perspektive21 - Heft 40

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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 40 MÄRZ 2009 www.perspektive21.de MARTIN SCHULZ: Richtungsentscheidung für Europa GIDEON BOTSCH UND CHRISTOPH KOPKE: Rechtsextremisten im Landtag am Ende? HOLGER RUPPRECHT UND KLARA GEYWITZ: Für alle, von Anfang an JUTTA LIESKE UND MANJA ORLOWSKI: Den Kinderschuhen entwachsen KARIN SALZBERG-LUDWIG: Wie kommt man zur „Schule für alle“? THOMAS MICHAELIS: Sicher ist nur die Veränderung SABINA BIEBER, CHRISTIAN MÖDEBECK UND ROBERT MEILE: Studium lohnt! ANDREA WICKLEIN UND KLAUS FABER: Der Handlungsbedarf bleibt CHRISTIAN FÜLLER: Jan in der Sackgasse MARTIN DULIG: Ende der Osterhasen-Pädagogik WELCHE WEGE BRANDENBURG GEHEN KANN Bildung für alle

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Bildung für alle

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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 40 MÄRZ 2009 www.perspektive21.de

MARTIN SCHULZ: Richtungsentscheidung für Europa

GIDEON BOTSCH UND CHRISTOPH KOPKE: Rechtsextremisten im Landtag am Ende?

HOLGER RUPPRECHT UND KLARA GEYWITZ: Für alle, von Anfang an

JUTTA LIESKE UND MANJA ORLOWSKI: Den Kinderschuhen entwachsen

KARIN SALZBERG-LUDWIG: Wie kommt man zur „Schule für alle“?

THOMAS MICHAELIS: Sicher ist nur die Veränderung

SABINA BIEBER, CHRISTIAN MÖDEBECK UND ROBERT MEILE: Studium lohnt!

ANDREA WICKLEIN UND KLAUS FABER: Der Handlungsbedarf bleibt

CHRISTIAN FÜLLER: Jan in der Sackgasse

MARTIN DULIG: Ende der Osterhasen-Pädagogik

WELCHE WEGE BRANDENBURG GEHEN KANN

Bildung für alle

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Bildung für alleAm 7. Juni wählt die EU ein neues Parlament. Der Europawahlkampf hatte

bisher meist Volkshochschulcharakter. Diesmal könnte das anders sein. Denndie Wirtschaftskrise hat deutlich gemacht, dass wir nicht auf einer Insel leben. Wirbrauchen europäische Antworten und Regeln, mit denen die Finanzmärkte reguliertwerden. Deshalb ist es nicht unwichtig, ob Europa von links oder rechts regiert wird.Martin Schulz erläutert in seinem Beitrag den Unterschied zwischen dem Europader Konservativen und dem Europa der Sozialdemokraten.

Schwerpunkt dieses Heftes ist die Bildungspolitik. Die PISA-Studien haben ge-zeigt, dass Brandenburgs Bildung in den vergangenen Jahren einen großen Satznach vorn gemacht hat. Das ist gut, aber noch nicht genug. Nachdem in denvergangenen Jahren die Schulstruktur stark verändert wurde, können wir unsjetzt verstärkt auf die Qualität der Schulen konzentrieren. So erläutern HolgerRupprecht und Klara Geywitz die verschiedenen Schritte, die die Sozialdemo-kraten in den kommenden Jahren in der Bildungspolitik gehen wollen. MehrereBeiträge im Heft gehen auf ein Anliegen ein, das uns sehr wichtig ist: Schülermit Förderbedarf sollen künftig in Regelschulen integriert und dort besondersgefördert werden. Alle Studien zeigen, dass ihnen dies größere Chancen auf einenguten Schulabschluss und später einen Arbeitsplatz bietet.

Bildung für alle – von der Kita bis zur Hochschule – ist der Garant für sozialenAufstieg. Das ist unser Ziel. Und genau darum geht es in diesem Heft.

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.

