von

Venizelos und Atatürk vereinbarte Bevöl-

kerungsaustausch bildete nicht nur die

Grundlage für die „laizistische“ Umwand-

lung des türkischen Staates, die kaum

hätte gelingen können, wenn im Innern

weiterhin Auseinandersetzungen mit

ethnisch-religiösen „Feinden“ geführt

worden wären. Sie war ebenso die Vor-

aussetzung für einen brüchigen, aber

trotz des Krieges um Zypern bislang hal-

tenden Modus vivendi im türkisch-grie-

chischen Verhältnis.

Atatürks politische Bedeutung wird

auch in einer Gegenüberstellung deut-

lich. Abgesehen von einigen früher zur

Sowjetunion gehörenden Staaten, die

heute in – begrenzten – Teilbereichen

seine kulturrevolutionären Ansätze auf-

nehmen, hat es in der islamischen Welt

bislang kein Folgemodell zu Atatürks

Modernisierung gegeben. Die türkische

Demokratie mag unvollkommen sein.

Gefahren drohen von radikalen Islambe-

wegungen, wie auch die entsprechende

türkische Exilopposition zeigt, die in

Deutschland wie in anderen europäi-

schen Ländern immer noch unterschätzt

wird. Bei allen Mängeln handelt es sich

aber bei der Türkei um einen demokrati-

schen Staat – um eine der ganz wenigen

Demokratien im Islam. Kein arabischer

Staat kann auch bei Anwendung sehr

großzügiger Maßstäbe bislang als Demo-

kratie bezeichnet werden. Ein großer Teil

der politischen Gefangenen dieser Welt

sitzt in den Gefängnissen islamischer

Staaten.

Es hat bereits zu Atatürks Lebzeiten

Reformversuche in anderen unabhängi-

gen islamischen Ländern gegeben. An

erster Stelle ist dabei der Iran mit seinem

ursprünglich reformorientierten neuen

monarchischen System zu nennen. Selbst

in der damaligen afghanischen Monar-

chie gab es Ansätze zur Modernisierung,

die in der bis heute vorherrschende

Stammesverfassung dieses Landes aller-

Klaus Faber

14

Page 17: perspektive21 - Heft 15

dings keine tiefgreifenden Spuren hinter-

ließen.

Nassers (Gamal Abd an-Nasir) „Revolu-

tion“ der fünfziger Jahre war ebenso wie

andere Umwälzungen in arabisch-islami-

schen Ländern vom Ziel der Erneuerung

und Reform getragen. Die Moslembru-

derschaft, wie sie damals unter engli-

schem Spracheinfluß genannt wurde,

war sein Gegner, den er mit beachtlicher

Härte verfolgen ließ. In der Kleidung und

in anderen äußeren Signalbotschaften

war Ägypten in dieser Zeit, wie früher

Atatürks Türkei, auf Verwestlichung aus-

gerichtet. Der „laizistische“ Impuls, der

sich bei Atatürk gegen den Islameinfluß

auf die Politik richtete, war aber trotz des

Gegensatzes zur Moslembruderschaft

weniger deutlich. Nasser hat immer die

Zugehörigkeit Ägyptens zur arabischen

„Nation“ und zum größeren Islamkreis

betont. Religiöse Bekenntnisformeln

wurden in den Massenmedien, ganz

anders als in der Türkei, bei allen passen-

den Gelegenheiten und auch in „patrioti-

schen“ Liedern verwandt. Die antiisraeli-

sche Propaganda hatte von Anfang an

das islamische Dschihad-Motiv inte-

griert. Dass die aktuelle Entwicklung in

Ägypten vor allem nach der Ermordung

Sadats – eine politisch-gesellschaftliche

Öffnung gegenüber dem traditionellen

und radikalen Islam mit bedenklichen

Folgen – kaum der ursprünglichen Linie

Nassers entspricht, steht auf einem

anderen Blatt. Ägyptische Muslime, die

aktiv für eine an den – westlichen – Men-

schenrechten orientierte Reform eintre-

ten, haben in ihrem Land heute nicht sel-

ten einen schweren Stand. Einige bekla-

gen sich in diesem Zusammenhang nicht

nur über das Verhalten ihres Staates, son-

dern ebenso über die verbreitete westli-

che Indifferenz gegenüber den innerisla-

mischen Reformkräften. Eine derartige

Kritik ist, wie auch ein Blick auf andere

islamische Staaten und die jeweilige

demokratische Opposition zeigt, gut

nachzuvollziehen.

Atatürks und Nassers Bewertung hat

sich im Laufe der Zeiten verändert – im

Westen und im Islam. Interpretations-

konventionen spielen dabei eine Rolle, die

eine Orientierung geben sollen, aber

nicht immer unproblematisch sind. Nach

einer neueren politischen Sprachkonven-

tion aus den neunziger Jahren müßten

wir den türkisch-griechischen Bevölke-

rungsaustausch der zwanziger Jahre

heute als „ethnische Säuberung“

bezeichnen, ebenso etwa die von Hitler-

deutschland während des 2.Weltkriegs in

Polen durchgeführten Zwangsumsied-

lungen; für das zuletzt erwähnte Beispiel

ist das eine Zuordnung, die wohl nicht

auf Widerspruch stoßen würde. Aus die-

ser Bewertungskategorie könnten aber

auch die Vertreibungen der Deutschen

aus dem heutigen Polen,Tschechien oder

aus anderen ostmittel- oder osteuropäi-

Gefährdung der Zivilisation

15

Page 18: perspektive21 - Heft 15

schen Ländern nicht ausgeschlossen wer-

den, die zu einem beträchtlichen Teil erst

nach dem Ende des 2. Weltkriegs erfolgt

sind. Ähnliches gilt für viele Bevölke-

rungsverschiebungen im postkolonialen

Asien oder Afrika, z.B. für die Flucht- und

Vertreibungsvorgänge zwischen Pakistan

und Indien, von denen mehr als 20 Millio-

nen Menschen betroffen waren.

In der politischen Klasse und in den

Medien mancher westlicher Länder ist

die Bereitschaft zu erkennen, mit der Eti-

kettierung und dem Vorwurf der „ethni-

schen Säuberung“ bei politischem Bedarf

recht freizügig und manchmal fahrlässig

umzugehen. Eine derartige Argumenta-

tion sollte rechtzeitig mit den möglichen

politischen Folgen konfrontiert werden.

Manches, was wir, zu Recht, im Europa

der Nachkriegszeit als ordnende und

befriedende Faktoren schätzen gelernt

haben, z.B. die Sicherheit von Grenzen

und des nationalen Charakters einiger

Staaten, beruht auf dem Ergebnis einer

„ethnischen Säuberung“, falls dieser

Begriff einen Unrechtstatbestand zutref-

fend beschreiben kann. Dabei wird ein

Problem erkennbar, das in unserer politi-

schen Debatte vor allem zu internationa-

len Themen allgemeinere Bedeutung

hat: Es bestehen begründete Zweifel an

der Konsistenz unserer Bewertungsmaß-

stäbe. Die damit aufgeworfene Frage hat

auch praktische Konsequenzen. Doppelte

Standards in der Politik und in der politi-

schen Moral werden nämlich auf die

Dauer die Basis des westlichen, am Ende

aber jeden politischen Handelns erschüt-

tern: die Glaubwürdigkeit.

Eine Gefahr des Mißverstehens besteht

im Verhältnis zwischen dem Westen und

dem Islam nicht nur in dieser Beziehung

sondern auch darin, dass, vom Westen

aus gesehen, die eigenen politischen

Maßstäbe, angefangen von den Men-

schenrechten bis hin zu den Legitimati-

onsvorstellungen in den westlichen

Demokratiemodellen – also die Grundla-

gen unserer „Zivilisation“, als allgemein-

gültig und -verbindlich angesehen wer-

den. In dieser Sichtweise zeigt sich ein

Gefühl der eigenen Überlegenheit, das

sich durchaus auf historische Erfahrun-

gen stützen kann. Seit etwa 500 Jahren

hat Europa, trotz der Spaltung in ein

westliches und ein östliches Teillager,

trotz und sogar während der verheeren-

den Religionskriege im westlichen Chri-

stentum, einen globalen Siegeszug ange-

treten, zunächst unter Umgehung der

Islamzone mit hochseetüchtigen Schif-

Klaus Faber

16

Westliche Dominanz und Islamreaktion

Page 19: perspektive21 - Heft 15

fen, später auch im Gebiet der islami-

schen Staaten selbst. Ohne diese Expan-

sion gäbe es heute vermutlich keine Glo-

balisierung, auch keine internationale

Menschenrechtsdebatte und keine glo-

bale Bevölkerungsexplosion. Europäische

Tochtergründungen haben, abgesehen

von kleinen Territorialresten, fast den

gesamten amerikanischen Kontinent

unter sich aufgeteilt.

Australien und Neuseeland gehören

zum engeren Kreis der von Europäern

gegründeten und geprägten Siedlerstaa-

ten. In Nordasien reicht bereits seit langer

Zeit Rußland bis an den Pazifischen

Ozean. Eine vergleichbare Landausdeh-

nung der Christenstaaten im Südosten

hat bis zum 1. Weltkrieg das Osmanische

Reich verhindert.

Kulturell-zivilisatorisch hat der Westen

große Durchdringungserfolge auch in

Ländern erzielt, die nie zu den europä-

isch-amerikanischen Kolonialgebieten

zählten. Japan und China sind dafür Bei-

spiele, mit jeweils unterschiedlicher Ori-

entierung an einem amerikanisch-west-

europäischen und einem Modell aus Ost-

europa, das es dort inzwischen nicht

mehr gibt.

Überlagernde europäische Territorial-

herrschaft hat im Verlauf der europäi-

schen Eroberung, trotz der Abwehr-

kämpfe und der Sperrfunktion des türki-

schen Reiches, den Islam in vielen Regio-

nen erreicht: in Indonesien, in Malaysia,

im islamischen Indien, im russischen Zen-

tralasien und im ganzen islamischen

Afrika. Nach der Aufteilung des Osmani-

schen Reiches am Ende des 1.Weltkrieges

standen auch alle arabischen Gebiete der

früheren Türkei unter europäischer Herr-

schaft – mit zwei Ausnahmen: Saudi-Ara-

bien und Jemen. Osama Bin Laden (wie er

nach der englischen Transskription

genannt wird) sieht diesen Zeitpunkt als

Beginn der Unterdrückung. Er dürfte

damit nicht nur die Auffassung einer klei-

nen islamischen Minderheit, sondern in

den arabisch-muslimischen Ländern eher

diejenige der Mehrheit wiedergeben.

Es wäre eine allzu optimistische, naive

Erwartung anzunehmen, der islamische

Widerstand gegen die Verwestlichung

werde, wie die entsprechende Abwehrbe-

wegung in anderen Kulturkreisen, etwa

in Japan, in China oder im hinduistischen

Indien, bald erlahmen oder jedenfalls an

Bedeutung verlieren. Für den Widerstand

stehen im Islam nicht nur die „Islami-

sten“ – wer auch immer im einzelnen mit

diesem in Europa neuerdings üblichen

Begriff gemeint sein soll. Traditionelle

Islampositionen – im weitesten Sinne –

sind im Islam keine verblassenden Erin-

nerungszeichen der Vergangenheit. Eine

intensive Rückbesinnung auf die eigenen

kulturell-politischen Traditionen ist vor

allem nach dem 2. Weltkrieg erfolgt, im

Zuge der Entkolonialisierung, nach dem

Zurückdrängen der europäischen Herr-

Gefährdung der Zivilisation

17

Page 20: perspektive21 - Heft 15

schaft. Scharia-Recht, das unterschiedlich

ausgelegt werden kann, aber keinesfalls

überall „progressiv“ interpretiert wird,

wurde in vielen Gebieten wieder einge-

führt. In Regionen mit nicht-muslimi-

scher Mehrheit, wie etwa im Südsudan,

der erst durch die europäische Grenzzie-

hung mit dem muslimisch-arabischen

Nordsudan fest verbunden wurde, gilt es

damit zum ersten Mal als staatliches

Recht. In einigen islamischen Ländern, die

nach westlichen Kriterien als verhältnis-

mäßig aufgeklärt gelten, ist der Zugang

zu den höchsten Staatsämtern durch

staatliche Regelung Muslimen vorbehal-

ten und der Abfall vom Islam mit straf-

rechtlicher Sanktion bedroht. Nicht nur

der Iran führt im Staatsnamen das Etikett

„islamisch“.

Das Iran-Beispiel ist auch unter ande-

ren Gesichtspunkten, z. B. unter dem

Aspekt des Minderheitenschutzes, auf-

schlußreich, nicht nur wegen der –

schlechten – Behandlung der kleinen jüdi-

schen Minderheit, sondern auch mit Blick

auf das Verhältnis zur Bahai-Gemein-

schaft. Nach der iranischen Auffassung

sind die Bahai-Angehörigen vom Islam

Abgefallene mit allen negativen Folgen

z.B. für die Anerkennung von Ehe-

schließungen oder die Erziehung der Kin-

der. dass derartige Verstöße gegen die ele-

mentaren Menschenrechte von unseren

Medien und in der Politik kaum gerügt

werden, sagt mehr über die Ernsthaftig-

keit unseres humanitären Engagements

und auch über den Mangel an Konsistenz

unserer Beurteilungsmaßstäbe als viele

andere Akte und Deklarationen.

Das „laizistische“ Staatsgrundver-

ständnis der Atatürk-Türkei, vor allem

getragen vom Offizierskorps und der

Führung der Streitkräfte,bildet vom theo-

retischen Ansatz her gesehen einen

Gegenpol zu den erwähnten Länderbei-

spielen. Es wird deshalb, konsequenter-

weise, von der islamisch orientierten Exi-

lopposition, mit ihrem Hauptstützpunkt

in Deutschland, als „unislamisch“ diffa-

miert. Das türkische Beispiel zeigt übri-

gens deutlich, dass sektoral begrenzte

Aktionen und Beschwichtigungsstrate-

gien im religiös-kulturellen Bereich ohne

eine Berücksichtigung der Innen- und

Außenbeziehungen kaum tragfähig sein

können. Ein grundlegendes Problem für

die Akzeptanz der im Westen entstande-

nen und westlich geprägten Menschen-

rechte in anderen Weltzonen und Kultu-

ren, wenn man so will, der globalen „Zivi-

lisation“, liegt darin, dass dieser Konzep-

tion nicht nur ein bestimmtes Men-

schenbild, sondern letztlich auch eine

deutlich westlich geprägte Auffassung

von der Ordnung des gesellschaftlichen

Zusammenlebens zugrunde liegt. Eine

derartige Auffassung teilt z.B. eine kon-

servativ-radikale Islam-Position nicht –

sie kann sie vom traditionellen Ansatz her

gesehen auch nicht teilen.

Klaus Faber

18

Page 21: perspektive21 - Heft 15

Die Einheit von Politik und Religion gab

es, selbstverständlich, auch im christli-

chen Europa des Mittelalters, trotz aller

Gegensätze in Papst-Kaiser-Dualismus

des Westchristentums und der späteren

Religionskriege, bei denen es im übrigen

zunächst nicht in erster Linie um Glau-

bensfreiheit, sondern um den Sieg des

richtigen Glaubens ging. Erst danach ent-

stand als Folge des militärischen Patts im

Dreißigjährigen Krieg die Idee der allge-

meinen Glaubensfreiheit – nicht nur der

Staaten und Stände, sondern der einzel-

nen Menschen. Sie bildete den Nucleus

aller weiteren „Menschenrechte“, aller-

dings in den Anfängen nur als inner-

christliches Recht auf Glaubensfreiheit

und Gleichbehandlung. Einen vergleich-

baren Entwicklungsweg zur Glaubens-

freiheit, zur Aufklärung und damit auch

zu den westlichen Menschenrechten

haben viele, nicht alle, islamische Bewe-

gungen, Organisationen und Staaten

noch vor sich, nicht hinter sich.

Die Einheit von Politik und Religion,

jeweils nach dem westlichen Kategorien-

verständnis, ist in der ursprünglichen

Islamkonzeption, nach der die Gemeinde

der Gläubigen, die Umma, den islami-

schen Staat bildete, stärker verankert als

in den jüdisch-christlichen Traditionen.

Auch diese waren in den Anfängen nicht

„laizistisch“, und sie konnten es selbstver-

ständlich nicht sein. Jüdische Exil- und

jüdisch-christliche Minderheitserfahrun-

gen in den Zeiten der Verfolgung, für die

Christen vor der Eroberung der Macht im

Römischen Reich, haben aber doch ein

anderes, distanzierteres Verhältnis zum

Staat, letztlich auch zum „eigenen“ Staat,

gefördert oder zumindest zugelassen.

Als Ergebnis einer langen, konfliktreichen

Entwicklung ist „Säkularisierung“ im

Westen ein ganz überwiegend positiv

besetzter Begriff, nicht in gleicher Weise

dagegen in anderen Kulturkreisen, auch

nicht im Haus des Islam.

In Kern bezieht sich deshalb der jetzt,

nach den Massenmorden vom 11. Sep-

tember, wieder stärker diskutierte Kon-

flikt zwischen dem Islam und dem

Westen nicht auf Territorialstreitigkeiten,

wie etwa die israelisch-arabische Ausein-

andersetzung, oder auf, im weitesten

Sinne,soziale Fragen,angefangen von der

– angeblichen oder tatsächlichen – Gefäl-

lelage im Reichtum bis hin zum allgemei-

nen Entwicklungsrückstand der Islam-

welt – es sei denn, man definiere den

alten Gegensatz zwischen Islam und

Nicht-Islam insgesamt als territoriale

und soziale Streitfrage. Terrorismus jed-

weder Form oder Spielart ist dabei als

Kampfform zwar genauso wenig reprä-

sentativ für „den“ Islam wie etwa die ETA-

Attentate für „die“ Basken. Salman Rush-

Gefährdung der Zivilisation

19

Westliche Aufklärung und Islam

Page 22: perspektive21 - Heft 15

die weist aber zu Recht darauf hin, dass

es ebenso falsch wäre, einen Zusammen-

hang zwischen dem Islam, Islamströ-

mungen oder -traditionen und dem aktu-

ellen Terror aus Islamländern schlechthin

zu leugnen. Der Terror ist extremer Aus-

druck für ein Spannungsverhältnis, für

einen Konflikt, der nicht nur in Anschlä-

gen, aber auch durch sie sichtbar wird.

Nicht nur der gebildete, historisch

bewanderte oder konservativ geprägte

Muslim kennt das traditionelle islami-

sche Weltbild. Die Gläubigen wohnen

danach im Haus des Islam (dar al-islam),

die Ungläubigen im Haus des Krieges

(dar al-harb). Aufgabe der Gläubigen ist

es, auch mit den Mitteln des Dschihad,

das Haus des Islam zu verteidigen und

solange zu erweitern, bis es den ganzen

Erdkreis umfaßt. Mit dem Haus des Krie-

ges sind deshalb nur zeitlich begrenzte

Vereinbarungen über einen Waffenstill-

stand zu schließen. Für deren Dauer sind

in der Islamtradition Obergrenzen, etwa

eine Höchstzeit von zehn Jahren, ent-

wickelt worden, um eine Umgehung des

Friedensverbotes gegenüber den Län-

dern der Ungläubigen auszuschließen.

Derartige Regeln bestimmen, selbst-

verständlich, schon seit längerer Zeit

nicht mehr die Staatspraxis der unab-

hängigen islamischen Länder, wofür

bereits das Osmanische Reich in seinen

späteren Entwicklungsphasen ein Beleg

ist. Die dualistische Sicht der Welt ist

aber im Islam nach wie vor präsent,

nicht nur unter „Islamisten“ – was viel-

leicht auch die Parteinahme gegen die

Kriegführung der USA in Afghanistan

zeigt, der in den meisten islamischen

Ländern kein vergleichbar populäres

Engagement in der Ablehnung der Ter-

rorakte vom 11. September gegenüber-

steht. Verschwörungstheorien, nach

denen die „Hand des Ungläubigen“ hin-

ter vielen Übeln vermutet wird, sind

weit verbreitet. Auch in Ländern, die

einen Friedensvertrag mit Israel abge-

schlossen haben, sind, wie Muslime

unterschiedlicher kultureller Prägung

und andere immer wieder berichten,

beachtliche Teile der Öffentlichkeit der

Auffassung, eine „gerechte“ Lösung des

israelisch-arabischen Konflikts setze das

Verschwinden des israelischen Staates,

eines nicht-islamischen Staates mitten

im Haus des Islam, voraus. Öffentlichkeit

und Medien werden dabei vom sonst

überall spürbaren staatlichen Einfluß

kaum behindert und manchmal auch

vom Staat gefördert. Eine Umfrage

unter Syrern, Jordaniern, Libanesen und

arabischen Palästinensern aus dem

Jahre 1999, also vor der neuen „Intifada“,

bestätigt dieses Bild. 70 % wollen

danach überhaupt keinen Frieden mit

Israel, unter welchen Bedingungen auch

immer. Eine große Mehrheit unter den

arabischen Palästinensern billigt nach

neueren Befragungen die gegen Israel

Klaus Faber

20

Page 23: perspektive21 - Heft 15

gerichteten Selbstmordanschläge.

Besonders hoch ist die Zustimmung

unter Jugendlichen.

Der Islamwissenschaftler Bernard

Lewis hat vor kurzem die Auffassung ver-

treten, zwischen den arabischen Palästi-

nensern sowie den arabischen Staaten

einerseits und Israel andererseits könne

es in absehbarer Zeit deshalb keinen dau-

erhaften Frieden geben, weil dieser letzt-

lich nur dann möglich sei, wenn beide

Seiten demokratische Strukturen aufwei-

sen. Die arabischen Länder und die ara-

bisch-palästinensische Autonomiebe-

hörde seien aber von derartigen Verhält-

nissen weit entfernt. Andere, z.B. Walter

Laqueur, formulieren im gleichen Kontext

die These, ein belastbarer Friede sei kaum

möglich, wenn eine beteiligte Seite die

„Schuld“ oder sonstwie definierte Verant-

wortung für negative Entwicklungen nie-

mals bei sich selbst sehe – und das sei

beim arabischen Lager überwiegend der

Fall.

Man könnte, als Indiz für diese im

Ergebnis pessimistische, aber, leider, viel-

leicht realistische Einschätzung, die anti-

israelische Propaganda in den von

europäischen Staaten mitfinanzierten,

neu ausgearbeiteten Schulbüchern der

palästinensischen Autonomiebehörde

oder die entsprechende Gestaltung syri-

scher Schulbücher anführen. Beide unter-

scheiden sich nach westlichen Maßstä-

ben kaum vom traditionellen Antisemi-

tismus. Die Positionen der großen Mehr-

heit der islamischen Staaten auf der UN-

Antirassismus-Konferenz in Durban in

der Debatte über die von ihnen gefor-

derte Gleichsetzung von Rassismus und

Zionismus geben ebenso Anlass zu Fra-

gen an die Friedensbereitschaft. Mit einer

derartigen Gleichsetzung werden übri-

gens posthum Albert Einstein, Kurt Weill,

Martin Buber, Mordechai Anielewicz, der

Kommandant des Warschauer Ghetto-

aufstands, und viele andere zu Rassisten

deklariert.

Zweifel bestehen auch in einer ande-

ren Richtung. Welche Botschaft vermit-

telt uns der ägyptische Staatschef Muba-

rak, wenn er vor wie nach dem 11. Sep-

tember, etwa in einer Pressekonferenz

mit Tony Blair, verkündet, falls nicht der

israelisch-arabische Konflikt rasch, selbst-

verständlich in dem von ihm für richtig

gehaltenen Sinne, gelöst werde, sei mit

anhaltendem Terror zu rechnen? Welche

Signalwirkungen gehen davon auf die

Islamwelt und andere aus, wenn derar-

tige Erklärungen auf keinen Widerspruch

stoßen, auch nicht bei einem britischen

Gefährdung der Zivilisation

21

Terrorismus: Bewertungen im Islam und im Westen

Page 24: perspektive21 - Heft 15

Ministerpräsidenten, der aus nicht ganz

zufälligen Gründen auf der Pressekonfe-

renz anwesend ist? Wie würde sich Tony

Blair – oder ein anderer westlicher Politi-

ker – wohl auf einer Pressekonferenz mit

dem pakistanischen Staatspräsidenten

verhalten, wenn dieser ähnliche Terror-

prognosen für den Fall abgäbe, dass der

Kaschmirkonflikt nicht zur Zufriedenheit

Pakistans geregelt werde?

Derartige Fragen zu stellen, gilt bei

manchen schon als unkorrekt. Sie müs-

sen aber gestellt werden, weil sie auf

einen wesentlichen Aspekt des Problems

hinweisen – auf das Verhalten des

Westens, auf unser Verhalten. Nach den

ersten Schockwellen des 11. September ist

es erneut üblich und fast schon wieder

verbindlich-korrekt geworden, traditio-

nelle westliche Muster zur Terrorerklä-

rung heranzuziehen: Der Nahostkonflikt,

das „Elend in den Flüchtlingslagern“, der

Hunger oder die Dominanz der politi-

schen, wirtschaftlichen und kulturellen

Westmacht seien die Ursache für die Ter-

rorangriffe.Deshalb sei es jetzt besonders

wichtig,sich gegen das neue Islam-Feind-

bild zu wenden, das zunehmend an die

Stelle der früheren Antikommunismus-

position trete. Der Islam sei eine Religion

des Friedens, er verbiete die Gewaltan-

wendung gegenüber Unschuldigen und

sei deshalb keinesfalls für den Terror ver-

antwortlich zu machen. Fundamentalis-

mus-Phänomene finde man nicht nur im

Islam, sondern etwa zu gleichen Teilen als

Minderheits- und gewaltbereite Position

auch im Christen- und Judentum. Terror

sei im übrigen nicht gleich Terror. Es

mache einen Unterschied aus, ob er in

New York oder in Israel zur Befreiung der

arabischen Palästinenser ausgeübt

werde. Als Fazit derartiger Analysen bie-

ten in der Außenpolitik viele an,so schnell

wie möglich, notfalls gegen Israel, einen

„lebensfähigen“ arabischen Staat Palä-

stina zu schaffen sowie die Entwicklungs-

und sonstige Hilfe drastisch zu erhöhen,

falls erwünscht, auch auf dem Gebiet des

Waffenverkaufs etwa an Ägypten.

Man kann, anders als dies zumeist in

öffentlichen politischen Erklärungen

behauptet wird, der Auffassung zunei-

gen, eine Friedensregelung für den

Nahen Osten könne keinesfalls in freier

Aushandlung der Konfliktparteien

erreicht und deshalb nur von außen auf-

gezwungen werden. Die Forderung nach

mehr Geld für die Entwicklungszusam-

menarbeit ist legitim und für manche

Regionen gut zu begründen. In beiden

Elementen einen zentralen Lösungsan-

satz für das Ziel zu sehen, die „Ursachen“

für den Terror zu beseitigen, ist aber

abwegig. Auch wenn es Israel nicht gäbe,

hätten islamische Länder mit Problemen

zu tun, die auf die Begegnung mit der

westlichen Kultur zurückzuführen sind.