KLAUS NESS

vorwort

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inhalt

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Bildung für alleWELCHE WEGE BRANDENBURG GEHEN KANN

MAGAZINMARTIN SCHULZ: Richtungsentscheidung für Europa ............................................ 7Wie die Sozialdemokraten bei der EU-Wahl gewinnen können

GIDEON BOTSCH UND CHRISTOPH KOPKE: Rechtsextremisten im Landtag am Ende?..13Das Abschneiden der NPD und DVU bei den Kommunalwahlen 2008 und ihre Aussichten 2009

THEMAHOLGER RUPPRECHT UND KLARA GEYWITZ: Für alle, von Anfang an .................. 19Wie wir unser Bildungssystem gerechter und besser machen

JUTTA LIESKE UND MANJA ORLOWSKI: Den Kinderschuhen entwachsen ............ 25Frühkindliche Bildung und Erziehung in Brandenburg

KARIN SALZBERG-LUDWIG: Wie kommt man zur „Schule für alle“? .................... 33Die Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist eine besondere Herausforderung

THOMAS MICHAELIS: Sicher ist nur die Veränderung .......................................... 45Zur Zukunft der dualen Ausbildung und der Berufsschule

SABINA BIEBER, CHRISTIAN MÖDEBECK UND ROBERT MEILE: Studium lohnt! .... 53Wie die Brandenburger Hochschulen Schülern mehr Lust aufs Studium machen

ANDREA WICKLEIN UND KLAUS FABER: Der Handlungsbedarf bleibt .................. 61Wie Wissenschafts- und Bildungspolitik nach der Föderalismusreform und dem Bildungsgipfel aussehen kann

CHRISTIAN FÜLLER: Jan in der Sackgasse ................................................................ 71Oder: das Drama von Bildung und Gerechtigkeit. Gute Schulen gibt es – aber wie können Sie zum Vorbild werden?

MARTIN DULIG: Ende der Osterhasen-Pädagogik ................................................ 81Über den sächsischen PISA-Erfolg, den Glanz von Gold und was man von Sachsen lernen kann

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6 dezember 2007 – heft 36

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Richtungsentscheidungfür EuropaWIE DIE SOZIALDEMOKRATEN BEI DER EU-WAHL GEWINNEN KÖNNEN

VON MARTIN SCHULZ

Europa ist eine faszinierende Idee von Frieden, Stabilität und sozialer Ge-rechtigkeit. Nach Jahrhunderten prekärer Machtgleichgewichte, verhee-

render Konflikte und der Katastrophe der beiden Weltkriege begann 1951 mitder Gemeinschaft für Kohle und Stahl eine neue Ära in der europäischen Ge-schichte. Die Idee, durch die Integration der Staaten Frieden zwischen denVölkern zu schaffen, ist Realität geworden. Aus dem Erbe der Kriege, den blu-tigen Schlachtfeldern, den tiefen Wunden und den Trümmerhaufen, ist dasFriedensprojekt Europa gewachsen. Die Überwindung der Kriegsangst und dieoffenen Grenzen zwischen den Ländern Europas sind die Erfüllung einesMenschheitstraums.

Durch den freiwilligen Souveränitätsverzicht von Ländern zugunsten einersupranationalen Institution wurde ein sich immer weiter beschleunigender Inte-grationsprozess in Gang gesetzt. Von den Anfängen des Einigungsprozesses mitdem Schuman-Plan 1950, über die Grundsteinlegung des gemeinsamen Marktes in den Römischen Verträgen 1958 bis zur gemeinsamen Währung hat die „mo-netäre Nichtangriffsgemeinschaft“ in hunderten kleiner Schritte einen Integra-tionsgrad erreicht, der, wenn man einmal innehält, atemberaubend ist.

Neue Bedingungen für die europäische Einigung

Die Zahl der Mitgliedsländer hat sich von den sechs Gründungsstaaten Frank-reich, Deutschland, Italien, Belgien, Holland und Luxemburg in mehreren Er-weiterungswellen auf heute 27 erhöht. Frieden, Freiheit, Demokratie, Wohlstandund soziale Entwicklung wurden nach dem Ende ihrer Diktaturen nach Spanien,Portugal und Griechenland ausgeweitet, nach dem Ende des Kalten Krieges auch in die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Die Osterweiterung beendete diekünstliche Trennung Europas durch den eisernen Vorhang endgültig. Ein Kriegzwischen den Mitgliedsstaaten der EU ist heute unvorstellbar.

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Jahrzehntelang war Europa ein akzeptiertes und breit unterstütztes Projekt.Die Menschen wollten Europa, weil es Frieden, wirtschaftlichen Wohlstandund sozialen Fortschritt brachte. Die Bürgerinnen und Bürger sind nochimmer für die europäische Einigung, aber sie haben zwischenzeitlich begon-nen, Bedingungen an das europäische Einigungswerk zu stellen. Diese Bedin-gungen müssen in den politischen Prozess aufgenommen werden. Das Erfolgs-rezept Europas lautete jahrzehntelang, dass Wirtschaft und soziale Sicherheitzwei Seiten der gleichen Medaille sind – bis der marktliberale Geist in denneunziger Jahren in die EU-Kommission und die nationalen Regierungen ein-zog. Deregulierung lautete seitdem die Devise. Statt sozialer Stabilität alsZielsetzung bestimmten Deregulierungsstrategien und Profitmehrung dieGestaltung des Binnenmarktes. Die Konservativen und Marktliberalen inEuropa behaupten, dass Sozial- und Umweltstandards Wachstum hemmen,weniger Lohn, längere Arbeitszeit und keine Mitbestimmung es fördern. DasGegenteil ist richtig: Arbeits- und Gewerkschaftsrechte sind kein Kostenfaktorsondern eine unverzichtbare Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg, da siezu höherer Motivation am Arbeitsplatz, besserer Qualität der Beschäftigung,zum sozialen Frieden und der Teilhabe am Unternehmen beitragen. Wirt-schaftswachstum ist kein Wert an sich, wenn er nur einigen Wenigen undnicht allen Menschen zu Gute kommt. Die soziale Schieflage der EU gilt esim kommenden Jahrzehnt zu korrigieren.

Das soziale Europa blieb unterentwickelt

Doch Europa wird rechts regiert und Europa wird schlecht regiert. 19 von 27Regierungschefs werden von Mitte-Rechts Regierungen gestellt. Sie entsendenkonservative und marktliberale Kommissare nach Brüssel. Während die Wirt-schaft auf europäischer Ebene harmonisiert wurde, blieb der Sozialstaat national– jetzt ist die alte Waffengleichheit von Kapital und Arbeit gefährdet. In derFolge wächst die soziale Ungleichheit, steigenden Gewinnen stehen sinkendeReallöhne gegenüber. In den Augen vieler Bürger scheint die EU damit zurHandlangerin der globalisierten Wirtschaft zu werden – anstatt ein Instrumentzur Bewältigung der Risiken und Herausforderungen der Globalisierung zu sein.Die Bürger erwarten zu Recht, dass die EU sich nicht nur an den Interessen derWirtschaft orientiert, sondern ihre sozialen Rechte stärkt und aktiv Beschäftigungfördert. Deshalb stellen wir, die europäischen Sozialdemokraten, die Gestaltungdes sozialen Europas und die Menschen in den Mittelpunkt unserer Politik.

8 märz 2009 – heft 40

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1EIN SOZIALES EUROPA. Wir wollen ein europäisches Wirtschaftsmodell schaf-fen, das den Menschen, nicht den Markt, in den Mittelpunkt stellt. Ein funk-

tionierender Binnenmarkt ist die Vorraussetzung für Wachstum und Beschäfti-gung. Wirtschaftswachstum kann jedoch nicht Selbstzweck sein, sondern musszum Wohlstand aller beitragen. Wir wollen, dass die Wirtschafts- und Währungs-union durch eine gleichrangige Sozialunion ergänzt wird, um den europäischenBinnenmarkt in eine politische und soziale Ordnung einzufassen.

Das Ziel ist, die unterschiedlichen nationalen Traditionen des europäischenSozialmodells zu respektieren und zugleich verbindliche Regeln und Mindest-standards festzulegen. Dazu zählt ein europäischer sozialer Stabilitätspakt mitgemeinsamen europäischen Zielen und Vorgaben für Sozial- und Bildungsaus-gaben, die an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitglieds-staaten gemessen werden. Auch sollen sämtliche EU-Rechtsakte auf ihre sozialenFolgen für die Menschen in Europa überprüft werden. Mit einem europäischenPakt gegen Lohndumping wollen wir dafür sorgen, dass in allen Mitgliedslän-dern, auch in Deutschland, existenzsichernde Mindestlöhne gelten. Wir machenuns stark für eine soziale Fortschrittsklausel und wollen die EU-Entsendericht-linie verbessern.