Auch ohne Israel gäbe es im Haus des

Islam eine westliche Präsenz, die Kon-

Klaus Faber

22

Page 25: perspektive21 - Heft 15

flikte und Terror auslösen kann, im Rah-

men wirtschaftlicher Beziehungen, nicht

nur auf Ölinteressen zentriert, oder auch

im Kontext militärischer Kooperation. Der

algerische Bürgerkrieg, der jetzt schon

mehr Tote, viele dabei Opfer von Terrorta-

ten, gefordert hat als der Kampf um die

Unabhängigkeit Algeriens, hat nichts mit

Israel zu tun, aber durchaus zu Terroran-

griffen in Europa geführt. Vergleichbare

Terrorfolgen wurden durch Auseinander-

setzungen mit unmittelbarer oder indi-

rekter westlicher Beteiligung ausgelöst,

etwa durch den Krieg um die Unabhän-

gigkeit von Kuweit. Entsprechende

Gefährdungspotentiale enthielten und

enthalten auch andere Konflikte in Islam-

ländern oder ebenso der anhaltende

Krieg des muslimisch-arabischen Nord-

sudans gegen den überwiegend nicht-

muslimischen Südsudan. Die von dem

Fernsehsender Al-Dschasira nach dem 11.

September veröffentlichte Videoer-

klärung Osama Bin Ladens nennt als

Feindschaftsanstoß an erster Stelle, vor

„Palästina“, die westliche Präsenz auf der

arabischen Halbinsel, im Land der zwei

heiligen Städte Mekka und Medina.

Manche Äußerungen westlicher Politi-

ker und Kommentatoren sind vor diesem

Hintergrund in ihrer häufig einseitigen

Ausrichtung auf den israelisch-arabi-

schen Konflikt kaum nachzuvollziehen.

Soll die Vorstellung, durch eine „Lösung“

dieses Konflikts sei die vor dem 11. Sep-

tember empfundene Sicherheit wieder-

herzustellen, der Beruhigung dienen?

Enthält die Fixierung auf die Spannung

zwischen Israel und seinen arabischen

Nachbarn den – untauglichen – Versuch,

die Terrormotivation westlich-säkularen

Zeitgenossen rational zu erklären und in

gewisser Weise zu rechtfertigen? Oder

spielen andere Obsessionen eine Rolle,

die in der Nähe traditioneller westlicher

Vorurteile anzusiedeln wären? Alle drei

Aspekte können eine Rolle spielen.

Enttäuschungen sind auf diesem Weg

in jedem Fall vorprogrammiert. Kein noch

so weitgehendes Zugeständnis auf israe-

lische Kosten und selbst die Opferung

Israels in klassischer Appeasementpolitik,

wenn sie denn, was nicht zutrifft, macht-

politisch durchzusetzen wäre, könnten

die Beschwerdepunkte der „Islamisten“

ausräumen, weil, wie geschildert, der

Konfliktstoff in der Differenz zwischen

dem säkularisierten Westen – als dem

Begründer und Repräsentanten der glo-

balen Zivilisation – und dem nicht in ver-

gleichbarer Weise säkularisierten Islam

liegt.Arabische Gesprächspartner aus der

Gefährdung der Zivilisation

23

Hauptdifferenz: Säkularisierung und Aufklärung

Page 26: perspektive21 - Heft 15

pälästinensischen Autonomiebehörde

oder aus arabischen Staaten mögen aus

leicht erkennbaren Gründen an

bestimmten politischen Botschaften

interessiert sein, z.B. an derjenigen, im

Verhältnis zwischen dem Islam und dem

Westen gebe es im wesentlichen nur das

Israel/Palästina-Problem. Richtig wäre

diese Botschaft dennoch nicht. Sie führt

im besten Fall zu Illusionen über die Kon-

fliktbereinigung, im schlimmsten zu

mehr Terror- und Kriegsopfern.

Osama Bin Laden hat in einem 1999

veröffentlichten Interview, wie es seine

Art ist, sich nicht zu der an ihn gerichteten

Frage geäußert, ob er über nicht-konven-

tionelle Waffen verfüge oder ihren Besitz

anstrebe. Es sei aber die Pflicht jedes

Gläubigen, so Osama Bin Laden, sich ato-

mare, biologische oder chemische Waffen

zu verschaffen, wenn, was der Fall sei, der-

artige Waffen der Verteidigung des Islam

dienten. Es gibt keinen einleuchtenden

Grund für die Annahme, dass hinter die-

ser abstrakt-unpersönlichen Aussage

keine praktische Umsetzungsabsicht

stehe, durchzuführen von demjenigen,

der die Glaubenspflicht formulierte, oder

von vielen anderen, die ihm, auch nach

seinem Tod, folgen werden.

Nur eine klare Abgrenzung und eine

sich daran auch unter taktischen Bedin-

gungen, etwa im Rahmen eines Kriegs-

bündnisses, ausrichtende Politik werden

gegenüber dieser Herausforderung

Erfolg haben. Es ist offensichtlich unreali-

stisch, auf eine umfassende, schnelle

Säkularisierung im Islam zu setzen und

zu warten. Wenig spricht dafür, dass eine

derartige Entwicklung, die sich in Europa

über viele Jahrhunderte erstreckt hat, im

Islam in kürzester Zeit nahezu konfliktfrei

abgeschlossen werden kann. Noch so gut

gemeinte Wirtschafts- und sonstige Hilfe

wird das Konfliktszenario nicht auflösen

können. Die Umwälzungen in Libyen und

im Iran, die Regierungen mit radikal-isla-

mischer Tendenz an die Macht brachten,

haben nicht in Zeiten der Verarmung,

sondern in einer Phase des Wirtschafts-

aufschwungs stattgefunden. Die Hoff-

nung auf eine „Aufklärung“ – eine Säku-

larisierung im Islam – allein durch Wirt-

schaftserfolg ist unbegründet.

Hitlerdeutschlands Versuch der globa-

len Machtergreifung wurde im 20. Jahr-

hundert – im säkularisierten Europa – nur

unter den größten Kraftanstrengungen,

vor allem durch die Vereinigten Staaten

unter Roosevelt, abgewehrt. Erst nach

zwei Weltkriegen sowie nach erheblichen

Menschen- und Gebietsverlusten hat

Deutschland seinen Suprematieanspruch

in Europa aufgegeben. Wir können uns

nicht darauf verlassen, dass der Transfor-

mationsprozeß im Islam ohne Gewalt-

eruptionen ablaufen wird. Wir können,

bislang noch mit guten Gründen, hoffen,

dass der Gewaltausbruch nicht die

Dimension der Weltkriege erreicht.

Klaus Faber

24

Page 27: perspektive21 - Heft 15

Es ist möglich, dass wir uns, wie es jetzt

Jürgen Habermas formuliert hat, aus der

Säkularisierungsphase auf die neue Zeit

einer „postsäkularen“ Gesellschaft zube-

wegen. Ein „Fortbestehen religiöser

Gemeinschaften in einer sich fort-

während säkularisierenden Umgebung“

kennzeichnet, so Habermas, danach

künftig die westliche Gesellschaft. Viel-

leicht befinden sich die Vereinigten Staa-

ten schon deutlicher in diesem Zustand

als West- und Osteuropa. Die mit einer

derartigen Entwicklung vielleicht verbun-

dene Einsicht in die Grenzen der mensch-

lichen Erkenntnisfähigkeit könnte die

Begegnung zwischen dem Westen und

der noch nicht oder nur unvollkommen

säkularisierten Islamwelt unter Umstän-

den entschärfen. Ambivalenz liegt aber

auch in diesem Aspekt; wer im Islam

gegenüber dem Westen die Konfronta-

tion und die Beharrung sucht, wird auch

in der Deklaration eines postsäkularen

Zeitalters nicht Toleranz-, sondern

Kampfsignale hören.

Eine Brücke zum Islam ist bereits heute

vorhanden – unvollkommen, voller Zwei-

deutigkeiten und Gefahren, aber stabiler

als viele andere Bauwerke der Begeg-

nung – und sie sollte verstärkt werden:

die kemalistische Türkei und derjenige

Teil der neuen Turkstaaten, der sich an

diesem Modell orientiert. Wenn eine

sichtbare und wirksame Pflege von Bezie-

hungen einen Sinn macht, dann dort. Es

ist außerordentlich befremdlich, wie

wenig dies, vielleicht unter dem Eindruck

zu kurzfristig ausgerichteter Öl- und

Wirtschaftsinteressen, vor allem die

europäische Politik erkennt. Wie soll man

das Verhalten Deutschlands gegenüber

dem türkischen Vorschlag kommentie-

ren, für die Türkei und die turksprachigen

Länder Asiens eine gemeinsame Begeg-

nungsuniversität in Deutschland, mit

deutscher Unterrichtssprache, zu errich-

ten? Die Anregung ist im föderalen Kom-

petenzdschungel verloren gegangen. Sie

blieb in der Sache unbeantwortet, offen-

bar weil Deutschland in der internationa-

len Wissenschaftskooperation gegenü-

ber derartigen Angeboten eine konkur-

renzfreie Position einnimmt, die jederzeit

eine beliebige Auswahl zwischen ver-

schiedenen Optionen erlaubt.

Terror kann und muß im übrigen ein-

deutig definiert werden: Es ist der

gezielte Angriff gegen unschuldige Zivili-

sten, gegen unbewaffnete Männer,

Frauen und Kinder. Für den so definierten

Terror gibt es keine Entschuldigung und

Gefährdung der Zivilisation

25

Terrordefinition und Terrorrelativierung

Page 28: perspektive21 - Heft 15

keine Rechtfertigung. Er muß als Mord

verfolgt werden, wie jeder andere Mord.

Auch das Motiv der „Befreiung“ rechtfer-

tigt einen Mord nicht; es führt ebenso-

wenig zu mildernden Umständen. Es ist

einer der vorwerfbaren Beiträge zur Ter-

rorförderung vor allem aus Westeuropa,

übrigens auch nach dem 11. September,

wenn ein Terroranschlag mit dem Hin-

weis auf angebliche oder tatsächliche

Befreiungszielsetzungen gerechtfertigt

oder seine Verurteilung relativiert wird.

Wenn Krieg und Unterdrückung, am Aus-

maß der Schäden und des Unrechts

gemessen, Terrorakte rechtfertigen soll-

ten, müßten die Aufständischen im Süd-

sudan und im irakischen Kurdistan, die

verfolgten Minderheiten im Iran oder in

Pakistan, die Muslime im indischen Teil

Kaschmirs, die Uiguren und die Tibeter in

China, die Kabylen in Algerien oder die

Papua-Bevölkerung im indonesischen Teil

Neuguineas schon längst zu Terrormit-

teln gegriffen und die Hochhäuser in

Europa und Nordamerika in Schutt und

Asche gelegt haben.

Die genannten Beispiele machen zwei

Aspekte deutlich: Es geht bei der Erschei-

nung und der Verbreitung des Terrors

nicht um „Elend“,Hunger,Unterdrückung

oder Befreiung, sondern um eine Frage

der Konfliktregeln, um die Frage nämlich,

ob der Zweck, eine wie auch immer defi-

nierte heilige Sache oder ein heiliger,

gerechter Krieg, jedwede inhumane Art

der Gewaltanwendung gegen unschul-

dige Unbewaffnete rechtfertigt. Wer, so

die zweite Schlußfolgerung,Terror recht-

fertigt oder relativiert, bewegt sich auf

abschüssiger Bahn,die nur zu mehr Terror

führen kann.

Wer, wie z.B. im vergangenen Jahr der

britische und der französische Außenmi-

nister, Terrorakte palästinensischer Ara-

ber mit der Bemerkung „differenziert“

bewertet, dass dieser Terror, anders als

die Anschläge des 11. Septembers, durch

das gerechtfertigte Ziel der nationalen

Befreiung motiviert sei, öffnet damit ein

weites Tor. Was hätte etwa die Deut-

schen, am moralischen Maßstab derarti-

ger Erklärungen gemessen, im Rückblick

daran hindern sollen, nach 1945 ihre

über 12 Millionen Flüchtlinge (im

Westen) – wie die arabischen Staaten

nach 1948 einen großen Teil der etwa

700 000 arabischen Flüchtlinge aus

Israel – in Lagern festzuhalten, auf eine

starke Vermehrung und später auf Ter-

roranschläge zur Wiedergewinnung der

verlorenen Gebiete, im Falle Deutsch-

lands der früheren Ostgebiete und des

Sudetenlandes, zu setzen? Bei einer

angenommenen hohen Geburtenrate,

die ungefähr der palästinensisch-arabi-

schen entspricht, stellten nach diesem

Modell die Sudetendeutschen heute in

Tschechien die Bevölkerungsmehrheit,

wenn sie ein Recht auf Rückkehr wahr-

nehmen könnten.

Klaus Faber

26

Page 29: perspektive21 - Heft 15

Hätte, um den Gedankengang zur Ter-

rorrelativierung an einem anderen Bei-

spiel weiterzuführen, nach dem Vorbild

der Flüchtlingspolitik der Arabischen Liga

nicht auch Israel seine jüdischen Flücht-

linge aus orientalischen Ländern ohne

Integrationsangebot in Lagern zusam-

menfassen können, um nach einer ent-

sprechenden Vermehrung dieser Bevöl-

kerungsgruppe notfalls mit Terror durch-

zusetzende Territorialansprüche zu ver-

folgen? In der Dimension entspricht die

arabisch-palästinensische Flüchtlings-

gruppe ungefähr derjenigen der jüdi-

schen Einwanderer orientalischer Her-

kunft in Israel, denen zu einem großen

Teil die Flüchtlingsqualität kaum abge-

sprochen werden kann. Bezieht man in

eine fiktive Landverteilung, die sich an

der jeweiligen Bevölkerungszahl orien-

tiert, die wichtigsten Herkunftsländer

dieser jüdischen Flüchtlinge ein, müßte

Israel (selbst wenn die besetzten Gebiete

mitgerechnet werden) um ein Vielfaches

größer sein, als es heute ist – und zwar

unabhängig davon, ob eine derartige

Ausgleichsrechnung nur arabisch-islami-

sche oder darüber hinaus weitere islami-

sche Herkunftsstaaten berücksichtigt.

Die Bewertungsansätze für den aktuel-

len arabisch-israelischen Territorialstreit

sind – selbstverständlich – alle zwischen

den Konfliktparteien umstritten, wie in

anderen vergleichbaren Auseinanderset-

zungen auch. Man kann der Überlegung,

die Herkunftsregionen von Flüchtlingen

einzubeziehen, allerdings nicht entge-

genhalten, nur die Gebiete nach den jetzt

geltenden Grenzen im engeren Konflik-

traum seien für eine Beurteilung maß-

geblich oder – noch weiter gehend – nur

Bevölkerungsmehrheiten, niemals Min-

derheiten verfügten über territoriale

Rechte. Eine derartige Position würde

ausblenden, dass der Mehrheits- oder

Minderheitsstatus einer Bevölkerungs-

gruppe selbst von der jeweiligen Grenz-

ziehung abhängt. Nicht beachtet würde

dabei ebenso, dass die uns heute

bekannte Territorialaufgliederung erst

nach dem 1. Weltkrieg oder später ent-

standen ist und die Wanderungsbewe-

gungen vor oder nach diesem Zeitpunkt

auch auf der Seite der Muslime sich kei-

nesfalls auf das Mandatsgebiet „Palä-

stina“ beschränkten, das Großbritannien

in den zwanziger Jahren um Transjorda-

nien (heute: Jordanien) reduziert hatte.

Für die Zeit des Osmanischen Reiches

zeigt dies etwa die nicht-arabische Ein-

wanderung von muslimischen Tscherkes-

sen oder Bosniern nach dem heutigen

Israel. Eine genauere Würdigung der

Migrationsvorgänge muß zudem den

Aspekt berücksichtigen, dass die jüdische

Einwanderung die Attraktivität des Terri-

toriums auch für arabische Muslime aus

anderen Regionen erhöht hat. Allein der

zuletzt genannte Umstand macht deut-

lich, dass eine schnelle, undifferenzierte

Gefährdung der Zivilisation

27

Page 30: perspektive21 - Heft 15

Parteinahme – in den europäischen

Medien in der jüngsten Zeit häufig im

antiisraelischen Sinne – den komplexen

historischen Abläufen kaum gerecht wer-

den kann.

Pro-Kopf-Berechnungen zur Raumauf-

teilung, wie die hier für bestimmte

Flüchtlingsgruppen erwähnten, spielen

übrigens in der politischen Argumenta-

tion zu anderen internationalen Konflik-

ten, in denen ein Territorialstreit zu lösen

ist, z.B. in Zypern, durchaus eine Rolle. Soll

in diesem Zusammenhang ernsthaft die

These vertreten und verfolgt werden,

über die Terrorbewertung entscheide in

derartigen Fällen eine Abwägung zwi-

schen konkurrierenden Land- und Moral-

ansprüchen, deren mögliche Komplexität

am Beispiel des Nahostkonflikts darge-

stellt wurde? Was sollte, um über den

Nahen Osten hinaus weitere Konstella-

tionen aufzugreifen, bei einer derartigen,

„differenzierenden“ Abwägungsposition

zum Terror die korsischen, baskischen,

schottischen, armenischen, Südtiroler

oder Kaschmir-Nationalisten daran hin-

dern, Terrorakte zu begehen oder zu ver-

stärken, für das Ziel der „Befreiung“ oder

im Kampf um verlorene Gebiete? Könn-

ten sich nicht auch jüdische Nationali-

sten zu Terroranschlägen gegen westeu-

ropäische Länder aufgefordert fühlen,

um der zu einseitig antiisraelischen Poli-

tik und der ihrer Auffassung nach damit

verbundenen Gefahr für Israel entgegen-

zuwirken?

Es gibt nur eine Antwort auf derar-

tige, nicht in allen Fällen ausschließlich

hypothetisch zu stellende Fragen: Kon-

sequenz und Konsistenz in der Ableh-

nung jedweder Form des Terrors, ohne

Relativierung, ohne Zubilligung mil-

dernder Umstände. Terror darf sich

politisch nicht lohnen; er muß der

deklarierten politischen Absicht viel-

mehr schaden, weil er sie diskreditiert

– so sollte die unmißverständliche Bot-

schaft an die Terroristen und ihre

Unterstützer lauten. Es ist leicht zu

erkennen, dass die europäische Politik

diesen Maximen in vielen Fällen noch

nicht entspricht.

Der Westen, in diesem Fall Europa und

Nordamerika, haben im Umgang mit

einem entfernt vergleichbaren Problem

bereits eine historische Erfahrung gewin-

nen können. Der Piraterie begegneten die

europäisch-amerikanischen Seemächte

anfangs ohne einheitliche Abwehrstrate-

gie. Die Seeräuberei hatte einen territo-

Klaus Faber

28

Historische Erfahrung und aktuelle Priorität:Durchsetzung humaner Konfliktführungsregeln

Page 31: perspektive21 - Heft 15

rialen Schwerpunkt in den Seehäfen Nor-

dafrikas. Sie ging zu einem beachtlichen

Teil auf einen im Motiv nachvollziehba-

ren muslimischen Rachefeldzug nach der

Vertreibung aus Spanien zurück. Die

muslimischen Piraten definierten ihre

Überfälle als „Dschihad“. Infolgedessen

konnten die im Dschihad gefangenen

Ungläubigen als Sklaven verkauft wer-

den. Überwunden wurde die bis in die

erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beste-

hende Gefahr der muslimischen Piraterie

erst, nachdem die zuvor übliche Politik

der gesonderten Duldungsvereinbarun-

gen mit den Seeräuberstaaten Nordafri-

kas aufgegeben und die nicht-muslimi-

schen Seemächte zu einer konsequenten

Bestrafung und Verfolgung der Piraterie

übergingen. Die Verfolgung bezog sich

dabei auch auf die Schutzhäfen der See-

räuber. Amerikanische Seestreitkräfte

haben deshalb im 19. Jahrhundert die

damals nominell türkische Festung Tripo-

lis erobert und zerstört.

Wechselnde Bündnisse auch unter Ein-

beziehung von Seeräuberschutzstaaten

hatte es im Kampf gegen die Piraterie in

der Anfangsphase gegeben, in der aber

Seeverbindungen unsicher blieben, weil

es auf diese Weise nicht gelang, die See-

räuber auszuschalten. Vor diesem Hinter-

grund spielte noch im 19. Jahrhundert, in

der Zeit der von Schweden und dem Wie-

ner Kongreß erzwungenen Union zwi-

schen Schweden und Norwegen, in den

internen schwedisch-norwegischen Aus-

einandersetzungen das Argument eine

Rolle, die norwegische Flagge dürfe auf

hoher See nicht gezeigt werden, da nur

die schwedischen Farben durch Verträge

mit nordafrikanischen Staaten vor Pirate-

rie geschützt seien. Das Osmanische

Reich, abgesehen von Marokko nominell

Oberherr über alle nordafrikanischen

Gebiete, duldete mehr oder weniger die

im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer

deutlicher greifenden europäisch-ameri-

kanischen Gegenmaßnahmen, obwohl

sich z.B. die Verfolgung der Piraten, wie

der Tripolis-Fall zeigt, nicht selten auf sei-

nem Territorium abspielte.

In manchem erinnern diese Vorgänge

an den aktuellen Antiterrorkampf. Bei

allen Unterschieden, die u.a. darin zu

erkennen sind, dass es damals, anders als

heute, keine Islam-Renaissance (auch im

Sinne der Radikalisierung) gab, bestehen

unter einem bestimmten Gesichtspunkt

doch deutliche Parallelen zwischen Terror

und Piraterie: Es geht in beiden Fällen um

die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung

von Minimalanforderungen, die für die

Gewaltanwendung gegen zivile Perso-

nen oder Institutionen und darüber hin-

aus für jede Gewaltanwendung bei

militärischen oder vergleichbaren Opera-

tionen gelten. Das Kriegsvölkerrecht, das

derartige Regeln enthält, ist im wesentli-

chen ein in langen Konfliktzeiten zwi-

schen Christenstaaten entwickeltes

Gefährdung der Zivilisation

29

Page 32: perspektive21 - Heft 15

System, dem sich später, nolens volens,

auch islamische oder andere nicht-christ-

liche Staaten anschlossen. Das gleiche

gilt für völkerrechtliche Regeln zur See-

fahrt oder zur maritimen Kriegführung.

Der Islam kannte auf diesem Gebiet

ursprünglich eigene Regelungen, z.B. den

Grundsatz der Schonung einer befestig-

ten Stadt bei unverzüglicher Übergabe

oder auch die erwähnte Regelung, im

Glaubenskrieg gefangene Ungläubige als

Sklaven behandeln zu dürfen – in der Pra-

xis eine wirksame Motivationsförderung

für den Glaubenskrieg. Derartige Vor-

schriften und Praktiken gab es übrigens

früher ebenso in der Christenwelt. Die

Kriegsgaleeren der Malteserritter verfüg-

ten noch im 18. Jahrhundert über Ruder-

mannschaften aus muslimischen Skla-

ven, die bei Überfällen auf muslimische

Schiffe oder Stützpunkte in Gefangen-

schaft geraten waren.

Im innerchristlichen Kriegsvölkerrecht

konnte ein wesentlicher Fortschritt erst

erreicht werden, nachdem sich – müh-

sam – die Erkenntnis durchgesetzt hatte,

dass derartige Regelungen bei der

Behandlung der gegnerischen Soldaten

und Zivilisten nicht darauf abheben durf-

ten, ob ein Krieg „gerecht“ oder „unge-

recht“ sei,was ursprünglich die allgemein

vertretene Position gewesen war. Wie die

Erfahrung zeigte, war es nicht schwer,

trotz einiger Glaubens- und Regelungsin-

stanzen mit verhältnismäßig hoher

Autorität, die jeweils eigene Sache auch

unter christlichen Streitpartnern als

gerecht zu definieren, notfalls unter

Infragestellung der Befugnisse derjeni-

gen, die anderer Auffassung waren. Die

innerchristlichen Glaubenskriege er-

schütterten auf diesem Gebiet ohnedies

die Autorität der religiös-politischen Ein-

richtungen.

Eine auch nur annähernd vergleichbare

Entwicklung wie in der Christenwelt, die

dort letztlich in die Aufklärung und in die

Säkularisierung einmündete, gab es im

Islam nicht. Die Tendenz zur Humanisie-

rung des innerchristlichen Kriegsrechts,

vor allem zugunsten von Zivilisten, fand

im Islam, trotz einiger dahingehender

Ansätze in der älteren Tradition, keine

Entsprechung.

Wir sind zur Zeit Zeugen eines zivilisa-

torischen Rückschritts in der globalen

Debatte über die Regeln zur Konflikt-

führung. Es geht dabei nicht um die neu-

erdings wieder erörterte Frage, ob es

überhaupt gerechtfertigte oder gerechte

Kriege gebe. Gewaltanwendung und

Kriegführung können gerechtfertigt sein,

was man gerade in Deutschland im Rück-

blick auf den Krieg der Anti-Hitler-Koali-

tion oder den Warschauer Ghettoauf-

stand nicht vergessen sollte. Der proble-

matische Aspekt der Debatte wird viel-

mehr in Forderungen sichtbar, eine

besondere Form des „gerechten“ Kriegs

anzuerkennen – heute meist als „Befrei-

Klaus Faber

30

Page 33: perspektive21 - Heft 15

ungskrieg“ oder „Krieg gegen die Besat-

zung“ apostrophiert, die eine Streitseite

in der Kampfführung privilegieren und

sie z.B. vom Terrorismusverbot befreien

soll. Entsprechende Diskussionsbeiträge

gibt es auf allen Ebenen der Politik, ange-

fangen von den Vereinten Nationen über

europäische Gremien bis hin zu Organi-

sationen, die sich mit Menschenrechts-

fragen befassen.

In die Verhandlungen innerhalb der

Vereinten Nationen über eine Antiterror-

Konvention haben islamische Staaten

nach dem 11. September den Vorschlag

eingebracht,Widerstand in einem antiko-

lonialen Befreiungskrieg oder Gewaltan-

wendung gegen eine Besatzungsmacht

generell nicht als „Terror“ zu definieren,

dort also Terror zu rechtfertigen. In derar-

tigen Positionen wird der historische

Rückfall in der internationalen Diskussion

besonders deutlich. Der schleichende

Erosionsprozess wurde auch dadurch

gefördert, dass eklatante Verstöße gegen

das Völkerrecht weder von den Vereinten

Nationen noch von der westlichen Staa-

tengemeinschaft wirksam geahndet und

noch nicht einmal von der westlichen

Öffentlichkeit eindeutig genug verurteilt

wurden. Als Beispiele sind dafür die

Gefangennahme von Angehörigen der

amerikanischen Botschaft in Teheran

durch vom Iran gesteuerte Milizen oder

der Giftgaskrieg des Iraks gegen kurdi-

sche Dörfer und den iranischen Feind zu

nennen. Es ist allgemein bekannt, dass

der Irak in der Produktion von unkonven-

tionellen, völkerrechtlich verbotenen

Waffen auch durch Firmen aus dem

westlichen Ausland unterstützt wurde.