In Europa muss der Grundsatz gelten: gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungenfür gleiche Arbeit am gleichen Ort. Die Rechte für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, insbesondere die Rechte des Europäischen Betriebsrats müssengestärkt werden, um die Einbindung von Arbeitnehmern in Unternehmens-entscheidungen sicherzustellen. Wir fordern außerdem einen europäischen Paktgegen Lohndumping, der gemeinsame Standards für Mindestlöhne in Europa –gemessen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Länder –schafft. Eine neue EU-Kommission wird unsere Unterstützung nur dann erhal-ten, wenn sie sich verbindlich verpflichtet, für alle politischen Initiativen einesoziale Folgenabschätzung vorzunehmen. Zeigt die Europäische Union endlichwieder ihr soziales Gesicht, wird sie das Vertrauen der Menschen zurückgewin-nen und für das europäische Projekt begeistern.

2EIN EUROPA DER BESCHÄFTIGUNG UND DES ÖKOLOGISCHEN FORTSCHRITTS. Inganz Europa stehen die Menschen mitten in der Wirtschaftskrise vor beispiel-

losen Herausforderungen: einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, einem Rückgang derKaufkraft und einer Zunahme des Armutsrisikos. Gerade jetzt brauchen wir einestarke gemeinsame europäische Politik zur nachhaltigen Förderung von Wachstumund Beschäftigung.

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martin schulz – richtungsentscheidung für europa

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Der europäische Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungsunion sind dieBasis, um unsere Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Weltwirtschaft zuerhalten. Doch der Druck der Weltmärkte auf die Sozialstandards wächst, nebenden weltweiten Handel mit Kapital und Waren ist die globale Konkurrenz vonDienstleistungen und Arbeit getreten. Um einen ruinösen Standortwettbewerbder EU-Staaten untereinander zu verhindern, fordern wir eine bessere Koordi-nierung der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dazu zählen eine ein-heitliche Bemessungsgrundlage bei der Unternehmenssteuer, gemeinsame Min-deststeuersätze in der Währungsunion sowie eine Besteuerung von europaweitagierenden Kapitalgesellschaften durch die EU.

Wir brauchen Vorfahrt für Beschäftigung in Europa und schlagen deshalbeinen Europäischen Zukunftspakt für Arbeit vor, um alle europäischen Program-me daraufhin zu untersuchen, ob sie langfristig Arbeitsplätze sichern und neueschaffen. Eine verstärkte wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung auf EU-Ebene, vor allem in der Euro-Gruppe, hat das Potenzial Millionen neuer Jobs zuschaffen. Insbesondere im Umwelt- und Energiebereich können bis 2020 durchgezielte Investitionen 10 Millionen neuer Jobs geschaffen werden. Europa kannzum weltweiten Innovationsführer aufsteigen.

3 EINE NEUE EUROPÄISCHE UND INTERNATIONALE FINANZMARKTARCHITEKTUR. Blin-des Vertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes hat uns in die schwerste

Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1929 geführt. Selbst konservative und markt-liberale Politiker, bislang Wegbereiter der Deregulierung, haben erkannt, dassmanchmal der Markt das Problem und die Politik die Lösung ist. Die Ideologiedes entfesselten Kapitalismus ist in der aktuellen Krise endgültig gescheitert.Jetzt übernehmen Konservative und Marktliberale Ideen und Rezepte, die So-zialdemokraten schon lange vertreten.

Die Europäischen Sozialdemokraten fordern seit Jahren mehr Transparenz, einestrengere Aufsicht und bessere Regelungen für die internationalen Finanzmärkte.An diesen Forderungen halten wir fest: Wir wollen eine neue europäische undinternationale Finanzarchitektur mit klaren politischen Verkehrsregeln durchsetzen.Diese Regelungen müssen alle Finanzakteure umfassen. Zum einen muss dieBanken- und Finanzmarktaufsicht weiter gestärkt werden und der InternationaleWährungsfonds zur zentralen Kontroll- und Koordinierungsinstanz ausgebaut wer-den. Zum anderen brauchen wir strengere Anforderungen und Transparenzvor-schriften für das Risikomanagement und die Eigenkapitalversorgung von Banken.Schädliche Leerverkäufe müssen verboten und Steueroasen trockengelegt werden.

10 märz 2009 – heft 40

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Die Konservativen und Marktradikalen benutzen zwar jetzt in der Krise einen linken Jargon, werden aber strukturelle Veränderungen verhindern. Die europä-ischen Sozialdemokraten kämpfen dagegen für echte Reformen und eine neue glo-bale Architektur für die Finanzmärkte, damit sich eine solche Krise nicht wiederholt.

4 EINE STARKE FRIEDENSMACHT. EUROPA IST ALS GRÖSSTER BINNENMARKT DER

WELT EIN GLOBAL PLAYER. Tritt die EU geeint auf und spricht mit einer Stim-me, kann es mit seiner enormen wirtschaftlichen Macht in der Welt einiges bewe-gen. Wir wollen die Identität Europas als globale Friedensmacht weiter stärken.Die EU soll Vorreiter bei der Förderung von Frieden und einer nachhaltigen sozia-len und wirtschaftlichen Entwicklung weltweit sein. Von Europa kann – unterEinbindung der großen Mächte USA, Russland, China und Indien – eine neue Äramultilateraler Kooperation und Entspannung ausgehen. Eine starke europäischePolitik für Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle muss eine unsererPrioritäten sein. Wir wollen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitikweiter ausbauen und insbesondere ihre zivile Komponente stärken. Unser langfris-tiges Ziel ist eine europäische Armee, deren Einsatz parlamentarisch legitimiert seinmuss. Das innereuropäische Friedensprojekt hat sich erfolgreich bewährt, jetzt ist esan der Zeit, dieses durch eine ebenbürtige Außendimension zu ergänzen.

5 EINE FAIRE GLOBALISIERUNG. In einem Zeitalter in dem Staaten und Gesellschaftenimmer näher zusammenrücken und immer stärker vernetzt sind, übersteigen viele

Herausforderungen die Handlungskapazitäten einzelner Länder. Gerade die Finanz-krise und der Klimawandel zeigen deutlich, dass wir in einem Zeitalter geteilter Ver-wundbarkeit und globaler Verantwortung leben. Denn die grundlegende Bedingungder globalisierten Welt ist die Verflechtung und die unausweichliche, wechselseitigeAbhängigkeit von Ökonomien und Gesellschaften. Die Staatsgrenzen sind durchlässiggeworden für Menschen, für Ideen, für Geld. Das erzeugt unzählige positive Effekte.Es lässt aber auch die Bedrohungen, die durch den internationalen Terrorismus, dieVerbreitung von Massenvernichtungswaffen und regionale Konflikte entstehen, durchdie porös gewordenen Grenzen bis nach Europa vordringen. Nicht ob, sondern wiewir uns den Schattenseiten der Globalisierung stellen, ist die entscheidende Frage derZukunft. Kein Land kann im Alleingang Probleme globalen Ausmaßes lösen. Richtetman den Blick in die Zukunft, wird deutlich, dass wir die EU bei der Bewältigung derglobalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert brauchen. Die Europäische Unionbesteht aus 27 Staaten mit fast 500 Millionen Einwohnern, verfügt über eine Wirt-schaftsmacht, die einem Viertel der weltweiten Handels- und Wirtschaftsleistung ent-

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spricht, und ist der größte Binnenmarkt der Welt. Die EU ist ein Schwergewicht aufder internationalen Bühne und dadurch weit besser gewappnet, die gemeinsamenInteressen durchzusetzen, als es die Nationalstaaten im Alleingang je könnten. Wennes um den Klimawandel geht, die Neuordnung der internationalen Finanzmärkte,dem Kampf gegen die Armut in der Welt oder den internationalen Terrorismus, kannund muss die EU ganz nach der Devise „Gemeinsam sind wir stark“ einiges leisten.Wir wollen, dass Europa sich für eine Reform der zentralen internationalen Institu-tionen einsetzt, vor allem der Vereinten Nationen, des Internationalen Währungs-fonds und der Weltbank, um ihre Handlungsfähigkeit und ihre Legitimität zu stärken.Die EU kann die Prozesse der Globalisierung mit gestalten. Damit eröffnet sich einegroße Chance und eine ebenso große Verantwortung. Wir wollen ein starkes, wirt-schaftlich erfolgreiches und soziales Europa als Antwort auf die Globalisierung.