Wenn sich die Tendenzen zur Umwer-

tung von Völkerrecht und zur Duldung

von Völkerrechtsverstößen durchsetzen

könnten, müßte die Kampfebene konse-

quenterweise auf den Streit um die

„Gerechtigkeit“ eines Krieges verlagert

werden. Auch mit Blick auf die Mehr-

heitsverhältnisse in der UN-Vollver-

sammlung mögen sich einige Streitbetei-

ligte,darunter solche aus dem arabischen

und islamischen Kreis, aus der Ebenen-

verlagerung vielleicht Vorteile verspre-

chen. Aber ein derartiges Kalkül beruht

auf sehr zweifelhaften Grundlagen.

Kriegs- und Konfliktführungsregeln, die

eine Seite begünstigen, haben selten

über längere Zeit Bestand gehabt. Wer

mit Terror und mit Massenvernichtungs-

mitteln droht und beides auch einsetzen

will, müßte sich darüber im klaren sein,

dass er damit auf die Dauer zwangsläufig

die Regeln ändern wird, die seine Kon-

fliktgegner ihm gegenüber anwenden.

Es liegt, von allen denkbaren, der ratio-

nalen Argumentation zugänglichen

Ansätzen her gesehen, für alle Staaten

und für alle Kulturkreise, den westli-

chen, denjenigen des Islam und

andere, nahe, zu den ursprünglichen

gewaltbegrenzenden Vereinbarungen

Gefährdung der Zivilisation

31

Page 34: perspektive21 - Heft 15

zurückzukehren. Ein wesentlicher Kern

dieser Regelungen betrifft den Schutz

der Zivilisten. Aber auch der Schutz von

Gefangenen und die Einhaltung

bestimmter Minimalvorschriften im

bewaffneten Kampf sind in diesem

Zusammenhang wichtig. Wer diese

Regeln verletzt, darf sich nicht dadurch

rechtfertigen können, dass er behaup-

tet, für das bessere Lager und eine

gerechte Sache zu kämpfen. Die damit

beschriebene Grundposition muss

zunächst auf der Seite der vom Terror

Angegriffenen, also der demokrati-

schen Staaten, vereinbart und durch-

gesetzt werden – dann auch bei ande-

ren. Wer diese Position nicht teilt, kann

kein zuverlässiger Verbündeter im

Kampf gegen den Terror und, positiv,

für die Menschenrechte sein.

Hitler, so ein vor kurzem zu hörendes

Argument, konnte nur durch eine Koali-

tion besiegt werden, an der sich, was

Demokratie und Menschenrechte anbe-

langt, höchst unterschiedlich legiti-

mierte Partner beteiligten. Churchill hat

denselben Gedanken nach Hitlers Über-

fall auf die Sowjetunion und deren

Kriegseintritt drastischer ausgedrückt:

Gegen Hitler würde er sich selbst mit

dem Teufel verbünden. Von ihm stammt

übrigens auch die Maxime zur Krieg-

führung, dass der Angreifer am Ende kei-

nen Vorteil dadurch erlangen dürfe, dass

er skrupelloser als der Verteidiger die

Kriegsregeln bricht. Churchill hat damit

das Gegenseitigkeitsprinzip beschrie-

ben, auf dem jede internationale Verein-

barung beruht.

In der Tat kann ernsthaft kaum etwas

gegen die Absicht eingewandt werden,

im Kampf gegen den Terror und gegen

den Terror begünstigende Staaten auch

zeitlich begrenzte, taktisch motivierte

Bündnisse einzugehen. Selbstverständ-

lich ist es ebenso richtig, dabei insbeson-

dere islamische Partner, soweit gerade

noch vertretbar, einzubeziehen. Der Islam

läßt, wie nicht nur das türkische Beispiel

belegt, unterschiedliche Interpretationen

zu. Dazu gehören auch Verständnisvari-

anten, die mit den Regeln des demokrati-

schen Verfassungsstaates und für ein

Zusammenleben unterschiedlicher Glau-

bensgemeinschaften sowie der Staaten

vereinbar sind, wie z.B. Bassam Tibi, ein

deutscher, in Syrien geborener muslimi-

scher Professor aus einer alten Damasze-

ner Familie, nicht müde wird, zu Recht zu

betonen. Wäre die Position der Regierun-

gen in einer ganzen Reihe von islami-

schen Staaten nur eindeutig genug – und

Klaus Faber

32

Westliche Fehleinschätzungen

Page 35: perspektive21 - Heft 15

eindeutig genug legitimiert, könnten

diese Interpretationsvarianten dort ohne

weiteres, wie dies etwa in der Türkei der

Fall ist, den Hauptstrom des islamischen

Selbstverständnisses bilden. Bassam Tibi

sagt allerdings auch mit großer Klarheit –

und er war mit dieser Erklärung vor dem

11. September ein ziemlich einsamer

Rufer, dass z.B. die deutschen Behörden,

aber auch diejenigen anderer europäi-

scher Länder die Gefahren des „Islamis-

mus“ sträflich unterschätzt hätten. Nicht

ohne Grund werde Deutschland von isla-

mistischen Terroristen als Ruhe- und Vor-

bereitungsraum sehr geschätzt und des-

halb, sozusagen als Gegenleistung, bis-

lang auch weitgehend verschont.

Bassam Tibi hat übrigens vor kurzem

die Teilnahme an einer Wiener Ge-

sprächsrunde abgelehnt, die unter der

Überschrift „Feindbild Islam“ über aktu-

elle Fragen diskutieren wollte. Es müsse,

so seine Begründung, nach dem 11. Sep-

tember zunächst einmal über das im

Islam verbreitete „Feindbild Westen“

gesprochen werden – zumindest aber

über beide Feindbildvarianten. Unter

anderen Gesichtspunkten zeichnet sich

seine Auffassung ebenso durch eine

deutliche Distanz zu Positionen aus, die

in der Publizistik und in den Medien viel-

fach vertreten werden. Er habe sich als

Deutscher und für Deutschland

geschämt, als er nach der Rückkehr aus

Usbekistan, wo nach den Anschlägen

vom 11. September Sympathie für die

USA. das öffentliche Klima prägte, dem

hierzulande um sich greifenden Antia-

merikanismus begegnet war. Auch im

deutschen „Dialog“ zwischen Vertretern

des Christentums und des Islam gebe es

merkwürdige Aspekte. Manche der

Islamvertreter werfen bei dieser Gelegen-

heit den Christen und insgesamt dem

Westen die „Kreuzzüge“ und den „Koloni-

alismus“ als historische Fehlleistungen

vor – und erhalten dafür, so Tibi, von eini-

gen christlichen Gesprächsteilnehmern

ohne Vorbehalt oder Einschränkung die

gewünschte Entschuldigungserklärung.

Die Dschihadkriege des Islam, die nicht

weniger grausam oder vorwerfbar waren

als die Kreuzzüge, oder die muslimische

Herrschaft über Christenvölker etwa im

Balkan werden nach Tibis Schilderung

von der christlichen Seite offenbar nicht

in eine derartige Debatte eingeführt. Für

den historischen Vergleich könnten in

diesem Zusammenhang der türkische

Bericht über den Verlauf der letzten Bela-

gerung Wiens im Jahre 1683 und die darin

enthaltene Beschreibung der Feinde, der

Verteidiger Wiens, aufschlußreich sein.

Derartige Dokumente lassen erkennen,

dass sich bei einer Einnahme Wiens das

Schicksal seiner Bewohner wohl nicht

wesentlich von demjenigen der muslimi-

schen und jüdischen Bevölkerung Jerusa-

lems nach der Eroberung der Stadt durch

die Kreuzritter unterschieden hätte.

Gefährdung der Zivilisation

33

Page 36: perspektive21 - Heft 15

Vom Angriff freikaufen, wie in der

frühen Piratenzeit, können sich die

europäischen Länder heute jedenfalls

nicht mehr. Allzu lange schon besteht der

Verdacht, europäische Länder hätte

Absprachen mit arabischen Terrororgani-

sationen dahingehend getroffen, sie, die

Organisationen, nicht weiter zu behelli-

gen, wenn sich die Anschläge nicht

gegen die betroffenen europäischen

Staaten selbst oder ihre Nachbarländer,

sondern gegen andere, z.B. gegen Israel,

richteten. Die erstaunlich schnell abge-

wickelte Freipressung von arabischen

Attentätern, die mehrere Mitglieder der

israelischen Mannschaft auf der Münch-

ner Olympiade von 1972 ermordet hatten,

hat immer wieder Spekulationen begün-

stigt, der arabischen Seite, auch der PLO

Arafats, sei damals signalisiert worden,

bei einer künftigen Flugzeugentführung

werde es rasch zu einem Austausch der

Geiseln mit den in Haft befindlichen

Attentätern kommen. Zu dieser Interpre-

tation passen die Worte des damaligen

Sprechers der Bundesregierung zu den

Vorgängen um den Münchner Anschlag,

Deutschland befinde sich, anders als

Israel, nicht im Kriegszustand mit den

Arabern.

Man kann derartige Positionen qualifi-

zieren, wie man will, sie sollten in unse-

rem eigenen Interesse – und in demjeni-

gen der islamischen Länder – nach dem

11. September nicht mehr vertretbar sein.

Vergleichbare Grenzen sind auch bei der

Bildung internationaler Koalitionen zu

ziehen.Abkehr vom Terrorismus ist zu för-

dern, aber sie kann z.B. nicht Straffreiheit

für begangene Massenmorde einsch-

ließen. Länder, die Verfügungsgewalt

über Massenvernichtungsmittel erhalten

wollen und nach wie vor in Reden und

Taten den „guten“, gegen ihre Feinde

gerichteten Terrorismus fördern, haben

auch in einer breiten Antiterror-Koalition

nichts zu suchen. Sie untergraben die

Glaubwürdigkeit eines derartigen Bünd-

nisses und auch des Koalitionsanliegens

selbst. Multilateralismus ist dem Ansatz

nach ein vernünftiges Prinzip; es dient

u.a. dazu, weniger bedeutende Mächte,

wie etwa die europäischen Staaten, an

der internationalen Willensbildung zu

beteiligen. Jeder Grundsatz kennt aber

seine Grenzen. Beim Multilateralismus in

der Terrorbekämpfung werden sie in der

allzu sorglosen Einbeziehung von Bünd-

nispartnern oder auch in den Abstim-

mungsergebnissen der UN-Vollver-

Klaus Faber

34

Minimalforderungen an Konsistenz und Glaubwürdigkeit der eigenen Position

Page 37: perspektive21 - Heft 15

sammlung zum „Terror“ erkennbar, der

dort in höchst unterschiedlicher, zum Teil

unakzeptabler Weise definiert wird.

Beispiele für nicht akzeptable Bünd-

nispartner sind der Iran und das auch von

Deutschland umworbene Syrien, dessen

Außenminister vor kurzem in einem Pres-

segespräch die bislang von seinem Land

eingeschlagene Linie gegenüber den dort

ansässigen Terrororganisationen bestä-

tigt hat. Syrien, so der Außenminister

eines Landes, das im Oktober dieses Jah-

res von der überwältigenden Mehrheit

der UN-Vollversammlung zum nicht-

ständigen Mitglied des Sicherheitsrates

gewählt worden ist, unterstütze die Posi-

tion der radikalen Palästinenser. In der

ersten Phase gehe es darum, Israel dazu

zu zwingen, zu den Grenzen vor dem

Sechs-Tage-Krieg von 1967 zurückzukeh-

ren, der mit der Sperrung der Meerenge

von Tiran durch ägyptische Artillerie

begonnen hatte. Danach setze die zweite

Phase ein, die Auflösung Israels, so der

Außenminister. Auf der Regionalkarte der

offiziellen Website der Syrischen Arabi-

schen Republik steht an der Stelle Israels

konsequenterweise jetzt schon „Palä-

stina“. Derartige und vergleichbare Posi-

tionen anderer Staaten oder Verhand-

lungspartner schränken übrigens die

Konzessionsbereitschaft Israels notwen-

digerweise ein – die dieses Land während

der Friedensverhandlungen unter Clin-

tons Leitung in einem Maß gezeigt hat,

das die meisten nicht erwartet hatten.

Man muß in diesem Zusammenhang

berücksichtigen, dass die palästinensi-

sche Autonomiebehörde ihre Existenz,

ihren Territorialbesitz und die Verfü-

gungsmacht über Waffen ausschließlich

Vereinbarungen mit Israel verdankt. Die

durch Israel erhaltenen Machtmittel wer-

den, unter Verletzung ausdrücklich for-

mulierter Vertragsregelungen, häufig

dazu benutzt, Attentate und Terrorakte

gegen Israel, gegen seine Bürger und Sol-

daten, durchzuführen. Auch wenn deren

Ausführung vom palästinensisch kontrol-

lierten Territorium aus nur geduldet oder

nicht verhindert wird und vor allem wenn

in dieses Gebiet Waffen, darunter Mörser

oder Raketen, geschmuggelt werden, ver-

stößt dies gegen die Abmachungen. Vor

diesem Hintergrund sind israelische

Zweifel nachzuvollziehen, ob in einem

derartigen Vorgehen nicht ein Phasen-

plan nach dem syrischen Modell zu

erkennen ist. Es wäre vor allem die Auf-

gabe westlicher Politiker, um ihrer eige-

nen Glaubwürdigkeit willen der arabi-

schen Seite öffentlich wahrnehmbar

deutlich zu machen, dass man nicht Ver-

einbarungen mit Israel über eine ara-

bisch-palästinensische Staatlichkeit for-

dern und gleichzeitig früher geschlos-

sene Verträge mit Israel regelmäßig bre-

chen kann. Stattdessen hören wir vor

allem von europäischen Politikern und

Medien nach neuen Terroranschlägen

Gefährdung der Zivilisation

35

Page 38: perspektive21 - Heft 15

häufig unverbindliche und folgenlose

Empfehlungen, nicht „an der Gewaltspi-

rale weiter zu drehen.“

Zum Opportunismus neigende Euro-

päer oder Amerikaner sollten sich überle-

gen, welche weitergehenden Zielsetzun-

gen am Ende eines Etappenmodells nach

dem syrischen Muster stehen könnten –

Opportunisten jeder Observanz neigen

freilich nicht dazu, sich derartige Gedan-

ken zu machen. Sie wägen viel lieber ab,

ob es sich lohne, für ferne Menschen oder

Regionen zu sterben, wie etwa für die

polnischen Rechte im früher halbautono-

men, nahezu ausschließlich von Deut-

schen bevölkerten Danzig, wie es man-

che Franzosen am Ende der dreißiger

Jahre formulierten. Von denjenigen, an

die sie sich kritisch und warnend richtet,

wird eine klare Sprache nach innen und

nach außen häufig überraschend gut ver-

standen. Diese Erfahrung könnte wahr-

scheinlich auch mit der Einstellung eini-

ger hier anzusprechender islamischer

Regierungen und mit der Reaktion der

Bevölkerung in deren Staaten gemacht

werden. Wenig wird demgegenüber so

leicht durchschaut wie eine Beschwichti-

gungsgeste.

Versäumnisse und Fehler auf diesem

Gebiet werden, wie wir jetzt wissen, Fol-

gen haben. Massenvernichtungsmittel

(im engeren Sinne) sind bislang noch

nicht verwandt worden, auch wenn wir

die Ermordung von über 3.000 Men-

schen in den USA. mit dem Wort

„Anschlag“ kaum zutreffend beschreiben

können. Ob wir ihren Einsatz in unseren

Städten erleben werden, hängt vor allem

von dem Ergebnis der von den Amerika-

nern und Europäern jetzt eingeleiteten

Gegenmaßnahmen ab. Die Glaubwür-

digkeit der eigenen Position und die Kon-

sistenz des politischen Handelns – bei der

Verteidigung unserer, der globalen Zivili-

sation – spielen dabei eine entschei-

dende Rolle – was Anlaß zu der ersten

Einschätzung gibt, dass nicht alles zum

Besten steht im europäischen Land.

(Aktualisierte Fassung einer

Veröffentlichung in perspektiven ds,

Marburg 2001, Heft 4, S. 8 bis 29)

Klaus Faber

36

Page 39: perspektive21 - Heft 15

Literatur:

Laqueur, Walter, Terrorism, London 1977; deutsch: Terrorismus, Kronberg/Ts. 1977

Lewis, Bernard, The Muslim Discovery of Europe, New York 1982; deutsch:

Die Welt der Ungläubigen. Wie der Islam Europa entdeckte, Frankfurt/M. 1983

ders., Semites and Anti-Semites. An Inquiry into Conflict and Prejudice, New York

1986

Tibi, Bassam, The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New

World Disorder, Berkeley/Cal. 1998; deutsch: Die neue Weltunordnung: westliche

Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin 1999

Faber, Klaus, Globalisierung – nur ein anderes Wort für Verwestlichung? in: Die

Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Heft 5 Mai 2000, S. 274ff.

ders., Drei Ringe. Der religiöse Faktor in den internationalen Beziehungen, in: Die

Neue Geselllschaft/Fankfurter Hefte, Heft 7/8 Juli/August 2001, S. 431 ff.

ders., Grundregeln einer künftigen Weltordnung, in: Die Neue Gesellschaft/

Frankfurter Hefte, Heft 11 November 2001, S. 663 ff.

Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam. Studium der Rechtswissenschaft in Saarbrücken und

Heidelberg, Studium orientalischer Sprachen. Klaus Faber ist Geschäftsführender

Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und

Mecklenburg-Vorpommern. Er war von 1994 bis 1999 Staatssekretär des

Kultusministeriums von Sachsen-Anhalt und von 1990 bis 1994 als Abteilungsleiter des

zuständigen Landesministeriums in Brandenburg für Wissenschaft und Forschung

verantwortlich. Er ist Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des Moses-Mendelssohn-Zen-

trums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und des Berlin-Bran-

denburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Genshagen.

Gefährdung der Zivilisation

37

Page 40: perspektive21 - Heft 15
Page 41: perspektive21 - Heft 15

Der religiöse Fundamentalismus tritt

in allen Religionen als ein Produkt der

fehlenden Bewältigung der Moderne

hervor.Beide Begriffe,Fundamentalismus

und Moderne, sind bisher gleichermaßen

von den Medien und von Laien-Wissen-

schaftlern – also von solchen, die über

keine der beiden Thematiken gearbeitet

haben – über Gebühr strapaziert worden,

so dass mancher vorgeschlagen hat,

gänzlich auf sie zu verzichten. Das kann

wohl nicht die richtige Lösung sein; diese

besteht eher darin, an der Verwendung

bei inhaltlich zugleich klarer und scharfer

Definition beider Begriffe festzuhalten;

darüber hinaus gilt es, diese Termini stets

in ihren historischen Kontext einzuord-

nen. Ohne diese zentralen Begriffe jedoch

können wir die bestehende Herausforde-

rung an unsere Weltordnung weder ver-

stehen noch angemessen deuten.

Die Moderne hat zwei Aspekte bezie-

hungsweise Dimensionen, eine kulturelle

und eine institutionelle. Jürgen Haber-

mas hat die kulturelle Dimension der

Moderne unter dem Terminus des Sub-

39

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne:Zwischen Islam-Reform,religiöser Orthodoxie und dem islamischen Traum von der halben Moderne

von Bassam Tibi*

* Hinweis der Redaktion:Bassam Tibi hat vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11. September2001 sein erfolgreiches Standardwerk „Die fundamentalistische Herausforde-rung – Der Islam und die Weltpoltitik“ überarbeitet und ein neues Kapitel zumschwarzen 11. September und seinem weltpolitischen Rahmen eingefügt. Wirveröffentlichen hier mit freundlicher Genehmigung des Autors Bassam Tibiund des Verlags C. H. Beck das neue Kapitel.Die aktuelle 3., völlig überarbeitete Auflage erscheint im März 2002; etwa 280Seiten, 12,90 €, ISBN 3-406-47641-4

Page 42: perspektive21 - Heft 15

jektivitätsprinzips zusammengefaßt,1 der

sich mit zwei Inhalten füllen lässt: Der

Mensch ist erstens ein Individuum, also

ein Subjekt, welches sich von religiösen

und ethnischen Kollektiven getrennt hat.

Und zweitens ist er als Subjekt ein erken-

nendes, das heißt er geht bei seiner

Suche nach Wissen von dem Primat der

Vernunft, nicht von Traditionen oder von

der religiösen Offenbarung aus.

Die zweite, institutionelle Dimension

der Moderne erwächst aus der ersten, der

kulturellen. Das Subjektivitätsprinzip

ermöglicht dem Menschen, moderne Wis-

senschaft und Technologie zu entfalten

und die dazugehörigen Institutionen zu

bilden.2 Die kulturelle und institutionelle

Moderne ist in Europa parallel zur Genesis

des Westens als Zivilisation im Zeitraum

von 1500 bis 1800 entstanden; auf dieser

Basis hat die „militärische Revolution“ –

die Erlangung der Instrumente der Welt-

beherrschung – stattgefunden.3 Die Ent-

wicklung steht in enger Verbindung mit

dem Islam insofern, dieser im Rahmen der

Entfaltung seiner Zivilisation das erste

Welteroberungsprojekt in der Geschichte

betrieben hat. Die westliche Globalisie-

rung beendete die islamische Djihad-

Expansion.4 Gleich dem Islam stellt auch

die Religion des Christentums – wie der

Westen als Zivilisation – universelle

Ansprüche. Auf einer ethischen Basis kön-

nen der Islam und das Christentum als

Weltreligionen, die beide als abrahami-

tisch bezeichnet werden, friedlich zuein-

ander finden – dies hat der Theologe

Joseph Kuschel überzeugend nachgewie-

sen.5 Wird Religion aber mit politischen

Ansprüchen verbunden und erhebt sie

sich dann zum Absoluten, findet die

besagte Annäherung nicht statt. Die isla-

mische Zivilisation hatte sich in dem Wett-

kampf zwischen Djihad und Kreuzzug

zuerst als überlegen durchgesetzt.6 Dann

allerdings begann in Europa das Zeitalter

der Moderne, das den Islam zum Verlierer

machte. Die Muslime fingen an, sich nach

dem Grund ihrer durch Rückständigkeit

bedingten Unterlegenheit zu fragen. In

diesem Selbstreflektionsprozeß kristalli-

sierten sich zwei konträre Antworten her-

aus: Zum einen der Wahhabismus als

reaktionärste Deutung des orthodoxen

Islam und zum anderen die Islam-Reform

von Muhammed Abduh und Djamaluldin

al-Afghani.7 Nachdem beide das Dilemma

nicht zu lösen vermochten, entstand nach

einem kurzen säkularen Intermezzo der

Fundamentalismus unserer Zeit.

Bassam Tibi

40

1 Siehe Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985.2 Hierzu die Arbeit von Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990.3 Vgl. Geoffrey Parker, The Military Revolution. The Rise of the West 1500-1800, Cambridge 1988, deutsche Überset-

zung: Die militärische Revolution: Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. 1990.4 Hierzu B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001 mit einem Vorwort

zum 11. September), Kapitel 6 und 7.5 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München 1994.6 Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 4).7 Hierzu B. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, 3. erweiterte Neuaus-

gabe, Frankfurt/M. 1987 (Neudruck 2001).

Page 43: perspektive21 - Heft 15

In Deutschland haben Sozialwissen-

schaftler und Orientalisten gleicher-

maßen jede fachliche Debatte über den

religiösen Fundamentalismus verhindert.8

Diese so wichtige wissenschaftliche Aus-

einandersetzung fand dafür im Rahmen

des internationalen Fundamentalismus-

Projektes der American Academy of Arts

and Sciences statt. Nach dem Ende des

Ost-West-Konfliktes verbreitete sich in der

gesinnungsethischen Publizistik die Weis-

heit, dass der Westen zu seiner Stabilität

stets externe Feinde benötige, und dass

diese Stabilität nun gefährdet sei, wenn

man, nach dem Zusammenbruch des

Kommunismus, keinen Ersatzfeind finden

könne. Publizisten, die dieser merkwürdi-

gen Auffassung waren, meinten, dass der

islamische Fundamentalismus in den

Medien aufgebaut werde, um die ehema-

lige Rolle des Kommunismus für die Stabi-

lisierung des Westens zu übernehmen.

Ebenfalls wird ohne Kenntnis der Tatsa-

chen behauptet, dass anstelle des Ost-

West-Konfliktes nunmehr ein Nord-Süd-

Konflikt treten werde, ausgetragen unter

anderem in der Konfrontation zwischen

dem Westen und der Welt des Islam. Fun-

damentalismus-Kritikern wurde von die-

sen Publizisten vorgeworfen, sie arbeite-

ten an dem Aufbau eines neuen Feindbil-

des für den Westen – des „Feindbildes

Islam“. In diesem Buch wird gezeigt, wie

simpel solche „Weisheiten“ sind, dass der

Fundamentalismus, ebenso wie seinerzeit

der expandierende Kommunismus kein

erfundenes „Gespenst“ der Medien, son-

dern Realität ist. Allerdings distanziert sich

die vorliegende Untersuchung eindeutig

von den Zerrbildern über diesen Gegen-

stand, die bestimmte Panikmacher in den

Medien verbreiten.

Max Horkheimer hat den Stalin’schen

Kommunismus mit dem Hitler’schen

Faschismus verglichen, ohne sich deshalb

die Ideologie des Kalten Krieges zu eigen

zu machen.9 Ähnlich wird in diesem Buch

der totalitäre Fundamentalismus als

Feind von Demokratie und Menschen-

rechten kritisiert, ohne dass es sich des-

halb in die Reihen der Panikmacher und

Populärskribenten über den Islam einord-

net. In diesem Buch wird der totalitäre

Fundamentalismus nicht mit der islami-

schen Offenbarungsreligion und ihrer

großartigen Zivilisation vermengt. Gegen

den Islamismus wird hier ein liberaler

Islam hervorgehoben, der zwar auch die

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

41

8 Vgl. Dieter Senghaas, „Schluß mit der Fundamentalismus-Debatte. Plädoyer für eine Reorientierung des interkultu-rellen Dialogs“, in: Blätter für die deutsche und internationale Politik, Bd. 40 (1995), H. 2, S. 180-191. Dieser Aufrufwurde bestens in der Orientalistik befolgt: ich besitze Gutachten, in denen Orientalisten gegen die Förderung die-ser Forschung auftreten; ich zitiere anonym daraus in meinem Buch: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr fürden Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002).

9 Vgl. Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1968, hierzu Vorwort, Bd. 1, S. XIII.

1. Der islamische Fundamentalismus ist eine Realität, kein Medienprodukt

Page 44: perspektive21 - Heft 15

von Fundamentalisten angeprangerte

Weltordnung bemängelt, sich jedoch mit

der Kritik an Ungerechtigkeiten begnügt

und daher keine Ideologie mit dem Ziel

einer islamischen Weltordnung ist. Vor-

rangig gilt es jedoch zunächst zu klären,

wie der Fundamentalismus im Islam aus

einem gescheiterten islamischen Um-

gang mit den Herausforderungen einer

von der westlichen Moderne dominier-

ten Welt hervorgetreten ist.

Eine sachliche Analyse wird von der

Wahrnehmung des Fundamentalismus als

Schreckgespenst im Journalismus und in

den Massenmedien behindert. Zahlreiche,

durch ihre unübertreffliche Fülle an Sach-

fehlern signifikante Bücherserien sowie

Fernsehreportagen haben breite Teile der

deutschen Öffentlichkeit in dieser Hinsicht

geprägt. Unter islamischen Fundamentali-

sten stellt man sich geistlose, schmutzige

und ungepflegte bärtige Fanatiker vor, die

als Terroristen wirken und die Zivilisation

bedrohen. Nach dem 11. September 2001

spricht ein Orientalist sogar von Söldnern,

offensichtlich ohne zu wissen, dass Neo-

Djihad-Fundamentalisten keine Bezah-

lung erhalten. „Analytiker“, die vom

Mißbrauch der Religion durch Fundamen-

talisten sprechen, vergessen, dass auch

diese praktizierende Muslime sind, das

heißt fünfmal am Tag beten, wozu sie die

rituelle, religiös vorgeschriebene Wa-

schung ihres Körpers vornehmen müssen

– schon allein deshalb können sie nicht

schmutzig sein. Zumindest dürfte es sich

hiernach um Menschen handeln, die strikt

die Kultvorschriften ihrer Religion zur Rein-

haltung des Körpers befolgen. Ob sie darü-

ber hinaus unbedingt zum Mittelalter

zurück wollen – wie einmal der Spiegel in

einer Titelgeschichte vermutete, ist eine

Frage, auf die dieses Buch eine Antwort zu

geben versucht. Vorab sei hier nur ange-

merkt, dass Fundamentalisten keine Tradi-

tionalisten sind; der Gegenstand ist weit

komplexer, als es die verbreiteten Klischees

unterstellen. Fundamentalisten wollen

sich die Errungenschaften des modernen

Zeitalters aneignen, wenngleich sie, wie

wir noch genauer sehen werden, das ratio-

nale mensch-orientierte Weltbild der kul-

turellen Moderne zurückweisen. In diesem

Drang nach einer Synthese von vormoder-

nen religiösen Vorschriften und willkürlich

ausgewählten Elementen der Moderne,

das heißt nach einer Gleichzeitigkeit von

Ungleichzeitigem, liegt das zentrale Pro-

blem der Fundamentalisten; sie wollen

sich die materiellen Güter der Moderne,

nicht aber ihre Weltsicht und ihren Geist

(Pluralismus, religiöse Toleranz und indivi-

duelle Menschenrechte sowie Säkularität

und anderes) aneignen. Es handelt sich um

den Traum von einer halben Moderne.10

Die in den Medien verbreiteten Simplifizie-

Bassam Tibi

42

10 Hierüber vgl. die Einleitung von B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie,Frankfurt/M. 1992 (Neudruck 2001), S. 12-27.

Page 45: perspektive21 - Heft 15

rungen und Irrvorstellungen über den

Islam vermitteln keine angemessenen

Informationen über den Gegenstand,

geschweige denn ein analytisches Bild von

seiner Komplexität.

Zu den intellektuellen Urhebern des

Vorwurfs „Feindbild Islam“ gehört

Edward Said, der den Begriff „TV-Muslim“

geprägt hat. Said hat sich nach dem 11.

September 2001 in einer höchst unquali-

fizierten Weise zu Wort gemeldet, als er

den Fundamentalismus als ein Medien-

produkt darstellte: Die Täter des 11. Sep-

tember 2001 seien ein Haufen „verrückter

Menschen“, die mit dem Islam nichts zu

tun hätten.11 Zwar ist das nicht das Thema

dieses Kapitels, aber uns interessiert der

intellektuell inkonsistente Zusatz von

Said: Die Terroristen des 11. September

2001 seien weder antiwestlich noch

gegen die Moderne; ihre Beherrschung

moderner Technologie – bewiesen durch

die Wahrnehmung der Pilotenfunktion –

zeige dies. An anderer Stelle habe ich

Edward Saids Denken als „postmoderne

Gegenaufklärung“12 bezeichnet, hier

kann es nicht darum gehen, seine Denk-

fehler und Fehlinformationen zu korrigie-

ren. Vielmehr führe ich Said deshalb an,

um die zwei zentralen Ideen dieses Kapi-

tels hervorzuheben: Erstens, der islami-

sche Fundamentalismus, zu dem die al-

Qaida mit ihrem Netzwerk in ca. 60 Län-

dern der Erde gehört, ist eine weltpoliti-

sche Realität. Die Zerstörung der beiden

Türme des World Trade Center als Symbol

des Westens13 war keine Konstruktion im

postmodernen Sinne, die dekonstruiert

werden kann, sondern eine brutale

Objektivität. Und zweitens, islamische

Fundamentalisten sind keine Traditionali-

sten, sondern moderne Menschen, die

sich die institutionelle Moderne in Form

von Wissenschaft und Technologie bei

gleichzeitiger Ablehnung der kulturellen

Moderne aneignen wollen.14

Ebenso wie der Fundamentalis-

mus keine Konstruktion der Medien ist,

ist dieses Phänomen auch kein Produkt

des Ölbooms. Nach dieser Logik hätte es

nämlich keinen islamischen Fundamen-

talismus gegeben und wir wären von den

Auswüchsen dieses religiös-politischen

Phänomens verschont geblieben, wäre

der Ölpreis nicht durch die beiden Ener-

giekrisen von 1973 und 1979 gestiegen

und hätte Saudi-Arabien nicht so viele

Petro-Dollars durch seine Erdölexporte

eingenommen. Es ist zwar eine unbestrit-

tene Tatsache, dass die islamisch legiti-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

43

11 Vgl. Edward Said, „Kampf den Ignoranten“, in: Die Welt vom 20.10.2001 und der Gegenartikel von B. Tibi, „ZwischenSaid und Huntington“, in: Die Welt vom 26.10.2001, S. 8.

12 Vgl. B. Tibi,„Edward Said und die Gegenaufklärung“, in: Der Standard (Wien) vom 10. November 2001, Beilage: Album,S. 3.

13 Zu den beiden Towers vgl. Angus K. Gillespie, The Life of New York City's World Trade Center, New Brunswick/NJ 1999(neu 2001).

14 Hierzu meine in Anm. 10 zitierte Arbeit sowie William M. Watt; Islamic Fundamentalism and Modernity, London1988.

Page 46: perspektive21 - Heft 15

mierte saudische Monarchie die isla-

misch-fundamentalistischen Bewegun-

gen weltweit mit diesen Petro-Dollars

massiv und großzügig unterstützt hat.

Die Vorstellung, der islamische Funda-

mentalismus hänge mit Öl und mit

Petro-Dollars zusammen, wird jedoch

fragwürdig, wenn man nach dem sau-

disch-amerikanischen Bündnis gegen

den Irak während der Golfkrise und dem

Krieg von 1990/91 vernimmt, dass die

meisten fundamentalistischen Bewe-

gungen ihren Gönner, die saudische

Petro-Dollar-Monarchie, mit den USA auf

die gleiche Stufe setzen. Islamische Fun-

damentalisten erklärten Saudi-Arabien

gleichermaßen wie den Amerikanern den

Djihad, obwohl ihre Petro-Dollars emp-

fangenden Führer sie davon abzuhalten

versuchten. Der islamische Fundamenta-

lismus des Osama Bin Laden15 ist aus die-

sem Kontext hervorgegangen. Es sei noch

nebenbei angemerkt, dass die funda-

mentalistische Bewegung nicht allein

auf den Islam beschränkt ist. Den Funda-

mentalismus findet man in den meisten

nicht-westlichen Kulturen als eine anti-

westliche Ideologie beobachten, und

sogar in den USA ist er als ein Aufstand

gegen die Moderne zu beobachten.

Die These, die ich in diesem Abschnitt

entfalte, bezieht sich auf die Einstellun-

gen islamischer Fundamentalisten zur

Moderne16, sowohl bei der Bestimmung

ihrer selbst in bezug auf die eigene Kultur

als auch in der Beziehung zu den Ande-

ren. Der Idealzustand der islamischen

Fundamentalisten ist die islamische Ver-

gangenheit und spezifisch der Ur-Islam

der Propheten; ihre Utopie ist also rück-

wärts gerichtet. Andererseits übersehen

sie aber nicht, dass die islamische Zivilisa-

tion ohne Wissen und Technologie nicht

auskommen kann. Um diese Zusammen-

hänge besser zu verstehen, müssen wir

den islamischen Fundamentalismus als

gesellschaftliche und weltpolitische

Wirklichkeit ernsthaft studieren und ihn

weder als ein Medienprodukt noch als

eine Ausgeburt von Petro-Dollars auffas-

sen;er ist vielmehr ein zeitgeschichtlicher

Ausdruck einer umfassenden Krise in

jenem Teil der Welt, den man von außen

als „Welt des Islam“ bezeichnet und

deren Angehörige sich im Verlauf der

Krise als eine Welt für sich wahrnehmen

Bassam Tibi

44

15 Zu Bin Laden vgl. die Arbeit von Peter Bergen: Heiliger Krieg Inc. Osama Bin Ladens Terrornetz, Berlin 200116 Vgl. B. Tibi, „The Worldview of Sunni Arab Fundamentalists. Attitudes Toward Modern Science and Technology“, in:

Martin Marty/Scott Appleby (Hg.), The Fundamentalism Project. Bd.2: Remaking the World, Chicago 1992, S. 73-102.

2. Islamischer Fundamentalismus als eine rückwärts orientierte Protest-bewegung und die kulturelle Moderne

Page 47: perspektive21 - Heft 15

und sich ghettoisieren. Doch die Bezeich-

nung ist insofern willkürlich, als es eine

„islamische Welt“ als eine Welt für sich

seit der Globalisierung und der hiermit

zusammenhängenden Konfrontation der

Muslime mit dem technisch-wissen-

schaftlich und auch militärisch-technolo-

gisch überlegenen Westen nicht mehr

gibt, obwohl heute der Versuch unter-

nommen wird, sie neu zu formieren. Im

modernen Zeitalter haben die Muslime

den Westen als eine militärisch superiore

Macht kennengelernt. Der Historiker

Geoffrey Parker weist nach, dass der

Westen in der Periode von 1500 bis 1800

seinen Aufstieg als eine Militärmacht

einleitete (vgl. Anm. 3). Sowohl im Golf-

krieg 1991 als auch in dem Krieg gegen

die al-Qaida Bin Ladens im Jahre 2001 hat

der Westen seine Militärmacht zur Schau

gestellt.

Seit der Begegnung mit dem Westen

ist das Gefüge der „islamischen Welt“ auf

allen Ebenen, der politischen, der ökono-

mischen und auch der kulturellen,

zutiefst erschüttert; die Muslime befin-

den sich seither in einer doppelten Krise,

einer Struktur- und einer zivilisatorischen

Identitätskrise. In der anfänglichen Phase

des Aufstieges der westliche Zivilisation

haben die Sultane des Osmanischen Rei-

ches, welche die damalige Welt des Islam

repräsentierten, ihre Emissäre nach

Europa entsandt, um die Ursachen der

europäischen Überlegenheit zu erkun-

den17. Darauf folgten Bemühungen, „die

europäische Armee zu importieren“18.Seit

dem 19. Jahrhundert strömen Muslime

nach Europa, um europäische Wissen-

schaft und Technologie zu studieren. Die

Ergebnisse waren folgenreich: Weder

haben Muslime seither ihre islamische

Tradition in reiner Form erhalten können

noch sind sie in dem Sinne verwestlicht,

dass sie sich in die europäische Moderne,

die sie sich aneignen wollten, einfügen

könnten. Der Fundamentalismus hängt

mit diesem Scheitern einer auch kulturel-

len Verwestlichung beziehungsweise

einer Aneignung der Moderne zusam-

men. In dieser Verlorenheit greifen Mus-

lime, meist Städter, die in der Regel

zumindest über ein Minimum an Schul-

bildung verfügen, auf den Islam als das

Allheilmittel gegen die Ursache ihrer

Krise zurück und politisieren ihre Religion

mit dem Resultat des Fundamentalis-

mus. Die Ursache für ihr Elend verorten

die heutigen Muslime im Westen, der

ihre Desorientierung hervorgerufen hat.

Dabei entsteht Haß und ein damit korre-

spondierendes „Feindbild Westen“.

Im Verlauf dieser Krise entwickeln sich

viele gebildete Muslime zu Fundamenta-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

45

17 Hierzu Fatma Müge-Göcek, East Encounters West. France and the Ottoman Empire in the 18th Century, New York1987, S. 7ff., 72ff.

18 Siehe David B. Ralston, Importing the European Army. The Introduction of European Military Techniques and Insti-tutions into the Extra-European World 1600-1914, Chicago 1990 und auch Kapitel III über den „industrialisiertenKrieg“ in Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie (wie Anm. 10).

Page 48: perspektive21 - Heft 15

listen. Wichtig ist in diesem Zusammen-

hang meine Unterscheidung zwischen

organisierten Fundamentalisten, die sich

zumeist im Untergrund befinden, und

Weltsicht-Fundamentalisten. Letztere

teilen die Weltbilder des religiösen Fun-

damentalismus, sind jedoch keine politi-

schen Aktivisten. Generell geht der Fun-

damentalismus aus der angesprochenen

umfassenden doppelten Krise hervor, das

heißt einer Sinnkrise und einer materiel-

len Krise, die den islamischen Orient ins-

gesamt betrifft.19 Heutige Muslime has-

sen den Westen und heiligen alles, was

anti-westlich ist, eben weil sie im Westen

eine moderne Krankheit sehen, die ihr

Dar al-Islam/Haus des Islam heimge-

sucht hat. Für sie ist die Wiederbelebung

des Islam das probate Heilmittel gegen

diese Krankheit, die als „intellektuelle

Invasion“ diagnostiziert wird.20 Khomeini

hat für dieses Leiden den Begriff „West-

krankheit/Gharbzadeh“21 geprägt.

In seiner anti-westlichen Orientierung

dient der fundamentalistische Islam als

Artikulationsform einer „patriarchali-

schen Protestbewegung“22, die sowohl

hilft, die Unzufriedenheit zum Ausdruck

zu bringen, als auch das erlittene Elend

zu kompensieren. Über die Funktion

eines Vehikels für anti-westliche Attitü-

den hinaus kann der fundamentalisti-

sche Islam auch die Funktion einer reli-

giös-politischen Ideologie der Opposi-

tion gegen bestehende Regime erfüllen.

Natürlich darf dabei nicht übersehen

werden, dass der Islam nicht nur als eine

oppositionelle Ideologie für Fundamen-

talisten dient, sondern ebenso als eine

Legitimationsbasis für bestehende poli-

tische Ordnungen herangezogen wird.

Man denke zum Beispiel an die islami-

sche Legitimation der Königreiche von

Saudi-Arabien und Marokko.23 Doch grei-

fen Fundamentalisten heute Saudi-Ara-

bien als ein pro-westliches Land an und

sprechen diesem den islamischen Cha-

rakter ab, obwohl sie vor dem Golfkrieg

auf dessen Petro-Dollar-Zuwendungen

angewiesen waren. Im Dezember 1991

hat der saudische Landesmufti Scheich

‘Abdelaziz Ibn Baz die islamischen Fun-

damentalisten in einem scharfen Ton

angegriffen.24

Bassam Tibi

46

19 Zu diesem doppelten Aspekt der Moderne (kulturelles Projekt und globalisierte institutionelle Dimension) vgl. denEssay im Anhang zu der erweiterten Neuausgabe von B. Tibi, Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kul-tur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, Frankfurt/M.2 1991, S. 202-279.

20 Vgl. Ali Muhammad Djarischa/Muhammad Scharif al-Zaibaq, Asalib al-ghazu al-fikri li al-'alam al-Islami (Die Metho-den der intellektuellen Invasion der islamischen Welt), Kairo 1978, bes. S. 10ff.

21 Westoxication/Gharbzadeh bedeutet Westkrankheit und ist als fundamentalistische Bezeichnung verwestlichterislamischer Intellektueller durch islamische Fundamentalisten diskriminierend geprägt worden.

22 Eine seriöse wissenschaftliche Deutung des Fundamentalismus in deutscher Sprache legte der heute in Chicagolehrende Soziologe Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990 alsHabilitationsschrift vor; vgl. dazu meine Würdigung, in: Soziologische Revue, H. 1 (1992).

23 Vgl. das Kapitel über Saudi-Arabien und Marokko in B. Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigungsozialen Wandels, 3. Auflage Frankfurt/M. 1991, Kapitel 11.

24 Vgl. hierzu den Bericht in International Herald Tribune vom 31. Dezember 1991.

Page 49: perspektive21 - Heft 15

Die Kriege am Golf 1991, in Bosnien, im

Kosovo, in Kaschmir, in Tschetschenien

und in Afghanistan zeigen den erfolgrei-

chen politischen Einsatz des Islam als

eine anti-westliche Ideologie. Der saudi-

sche König, der den Titel „Khadim al-hara-

min al-scharifain/Hüter der heiligen

Schreine“ von Mekka und Medina trägt,

wurde von islamischen Fundamentali-

sten heftig angefeindet. Sie verzeihen

ihm bis heute nicht, dass er amerikani-

sche Truppen zum Schutze seiner Monar-

chie in das Land der islamischen Offenba-

rung gerufen hat. Bin Laden hatte in sei-

nen Djihad-Reden mehrfach den Abzug

der US-Truppen aus dem „Heiligen Land“

gefordert. In diesem Zusammenhang

scheint es skurril, dass der arabische Dik-

tator Saddam Hussein, der acht Jahre

lang gegen die Islamische Republik von

Iran Krieg geführt25 und zahlreiche islami-

sche Oppositionelle in seinem Land

gehängt hatte, plötzlich 1990/91 den

großen Beifall der Fundamentalisten

erhielt. Die Leistung des einst säkular ori-

entierten irakischen Despoten bestand

damals vornehmlich darin, Amerika als

der Verkörperung des Westens den Heili-

gen Krieg erklärt zu haben. Der ägypti-

sche Fundamentalist ‘Adel Hussein

schrieb seinerzeit, dass Saddam Hussein

allein durch die Herausforderung Ameri-

kas beweise, dass er sich bekehrt habe

und nun im Dienst des Islam stehe.26

In meiner für das bereits erwähnte glo-

bale, kulturvergleichende Fundamenta-

lismus-Projekt der Amerikanischen Aka-

demie für Kunst und Wissenschaft in

Kairo durchgeführten Befragung von

Muslimen unterschiedlicher Richtungen

bin ich zu folgendem Ergebnis gekom-

men27: Es gibt heute unter den Muslimen

nur ganz wenige, welche die moderne

Wissenschaft und Technik pauschal

ablehnen. Die Mehrheit tritt, soweit sie

über ein Minimum an Bildung verfügt,

parallel zu ihrer Bewahrung der organi-

schen, alle Lebensbereiche umfassenden

islamischen Weltsicht, für eine Über-

nahme moderner Errungenschaften ein.

Gleichzeitig jedoch wird die kulturelle

Moderne abgelehnt, das heißt jene, die

neben technischen Errungenschaften

auch Pluralismus im Sinne der Freiheit

des Andersdenkenden beinhaltet sowie

eine rationale, von den religiösen

Grundsätzen getrennte Sicht der Welt,

die den Menschen als ein freies Subjekt

anerkennt. Auf der angeführten For-

schung basierend, argumentiere ich, dass

die fundamentalistische Weltsicht die

heute vorherrschende unter den Musli-

men bildet. Das Aufblühen dieser Welt-

sicht korreliert nicht nur mit dem Unter-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

47

25 Hierüber im einzelnen Sharam Chubin und Charles Tripp, Iran and Iraq at War, Boulder/Col. 1988.26 So 'Adel Hussein in seinem Artikel in der prominenten fundamentalistischen Kairoer Wochenzeitung al-Scha'b: „Li

man nad'u bil nasr fi salatuna (Für wen sollen wir beten für den Sieg?)“, in: al-Scha'b vom 21. August 1990.27 Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung sind in B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissen-

schaft und Technologie (wie Anm. 10), Kapitel V, enthalten.

Page 50: perspektive21 - Heft 15

gang aller säkularen Orientierungen in

der Welt des Islam, die zumeist normativ,

das heißt ohne ein soziales Substrat sind.

Der Aufstieg des islamischen Fundamen-

talismus bedeutet auch den Untergang

der einst nur im Ansatz vorhandenen,

aber doch wichtigen modernen Tradition

eines islamischen Liberalismus28, von der

heute nirgendwo eine signifikante Spur

geblieben ist. Die Weltsicht-Fundamenta-

listen bilden in unserer Gegenwart – etwa

im Gegensatz zu den islamistischen poli-

tischen Aktivisten, die heute als Djihad-

Kämpfer auftreten – keine Minderheit.

Die Herausforderung der europäischen

Moderne und ihrer eingangs erläuterten

zwei Aspekte, des kulturellen Projektes

und der Globalisierung der institutionel-

len Dimension, bildet den Hintergrund

des islamischen Fundamentalismus.

Bruce Lawrence, der eine global ausge-

richtete, komparative Studie über den

Fundamentalismus angefertigt hat, geht

auf diesen Kontext ein und führt aus:

„Fundamentalisten stellen sich gegen

den Modernismus … Jedoch ist die

Modernität … die Schlüsselkategorie für

jede Interpretation des Fundamentalis-

mus. Die Moderne ist und bleibt der ein-

hüllende Kontext. Ohne die Moderne

gäbe es weder Fundamentalisten noch

Modernisten. Die Identität der Funda-

mentalisten wird, gleichermaßen in Hin-

blick auf ihre psychologische Verfassung

und der hierzu gehörenden historischen

Strömung, entscheidend von eben dieser

Moderne geprägt. Die Fundamentalisten

... sind die Konsequenz der Moderne und

die Antithese zum Modernismus

zugleich.“29

Diese Einschätzung könnte bei ober-

flächlichem Hinsehen als eine Deutung

des Fundamentalismus im Sinne einer

atavistischen Bewegung, die von der

Sehnsucht nach Rückkehr zum Mittelal-

ter genährt wird, mißverstanden werden.

Fundamentalisten pflegen zwar eine

rückwärts orientierte Ideologie, sind aber

eindeutig keine Traditionalisten, so sehr

sie sich auch auf die Tradition berufen

und so verbal aggressiv sie die kulturelle

Moderne zurückweisen. Die Antinomie

des Fundamentalismus liegt darin, dass

seine Anhänger sich die Errungenschaf-

ten der Moderne aneignen wollen,

jedoch gleichzeitig das hierzu gehörige

mensch-zentrierte Weltbild, das heißt

den Glauben, der Mensch sei der verant-

wortliche Schöpfer seiner eigenen

Umwelt (Könnens-Bewußtsein), strikt

ablehnen. Lawrence definiert fundamen-

talistische Strömungen adäquat als

„sozio-religiöse Bewegungen in der

modernen Welt, die die instrumentellen

Bassam Tibi

48

28 Leonard Binder, Islamic Liberalism. A Critique of Development Ideologies, Chicago 1988. Vgl. auch B. Tibi, „Vom libe-ralen Islam zur Militanz des islamischen Fundamentalismus“, in: Neue Politische Literatur, Bd. 36 (1991), H. 4, S. 476-489.

29 Bruce B. Lawrence, Defenders of God. The Fundamentalist Revolt Against the Modern Age, San Francisco 1989, S. 2.

Page 51: perspektive21 - Heft 15

Vorteile der Modernität, nicht aber ihre

neue Wertorientierung annehmen wol-

len“.30 Diese neue Wertorientierung kön-

nen wir in einem Wort umschreiben: Auf-

klärung. Ihre zentrale Leistung ist das,

was Borkenau als „Übergang vom feuda-

len zum bürgerlichen Weltbild“31 bezeich-

net hat. Ihr ging die Renaissance voraus,

die das Paradies säkularisierte, so dass

man, wie Bloch es formulierte, „des Him-

mels nicht mehr bedarf“.32 Fundamenta-

listen lehnen dieses mensch-zentrierte

säkulare Weltbild ab und greifen auf „das

Reich Gottes“ als Gegenutopie zurück,

jedoch ohne die technisch-wissenschaft-

lichen Errungenschaften der Moderne

abzulehnen; sie wollen die institutionell-

instrumentelle Moderne mit mittelalter-

licher Theologie verbinden und so ihren

Traum von einer halben Moderne ver-

wirklichen.33

Vor diesem Hintergrund stellen sich

zwei Fragen: Erstens, was genau ist mit

dem Begriff islamischer Fundamentalis-

mus gemeint? Und zweitens, welche

Inhalte bestimmen diese gegenwärtig

überwältigende Strömung? Diese Fragen

sind, wie bereits angedeutet, nicht nur

akademischer, sondern auch aktueller

Natur. Zwischen dem Golfkrieg bezie-

hungsweise Saddam Husseins Aufruf

zum Djihad am 7. August 1990 und dem

Djihad-Appell von Bin Laden am 7. Okto-

ber 2001 liegt eine Dekade. Beide Aufrufe

zum Djihad haben Zuspruch von allen

islamischen Fundamentalisten erhalten.

In dem gerade angefangenen Jahrhun-

dert werden wir Appelle dieser Art noch

häufiger hören, denn nach Meinung vie-

ler Muslime stehen solche Aufrufe im

Dienst des Islam, wenn es um die

Schwächung Amerikas und seiner Ver-

bündeten geht. Der Kampf gegen den

Westen, das heißt nicht nur der gegen

dessen politische Vorherrschaft, sondern

auch jener gegen die europäische

Moderne, wird zum zentralen Anliegen

des islamischen Fundamentalismus. Der

Rückgriff auf die goldene Vergangenheit

des Islam als Ausdruck einer rückwärts-

gerichteten Utopie dient instrumentell

der Inkriminierung dieser Moderne,

wenngleich er kein Ausdruck von Traditio-

nalismus ist. Der islamische Fundamen-

talismus ist eine Politisierung des Islam,

und sein zentraler Inhalt ist eine Revolte

gegen den Westen im Sinne einer Ableh-

nung der kulturellen Moderne und ihrer

Werte.

Die tieferen Ursachen und die Sinn-

Zusammenhänge des islamischen Fun-

damentalismus in seiner Konfrontation

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

49

30 Ebd., S. 6.31 Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der

Manufakturperiode, Neudruck, Darmstadt 1988 (zuerst Paris 1934).32 Ernst Bloch, Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Frankfurt/M. 1972, S. 110.33 Vgl. Emmanuel Sivan: Radical Islam. Medieval Theology and Modern Politics, New Haven 1985; sowie die Arbeit in

Anm. 10 oben und B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erwei-terte Neuausgabe 2002).