Bei der Europawahl am 7. Juni steht eine Richtungsentscheidung an. WelchesEuropa wollen wir? Das der freien Kapitalinteressen oder das der Sozialstaatlichkeit?Konservative und Marktliberale wollen ein Europa, das den freien Markt und denWettbewerb über alles stellt: über die Bürgerinnen und Bürger und über die Um-welt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt uns jeden Tag, dass die marktradikaleIdeologie gescheitert und überholt ist. Im neuen Jahrzehnt brauchen wir ein Europa,das soziale Gerechtigkeit, Umwelt und wirtschaftlichern Erfolg zusammenbringt.Wir brauchen ein Europa in dem nicht die kurzfristige Logik der Finanzmärkteherrscht – sondern die langfristige Logik des Sozialen und Demokratischen. Die EUmuss ihr soziales Gesicht zeigen, will sie die Menschen wieder für Europa begeistern.Um in der EU die Weichen in eine andere Richtung zu stellen und die EU sozial zugestalten, brauchen wir parlamentarische Mehrheiten auf der nationalen und auf dereuropäischen Ebene. Es muss uns gelingen den Wählerinnen und Wählern verständ-lich zu machen, für welches Europa Sozialdemokraten stehen und für welches Euro-pa die anderen stehen. Wir haben jetzt die Chance für soziale Gerechtigkeit, guteArbeitsbedingungen, faire Löhne und Verbraucherschutz zu sorgen, und neue Spiel-regeln für die globalen Finanzmärkte durchzusetzen, die den Kapitalismus zivilisie-ren. Unser Anspruch als Europa-Partei ist, die Wahl zu einem Signal des Aufbruchsfür ein starkes und soziales Europa der Zukunft zu machen – und das bedeutet,Europa ein Stück nach links zu schieben. n

M A R T I N S C H U L Z

ist Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament.

12 märz 2009 – heft 40

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Rechtsextremisten imLandtag am Ende?DAS ABSCHNEIDEN DER NPD UND DVU BEI DEN

KOMMUNALWAHLEN 2008 UND IHRE AUSSICHTEN 2009

VON GIDEON BOTSCH UND CHRISTOPH KOPKE

N eben der Europa- und den Bundestagswahlen stehen in diesem Jahr in eini-gen Bundesländern Kommunal- und Landtagswahlen bevor. Besonders bei

den Landtagswahlen wird unter anderem das Ergebnis der rechtsextremen Parteienmit Spannung erwartet. Wird die NPD in Thüringen in den Landtag einziehen,wovon viele Beobachter derzeit fest ausgehen? Werden die Rechtsextremen imSaarland ihr bei den letzten Wahlen erreichtes Ergebnis von 4 Prozent halten odergar ausbauen können? Wird in Sachsen die NPD ihr sensationelles Ergebnis von2004 wiederholen können? Und schließlich: Wird die Deutsche Volksunionoder eine NPD-DVU-Konstellation gleich welcher Art erneut in den Branden-burger Landtag einziehen können?

Gewinne, aber kein Durchbruch

Brandenburg hat unbestreitbar immer noch ein Rechtsextremismusproblem,andererseits haben Staat und Gesellschaft in den vergangenen zehn Jahren, ge-stützt auf das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ der Landesregierungund darüber hinausgehend, auf die rechtsextreme Bedrohung reagiert. Mit Blickauf frühere Jahre und im Vergleich zu anderen ostdeutschen Bundesländern lassensich auf vielen Ebenen Erfolge dieses Engagements ausmachen: Ein deutlicherRückgang rechtsextremer Straftaten und ein messbares Zurückgehen rechtsextre-mer und antidemokratischer Einstellungen sind nur zwei Signale, die hier Anlasszur Hoffnung geben.1 Das „Brandenburger Modell“ zur Abwehr des Rechtsextre-mismus scheint zu greifen.2 Aber wird Brandenburg nach den Wahlen weiter

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1 Frank Jansen, Deutlich weniger Gewalttaten von Rechtsextremisten, in: Tagespiegel, 23.01.2009; Richard Stöss, PolitischeOrientierungen der Bevölkerung in der Region Berlin und Brandenburg 2000-2008, Berlin 2008.