Page 52: perspektive21 - Heft 15

mit der Moderne stehen im Mittelpunkt

meines Interesses. Ohne ein angemesse-

nes Verständnis dieser Zusammenhänge

können wir die Problematik dieses

Buches, den islamischen Fundamentalis-

mus und seinen Angriff auf die beste-

hende Weltordnung, nicht in den Griff

bekommen. Der Zusammenhang zwi-

schen der Moderne und der Weltordnung

wurde bereits in dem vorangegangenen

Kapitel beleuchtet. Nun frage ich, warum

der Fundamentalismus die Artikulations-

form der eben angesprochenen Ableh-

nung der kulturellen Moderne ist.

Zunächst ist es wichtig, den Begriff

„Fundamentalismus“ und seinen Inhalt

zu spezifizieren. Im Arabischen sowie in

den anderen orientalischen Sprachen hat

sich der Begriff Usuliyya34 als eine Über-

setzung für den westlichen Begriff „Fun-

damentalismus“ etabliert; Muslime spre-

chen im allgemeinen jedoch schlicht vom

Islam. Jene aber, die wir in den europäi-

schen Sprachen Fundamentalisten nen-

nen und die im Orient als Usuliyyun gel-

ten, vertreten eine bestimmte Interpreta-

tion des Islam als „din wa daula“ (wort-

wörtliche Übersetzung: Religion und

Staat, das heißt Gottesstaat). Diese Inter-

pretation der Religion als integrale Welt-

anschauung zielt auf einen absoluten

Einklang des politischen, sozialen und

ökonomischen Lebens der Muslime mit

den religiösen Vorschriften des Islam ab,

so wie sie im Koran und in der Überliefe-

rung des Propheten/Hadith dargelegt

werden. Mit anderen Worten: Es geht um

die unanfechtbare Autorität des Textes

als sola scriptura. Fundamentalismus,

definiert als ein Glaube an die aussch-

ließliche Autorität des Textes, findet seine

geeignetste Anwendung im Islam, eben

weil Muslime unter den Monotheisten

diejenigen sind, die an die exklusive und

absolute Wahrheit ihrer Offenbarung

glauben. Der Fundamentalismus ist aber

eine moderne Erscheinung, und so wer-

den in den geheiligten Text moderne

Inhalte projiziert. Als ein Beispiel können

wir anführen, dass die Vertreter der fun-

damentalistischen Interpretation der

Texte islamischer Offenbarung die politi-

sche Forderung nach einem al-Nizam al-

Islami/islamischen System erheben.

Zwar ist der Islam seit seiner Stiftung im

Jahre 610 eine für Politisierung anfällige

Religion, aber die hier angesprochene

politische Interpretation des Islam und

selbst das Wort „nizam/System“ sind

neu. Somit zeigt die Geschichte des Islam

und seiner religiösen und politischen,

stets historisch bedingten Formen, dass

die zeitgenössischen politischen Varian-

ten des fundamentalistischen Islam, vor

allem diejenigen, die mit der Entwicklung

seit den 70er Jahren zusammenhängen,

Bassam Tibi

50

34 Vgl. Hassan Hanafi, al-Usuliyya al-Islamiyya (Der islamische Fundamentalismus), Bd. 6 des Werkes des Fundamen-talisten Hanafi mit dem Titel al-Din wa al-thawrah (Die Religion und die Revolution), Kairo 1989.

Page 53: perspektive21 - Heft 15

eine völlig neue Erscheinung sind.35 Hier

wird ein Charakteristikum des Funda-

mentalismus deutlich: der Zusammen-

hang zwischen Text und Kontext. Es

wurde bereits hervorgehoben, dass eine

Gemeinsamkeit aller Fundamentalisten

der Glaube an die Buchstäblichkeit des

Textes, sola scriptura, ist. Texte werden

aber von Menschen gelesen, so dass das

Verständnis gleichermaßen mit der Per-

zeption des Lesenden und mit dem histo-

rischen Kontext korrespondiert. Ebenso

wie Fundamentalisten die Antinomie

ihres Denkens (Akzeptanz der Errungen-

schaften der Moderne bei gleichzeitiger

Ablehnung des mensch-zentrierten,

rationalen Weltbildes, aus dem diese her-

vorgegangen sind) nicht erkennen, blei-

ben ihnen die mit der Korrelation Text-

Kontext zusammenhängenden Antino-

mien ihrer Bekenntnisse verschlossen.

Doch nicht nur Projektion und Textgläu-

bigkeit, das heißt Ahistorizität, bestim-

men die Weltsicht der Fundamentalisten

im Umgang mit dem „heiligen“ Text;

auch ein hoher Grad an Selektivität ist

festzustellen. So gehen Textgläubigkeit

und Willkür bei dem Rückgriff auf den

Text Hand in Hand.

Das zentrale Argument bei unserer

Deutung des Fundamentalismus ist, dass

diese Variante religiöser, nicht-westlicher

Ideologien eine defensiv-kulturelle Reak-

tion auf die europäische Moderne dar-

stellt. Entsprechend bildet die Globalisie-

rung der institutionellen Dimension der

europäischen Moderne den historischen

Kontext, in dessen Rahmen islamische

Fundamentalisten einzig die Lektüre des

Korans und der Überlieferung des Pro-

pheten Mohammed als sola scriptura

gelten lassen. Der Text ist beinahe 14 Jahr-

hunderte alt, der Kontext, der diesen

umrahmt, ist die Krise des Islam im

modernen Zeitalter. Sprachlich handelt es

sich zwar um denselben Text, für den die

Fundamentalisten eine überzeitlich-

überräumliche Bedeutung und Geltung

beanspruchen, aber der Kontext schmie-

det den Text in dem Sinne, dass er das

Verständnis der Lesenden, hier der Fun-

damentalisten, sowie die Art ihrer Lek-

türe entscheidend prägt. Der Kontext ist,

wie bereits hervorgehoben, die Heraus-

forderung, welche von der europäischen

Moderne gleichermaßen als einem kultu-

rellen Projekt und als einer institutionel-

len, nunmehr globalisierten Struktur aus-

geht und welcher der moderne Islam

ausgesetzt ist. Leider gelingt es selbst

klugen islamischen Reformern wie Fazlur

Ralman36 nicht, diesen Zirkel zu durchbre-

chen. Das Produkt dieser historischen

Situation ist die angesprochene Krise des

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

51

35 Vgl. die Arbeit von Youssef M. Choueiri, Islamic Fundamentalism, Boston 1990 und Dilip Hiro, Holy Wars. The Rise ofIslamic Fundamentalism, London 1989 sowie Henry Munson Jr., Islam and Revolution in the Middle East, New Haven1988, S. 29ff.

36 Vgl. Fazlur Rahman, Islam and Modernity, London 1988.

Page 54: perspektive21 - Heft 15

modernen Islam als einem kulturellen

System mit vormodernen Normen und

Werten. Islamische Fundamentalisten

sind die Kinder dieser Krise, und die reli-

giös-politische Ideologie, der sie anhän-

gen, ist „die Ekstase des aufrechten

Ganges und des geduldlosen, rebelli-

schen ernstlichsten Willens“37, diese Krise

zu überwinden.

Das Dilemma bei der Deutung des reli-

giösen Fundamentalismus besteht darin,

dass es sich bei diesem einerseits um ein

soziales, anderseits um ein religiöses Phä-

nomen handelt. Der Islam wird von Fun-

damentalisten als eine Artikulationsform

herangezogen und dient ihnen dazu,

politische und soziale Belange in ein reli-

giöses Gewand zu kleiden. Wenn hier

diese Interpretation vorgenommen wird,

dann muß parallel vor zwei Fehldeutun-

gen gewarnt werden. Es wäre falsch, im

fundamentalistischen Rückgriff auf den

Islam einen bewussten Missbrauch zu

sehen. Denn beim Fundamentalismus

handelt es sich um ein Islam-Verständnis

gläubiger Muslime,die im Islam als ihrem

kulturellen System Zuflucht suchen. Die-

ses Islam-Verständnis hat auch einen

sozialen und kulturellen Hintergrund,

insofern, als es eine Reaktion auf die Her-

ausforderung der kulturellen Moderne ist

und mit ihren bereits angesprochenen

Krisenerscheinungen korrespondiert.

Eine weitere mögliche Fehldeutung wäre

es, den politischen Islam als eine politi-

sche Ideologie auf die gleiche Ebene einer

jeden anderen Ideologie zu setzen. Dies

würde insofern zu einer falschen Inter-

pretation führen, als Religionen stets

einen besonderen Stellenwert im Ver-

gleich zu säkularen Ideologien haben.Wir

wissen aus dem Werk Max Webers, dass

Religionen Gesinnungskomplexe bilden,

die selbst erheblich und auch ursächlich

sozio-politische und ökonomische Gesell-

schaftsformationen prägen können; sie

können auch, wie Ernst Bloch sagt, „in

religiös erregten Zeiten“38 zentraler als

irgendein anderer Faktor in den entspre-

chenden Prozessen wirken. Kurz: Beim

religiösen Fundamentalismus haben wir

es mit einem Phänomen dualer Natur39

zu tun;es ist gleichermaßen politisch und

religiös. Sozialwissenschaftler und oft

sogar Religionssoziologen, die mit dem

Bassam Tibi

52

37 Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1972, S. 56.38 Ebd., S. 55.39 Vgl. Johannes J. G. Jansen, The Dual Nature of Islamic Fundamentalism, Ithaca/NY 1997.

3. Zwischen Religion und Ideologie:Das politische Wiedererstarken des Islam

Page 55: perspektive21 - Heft 15

Phänomen des Religiösen als einem aus-

schließlich sozialen Faktor reduktioni-

stisch umgehen, zeigen relativ wenig

Sensibilität und ein geringes Verständnis

für die Autonomie des Religiösen. Im Vor-

feld dieser Studie über den islamischen

Fundamentalismus als einer defensiv-

kulturellen Reaktion auf die Globalisie-

rung der europäischen Moderne und

ihrer technisch-wissenschaftlichen insti-

tutionellen Dimension müssen wir daher

stets im Auge behalten, dass die spezi-

fisch religiöse Komponente in der hier als

politischer Islam behandelten Ideologie

eine angemessene Berücksichtigung fin-

det, um nicht derselben, gerade kritisier-

ten Vorgehensweise zu verfallen. Auch

die fundamentalistische Vorstellung von

einer islamischen Weltordnung ist in die-

sen Kontext einzuordnen; sie ist nicht

bloß politische Ideologie, sondern auch

religiöser Glaube in dem soeben definier-

ten Sinne.

Statt des sachlich falschen Begriffs der

Re-Islamisierung schlage ich vor, den

Begriff „die Re-Politisierung des Sakralen

im islamischen Orient“40 zu verwenden.

Damit wird der Gegenstand der vorlie-

genden Studie präzisiert: Es geht nicht

um eine Re-Islamisierung in den islami-

schen Ländern, denn dieser Begriff unter-

stellt – semantisch gesehen –, dass der

Islam einmal verdrängt worden ist und

dass nun eine Rückkehr zu ihm stattfin-

det. Kenner des islamischen Orients wis-

sen, dass der Islam als Glaubenssystem

und auch als kulturelles System niemals

an Bedeutung für seine Angehörigen ver-

loren hat. Zwar war insbesondere im ara-

bischen Osten (Maschrek) nach dem

Scheitern des islamischen Modernismus

eine Verdrängung des Islam als politische

Ideologie durch säkulare Ideologien wie

Nationalismus und Sozialismus zu beob-

achten. Der Islam hat jedoch als norma-

tive Orientierung für die Muslime, als

soziokultureller Rahmen sowie als eine

Quelle für ihre Weltsicht niemals an Ein-

fluß eingebüßt. Die Rückkehr des Islam

als politische Ideologie kann man daher

nicht als Re-Islamisierung, sondern muß

sie angemessener als politisches Wieder-

erstarken beziehungsweise als Re-Politi-

sierung des Sakralen charakterisieren.

Der Inhalt des hier zum Untersu-

chungsgegenstand bestimmten Prozes-

ses, aus dem das völlig neue Phänomen

des islamischen Fundamentalismus her-

vorgegangen ist, läßt sich folgender-

maßen zusammenfassen: In den meisten

islamischen Ländern erheben militante

politische Gruppen sowie zahlreiche poli-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

53

40 Bereits im Jahr 1985 habe ich in meinem, auch in den USA in einer amerikanischen Ausgabe und inzwischen in einerdritten deutschen Auflage vorliegenden Buch: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialenWandels, Frankfurt/M. 1985 sowie 1991, Kapitel 8 (Islam and the Cultural Accommodation of Social Change, Boul-der/Col., 2. Aufl. 1991 ) diese Formel geprägt und gezeigt, dass der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus imarabischen Nahen Osten keine Re-Islamisierung bedeutet, dieser war immer islamisch geblieben; der Islam wird nurwieder politisch, d.h. repolitisiert. Dazu vgl. auch mein neues in Harvard geschriebenes und unter der Patronage vonHarvard veröffentlichtes Buch : Islam Between Culture and Politics, London und New York 2001.

Page 56: perspektive21 - Heft 15

tische Schriftsteller und Pamphletisten

den Anspruch, dass der Islam nicht nur

eine Religion sei, sondern ein „din wa

daula“ (eine mit staatlicher Ordnung ver-

quickte Religion oder freier und besser

ausgedrückt in der Terminologie George

Balandiers: eine „Entsprechung des

Sakralen und des Politischen“). Daraus

wird die Forderung nach einem Nizam

Islami, das heißt einem islamischen poli-

tischen System, abgeleitet und zum

Inhalt einer politischen Ideologie sowie

eines politisch-oppositionellen Pro-

gramms erhoben. Das Konzept des „isla-

mischen Systems“ bietet eine Grundlage

für die islamische Revolte gegen die

bestehende Weltordnung, die in Kapitel

III näher erläutert wird.

In historischer Perspektive und unter

besonderer Berücksichtigung des islami-

schen Kernbereichs geht der zeitgenössi-

sche islamische Fundamentalismus auf

die totale und demütigende Niederlage

der arabischen Staaten im Sechs-Tage-

Krieg im Juni 1967 zurück.41 Bereits eine

Auswertung von verbreiteten Publikatio-

nen des politischen Islam kann einen ein-

deutigen Beleg für diese Aussage bieten.

Eine der einflußreichsten Äußerungen

stammt von dem Fundamentalisten

Yusuf al-Qaradawi in seinem Buch al-hall

al-Islami wa al-hulul al-mustawrada/Die

islamische Lösung und die importierten

Lösungen.42 Mit dem Hinweis auf Israel

und darauf, dass die Israelis nicht nur reli-

giös, sondern auch politisch zu ihrer Reli-

gion stehen, wird folgendes Argument

vorgetragen:Die Muslime hätten versagt,

weil sie ihrem Islam politisch den Rücken

zugekehrt hätten. Es gehe nun darum,

diese Situation durch eine Rückkehr zum

Islam zu ändern, und das nicht nur zur

Religion, sondern auch und vor allem zu

einem Nizam Islami (einem islamischen

System, das heißt einer politischen Ord-

nung). Außerdem wird der europäischen

Moderne eine radikale Absage erteilt,

jedoch nicht deren technisch-wissen-

schaftlichen Errungenschaften. Dabei ist

der Begriff des Nizam Islami nicht im

engeren Sinne islamisch, er kommt

weder im Koran noch in der Überliefe-

rung des Propheten (Hadith) vor. Das

Wort Nizam ist vielmehr, wie bereits

angeführt, neuarabisch und eine Über-

setzung von „System“, wie der bedeu-

tende Islamwissenschaftler W.C. Smith

nachgewiesen hat.43 Dieser Sachverhalt

belegt unsere bisherigen Ausführungen

über den Zusammenhang von Text und

Bassam Tibi

54

41 Zu diesem Sechs-Tage-Krieg vgl. B. Tibi, Konfliktregion Naher Osten. Regionale Eigendynamik und Großmachtinter-essen, 2. erweiterte Auflage, München 1991, Kapitel II. Zur Rolle der arabisch-israelischen Kriege im Erstarken despolitischen Islam vgl. das Kapitel von Yvonne Haddad, „The Arab-Israeli Wars“, in: John L. Esposito (Hg.), Islam andDevelopment, Syracuse/NY 1980, S. 107-122.

42 Yusuf al-Qaradawi, al-Hulul al-mustawrada wa kaif djanat ‘ala umatuna (Die importierten Lösungen und wie sieVerbrechen an unserer Umma/Gemeinschaft begangen haben), Bd. 1 der dreibändigen Reihe Hatmiyat al-hall al-Islami (Die Notwendigkeit der islamischen Lösung), Neuauflage Beirut 1980.

43 Siehe Wilfred C. Smith, The Meaning and End of Religion, 2. Auflage, New York1978, S. 117.

Page 57: perspektive21 - Heft 15

Kontext und zeigt die kontextuelle

Bedingtheit der politisch revitalisierten

Text-Gläubigkeit.

Die Re-Politisierung des Sakralen im

arabischen Orient nach dem Sechs-Tage-

Krieg 1967 erklärt nicht, warum der Islam

auch in Westafrika und in Südostasien

politisiert wurde. Im Rahmen meiner in

internationalen Institutionen betriebe-

nen Forschung, die über den arabischen

Orient hinausgeht, bin ich zu folgender

Erklärung gelangt: Der arabische Orient

ist – religiös und kulturell gesehen – das

Kerngebiet des Islam. Der französische

Islam-Forscher Maxime Rodinson stellt

fest, dass der Islam, der ursprünglich

„eine arabische Religion für die Araber“44

war, erst durch die islamischen Eroberun-

gen universalisiert worden ist. Die islami-

sche Doktrin war jedoch von Anfang an

universell ausgerichtet. Es ist nicht arabo-

zentrisch, festzustellen, dass der arabi-

sche Orient seine Zentralität im Islam

behält.Von diesem Kerngebiet aus sind in

den 70er Jahren „Spill-Over-Effekte“ aus-

gegangen, die jedoch mit bereits beste-

henden Krisenerscheinungen in den

nicht-arabischen islamischen Gebieten

koinzidierten. Somit wurde die Re-Politi-

sierung des Islam ein übergreifendes und

überregionales Phänomen.45 Diese Inter-

pretation schließt damit jene verbreitete

und schon diskutierte Deutung aus, dass

der fundamentalistische Islam eine Aus-

geburt des Erdölbooms seit der ersten

Welt-Energiekrise 1973 sei, also von den

arabischen „Öl-Scheichs“ global angestif-

tet worden sei. Damit soll allerdings nicht

bestritten werden, dass die Saudis funda-

mentalistische Bewegungen stets finan-

ziell gefördert haben. Dies ist aber nicht

die Ursache für die Entstehung des isla-

mischen Fundamentalismus. Die Tatsa-

che, dass die Saudis mit ihren Petro-

Dollars islamisch-fundamentalistische

Strömungen finanziell massiv unter-

stützten, hat vielmehr dazu beigetragen,

dass die saudi-arabische Vision von dem

in der Realität kulturell vielfältigen Islam

an Priorität gewonnen hat. Die Saudis,die

während des Golfkrieges von den islami-

schen Fundamentalisten selbst angefein-

det wurden, zahlen dadurch die Zeche für

das, was sie finanziell gefördert haben;

dennoch sind sie nicht die Urheber des

islamischen Fundamentalismus.

Nun stellt sich für uns wiederum die

zentrale Frage: Warum entwickeln sich

muslimische Intellektuelle, die bisher

westlich-säkular dachten, zu Fundamen-

talisten? Meine zentrale These lautet,

dass der islamische Orient seit den 70er

Jahren eine tiefgreifende Krise durch-

läuft, die sowohl intern als auch extern

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

55

44 So der große Islamwissenschaftler Maxime Rodinson in seinem Buch Mohammed, Luzern 1975; zu dem grundle-genden Beitrag Rodinsons zur Islam-Forschung vgl. meine Abhandlung:„Maxime Rodinson, der Islam und die west-lichen Islam-Studien“, Einleitung zu: Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Neuausgabe, Frankfurt/M. 1986, S.IX-LI.

45 Vgl. John L. Esposito (Hg.), Voices of Resurgent Islam, New York 1983.

Page 58: perspektive21 - Heft 15

bedingt ist. Der Islam, als Ausdruck der

autochthonen Kultur, bietet die geeignet-

sten und für die Bevölkerung akzeptabel-

sten Symbole in dieser Krisensituation,

weil diese eine doppelte Funktion erfül-

len. Islamische Fundamentalisten mün-

zen die eigene, durch die Konfrontation

mit der Moderne ausgelöste Krise in eine

Krise der Moderne selbst um. Islamische

Symbole bieten ihnen zum einen eine

autochthone Artikulationsform politi-

scher Inhalte in einer Situation, in der die

fremde, das heißt nicht-islamische

Umwelt als eine Bedrohung der eigenen

Identität perzipiert wird. Zum anderen

haben mittels islamischer Symbole arti-

kulierte politische Inhalte die Chance,

breite Bevölkerungsschichten anzuspre-

chen und zu mobilisieren, eine Option,

die säkularen Ideologien als städtischem

Eliten-Gedankengut verwehrt bleibt. Die

Krise ist zugleich strukturell, also sozioö-

konomisch, und eine Sinnkrise, woher

sich die duale Natur (vgl. Anm. 39) des

religiösen Fundamentalismus erklärt.

Die Sprache der Moderne und damit

die der Menschenrechte im Sinne indivi-

dueller Rechte ist den meisten Muslimen

dagegen kulturell fremd. Sie kennen das

Subjektivitätsprinzip der Moderne nicht.

Die aus den damit zusammenhängen-

den Prozessen der Individuation hervor-

gegangenen individuellen Menschen-

rechte haben leider keine Wurzeln im

Islam, der vom Kollektiv/Umma ausgeht

und das Individuum diesem unterord-

net.46 Der politische Islam hat mehr

„appeal“ als irgendeine der säkularen

Ideologien, die ohnehin, wie angedeutet,

nur von städtischen Eliten vertreten und

von der analphabetischen ruralen Mehr-

heit der Bevölkerung als ein Import aus

dem verhaßten Westen wahrgenommen

werden. Unter westlich gebildeten, städ-

tischen sozialen Schichten hat es zwar

auf der Ebene der Normen eine Verbrei-

tung von säkularen Ideologien gegeben,

nicht aber eine Säkularisierung im Sinne

der Veränderung von Gesellschaftsstruk-

turen. Eine auf normativer Ebene erfolgte

Verbreitung säkularer Ideen ist noch

keine Säkularisierung. Letztere ist ein

sozialstruktureller Prozeß, der sich in den

Lebensbedingungen und nicht nur in den

Köpfen niederschlägt.

Um den sozialen Ursprung des islami-

schen Fundamentalismus als einer anti-

westlichen Ideologie besser zu verstehen,

ist es von zentraler Bedeutung, das Ver-

hältnis des Islam zu sozialem Wandel im

modernen Zeitalter unter den strukturel-

len und kulturellen Bedingungen der Glo-

balisierung der europäischen kulturellen

Moderne sowie ihrer institutionellen, das

heißt technisch-wissenschaftlichen

Dimension zu betrachten. Alle Gesell-

Bassam Tibi

56

46 Mehr hierzu B. Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München 1994 (Serie Piper 1996 und1999).

Page 59: perspektive21 - Heft 15

schaften wandeln sich, auch die islami-

schen (trotz des europäischen Vorurteils

vom homo islamicus beziehungsweise

von der stationären Produktionsweise

asiatischer Gesellschaften). Doch jenen

Typ sozialen Wandels, der im islamischen

Orient seit der Berührung mit dem

europäischen Kolonialismus bis heute –

sogar in einer noch weit intensiveren

Weise – vorherrscht, möchte ich als

extern ausgelösten Wandel kennzeich-

nen. Diese Charakterisierung des Wan-

dels steht hinter der Wahrnehmung der

Fundamentalisten, dass alles Übel in

ihren Gesellschaften von außen, das

heißt aus der europäisch-westlich domi-

nierten Umwelt des islamischen Orients

herrührt. In diesem Zusammenhang wird

die Weltordnung als eine aus dem

Westen stammende Bedrohung wahrge-

nommen. Zur Abwehr beleben sie in

einer defensiv-kultureller Manier einhei-

mische Normen und Werte, deren Sub-

strat einmal in Sozialstrukturen vorhan-

den war, die heute jedoch aufgrund weit-

reichender Auflösungsprozesse nicht

mehr existieren. Die Revolte des islami-

schen Fundamentalismus gegen den

Westen bringt eine tiefliegende Krise

islamischer Gesellschaften zum Aus-

druck. Eine Lösung hierfür ist für die Fun-

damentalisten die Zauberformel „islami-

sche Ordnung“. In Algerien, Tunesien und

anderswo in der „Welt des Islam“ glau-

ben Fundamentalisten, dass diese Ord-

nung alle Probleme (Überbevölkerung,

Wirtschaftskrise, Wohn- und Nahrungs-

mittelmangel etc.) lösen würde.

Parallel zur Krise des Islam findet auch

eine Krise der Moderne im Westen selbst

statt. Islamische Fundamentalisten sind

gebildete Menschen, die diese westlich-

europäischen Debatten verfolgen kön-

nen;sie freuen sich über die zunehmende

Kritik der Europäer an ihrer eigenen

Moderne, ja sie stellen diese Kritik in

ihren Dienst als einen westlichen Beweis

für das Versagen der Moderne und die

Wahrheit der islamischen Lösung. Zu der

postmodernen Kritik an der europäi-

schen Moderne fügen islamische Funda-

mentalisten noch ihre eigenen Klischees

hinzu, etwa die Gleichsetzung der

Moderne mit Alkoholismus, Promiskuität

und schrankenloser sexueller Freiheit mit

zahllosen unehelichen Kindern und

Schwangerschaftsabbrüchen als Folgen.

Es wird dann argumentiert, dass der

Islam seine Gläubigen vor diesen „kultu-

rellen Krankheiten“ schützt. Im Gegen-

satz zu ihren katholischen Counterparts

sprechen muslimische Fundamentalisten

hierbei orientalische Ehrbegriffe an, die

nach ihrer Auffassung von der Moderne

in Frage gestellt werden. Die Ehre des ori-

entalischen Muslims konzentriert sich

auf den Schutz der weiblichen Angehöri-

gen seiner Familie vor den Gefahren der

Außenwelt. Für diesen gibt es keinen tie-

feren Abgrund als vaterlos zu sein. Auf-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

57

Page 60: perspektive21 - Heft 15

grund der Assoziation mit Vaterlosigkeit,

Promiskuität und sexueller Freiheit – das

ist ein zentraler Topos der arabisch-spra-

chigen Fundamentalismus-Pamphlete47

– wird die Moderne als eine Perspektive

für den islamischen Orient abgelehnt.