2 Gideon Botsch/Christoph Kopke, Toleranz mit Grenzen. Das „Brandenburger Modell“ zur Abwehr des Rechtsextremismus.Unveröffentlichtes Manuskript 2008; Publikation in Vorbereitung.

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eine „nationale Opposition im Landtag“ (DVU-Eigenwerbung) erdulden müs-sen? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, zunächst ein kurzer Rückblick auf dieKommunalwahl 2008.

Verglichen mit den Ergebnissen der brandenburgischen Kommunalwahlen2003 haben NPD und DVU deutlich zugelegt. Die Ergebnisse markieren abernoch keinen Durchbruch dieses politischen Lagers. Im Einzelnen ist es NPD undDVU am 28. September 2008 gelungen, in alle 15 Kreistage und Parlamentekreisfreier Städte einzuziehen, zu denen sie auch angetreten sind. Dort verfügendie Rechtsextremen jetzt über insgesamt 29 Abgeordnete (16 von der NPD und13 von der DVU). Mehrere Abgeordnete der DVU sind NPD-Mitglieder, wobeiDVU-Kandidat und NPD-Funktionär Mike Sandow im Barnim offensiv mitNPD-Plakaten im Wahlkampf für sich warb. In Frankfurt (Oder), Brandenburgan der Havel und im Landkreis Ostprignitz-Ruppin traten keine rechtsextremenParteien an. Im Landkreis Ostprignitz-Ruppin ist der Verzicht auf Wahlantrittwohl Ausdruck der andauernden Strukturschwäche nach dem Verbot der in derrechtsextremen Szene dieser Region lange tonangebenden NPD-Abspaltung„Schutzbund Deutschland“3.

Keine Trendwende

Dass die Rechtsextremen in den Kreisparlamenten und kreisfreien Städten nirgends Fraktionsstatus erreichen konnten, liegt (auch) an der demokratie-politisch durchaus problematischen Erhöhung der für Fraktionsbildung not-wendigen Mandate von zwei auf drei (Gemeindevertretungen) bzw. vier (kreisfreie Städte, Landkreise). Darüber hinaus gelangten Rechtsextreme inzahlreiche Gemeindevertretungen und Stadtverordnetenversammlungen, so in Bernau, Biesenthal, Fürstenberg/Havel, Guben, Hohen Neuendorf, KönigsWusterhausen, Luckenwalde, Ludwigsfelde, Madlitz-Wilmersdorf, Mühlen-becker Land, Müncheberg, Nauen, Neuenhagen, Oranienburg, Petershagen-Eggersdorf, Rehfelde, Rüdersdorf, Schorfheide, Strausberg, Wittenberge undWoltersdorf.

Insgesamt – von der Gemeinde bis zur Kreisebene – verfügen beide rechtsex-tremen Parteien nun über 53 Mandate in brandenburgischen Kommunalparla-menten. Daneben entfielen einige wenige Kommunalwahlmandate auf Vertreter

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3 Vgl. Nicola Scuteri, Rechtsextreme Strukturen im Nordwesten Brandenburgs am Beispiel des „Schutzbund Deutschland“, in:Wolfram Hülsemann u.a. (Hg), Demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung. Einblicke II. Ein Werkstatt-buch, Potsdam 2007, S. 79-94.

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kleinerer Rechtsaußenparteien, wie DSU oder Republikaner. Als Einzelbewerbergelang es in Spremberg dem Besitzer des als Neonazitreffs geltenden „Bunker38“, Michael Hanko, mit 2,7 Prozent in die Stadtverordnetenversammlung ge-wählt zu werden.