Diese einseitige Sicht der Moderne wird

gleichermaßen von manchen Postmo-

dernisten und den auf einem völlig

anderen Boden operierenden islami-

schen Fundamentalisten – wenn auch in

unterschiedlichem Maße – geteilt. Im

Gegensatz dazu müssen wir unser

Augenmerk auf die wirklichen Inhalte

der Moderne und die damit verbunde-

nen Werte richten, um zu einem besse-

ren Verständnis des Fundamentalismus

als einer defensiv-kulturellen Reaktion

auf die europäische Moderne in nicht-

westlichen Kulturen zu gelangen. Soweit

es um den Islam geht, scheint mir eine

Kontrastierung des britischen Orient-

Forschers Fred Halliday zitierenswert, die

er bei seiner Besprechung meines Bei-

trags zum Verständnis des modernen

Islam vorgenommen hat: „In bezug auf

die großen Religionen wird eine Unter-

scheidung immer wichtiger, nämlich die

zwischen einer Religion, die bestimmte

allgemeine Prinzipien gegenwärtigen

demokratischen Lebens respektiert, und

jener, die das nicht tut .... Bisher haben

weder die Traditionalisten noch die isla-

mischen Modernisten mit den dok-

trinären Zwängen, die sie hemmen,

gebrochen.“48

Die europäische Moderne ist doppel-

gleisig: Sie manifestiert sich zum einen in

dem Projekt der kulturellen Moderne –

den mit den Schlüsselereignissen der

Reformation, Aufklärung und der Franzö-

sischen Revolution korrespondierenden

historischen Prozessen, auf deren Basis

sich das abendländische Prinzip der Sub-

jektivität entfaltet hat. Seine Implikatio-

nen sind nach Habermas

a) Individualismus (das Prinzip der Indi-

viduation),

b) Recht auf Kritik,

c) Autonomie des Handelns (Selbstbe-

stimmung des Menschen)

und schließlich

d) die idealistische Philosophie als „die

sich wissende Idee“ (vgl. Anm. 1).

In diesem Kontext wird der religiöse

Glaube reflexiv, und die menschliche Ver-

Bassam Tibi

58

47 So z.B. in dem Buch von Djarischa und Zaibaq, Asalib al-ghazu al-fikri li al-'alam al-Islami (Die Methoden der intel-lektuellen Invasion der islamischen Welt), (wie Anm. 20).

48 Fred Halliday in: Times Literary Supplement vom 14.-20. April 1989.

4. Die kulturelle Moderne und die europäische Eroberung der Welt

Page 61: perspektive21 - Heft 15

nunft wird „gegen den Glauben an die

Autorität von Verkündung und Überliefe-

rung“, wie Kant sagt, „als oberster

Gerichtshof“ hervorgehoben (vgl. Anm. 1).

Doch die europäische Moderne ist

nicht nur dieses kulturelle Projekt, dessen

historische Prozesse sich ausschließlich in

Europa ereigneten und in dessen Rah-

men die Menschen sozialisiert wurden.

Die europäische Moderne ist auch insti-

tutionalisiert worden und hat sich in der

Wissenschaft und Technologie materiali-

siert, die Europa dazu verholfen haben,

als eine Militärmacht die Welt zu erobern

und eine westlich dominierte Weltord-

nung aufzubauen. Diese Dimension der

Moderne steht im Zentrum des vorlie-

genden Buches und wird als globalisierte

technisch-wissenschaftliche Modernität

bezeichnet. Während die kulturelle

Moderne durch das Prinzip der Subjekti-

vität die Freiheit des Individuums von

überlieferter Tradition und von den mit

ihr zusammenhängenden verkrusteten

Strukturen begründet, ist die institutio-

nelle Dimension der Moderne (vgl. Anm.

2) auf Herrschaft und Modernisierung

von Unterdrückung gerichtet. Die

europäische koloniale Eroberung der

Welt ist der Rahmen der Globalisierung

der Moderne. Die kulturelle Moderne gilt

im Westen, und ihre institutionelle

Dimension ist das Merkmal der Globali-

sierung und somit der Begründung einer

Weltordnung.

Nicht-Europäer haben die Moderne in

ihrer institutionellen Dimension als ein

Herrschaftsprojekt, nicht aber als kultu-

relle Moderne erfahren. Und doch gehört

zur Dialektik der Moderne, die ich nicht

als „Dialektik der Aufklärung“ sehen

möchte,dass sie ungewollt durch die „List

der Vernunft“ auch ihre kulturellen Werte

exportiert. Die gesamten Prozesse der

Entkolonisierung in Asien und Afrika

basieren auf der Aufnahme europäischer

Ideen wie Freiheit und Volkssouveränität

und deren Aktivierung eben gegen das

koloniale Europa durch europäisch gebil-

dete, nicht-westliche Menschen, zu

denen auch die Muslime gehören.49 Die

Muslime haben Europa nicht als

Ursprung der ”Aufklärung”, sondern als

ein militärisch überlegenes Kolonialsy-

stem erfahren. Bereits die ersten Nieder-

lagen der muslimisch-osmanischen

Armeen in den „Türkenkriegen“ gegenü-

ber den europäischen, technologisch

überlegenen Armeen waren der Beginn

dieser Erfahrung. In diesem Zusammen-

hang ist auch der soziale Wandel in

außerokzidentalen Gesellschaften zu

sehen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts

in ein von Europa beherrschtes Weltge-

füge zwangsintegriert wurden. Der

soziale Wandel wird, wie bereits argu-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

59

49 Zum Rückgriff auf europäische Ideen zur Begründung der Entkolonialisierung vgl. B. Tibi, „Politische Ideen in der'Dritten Welt' während der Dekolonisation“, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politi-schen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 361-402.

Page 62: perspektive21 - Heft 15

mentiert, in diesen Regionen seitdem

primär extern ausgelöst. Die Bedin-

gungsfaktoren bestehen aus einem Kom-

plex von externen und internen Elemen-

ten. Das ist der welthistorische Kontext

des islamischen Fundamentalismus, in

dessen Ideologie man trotz aller Anfein-

dung eine Fülle von Anleihen aus eben

diesem verhaßten Westen vorfindet.

So wichtig es auch ist, auf die genann-

ten Faktoren hinzuweisen, liegt es mir

dennoch fern, diese Entwicklung monok-

ausal und eingleisig auf die europäische

Beherrschung der Welt des Islam zurück-

zuführen. Ein zentrales Merkmal eines

solchen, primär von außen ausgelösten

Wandels ist, dass er von den Betroffenen

als eine Bedrohung durch fremde Mächte

wahrgenommen wird. Einheimische Nor-

men und Werte – hier ein vor-modernes

Verständnis des Islam –, die ihr Substrat

in Sozialstrukturen haben, welche vor

diesem Wandel existierten und von die-

sem erschüttert und erheblich verändert

wurden, überdauerten den Wandel; sie

veränderten sich nicht analog zu dem

Strukturwandel, wie es bei einem Typ von

innerem sozialen Wandel der Fall ist, der

in Europa stattgefunden hat. Und doch

bleiben diese Normen und Werte nicht

unverändert, so sehr die Muslime auch

an ihren Purismus, das heißt an die Rein-

heit der Doktrin, glauben. Diese textuell

in den religiösen Schriften fixierten

Werte werden in der Wahrnehmung kon-

textuell bedingt. Das entsprechende

weltpolitisch bedingte Verhältnis von

Text und Kontext charakterisiert den isla-

mischen Fundamentalismus: Er ist weder

ein Traditionalismus noch ein Modernis-

mus, vielmehr ist er „ein Traum von der

halben Moderne“.50

Menschen müssen in einer sich wan-

delnden Welt ihre Identität bewahren. Ihre

Umwelt erscheint ihnen nicht mehr

bestimmbar; sie bedarf aber der Bestim-

mung zur Bewahrung der Identität des

Menschen. In einem solchen historischen

sozialpsychologischen Kontext gewinnt

die Religion eine zentrale Funktion. Reli-

gion ist hier nicht bloß Ideologie, sondern

„ein Willen zum Paradies“ und ein Orien-

tierungsmuster. Diesen sozialen Vorgang,

der in vielen außerokzidentalen Gesell-

schaften zu beobachten ist, kann man

intensiv auch in Gesellschaften islami-

scher Kultur feststellen. Je rapider der

soziale Wandel ist und je unbestimmbarer

die Umwelt für die betroffenen Individuen

wird, desto stärker wird das Bedürfnis

nach Sicherheit bietender Religion. Der

Wandel wird schlechthin als eine Bedro-

hung empfunden, die von außen – vom

Westen – herrührt. Die Sehnsucht nach

Vergangenem wird kultiviert. Die Wieder-

herstellung des durch das Fremde zurück-

Bassam Tibi

60

50 B. Tibi, „Der Traum von der halben Moderne. Über das schiefe Verhältnis des Islams zu Europa und die Wurzeln desFundamentalismus“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton) vom 19. Februar 1991, S. 35.

Page 63: perspektive21 - Heft 15

gedrängten und überlagerten Autochtho-

nen, eine Rückkehr und zugleich eine Rück-

besinnung, wird nun auf der Basis der Lek-

türe der religiösen Skriptur zum politi-

schen Aktionsprogramm erhoben. Die

europäische Moderne als Rahmen für eine

Weltordnung erscheint den Muslimen in

dieser Situation als Quelle ihres Elends, so

sehr sie und ihre Lektüre der religiösen

Texte auch von ihr geprägt werden. Nur die

einheimische Religion, das heißt der Islam

als ein kulturelles System, kann in dieser

Krisensituation eschatologisches Heil ver-

sprechen. Dieser Hintergrund mag das

„appeal“ der militanten islamischen Grup-

pen gerade auf jene oberflächlich moder-

nen Schichten, die vom Wandel und des-

sen Folgen am meisten betroffen sind,

erklären. Es ist somit kein Zufall, dass die

Fundamentalisten vorwiegend städtische

Universitätsstudenten und Absolventen

von Hochschulen sind, die zwar oft aus

ländlichen Gebieten stammen, aber keine

pauperisierten Bauern sind. Mit anderen

Worten: Fundamentalisten findet man in

den islamischen Ländern nur in Großstäd-

ten und unter halbgebildeten Schichten,

nicht aber in ländlichen Gegenden und

niemals unter der analphabetischen bäu-

erlichen Bevölkerung. Der städtische Cha-

rakter des Fundamentalismus verrät seine

enge Bindung an die Moderne, die er als

eine Weltordnung zu bekämpfen trachtet.

Die Einschätzung des Phänomens des

islamischen Fundamentalismus erfordert

eine Bewertung der möglichen Zukunft

dieser Erscheinung. Deshalb müssen wir

uns im Rahmen der Analyse des politi-

schen Islam im Sinne der Re-Politisierung

des Sakralen die Frage stellen, welche

Zukunftsperspektiven die islamischen

Fundamentalisten als Alternative zur

Moderne offerieren und ob ihre Forderun-

gen der Zeit, in der wir leben,entsprechen.

Nach Ansicht der Fundamentalisten

würde das existierende Elend, das die

Krise bedingt, in einem islamischen

System, im Nizam Islami, überwunden

werden. Dieses Buch versucht deshalb zu

erklären, was ein „islamisches System“ ist

und ob es das Heil zu realisieren vermag,

das islamische Fundamentalisten sich

davon versprechen.

In den islamischen Ländern ist das zen-

trale Problem die Überwindung von

Unterentwicklung. Hierfür liefern die Trä-

ger des politischen Islam keine Lösung,da

ihr Denken sich in einer defensiv-kulturel-

len Reaktion auf die Folgen des rapiden

sozialen Wandels erschöpft, nicht aber

eine Strategie zur Bewältigung der

Moderne und der aus ihr für die Muslime

entstehenden Probleme bietet. Die politi-

sche Praxis des Fundamentalismus

umfaßt neben den defensiv-kulturellen

Einstellungen auch den „Terrorismus“51.

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

61

51 Vgl. hierzu das Vorwort zur 2001-Auflage von B. Tibi, Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischerFundamentalismus, Frankfurt/M. 2001. Allgemein vgl. Walter Reich (Hg.), Origins of Terrorism. Psychologies, Ideologies,Theologies, States of Mind, Cambridge 1990. Neu: Paul R. Pillar, Terrorism and US Foreign Policy, Washington/DC 2001.

Page 64: perspektive21 - Heft 15

In islamischen Ländern ist diese Tatsache

schon lange bekannt,52 aber es bedurfte

der Tragödie des 11. Septembers 2001, um

darauf international aufmerksam zu

machen. Auch dieser Terrorismus vermag

die angesprochenen Probleme der Mus-

lime nicht zu lösen.

In bezug auf die islamische Welt erfor-

dert die Überwindung von Unterent-

wicklung nicht nur einen Strukturwan-

del, sondern auch ein umfassendes

gesellschaftspolitisches Konzept und

eine veränderte dynamische kulturelle

Weltsicht. Der politische Islam als ein

politischer Aktionismus erfüllt beide

Erfordernisse nicht. Der islamische Fun-

damentalismus ist charakterisiert durch

und erschöpft sich in der Gläubigkeit an

die Autorität des Textes. Auf den Text

wird aber nicht nur selektiv zurückgegrif-

fen, sondern dieser wird auch im Kontext

der Moderne gelesen, jedoch ohne dass

sich Fundamentalisten dessen bewußt

sind. In der Wahrnehmung der Funda-

mentalisten ist der Text gleichermaßen

heilig, absolut und einzig autoritativ und

dazu noch überzeitlich-überräumlich

gültig. Dennoch gibt es viele Lesarten

und unterschiedliche Interpretationen

des Textes, so dass sich nicht nur ein ein-

ziger Inhalt bei der – ohnehin selektiv

erfolgenden Lektüre – ergibt. Aus diesem

Grund benötigen die Fundamentalisten

charismatische Führer als persönliche

Autoritäten, die glauben helfen, dass sie

die einzig gültige Bedeutung des Textes

vermitteln. Diese Autoritäten können

bereits verstorbene Personen sein, wie

die wichtigste Autorität des zeitgenössi-

schen fundamentalistischen Islam,

Sayyid Qutb. In seinen, eine größere Ver-

breitung als der Koran selbst genießen-

den Schriften sagt er autoritativ, welche

Botschaft der Koran an die Muslime in

ihrer Konfrontation mit der europäi-

schen Moderne und mit den Folgen ihrer

Globalisierung verkündet. Fundamenta-

listen brauchen aber auch lebendige Per-

sonen, die ihnen als charismatische Füh-

rer den Weg zeigen. Im Hinblick auf die

Revolte gegen die Weltordnung schien

Saddam Hussein die Rolle des Führers

der islamischen Massen einzunehmen.

Die Fundamentalisten bilden aber keine

einheitliche Bewegung, sondern eher

zahlreiche sektiererische Gruppen, die

jeweils ihren lokalen Führer haben, der

ihnen den Weg weist. Diese semi- bis

pseudo-charismatischen Figuren sind

ebenso zahlreich wie die fundamentali-

stischen Gruppen selbst. Diese struktu-

relle Schwäche der fundamentalisti-

schen Bewegung erschwert es ihr, zu

einem politischen Faktor zu werden, der

die vorhandene Zustimmung zur Ideolo-

gie in politische Macht umsetzen kann.

Bassam Tibi

62

52 Vgl. hierzu die arabischen Quellen 'Adel Hammuda, Qanabil wa masahif. Qissat tanzim al-Djihad (Bomben und Hei-lige Bücher. Die Geschichte der Djihad-Organisation), Kairo 1989 und Ni'matuallah Djaninah, Tanzim al-Djihad (DieOrganisation des al-Djihad), Kairo 1988.

Page 65: perspektive21 - Heft 15

Zusammenfassend können wir auf

konzeptueller Ebene festhalten,dass Fun-

damentalisten, die keine Traditionalisten,

sondern moderne Menschen sind, sich in

ihrer Auseinandersetzung mit der

Moderne selektiv auf die religiösen Texte

berufen, die Vergangenheit (den Stadt-

staat von Medina mit dem Propheten

Mohammed als seinem Oberhaupt) als

ein goldenes, richtungsgebendes Zeital-

ter verherrlichend heraufbeschwören

und hierbei mediäre Persönlichkeiten als

charismatische Führer benötigen. In der

Krise sind sie auf der Suche nach dem im

eschatologischen Sinne Absoluten, ihrem

Heil. Dennoch ist der religiöse Funda-

mentalismus – als eine politische Ideolo-

gie – von der Moderne, die er eigentlich

zu bekämpfen trachtet, beeinflußt, ja

geprägt. Von der Moderne werden die

instrumentellen Errungenschaften wie

Wissenschaft und Technologie sowie

deren Produkte, nicht aber das rationale

Weltbild übernommen, ohne das die

Moderne gar nicht zustande gekommen

wäre.

Die Kritik am politischen Islam sollte

aber nicht so verstanden werden, dass

es für den Islam als Religion keinen

Platz in der noch fehlenden Zukunfts-

perspektive für den islamischen Orient

gibt. Entwicklung ist keine Imitation.

Die kulturelle Moderne ist im islami-

schen Orient nicht wiederholbar. Hin-

ter ihre Leistungen (zum Beispiel Men-

schenrechte) darf man jedoch nicht

zurückfallen. Soziokulturelle Normen

haben in der Geschichte immer eine

Schlüsselrolle in den entsprechenden

sozialen Wandlungen gespielt. Eine

dynamische Erneuerung des Islam, die

sich nicht in einer defensiv-kulturellen

Reaktion erschöpft, ist ein immer noch

erforderlicher, aber bisher fehlender

Beitrag der Muslime zur Bewältigung

der Moderne. Kurzum: Der islamische

Fundamentalismus ist ein Produkt

einer defensiv-kulturellen Reaktion auf

die Globalisierung der Moderne. Dabei

ist stets zu vergegenwärtigen, dass

„Moderne“ gleichbedeutend ist mit

kultureller Moderne, das heißt mit

Menschenrechten und Demokratie;

aber „Moderne“ bedeutet auch den

Aufstieg des Westens mittels

militärisch überlegener moderner

Waffentechnologie. Mit beiden

Dimensionen der Moderne werden

außereuropäische Völker, hier die Mus-

lime, konfrontiert. Das Phänomen Fun-

damentalismus steht in diesem Kon-

text. Mit anderen Worten: Fundamen-

talismus und Moderne zu analysieren,

heißt anzuerkennen, dass beide auf-

einander auf mannigfaltige Weise

bezogen sind. Zwischen beiden herr-

scht jedoch ein Kampf, der sich in Asien

und Afrika und am virulentesten in

dem Haus des Islam/Dar al-Islam voll-

zieht und den Beginn des 21. Jahrhun-

Der islamische Fundamentalismus und die Moderne

63

Page 66: perspektive21 - Heft 15

derts auf der Suche nach einer neuen

Weltordnung prägt. Der historische

Hintergrund dieses Zusammenpralls

ist der Aufstieg des Westens, der mit-

tels seiner Wissenschaft und Technolo-

gie die gesamte Welt erobern und eine

Weltordnung gründen konnte. Die

Moderne bleibt gespalten in ein kultu-

relles Projekt, das sich ausschließlich

im Westen durch die Umsetzung des

Subjektivitätsprinzips in verbriefte,

institutionell geschützte Menschen-

rechte materialisiert hat, und in eine

global herrschaftsbezogene institutio-

nelle Dimension (technisch-wissen-

schaftliche Modernität). Letztere fand,

unter anderem vor allem durch die Dif-

fusion der westlichen Waffentechnolo-

gie, eine umfassende Globalisierung.

Gegen diese Weltordnung richtet sich

die Revolte der außereuropäischen vor-

modernen Kulturen.

In dem arabischen Teil des Dar al-Islam,

das heißt dem arabischen Nahen Osten,

nimmt diese Revolte die Form einer

Ablehnung der von den USA als nahöstli-

che Pax Americana angestrebten Neu-

ordnung jener Region sowie der gesam-

ten Welt an. Im Gegenzug kultivieren isla-

mische Fundamentalisten die rückwärts

gewandte Utopie einer Pax Islamica, wel-

che die westliche Dominanz durch eine

islamische abzulösen trachtet (vgl. Anm.

51). Die Muslime empfinden sich als frem-

den Mächten ausgeliefert und reagieren

hierauf zum Teil militant. Die High-Tech-

Kriege am Golf (1991) und in Afghanistan

(2001) haben sie gedemütigt. Wie nie

zuvor ist ihnen ihre wissenschaftlich-

technische Unterlegenheit vor Augen

geführt worden. Die Antwort der Mus-

lime in dieser Situation heißt: militanter

Fundamentalismus.53

Bassam Tibi

64

53 Zu muslimischem und jüdischem Fundamentalismus vgl. Emmanuel Sivan und M. Friedman (Hg.), Religious Radi-calism and Politics in the Middle East, Albany/NY 1990.

Bassam Tibi,geb. 1944 in Damaskus, ist seit 1973 Professor für Internationale Beziehungen

in Göttingen und war von 1998 bis 2000 Bosch Visiting Professor

an der Harvard University.

Forschungsaufenthalte in den meisten arabischen Ländern und

Gastprofessuren in den USA., in Asien und Afrika.

Zahlreiche Buchveröffentlichungen zum Islam und zum Fundamentalismus.

Page 67: perspektive21 - Heft 15

Die PDS hat sich in Ostdeutschland zur

stabilen dritten Kraft innerhalb des politi-

schen Systems entwickelt. In einigen

Bereichen besitzt sie bereits den „Charak-

ter einer Volkspartei”. (Brie). Im Zuge der

aktuellen Transformationsforschung ist

die PDS in vielfältiger Weise untersucht

worden. Dieses trifft insbesondere auf die

Programmatik, Organisationsgeschichte

und Elitenstruktur auf Bundes- und Lan-

desebene zu. In dem gesamten Untersu-

chungskanon fehlen bisher jedoch kom-

munale Nahstudien zur Elitentransfor-

mation der PDS. Dieses ist umso verwun-

derlicher, als in den meisten Untersu-

chungen zur PDS gerade ihre kommunale

und sozialräumliche Verankerung als ein

Erklärungsansatz für ihre Wahlerfolge

benannt wird. Der Autor hat versucht, für

Brandenburg dieses Manko zu füllen. An

Hand einer schriftlichen und standardi-

sierten Befragung von PDS-Mandatsträ-

gern in Kreistagen und Stadtverordne-

tenversammlungen von kreisfreien Städ-

ten im Land Brandenburg wurde ver-

sucht,den stattgefundenen Elitenwandel

auf der Ebene der Kreise und kreisfreien

Städte abzubilden.

Da Mitgliederkontinuitäten, informelle

Strukturen und Vermögen von der SED

und damit aus dem alten System über-

nommen wurden, ist die Untersuchung

des Elitenwandels demokratietheore-

tisch durchaus bedeutsam und notwen-

dig, um ein realistisches Bild von der PDS

zu bekommen.

Der vorliegende Textes hinterfragt des-

halb ob sich die heutige kommunale PDS-Funktionselite aus den breiten Schichtender Gesellschaft und ihren größeren undkleineren Gruppen rekrutiert und damitdie Nachwende-Gesellschaft repräsentiertoder es sich bei ihren Kommunalabgeord-neten nach wie vor um die Repräsentan-ten des gesamtgesellschaftlich überwun-denen DDR-Systems handelt?

Damit wird die Kaderrekrutierung zum

Indikator für die Demokratisierung der

65

Elitentransformation auf kommunalerEbene am Beispiel der PDS in Brandenburg

von Lars Krumrey

Page 68: perspektive21 - Heft 15

PDS. Hat es einen Elitentausch gegeben,

so kann man davon ausgehen, dass die

PDS auf der personellen Ebene den Trans-

formationsprozess bewältigt hat. Die

Belastung der PDS durch ihren Funk-

tionärskörper ist dann nicht mehr verifi-

zierbar, da der Austausch für die Bundes-

und Landesebene heute schon als

gemeinhin akzeptiert gilt. Hat es diesen

Elitenaustausch nicht gegeben, erscheint

zumindest fragwürdig, ob die PDS als

Gesamtpartei ihre programmatisch-

inhaltliche Transformation und die damit

einhergehende demokratische Konsoli-

dierung abgeschlossen hat.

Als Grundgesamtheit wurden die 203

Abgeordneten der PDS auf der Ebene der

Landkreise und kreisfreien Städte festge-

legt. Hieraus sind im Rahmen einer Teiler-

hebung fünf Kreistagsfraktionen und

drei Stadtverordnetenversammlungen

ausgewählt worden. Zusätzlich wurde in

die Befragung noch die kreisangehörige

Stadt Neuruppin (Landkreis Ostprignitz-

Ruppin) mit einbezogen, da diese eine

von zwei brandenburgischen Städten ist,

in der die PDS über einen hauptamtli-

chen Bürgermeister verfügt. Bei der

Untersuchung wurde sich aus zwei Grün-

den auf die überörtliche Ebene be-

schränkt: Einmal sollten die Fallzahlen in

einem für eine Diplom-Arbeit überschau-

baren Umfang gehalten werden und

zum Anderen weisen hier die Fraktionen

jeweils Größen auf, die statistisch noch

darstellbar sind. An Hand von Gemeinde-

fraktionen mit zwei bis fünf Abgeordne-

ten lassen sich sicherlich keinerlei Ten-

denzen aufzeigen.

Rückläufe sind aus allen angeschrieben

Fraktionen der Kreistage und Stadtver-

ordnetenversammlungen der kreisfreien

Städte zu verzeichnen. Leider ist aus der

Stadt Neuruppin kein Fragebogen

Lars Krumrey

66

Rückläufe der FragebögenFraktion Mandate Rücklauf %

Stadt Brandenburg a. d. Havel 10 10

Stadt Frankfurt (Oder) 13 13 100

Stadt Potsdam 16 16

Landkreis Barnim 15 10 67

Landkreis Märkisch-Oderland 14 9 64

Landkreis Potsdam-Mittelmark 11 7 63

Landkreis Spree-Neiße 11 9 82

Landkreis Uckermark 12 12 100

Stadt Neuruppin 5 0 0

Gesamt 107 85 79

Page 69: perspektive21 - Heft 15

zurückgesandt worden. Insgesamt ist der

Rücklauf aber erfreulich hoch.

Bei der Auswahl der Regionen wurde

versucht die Struktur des Landes zu

berücksichtigen. Diese umfasst sowohl

die geografische Ausrichtung als auch die

Teilung zwischen engerem Verflech-

tungsraum und äußerem Entwicklungs-

raum.

Mit den Landkreisen Uckermark und

Spree-Neiße sowie Märkisch-Oderland und

Potsdam-Mittelmark sind jeweils Land-

kreise ausgewählt worden, die auch die

Ränder des Landes umfassen, wobei Mär-

kisch-Oderland und Potsdam-Mittelmark

zusätzlich auch in den „Berliner Speckgür-

tel“ ragen. Potsdam bildet das politische

Zentrum des Landes und Potsdam-Mittel-

mark, Märkisch-Oderland sowie Barnim

sind zu Regionen mit Zuwanderung von

qualifizierten Arbeitskräften aus Berlin und

den alten Bundesländern geworden.

Durch diese Auswahl ist es im Ergebnis

gelungen, die verschiedenen Facetten des

Landes und auch der PDS in die Untersu-

chung zu integrieren. Gleichwohl erfolgte

die Auswahl nicht nach repräsentativen

Kriterien. Mit der Entscheidung, nicht

sämtliche 203 PDS-Mandatsträger zu

befragen, wurde gleichzeitig entschieden,

gewisse statistische Unzulänglichkeiten

zu akzeptieren. Mit einer Quote von knapp

42 Prozent bezogen auf alle PDS-Mandat-

sträger sind die Daten aber schon so kon-

solidiert, dass sie einen gesicherten Trend

aufzeigen können.

„Empirische Daten zur Analyse der

Transformationsprozesse müssen […] eine

Zeitperiode umfassen, die kurz vor Offen-

kundigwerden der Transformation ansetzt

und bis kurz nach der institutionellen

Umgestaltung im Gesamtsystem reicht.“1

Insofern wurden in dem Fragebogen

sowohl das partei- und kommunalpoliti-

sche Engagement vor 1989 erfragt, als

auch das heutige Engagement.

Untersucht wurden im Einzelnen:

• sozialstatistische Angaben,

• Angaben zu Parteibindung und Mit-

gliedschaften,

• Angaben zu kommunalpolitischen

Mandaten und Ämtern,

• Angaben zu ausgewählten interme-

diären Kontakten (im Wesentlichen zu

klassischen und angenommenen Vor-

feldorganisationen der PDS bzw. SED)

und

• Angaben zu aufgewendeten Zeitkon-

tingenten für Partei und Fraktion.

Die Untersuchung beschränkt sich auf

die reine Erhebung von Funktionen und

die politische Biografie der befragten Per-

sonen. Einstellungsfragen wurden nicht

gestellt. Qualitative Aussagen zu den

ideologischen Dispositionen der Mandat-

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

671 Ja-Sook Park, Transformation in einem geteilten Land, Frankfurt am Main: Peter Lang 1999, S. 71

Page 70: perspektive21 - Heft 15

Die sozialstatistischen Daten geben

unter anderem Aufschluss darüber, zu wel-

cher Zeit die heutigen Mandatsträger poli-

tisch sozialisiert wurden und welchen

gesellschaftlichen Status sie besitzen. Von

den 85 Mandatsträgern, die den Fragebo-

gen beantwortet haben, waren 49 Män-

ner und 36 Frauen.

Um die Angaben zur Altersstruktur

darstellen zu können, wurden bei der

Auswertung Klassen gebildet. Die Klas-

sen unterteilen in die Gründungsgenera-

tion (bis 1940), Aufbaugeneration (1941-

1955), DDR-Generation (1956-1970) und

Krisengeneration (ab 1971). Dieses

erscheint insofern sinnvoll, als die Grün-

dungsgeneration die unmittelbare Nach-

kriegszeit und die ersten Jahre der Staats-

gründung miterlebt hat. Die Aufbauge-

neration hat den Beginn der Nachkriegs-

zeit als Kind noch miterlebt und als erste

das komplette DDR-Bildungssystem

durchlaufen. Die DDR-Generation hat

ihre komplette Sozialisierung in der DDR

erlebt. Gleichzeitig war diese Generation

zur Wende voll erwerbstätig und musste

sowohl politisch als auch ökonomisch

den Wechsel von einem System in das

sträger können also nur durch Ableitun-

gen im Rahmen der Responsivität und

unter Zugrundelegung anderer Untersu-

chungen getroffen werden.

Lars Krumrey

68

Ergebnisse aus der Umfrage

Page 71: perspektive21 - Heft 15

andere verkraften. Die Krisengeneration

wurde zwar in der DDR sozialisiert, hat

aber die ab den siebziger Jahren zuneh-

menden Struktur- und Systemkrisen

umfassend miterlebt und ihre (Schul-)

Ausbildung während oder kurz nach dem

Systemwechsel abgeschlossen.

Versucht man nun die Responsivität

zwischen Abgeordneten und Bevölke-

rungsquerschnitt zu analysieren, kommt

man zu folgenden Ergebnissen.

Zunächst sind 91,7 Prozent der Man-

datsträger in der DDR aufgewachsen.

Der älteste Abgeordnete ist 1925 und

der jüngste Abgeordnete 1980 geboren.

Der Altersdurchschnitt der Abgeordne-

ten liegt bei 50,79 Jahren. Jedoch fällt

auf, dass die Abgeordneten in den drei

kreisfreien Städten mit 48,16 Jahren sig-

nifikant jünger sind als die in den Land-

kreisen mit 52,52 Jahren. Entsprechend

stammt mit 21 Jahren der jüngste Abge-

ordnete aus der Stadt Potsdam und mit

76 Jahren der älteste aus dem Landkreis

Barnim. 23,5 Prozent der Abgeordneten

sind 60 Jahre und älter, wohingegen nur

5,9 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Über

den Alterdurchschnitt der Gesamtbe-

völkerung lagen keine frei zugänglichen

Daten in den hier gebildeten Klassen

vor. Jedoch waren in Brandenburg 1999

insgesamt 15 Prozent der Bevölkerung

65 Jahre und älter.2 Es kann deshalb

davon ausgegangen werden, dass die

Zusammensetzung der Fraktionen

etwas oberhalb der Altersstruktur des

Landes liegt.

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

69

Verteilung der Generationen (n=85)

Generation Anzahl Kumuliert %

Gründergeneration 18 18 21,4

Aufbaugeneration 45 63 53,6

DDR-Generation 14 77 16,7

Krisengeneration 7 84 8,3

k. A. 1 ./.

Gesamt 85

PDS-Abgeordnete deutlich älter als der Landesdurchschnitt

2 Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg, Bevölkerung nach Altersgruppen 1990–1999,http://www.brandenburg.de/lds/daten/bev/tab21.htm (download vom 15.09.01).

Page 72: perspektive21 - Heft 15

Das Gros der Abgeordneten ist nach

wie vor berufstätig. Lediglich 21 Prozent

der Abgeordneten sind aus dem Erwerb-

sprozess ausgeschieden. Auffallend

gering ist die Quote der Erwerbslosen.

Mit 3,5 Prozent ist sie weit unterdurch-

schnittlich verglichen mit der Arbeitslo-

senquote von 17,3 Prozent im Land Bran-

denburg3.

Drei Abgeordnete verfügen über eine

Berufsausbildung, 12 haben ein Fach-

schulstudium und 68 ein Fachhochschul-

oder Hochschulstudium absolviert. Zwei

Abgeordnete verfügen über keine Berufs-

ausbildung.

Wichtig zur Beurteilung der Repräsen-

tativität der Abgeordneten ist auch ihr

Beschäftigungsverhältnis. Arbeiter sind

zwei Mandatsträger, Angestellte sind 41,

Beamte fünf und Selbständige 11 der

Befragten. Neun Abgeordnete machten

keine Angaben zu ihrem Beschäftigungs-

verhältnis. Die Differenz zur Zahl der

Berufstätigen ergibt sich daraus, dass

einige Probanden ein Beschäftigungsver-

hältnis angegeben haben, obwohl sie

noch in Ausbildung oder schon in Rente

sind. Aber auch die Beschäftigungssekto-

ren können Auskunft darüber geben, wie

breit eine Partei in der Gesellschaft veran-

kert ist. Rekrutieren sich ihre Repräsen-

tanten z.B. nur aus der Industrie oder nur

aus dem Öffentlichen Dienst, so hat die-

ses auch Auswirkungen auf die Integrati-

onsfunktion der Partei. In der Industrie

sind fünf der befragten Mandatsträger

beschäftigt, im Handwerk und in der

Landwirtschaft lediglich je zwei, im Han-

dels- und Dienstleistungssektor 18 Perso-

nen. Der Öffentliche Dienst stellt mit 28

Personen den Hauptbeschäftigungs-

zweig der PDS-Mandatsträger dar. Die

restlichen Befragten machten keine

Lars Krumrey

70

Erwerbsstatus (n=85)Erwerbsstatus Anzahl %

Berufstätig 61 71,8

Rentner/in 18 21,1

Hausfrau/mann 0 0

Ausbildung 3 3,5

Erwerbslos 3 3,5

k. A.

Gesamt 85

3 Vgl.: Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg, Im August wenig Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in Berlin undBrandenburg, Pressemitteilung Nr. 52 vom 05.09.2001, Berlin 2001.

Page 73: perspektive21 - Heft 15

Angabe zu ihrem Beschäftigungssektor

oder befanden sich bereits in der Rente.

Damit finden sich die PDS-Mandatsträ-

ger in der Mitte der Gesellschaft wieder,

auch wenn sie für diese nicht repräsenta-

tiv sind. Der hohe Anteil von Hochschul-

absolventen, der außerordentlich hohe

Grad an Beschäftigten im Öffentlichen

Dienst und die geringe Arbeitslosen-

quote weichen erheblich vom Landes-

durchschnitt ab. „Besonders auffällig ist,

dass die PDS einen geringen Arbeiteran-

teil unter den Mandatsträgern hat,

obwohl sie die Nachfolge einer Partei

antrat, die sich geradezu als die Arbeiter-

partei im Osten Deutschlands präsentiert

hat.”4

Der zweite wichtige Bereich, zu dem im

Zuge der Umfrage Daten gewonnen wur-

den, bezieht sich auf die Parteibindung

und das innerparteiliche Engagement.

Von den 85 Befragten sind insgesamt 74

Mandatsträger Mitglied der PDS. Davon

sind drei Mitglieder in der Wende-Zeit

1989/90, jeweils ein Mitglied 1994, 1996

und 1998 eingetreten sowie zwei Mitglie-

der 1997 eingetreten. Ein Mitglied machte

keine Angabe zu seinem Beitrittsjahr. 11

PDS-Fraktionsmitglieder besitzen kein

Parteibuch. Von den heutigen Mandat-

strägern waren insgesamt 70 Personen

früher Mitglied der SED, jedoch sind zwi-

schenzeitlich wieder fünf Personen aus

der PDS ausgetreten, so dass von den heu-

tigen Mandatsträgern mit PDS-Partei-

buch bereits 65 das SED-Parteibuch beses-

sen haben. Austrittsdatum und Austritts-

grund wurden nicht erfragt. Insofern kann

keine Auskunft darüber gegeben werden,

ob die fünf ausgetretenen Mitglieder zu

Wendezeiten ausgetreten sind oder erst

in den letzten Jahren die PDS verlassen

haben und warum dieses erfolgte.

Von den heutigen Mandatsträgern

hatten bereits 43 Personen ein Parteiamt

vor 1989 ausgeübt. Dieses taten 14 auf

Ebene der Kreis- oder Bezirksleitung,

davon wiederum hatten sieben Personen

eine hauptamtliche Parteifunktion.

Betrachtet man die heutige innerpar-

teiliche Verankerung der Mandatsträger,

so haben insgesamt 50 Personen ange-

geben, mindestens ein Parteiamt aus-

zuüben. Jedoch sind auch 21 kommunale

Mandatsträger Mitglied der PDS, ohne

eine besondere Funktion in der Partei zu

übernehmen.

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

714 Pollach//Wischermann/Zeuner, Ein nachhaltig anderes Parteiensystem, Opladen: Leske+Budrich 2000., S. 83.

Fast 50 Prozent der Mandatsträger waren schon vor 1989 politisch aktiv

Page 74: perspektive21 - Heft 15

Von den Funktionsträgern nimmt das

Gros (31 Personen) lediglich eine Partei-

funktion war. Dieses sind im Wesentli-

chen das Delegiertenmandat für den

Landesparteitag oder die Mitgliedschaft

in einem Vorstand einer Basis- oder Kreis-

parteiorganisation. 16 Mandatsträger

nehmen 2-3 Parteifunktionen wahr und 4

Personen nehmen 4 Funktionen wahr.

Von den 50 Personen werden insgesamt

77 Parteiämter ausgeübt, plus ein Land-

tagsmandat.

Wichtig für die innerparteiliche Veran-

kerung der Mandatsträger ist die Mitar-

beit in den Arbeits- und Interessenge-

meinschaften (im Folgenden kurz AG/IG

genannt) der Partei. Erfragt wurden alle

in der Landessatzung der PDS Branden-

burg verankerten AG/IG. Dieses bedeutet

jedoch nicht, dass jede AG/IG in den

befragten Kreisen existieren muss.

Zusätzlich hierzu wurden auch das Kom-

munalpolitische Forum und die Rosa-

Luxemburg-Stiftung als zwei wichtige

parteinahe Vereinigungen erfasst. Auffal-

lend ist, dass 37 Mandatsträger mit PDS-

Parteibuch in keiner AG/IG auf Parteie-

bene mitarbeiten. Mit Abstand am häu-

figsten wurde die Mitarbeit in Organisa-

tionen mit „Dienstleistungscharakter“

für die Kommunalpolitik, das Kommunal-

politische Forum und die Rosa-Luxem-

burg-Stiftung angegeben. Insgesamt

muss jedoch festgestellt werden, dass

sich die Mandatsträger augenscheinlich

fast ausschließlich auf ihre kommunalpo-

litische Aufgabe konzentrieren. Eine for-

male innerparteiliche Verankerung

sowohl in den Gremien – sieht man von

den Delegiertenmandaten zu Parteita-

gen ab – als auch in den inhaltlichen

Arbeitsgruppen ist nach der Datenlage

Lars Krumrey

72

Parteibindung (n=85)Ja Nein k. A.

Heute Mitglied der PDS 74 11

- davon früher Mitglied der SED 65

Früher mal Mitglied der SED 70 15

Personen m. Parteiämter vor ´89 43 26 1

- Leitung Grundorganisation 34

- Kreisleitung (hauptamtlich) 6

- Kreisleitung (ehrenamtlich) 7

- Bezirksleitung (hauptamtlich) 1

Personen m. Parteiämtern heute 50 21 3

Personen mit Vorstandsämtern 33

Ausgeübte Funktionen

- Vorstand Basisorganisation 17

- Kreisverband 17

- Landesvorstand 3

- Delegierte Landesparteitag 22

- Delegierte Bundesparteitag 12

- Sonstige (inkl. MdL Mandat) 7

Page 75: perspektive21 - Heft 15

nur sehr unzureichend gegeben. Ein

Erklärungsansatz für die geringe Beteili-

gung an den Arbeitsgemeinschaften

könnte die anzunehmende unzurei-

chende regionale Ausprägung der AG/IG

sein. Viele der statuarisch festgelegten

Diskussionsgruppen scheinen auf der

kreislichen Ebene nicht zu existieren.

Andererseits deutet auch das geringe

Engagement in den Parteigremien dar-

aufhin, dass die Verbindung zwischen Par-

tei und Mandatsträgern nur in seltenen

Fällen gegeben ist. Dieses ist umso

erstaunlicher, als es bei anderen Parteien

gerade auf der kommunalen Ebene in der

Regel eine enge Verzahnung zwischen

kommunaler Parteifunktion und kommu-

nalem Mandat gibt. In den acht unter-

suchten Kreisen nehmen jedoch lediglich

31 Personen ein Vorstandsamt wahr,davon

lediglich vier auf zwei verschiedenen

Organisationsebenen (Basisorganisation/

Kreisvorstand: 3; Kreisvorstand/Landesvor-

stand: 1). Geht man davon aus, dass in den

Kreisvorständen die Leitlinien der Politik

für die Kreistage und Stadtverordneten-

versammlungen diskutiert werden, so ist

die Schnittmenge zwischen Kreisvorstand

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

73

Hohe Arbeitsteilung zwischen Parteiorganisation und Fraktion

Arbeitsgemeinschaften/Interessengemeinschaften (n=74)Mitgl.

Frauen-AG Lisa ./.

Solid 2

AG Senioren ./.

AG Betrieb 2

AG Bildung 5

AG Umwelt 3

AG Geschichte ./.

AG Energie 1

AG Internationales ./.

AG Antifaschismus/Rechtsextremismus 4

AG Neues Denken ./.

AG Hochschule ./.

Cuba Sí 1

Marxistisches Forum ./.

Kommunistische Plattform 1

Rosa-Luxemburg-Stiftung 6

Kommunalpolitisches Forum 18

Andere 11

54

Page 76: perspektive21 - Heft 15

und Fraktion mit 17 Kreisvorstandsmitglie-

dern in 8 Fraktionen außerordentlich

gering. Ein Erklärungsansatz könnte die

im Vergleich zu anderen Parteien höhere

Arbeitsteilung zwischen Fraktion und Par-

teiorganisation sein. Hierfür spricht auch

die „Kommunal-Studie”, die feststellt, dass

mit 71 Prozent der Zufriedenheitsgrad mit

der Arbeitsteilung bei den PDS-Fraktions-

vorsitzenden außerordentlich hoch ist.5

Anders sieht das Bild aus, wenn man

sich von den Gremienstrukturen löst.

Gefragt nach der durchschnittlich in der

Woche aufgewendeten Zeit für Parteiar-

beit, erhält man einen Wert von 3,7 Stun-

den (276 Stunden insgesamt), bezogen auf

alle Mandatsträger. Legt man nur die 61

Mandatsträger zu Grunde, die die Frage

nach ihrem zeitlichen Engagement beant-

wortet haben, erhöht sich dieser Wert auf

4,5 Stunden wöchentlich, tatsächlich ist

die Spreizung jedoch ganz erheblich. Wen-

det die Mehrzahl der Abgeordneten etwa 2

Stunden pro Woche für Parteiarbeit auf, so

gibt es auch einzelne Personen, die mehr

als 30 Stunden pro Woche angegeben

haben und damit eigentlich schon als „Teil-

zeit-Politiker“ zu bezeichnen sind. Zwei

Befragte gaben Werte von 50 und 65 Stun-

den wöchentlich für ihre parteipolitischen

Aktivitäten an. Addiert man hier noch das

kommunalpolitische Engagement hinzu,

Lars Krumrey

745 Vgl.: Günter Pollach/Jörg Wischermann/Bodo Zeuner, a.a.O., S. 80.

Page 77: perspektive21 - Heft 15

kommt man auf Werte jenseits der 80

Stunden pro Woche. Bei solchen Antwor-

ten stellt sich die Frage, inwieweit diese

Selbsteinschätzung realistisch ist. Insge-

samt kann man jedoch feststellen, dass

das innerparteiliche Engagement außer-

halb der Gremienstrukturen als durch-

schnittlich befriedigend und bezogen auf

die tatsächlich antwortenden Personen als

erheblich zu bezeichnen ist.

Intermediäre Kontakte liefern Anhalts-

punkte für die Verankerung der Mandat-

sträger in gesellschaftlichen Großgruppen.

In Studien hierzu ist bisher fast ausschließ-

lich danach gefragt worden, welche Kon-

takte die Mandatsträger zu den verschie-

denen gesellschaftlichen Gruppen haben.

Hier hat die PDS insbesondere bei den

sozial ausgerichteten Kontaktnetzen

regelmäßig gut abgeschnitten.6

Bei diesen Fragen handelte es sich

aber immer um Selbsteinschätzungen.

In der vorliegenden Untersuchung

wurde nach den tatsächlichen Mitglied-

schaften gefragt. Mitgliedschaften deu-

ten auf einen festen und kontinuierli-

chen Kontakt hin, der auch die inneror-

ganisatorische Einflussnahme auf Ver-

bände ermöglicht – und damit für das

potentielle Verhalten dieser wesentlich

maßgeblicher ist. Betrachtet man den

Kontakt der Mandatsträger zu den als

parteinah geltenden Organisationen im

intermediären Bereich, ergibt sich fol-

gendes Bild: Insgesamt sind 21 Personen

(24,7 Prozent) nicht Mitglied in einer für

die Partei strategisch wichtigen Vorfeld-

organisation. Lediglich 38,8 Prozent sind

Mitglied einer Gewerkschaft und nur 14

Prozent gehören dem Mieterbund an,

einer Organisation, die gemeinhin als

Domäne der PDS angesehen wird. 35

Mandatsträger sind lediglich Mitglied

einer einzigen weiteren Organisation

und nur 8 Personen haben einen stark

institutionalisierten intermediären Kon-

takt (Mitgliedschaft in drei und mehr

Organisationen). Damit spiegelt sich in

der PDS die gesamtgesellschaftliche Ten-

denz wider, sich zunehmend weniger

durch Mitgliedschaften an Organisatio-

nen und Vereine zu binden.

Augenfällig ist der Unterschied zu der

Zeit vor 1989. Hier waren nach eigenen

Angaben 78 der Befragten Mitglied in

mindestens einer Massenorganisation.

Sechs Personen machten keine Angaben

zu Mitgliedschaften,von denen aber zwei

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

75

6 Vgl.: Heiko Gothe/Ulla Kux/u.a., Organisation, Politik und Vernetzung der Parteien auf Kreisebene in den fünf neuenLändern, Berlin: Freie Universität Berlin 1996, S. 95 sowie: Pollach/Wischermann/Zeuner, a.a.O., S. 87.

Abnehmende Intermediäre Verankerung

Page 78: perspektive21 - Heft 15

Befragte zu DDR-Zeiten auch noch Kinder

waren.

Insbesondere die Deutsch-Sowjetische

Freundschaftsgesellschaft und der Freie

Deutsche Gewerkschaftsbund waren

Organisationen, in denen praktisch jedes

Parteimitglied ebenfalls eingeschrieben

war. Die Angaben zu Mitgliedschaft in der

FDJ sind wahrscheinlich nicht repräsenta-

tiv, da es sich hier um eine Jugendorgani-

sation handelte, in der zwar faktisch fast

alle DDR-Bürger in ihrer Jugend Mitglied

waren. Viele Befragte haben wahrschein-

lich nur die Mitgliedschaften zum Ende der

DDR angegeben. Anders als heute waren

für viele SED-Mitglieder Mehrfachmit-

Lars Krumrey

76

Intermediäre Mitgliedschaften (n=85)

Mitgl.

Gewerkschaften 33

Mieterbund/Mieterverein 12

Volkssolidarität 14

Sportverein 20

Kulturbund 4

Andere 21

Gesamtmitgliedschaften 104

Mandatsträger o. Mitgliedschaften 21

Intermediäre Mitgliedschaften vor 1989 (n=85)

Mitgl.

FDGB 66

FDJ 51

DSF 73

GST 22

DFD 10

Kulturbund 15

Sportbund 25

Volkssolidarität 21

Andere 10

Gesamtmitgliedschaften 293

Mandatsträger o. Mitgliedschaften 6

Page 79: perspektive21 - Heft 15

gliedschaften Normalität. 68 Personen

waren in drei und mehr Organisationen

Mitglied.

Der dritte Untersuchungsgegenstand

widmete sich dem kommunalpolitischen

Engagement. Hier ist auffällig, das ledig-

lich 15 Personen der heute aktiven Man-

datsträger bereits vor 1989 ein (kommu-

nal-) politisches Mandat innehatten. Auf

der kreislichen Ebene (die damals jedoch

wesentlich kleiner gefasst war als das

heute der Fall ist) waren damals 6 Man-

datsträger aktiv. Ein Mandatsträger war

vor 1989 Mitglied des Rates des Bezirkes,

also an exponierter Stelle politisch ver-

antwortlich.

Interessant zur Beurteilung der Zusam-

mensetzung der Fraktionen ist auch die

Dauer der Fraktionszugehörigkeit. Von

den heutigen Abgeordneten haben 29

Abgeordnete ihr Mandat seit der ersten

Legislaturperiode inne. Immerhin 21

Abgeordnete sind seit der zweiten Legis-

laturperiode Mandatsträger. Neu hinzu-

gekommen in die dritte – jetzt laufende –

Legislaturperiode sind 34 Mandatsträger

(ein Mandatsträger machte keine

Angabe zu seinem Eintritt in den Kreis-

tag). Das bedeutet,dass immerhin 34 Pro-

zent der Mandatsträger bereits unmittel-

bar nach dem Ende der DDR kommunal-

politische Verantwortung übernommen

haben. Dieses heißt jedoch nicht auto-

matisch, dass sie schon zu DDR-Zeiten

kommunalpolitische Funktionen über-

nommen hatten. Von den 29 Abgeordne-

ten der ersten Wahlperiode gaben nur

fünf Personen an, bereits vor 1989 über

ein Wahlamt verfügt zu haben. Ähnlich

gering ist dieser Wert auch für die nach-

folgenden Wahlperioden. Jedoch fällt auf,

dass 1998 vier ehemalige Funktionsträ-

ger (darunter auch das ehemalige Mit-

glied des Rates des Bezirkes) neu hinzu-

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

77

politisches Mandat vor 1989 (n=85)

Ebene der Volksvertretung Mitgl.

Mandatsträger vor 1989 15

(insgesamt)

Ortsteil/Stadtbezirk 1

Gemeinde/Stadt 7

Kreis 6

Bezirk 2

Republik (Volkskammer) 0

Rat des Bezirks 1

Ohne Mandate 59

k.A. 10

Page 80: perspektive21 - Heft 15

gewählt wurden. Dieses deutet darauf

hin, dass der Generationswechsel in der

PDS immer noch mit Schwierigkeiten

behaftet ist.

Von den heute tätigen Kreistagsabge-

ordneten haben neun Mitglieder gleich-

zeitig ein Mandat in einer Gemeindever-

treterversammlung, von denen wie-

derum drei dem örtlichen Fraktionsvor-

stand angehören. 14 Personen üben

neben ihrer Kreistagstätigkeit ein Man-

dat in einer Stadtverordnetenversamm-

lung einer kreisangehörigen Stadt aus.

Hiervon wiederum gehören 9 Personen

dem Fraktionsvorstand an. Eine Person ist

Bürgermeister/Beigeordneter auf der

kommunalen Ebene.

Der verwandte Fragebogen enthielt

bei den Fragen zu den Vorstandszu-

gehörigkeiten von Fraktionen Formu-

lierungen, die offensichtlich insbeson-

dere bei den kreisfreien Städten miss-

interpretiert werden konnten. Um hier

keine unzulässigen Schlussfolgerun-

gen zu ziehen, wurde auf eine weitere

Interpretation der Vorstandsfunktio-

nen bei Fraktionen verzichtet. Dieses

erscheint aber auch insofern vertret-

bar, als die Verzahnung zwischen kreis-

licher und kommunaler Tätigkeit auch

so erfasst werden konnte, was bei den

kreisfreien Städten jedoch auf Grund

der Kommunalverfassung ohnehin

nicht möglich ist. Auffallend in diesem

Block ist jedoch, dass „nur“ 30 Prozent

der Kreistagsabgeordneten über eine

Mehrfachmitgliedschaft in kommuna-

len Vertretungskörperschaften verfü-

gen. Aus der eigenen politischen Praxis

hätte der Autor vermutet, dass eine

Lars Krumrey

78

Page 81: perspektive21 - Heft 15

wesentlich höhere Zahl von Kreistags-

abgeordneten auch auf der gemeindli-

chen oder städtischen Ebene über ein

weiteres Mandat verfügt.

Gefragt nach ihrem zeitlichen Engage-

ment in der Kommunalpolitik ergeben

sich durchweg wesentlich höhere Werte

als bei der Frage nach dem parteipoliti-

schen Engagement. Lag der Durchschnitt

dort bei 4,5 Stunden so liegt er in der

Kommunalpolitik bei genau 12 Stunden,

also fast dem dreifachen Wert gegenüber

der Parteiarbeit.

Erstaunliche Ergebnisse erhält man,

wenn man den Zeitaufwand für partei-

politische und kommunalpolitische

Arbeit addiert. Hier geben 25 Befragte

(29,4 Prozent) an, 20 Stunden und mehr

für ihre politische Tätigkeit aufzuwenden

und 8,5 Prozent engagieren sich jenseits

einer 40 Stundenwoche. Es muss

nochmals auf die obige Bemerkung hin-

gewiesen werden, wonach einige Zahlen

nicht ganz schlüssig erscheinen. So

gaben z.B. jeweils eine Person Werte von

80 bzw. 85 Stunden an,wobei eine Person

zusätzlich noch berufstätig ist. Nichtsde-

stotrotz ist der Aktivitätsgrad der PDS-

Abgeordneten außerordentlich hoch. Das

Gros der erwerbstätigen Befragten sie-

delte sein Engagement – was wesentlich

realistischer erscheint – zwischen 5 und

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

79

Übernahme des Mandates (n=85)

Jahr Anzahl Davon Mandate vor 89

1990 26 5

1991 1

1992 2

1993 16 2

1994 2

1995 0

1996 1

1997 2 1

1998 31 4

1999 0

2000 3

k.A. 1

Hohes Zeitliches Engagement für Kommunalpolitik

Page 82: perspektive21 - Heft 15

20 Stunden an. Insgesamt kommt man

auf ein durchschnittlich aufgewendetes

Zeitkontingent von 17 Stunden, was

sicherlich weit über den durchschnittli-

chen Werten der Abgeordneten von kon-

kurrierenden Parteien liegt.

Die PDS wurde gebildet, weil die Refor-

mation der SED nach dem Scheitern des

alten Blocksystems nicht mehr möglich

erschien. Der Forderung der Massen nach

Entmachtung der SED musste eine grund-

legend reformierte Partei entgegenge-

stellt werden, wollte man weiterhin am

politischen Prozess teilhaben.

Der Übergang von der SED zur PDS über

den Umweg SED-PDS erfolgte im Wesent-

lichen durch die Ablösung der ehemaligen

politischen Klasse auf Kreis-, Bezirks- und

Republikebene und die Ankündigung einer

programmatischen Neuorientierung. Mit-

gliederkontinuitäten, informelle Struktu-

ren und Vermögen wurden übernommen.

Kann dieses an Hand der Mandatsträger-

befragung auch für die kommunalen Eli-

ten festgestellt werden? Die Frage nachdem kommunalen Elitenwandel ist damit

unmittelbar mit der Frage Überlebens-

fähigkeit der PDS verbunden.

Lars Krumrey

80

Zusammenfassung

Page 83: perspektive21 - Heft 15

Ein weiteres Kennzeichen, um die

ideologische Verwurzelung in dem

alten SED-Regime zu messen, sind die

Mitgliedschaften in den Massenorgani-

sationen. Zwar waren Mitgliedschaften

in den Massenorganisationen in der

DDR sehr weit verbreitet, aber be-

stimmte Organisationen hatten eine

besondere ideologische Nähe zur SED.

Hierzu gehörten neben der FDJ als

Jugendorganisation vor allem die DSF

und die GST. In der DSF waren 73 der

Befragten und in der GST immerhin

noch 22 Personen.

Vordergründig könnte festgestellt wer-

den, dass die PDS die kommunalen Man-

datsträger zu einem ganz erheblichen Teil

ausgetauscht hat. Immerhin gaben nur

17,6 Prozent der heutigen Mandatsträger

(15 Personen) an, früher ein kommunalpoli-

tisches Amt ausgeübt zu haben. Hier kann

man dann zwar nicht von einem grundle-

genden Bruch reden, gemessen an dem

Charakter der SED als Staatspartei wäre

dieses aber trotzdem ein signifikanter Hin-

weis auf einen Wechsel.

Nun sind jedoch nicht nur die Funktio-

nen kennzeichnend, sondern hinzu kom-

men noch die politischen Biographien

und die möglicherweise nachhaltige

mentale Verankerung der Mandatsträ-

ger in der DDR.

Alle heutigen Mandatsträger haben

die Zeit der DDR bewusst erfahren. 75

Prozent der Befragten gehörten zur

Gründer- oder Aufbaugeneration. Über

90 Prozent (77 Personen von insgesamt

85) sind unter „DDR-Bedingungen“

politisch sozialisiert worden. Dieses

hinterlässt tiefgreifende Prägungen,

was jedoch auch für alle anderen Par-

teien gilt. Es muss deshalb nach der

inneren Einstellung zur DDR gefragt

werden, um einen Elitenwechsel auch

auf der inhaltlichen Ebene feststellen

zu können. In diesem Zusammenhang

kann zunächst konstatiert werden,

dass über 82 Prozent der befragten

Mandatsträger ihre politische Heimat –

ausgedrückt durch ihre Mitgliedschaft

– in der SED hatten. 43 Personen (50,1

Prozent) hatten innerhalb der Partei

eine Leitungsfunktion. Lediglich fünf

Personen, die heute für die PDS im

Kreisparlament sitzen, waren zwar

früher SED-Mitglieder, sind aber heute

nicht mehr Mitglied der PDS (ohne dass

zu den Motivationen für den Austritt

fundierte Aussagen gemacht werden

können, siehe oben).

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

81

PDS auf kommunaler Ebene weiterhin Repräsentant des überwundenen Gesellschaftssystems

Page 84: perspektive21 - Heft 15

Insgesamt muss also festgestellt werden,

dass

a) bis auf ganz wenige Ausnahmen die

heutigen Abgeordneten ihre politi-

sche Sozialisation in der DDR erfah-

ren haben,

b) der Großteil der heutigen Mandat-

sträger zu DDR-Zeiten nicht in das

kommunalpolitische System der DDR

integriert war, aber

c) fast alle Befragten früher Mitglied der

SED und der sozialistischen Massen-

organisationen waren, in der Mehr-

heit sogar als Mitglied eines Leitungs-

gremiums der SED,

d) im Ergebnis eine personelle Konti-

nuität zur SED in signifikanter Weise

gegeben ist.

Es ist der PDS also auf kommunalerEbene nicht gelungen, eine grundlegendsich von dem alten Gesellschaftssystemunterscheidende Funktionärsstruktur auf-zubauen. Hiergegen spricht auch schon

das insbesondere in den Landkreisen hohe

Alter der meisten Mandatsträger. Damit

wird eine der zentralen Aussagen der Stu-

die von Pollach/Wischermann/Zeuner,

dass sich der Stamm der Schlüsselperso-

nen der PDS „überwiegend und direkt aus

dem Aktivpotenzial des DDR-Systems“7

herleitet, gestützt.

Teilweise unbeantwortet muss die

Frage nach der Wechselwirkung zwischen

Parteiorganisation und Fraktion bleiben.

Insgesamt haben 64 der 74 Mandatsträ-

ger mit PDS-Parteibuch angegeben, sie

würden sich innerparteilich engagieren.

Vergleicht man die Leitungsfunktionen

auf Ortsebene, die heute von den Mandat-

strägern wahrgenommen werden, so lie-

gen diese mit 17 Personen erheblich unter-

halb des Wertes von 34 aus der SED-Zeit.

Ob dieses vergleichsweise geringe Enga-

gement jedoch auf einer latenten Unzu-

friedenheit mit der Partei, dem stärkeren

Engagement in den Kommunalparlamen-

ten oder der ausgeprägten Arbeitsteilung

zwischen Fraktion und Partei beruht, lässt

sich nicht sagen.

Wovon jedoch ausgegangen werden

kann, ist, dass die Funktionärsstruktur auf

innerparteiliche Akzeptanz stößt. Es

wurde auf den Begriff der Responsivität

verwiesen. Er bezeichnet die „Empfäng-lichkeit“ oder „Aufnahmefähigkeit“ von

Gewählten in Bezug auf die Erwartungen

der Wähler. Hinzu kommt die Möglichkeit

der Abrechnung durch Wahl, bezeichnet

als „Verantwortlichkeit“8, für Mandatsträ-

ger, die den Erwartungen nicht entspre-

chen oder entsprochen haben.

Von diesem Recht, der Abrechnung

durch Wahl – respektive Nicht-Wahl – hat

die PDS-Mitgliedschaft aber nicht in nen-

nenswertem Umfang Gebrauch gemacht.

Im Gegenteil, auch die neu hinzugewähl-

Lars Krumrey

82

7 Vgl.: Pollach/Wischermann/Zeuner, a.a.O., S. 84.8 Vgl.: Dietrich Herzog, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Repräsentation?, in: Ders./Bernhard Weßels

(Hg.), Konfliktpotentiale und Konsensstrategien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 325.

Page 85: perspektive21 - Heft 15

ten Mandatsträger waren in ihrer über-

großen Mehrheit früher schon in dem

alten Block-Parteiensystem involviert. Esmuss deshalb davon ausgegangen werden,dass ein Großteil der Mitgliedschaft sichdurch die derzeitigen Abgeordneten ineinem ausreichenden Maße repräsentiertsieht. Die Funktionärs-Kontinuität ent-

spricht also einer Mitgliederkontinuität, die

beide ihre Wurzeln in einer „monopoli-

stisch regierenden Kaderpartei“9 finden.

Die im Rahmen der Transformations-theorie geforderten grundlegend mit derVergangenheit brechenden Prozesse kön-nen also für die PDS auch in Bezug auf ihreMandatsträger nicht festgestellt werden.

Will man die Frage nach den Transfor-

mationsergebnissen der PDS über den

eigentlichen Elitenwandel und die inner-

parteiliche Repräsentation hinaus beant-

worten, wird man schnell mit der Frage

nach der Konsolidierung der PDS inner-

halb des demokratisch-pluralistischen

Systems der Bundesrepublik konfrontiert.

Nachdem ein Elitenwandel für die PDS

auf kommunaler Ebene ausgeschlossen

werden musste, bleibt nun die Frage, ob

es der Partei als „Neuling im Parteiensy-

stem und -wettbewerb“10 im Zuge ihres

Transformationsprozesses trotzdem ge-

lungen ist, sich zu konsolidieren.

Grundlage dieser Bewertung ist die

These von Neugebauer, dass Akzeptanz

das zentrale Konsolidierungskriterium

innerhalb des Transformationsprozesses

ist: „Denn erst nach Abschluss des Trans-

formationsprozesses und die Einbezie-hung in die Überlegungen anderer Par-teien, sie als Koalitionspartner zu akzeptie-ren, kann sie [als] konsolidiert gelten unddamit die Reformen einleiten, die sie ausder Zone der Diskriminierung heraus-führen.“ 11 Die Analyse erfolgt in Anleh-

nung an die von Klaus von Beyme aufge-

stellten Konsolidierungskriterien von

Parteisystemen12, die äquivalent auch auf

die einzelnen Parteien innerhalb der

Systeme übertragen werden können.

Beyme hat folgende sechs Kriterien für

die Konsolidierung von Parteien aufge-

stellt13:

1. Minimum an Extremismus,

2. Klare Cleavege-Strukturen,

3. Trennung von territorialer und funk-

tionaler Interessenrepräsentation,

4. Rückgang des Fraktionalismus,

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

83

9 Gero Neugebauer, Parteireform zwischen Wunsch und Wirklichkeit – was macht die PDS?, Berlin: Manuskript 2001, S. 1.10 Ebenda, S. 6.11 Ebenda.12 Vgl.: Klaus von Beyme, Parteien im Prozess der demokratischen Konsolidierung, in:Wolfgang Merkel/Eberhard Sand-

schneider (Hg.), Systemwechsel 3. Parteien im Transformationsprozess, Opladen: Leske+Budrich 1997.13 Vgl.: Ebenda, S. 34-52.

Zum Konsolidierungsstand der PDS

Page 86: perspektive21 - Heft 15

Parteien und die zugehörigen Konflikt-

linien müssen in einem konsolidierten

System eindeutig identifizierbar sein. Alle

der 150 „Taxi-Parteien“16 (Beyme), die

während der Transformation in Ost-

deutschland gegründet wurden, sind

heute von der politischen Bildfläche wie-

der verschwunden. Die PDS hat als ein-

zige breit parlamentarisch verankerte

ostdeutsche Partei in ihren eigenen

Strukturen (d.h. ohne Anschluss an eine

bereits bestehende Partei im westdeut-

schen Parteiensystem) den Transforma-

tionsprozess überlebt.

Die klare Konfliktlinie der PDS ist nach

wie vor der Ost-West-Gegensatz. Er

bestimmt sowohl das Elektorat als auch

die wesentlichen Wahlkampfbotschaf-

ten. Das traditionelle Profil einer linken

Partei, die sich über den Konflikt Kapital-

5. Wählerfluktuation (Volatilität) und

6. Koalitionsbildung.

Konsolidierung bedeutet zunächst ein

Minimum an Extremismus. In den mei-

sten Ländern erhalten nationalistische

und extremistische Parteien maximal 10

Prozent der Wählerstimmen. Nach

Beyme findet Extremismus und die „unzi-

vile Gesellschaft“ außerhalb des Partei-

ensystems statt.14

Da die PDS sich wiederholt und glaub-

haft für Gewaltverzicht ausgesprochen

hat sowie friedliche Konfliktlösungsstra-

tegien gerade in Fragen der äußeren und

inneren Sicherheit propagiert – und

damit die Demokratie einfordert – müs-

sen ihr extremistische Bestrebungen

abgesprochen werden. Nichtsdestotrotz

werden ihr teilweise – gestützt auf Aus-

sagen der Kommunistischen Plattform,

des Marxistischen Forums oder in

Zusammenhang mit aktuellen Aus-

schreitungen in Genua – verfassungs-

feindliche Bestrebungen unterstellt bzw.

„randständigen Parteibereichen“15 auch

nachgewiesen, ohne dass diese repräsen-

tativ für die Gesamtpartei sind.

Lars Krumrey

84

14 Ebenda, S. 35.15 Gero Neugebauer, Parteireform zwischen Wunsch und Wirklichkeit – was macht die PDS?, a.a.O., S. 7.16 In einem Systemwechsel entstehen fast immer zunächst Hunderte von „Taxi-Parteien“. Sie tragen diesen Namen,

da ihre Mitgliederzahl so gering ist, dass alle in einem Taxi Platz hätten.

Minimum an Extremismus

Klare Cleavege-Strukturen

Page 87: perspektive21 - Heft 15

Arbeit definiert, hat sie mit der Konzen-

tration auf die Ostinteressen beginnend

mit den Wahlkämpfen 1992 aufgegeben.

Seit dem Regierungswechsel 1998 ver-

sucht sie sich zwar als Volkspartei links

von der Mitte zu profilieren, konstruiert

diese Identität aber im Wesentlichen

über die Abgrenzung zur SPD und nicht

über eine eigenständige Entwicklung zu

einer Weltanschauungspartei.Sie erweist

sich damit „als pragmatisch orientierte

Oppositionspartei auf dem Weg zu einer

flexiblen Funktionspartei.”17

Intermediäre Interessengruppen im

Umfeld einer Partei sind ein Kriterium für

ihre Konsolidierung. Der PDS fehlten

diese Interessengruppen zunächst. Viele

Großorganisationen aus dem Umfeld der

SED waren abgestorben (FDJ, GST, DSF)

und als wichtigste Großorganisation für

eine linke Partei hatten die Gewerkschaf-

ten erhebliche Vorbehalte gegenüber der

PDS. Der Zugang zu Organisationen und

Gruppen außerhalb des sie tragenden

Milieus blieb der PDS lange Zeit verwehrt.

Durch intensive Umfeldarbeit sind ihr

hier jedoch mittlerweile Zugänge

geglückt.18 Insbesondere die Gewerk-

schaften des öffentlichen Dienstes (ÖTV,

GEW und teilweise HBV) pflegen regel-

mäßige Kontakte mit der PDS. Ebenfalls

gilt dieses für Mieterorganisationen und

Arbeitslosenverbände, welche häufig

unter Mithilfe der PDS gegründet wur-

den. Bei diesen Gruppen verfügt sie auch

durchaus über Mobilisierungsoptionen.

Jedoch haben alle diese Kontakte

gemein, dass sie vornehmlich auf die

regionale Ebene beschränkt bleiben. Die

Kontakte zu den Landesverbänden des

DGB z.B. beschränken sich i.d.R. auf den

im parlamentarischen System üblichen

Rahmen.19 Zusätzlich hat die Untersu-

chung ergeben, dass Mitgliedschaften in

diesen Organisationen bei den Mandat-

strägern nicht sehr verbreitet sind.

Dieses führt auch dazu, dass die PDS

außerhalb der Arbeitslosen keinen Vor-

sprung bei der Präsentation sozialer

Gruppen gegenüber den konkurrieren-

den Parteien aufweisen kann.20

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

85

17 Gero Neugebauer, Parteireform zwischen Wunsch und Wirklichkeit – was macht die PDS?, a.a.O., S. 7.18 Vgl. Ausführungen zu den intermediären Kontakten in diesem Kapitel.19 Vgl.: Gero Neugebauer, Die PDS in Brandenburg – wohin des Weges? In: Perspektive 21, Kräfteverhältnisse – Zukunft

des brandenburgischen Parteiensystems, Heft 13, Potsdam: SPD-Landesverband Brandenburg 2001, S. 48.20 Vgl.: Gero Neugebauer, Parteireform zwischen Wunsch und Wirklichkeit – was macht die PDS?, a.a.O., S. 8.

Trennung von territorialer und funktionaler Interessenrepräsentation

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In der Transformationsphase erfasste

der Fraktionalismus die herrschenden

kommunistischen Parteien erst, als ein

Teil der Parteieliten mit den aufsässigen

Massen verhandeln wollte, während eine

andere Fraktion für Härte plädierte.

Innerhalb der PDS verlief der Fraktionalis-

mus anhand des neu zu definierenden

Profils der Partei: Optionen waren die

sozialistische gesamtdeutsche Partei

oder die regionale Partei als Reformalter-

native oder Systemopposition. Hieraus

begründetet sich auch die zunächst dro-

hende Gefahr der Parteispaltung.

In der Folge gelang es, diese Indiffe-

renz als innerparteilichen Pluralismus

umzudeuten. Ihren Niederschlag findet

die unentschiedene Situation bis heute

immer wieder in der Programmdebatte

und der Frage nach der historischen Ver-

antwortung der PDS für das SED-

Regime. Ein weiterer Ausdruck des Frak-

tionalismus war das lange Zeit unge-

klärte Verhältnis zu einer Regierungsbe-

teiligung.

Insgesamt muss festgestellt werden,

dass der „Gründungskompromiss“ mit

seinen vielfältigen ungelösten Konflik-

ten nach wie vor ein erheblicher Mühl-

stein am Fuße der PDS ist und einer

nachhaltigen Reduzierung des Fraktio-

nalismus entgegensteht.

Die Wählerfluktuation kann dazu

beitragen, einen „Neuankömmling“

innerhalb eines bestehenden oder sich

wandelnden Parteiensystems zu stabi-

lisieren. Ein Beispiel aus der Bundesre-

publik hierfür ist die nachhaltige

Implementierung der GRÜNEN im

westdeutschen Parteiensystem.

Solange Parteien innerhalb eines Elek-

trorates in nennenswertem Umfange

neu entstehen und absterben, ist die

Wählerfluktuation deshalb nur eine

künstliche.21 Hiervon kann jedoch für

die Bundesrepublik nicht mehr ausge-

gangen werden.

Nach einer erfolgreichen Gründung ist

eine Partei jedoch auf eine möglichst

geringe Volatilität angewiesen.

Nach drei erfolgreichen Bundestags-

wahlen kann die PDS – auch wenn die

Wahlerfolge jeweils unterschiedliche for-

male Ursachen hatten – als im System

etabliert gelten. Hierzu trägt auch ihre

Verankerung in sechs Landesparlamen-

Lars Krumrey

8621 Vgl.: Klaus von Beyme, Parteien im Prozess der demokratischen Konsolidierung, a.a.O., S. 46.

Rückgang des Fraktionalismus

Wählerfluktuation (Volatilität)

Page 89: perspektive21 - Heft 15

ten bei. Für eine nachhaltige Konsolidie-

rung muss die PDS jedoch über eine

manifestierte Parteibindung ihrer Wähler

verfügen, die ihr relativ stabile Wahlresul-

tate liefert.

Die PDS verfügt zwar über ein erhebli-

ches Stammwählerpotenzial, jedoch hat

sie, bezogen auf 1994, reichlich ein Drittel

dieser Stammwähler bei der Bundestags-

wahl 1998 verloren. Gleichzeitig kam fast

die Hälfte der damaligen Stimmen von

Personen, die erstmals die PDS gewählt

haben. (Vgl.: auch nebenstehendes

Schaubild sowie die vorstehende

Wählerstrombilanz für die Landtags-

wahlen Brandenburg 1999). Dieses

führt dazu, dass die Partei zwar auch

zukünftig auf entsprechende Wahler-

folge hoffen darf, jedoch muss sie sich

auf eine erhebliche Reduzierung ihres

bisherigen Stammwählerpotenzials

einstellen. Zusätzlich hat sie das Pro-

blem, dass sie in Westdeutschland fak-

tisch über keinerlei existenzsichernde

Wählerstrukturen verfügt und die in

Ostdeutschland neu hinzugewonnenen

Wähler noch keine feste Parteibindung

aufweisen. Dieses doppelte Dilemma

stellt die PDS vor die Gefahr, dass sie

bereits durch geringe Veränderungen

nachteilig und nachhaltig getroffen

werden kann. Dem entgegenzuwirken

kann nur durch eine größere Akzeptanz

erreicht werden, die zu manifesten Par-

teibindungen und von daher relativ sta-

bilen Wahlresultaten führten.

Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS in Brandenburg

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Page 90: perspektive21 - Heft 15

Wenn ein Parteiensystem als konsoli-

diert gilt (was für Ostdeutschland ange-

nommen werden kann), so muss als

Äquivalent in Bezug auf die einzelne kon-

solidierte Partei gelten, dass sie innerhalb

eines funktionierenden Wettbewerbssy-

stem potenziell als koalitionsfähig erach-

tet wird. Das hat die PDS 1998 in Meck-

lenburg-Vorpommern mit dem Eintritt in

die Landesregierung erreicht. Zuvor hat

sie bereits eine Landesregierung in Sach-

sen-Anhalt toleriert. Auf der kommuna-

len Ebene gibt es vielfältige Zählgemein-

schaften und Kooperationen, teilweise

sogar zwischen CDU und PDS.

Auf der nationalen Ebene ist diese Ein-

schätzung wesentlich fragwürdiger. Hier

schließen alle Parteien die PDS als Regie-

rungspartner auf Bundesebene aus. Die

gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der

PDS ist also weder gegeben noch

annähernd gefestigt.

Im Ergebnis ist der Konsolidierungs-

stand der PDS sehr differenziert zu

betrachten. Es muss festgestellt werden,

dass die PDS innerparteilich den Konsoli-

dierungsprozess bei Weitem noch nicht

abgeschlossen hat. Dieses hängt insbe-

sondere mit der – euphemistisch als plu-

ralistisch bezeichneten – nachhaltigen

Fraktionalisierung der Partei zusammen.

Hinderlich für die Überwindung dieses

Zustandes ist ebenfalls die nach wie vor

ausgeprägte mentale und personale

Verankerung der kommunalen Eliten

inklusive ihrer Basis im vergangenen

SED-Regime.

Als Angebot an den Wähler ist die

PDS in Ostdeutschland durchaus als

konsolidiert zu bezeichnen. Dieses gilt

sowohl für die kommunale Ebene als

auch für die einzelnen Länder. Hier sind

auch die Koalitionsoptionen und ins-

gesamt die Akzeptanz – als entschei-

dendes Kriterium zur Bewältigung des

eigenen Transformationsprozesses –

gegeben. Es kommt jedoch darauf an,

dass sie sich ein eindeutiges Parteipro-

fil unabhängig von dem einer flexiblen

Funktionspartei, schafft.

Die nachhaltige Dichotomie der PDS ist

also auch bei der Frage nach der Konsoli-

dierung ein permanenter Wegbegleiter:

Während in dem ostdeutschen Teilsy-

stem eine nachhaltige Konsolidierung

erreichbar scheint, ist diese auf nationa-

ler Ebene noch sehr fragwürdig.

Lars Krumrey

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Koalitionsbildung

Lars Krumreyist Diplom-Politologe und beschäftigt sich mit

der Transformation des ostdeutschen Parteiensystems

Page 91: perspektive21 - Heft 15

Arnt von Bodelschwingh /Ulf Rosner

Gemeinsame Gewerbegebietedurch interkommunaleKooperation

Grundlagen, Erfahrungen,Empfehlungen

131 Seiten, Paperback, 15 €ISBN 3-36130-01-7

Die Bereitstellung von Gewerbeflächen stellt einzelne Kom-munen oftmals vor große Probleme. Insbesondere Städtekönnen diese zentrale Aufgabe der kommunalen Wirtschafts-förderung nur erfüllen, wenn sie dafür umfangreiche Haus-haltsmittel aufwenden oder Konflikte, z.B. mit Anwohnern, inKauf nehmen. In solchen Fällen ist interkommunale Zusam-menarbeit bei der Ausweisung und beim Betrieb von Gewer-begebieten ist eine bedeutsame Lösungsmöglichkeit.

Auf Grundlage theoretischer Vorüberlegungen wertet dieempirische Untersuchung die Erfahrungen von über 40 inter-kommunalen Gewerbegebieten in der BundesrepublikDeutschland aus und liefert konkrete Handlungsempfehlun-gen für die Kooperationsanbahnung. Detailliert werden mög-liche unter anderem Rechtsformen und der Lasten-Nutzen-Ausgleich (kommunale Steuern und Finanzausgleich,Erschließungs- und Betriebskosten etc.) beschrieben. DerAnhang stellt 30 erfolgreiche interkommunale Gewerbege-biete mit Ansprechpartnern in Form von „Steckbriefen“ vor.

Das Buch richtet sich gleichermaßen Praktiker in Politik undVerwaltung sowie an Wissenschaftler aus den Bereichenregionale Wirtschaftspolitik, Regionalwissenschaft und Kom-munalwirtschaft.

k a i w e b e r m e d i e n p r o d u k t i o n e nb r a n d e n b u r g i s c h e h o c h s c h u l s c h r i f t e n

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Page 92: perspektive21 - Heft 15

Bislang erschienen:1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*

2. Sozialer Rechtsstaat*

3. Informationsgesellschaft*

4. Verwaltungsreform*

5. Arbeit und Wirtschaft*

6. Rechtsextremismus*

7. Brandenburg – die neue Mitte Europas

8. Was ist soziale Gerechtigkeit?

9. Bildungs- und Wissensoffensive

10. Zukunftsregion Brandenburg

11. Wirtschaft und Umwelt

12. Frauenbilder

13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem

14. Brandenburgische Identitäten

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

* leider vergriffen