Die NPD ist in Brandenburg trotz ihres „relativen Konsolidierungsprozessesseit 2004“ (Verfassungsschutz Brandenburg) im Vergleich zu anderen neuenLändern immer noch deutlich schwächer aufgestellt. Das vergleichsweise mä-ßige Abschneiden bei den brandenburgischen Kommunalwahlen verweist alsonicht unbedingt auf eine generelle Trendwende in den ostdeutschen Bundes-ländern.

Wo die NPD erfolgreich ist

Bei diesen Wahlen setzte sich ein Trend fort, den man auch bei Kommunal-wahlen in anderen ostdeutschen Bundesländern in den letzten Jahren beobachtenkonnte. Rechtsextreme Parteien kommen in der Regel dort, wo sie es schaffenanzutreten, auch in die Parlamente. Der Wegfall der 5 Prozent-Hürde bei Kom-munalwahlen befördert diesen Trend. Insgesamt konnten bei den brandenbur-gischen Kommunalwahlen NPD und DVU zusammen etwa 100.000 Stimmenauf sich vereinen. Da jeder Wähler über drei Stimmen verfügte, schätzt der Bran-denburgische Verfassungsschutz, dass zwischen 34.000 und 50.000 Wähler NPDund DVU gewählt haben. Dort, wo die Rechtsextremen antraten, erzielten sie inder Regel um 3,5 bis 5 Prozent der Stimmen.

Den in ihrem „Deutschlandpakt“ gemeinsam agierenden RechtsparteienNPD und DVU scheint es in Brandenburg bislang nicht in großem Umfanggelungen zu sein, bürgerliche Wählerschichten zu erreichen. Die NPD zielt inihren Wahlkämpfen explizit nicht vorrangig auf die Wähler der Mitte. Eskommt der Partei darauf an, bei einer „genügend großen Wählerschicht“ an-zukommen – wie die NPD in ihrem Positionspapier „Strategische Leitlinienzur politischen Arbeit“ schreibt. Deswegen – und nicht nur wegen beschränkterpersoneller und finanzieller Ressourcen – richtet die Partei ihr Hauptaugen-merk auf vernachlässigte Regionen und bestimmte soziale Schichten. Der sächsi-sche NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel nahm mit seiner These, dieNPD sei die letzte verbliebene „Schutzmacht der kleinen Leute“, explizit aufeine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung Bezug, in der die Rede vom „abge-hängten Prekariat“ war. Zwar ist die Propagandaabsicht im Aufwerfen dersozialen Frage von rechts klar erkennbar – die sozialdemagogische Agitation

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gideon botsch und christoph kopke – rechtsextremisten im landtag am ende?

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könnte sich für die NPD im Krisenjahr 2009 gleichwohl da und dort in Wäh-lerstimmen auszahlen.4

Auch geht es der Partei ausdrücklich darum, die Wähler, die bereits in derVergangenheit NPD gewählt haben, zu halten. Dabei verfügt die NPD inzwi-schen durchaus über eine Stammwählerschaft und in den örtlichen, zum Teilsubkulturell geprägten rechtsextremen Szenen, ein rechtsextremes Wähler-potenzial. Das wird zum Beispiel über Aufmärsche und ähnliche Aktivitätenmit Eventcharakter gezielt angesprochen. Einschlägig szenebekannte Kandi-daten, wie der örtlich legendäre Alt-Neonazi Frank Hübner in Cottbus, wur-den gewählt. Kaum ein Wähler der NPD dürfte abgeschreckt worden seindurch die, auch im Vorfeld der Wahlen in den Medien skandalisierte, Kandi-datur Alexander Bodes. Dieser ist der verurteilte Haupttäter der als „GubenerHetzjagd“ in die Geschichte eingegangenen rassistisch motivierten Tötung desalgerischen Asylbewerbers Farid Guendoul vor fast einem Jahrzehnt. Es sindnoch zwei weitere Tatbeteiligte für die NPD angetreten. Gleichwohl: Jenseitsdes rechtsextremen Milieus haben diese Kandidaten aber auch nicht sonderlichmobilisierend gewirkt.

Hohe Wahlbeteiligung schadet den Rechtsextremen

Die Kommunalwahlergebnisse treffen sich an einem Punkt deutlich mit den Pro-gnosen, die sich aus der im Februar 2009 veröffentlichten Emnid-Umfrage erge-ben: Nach diesen Angaben liegen die beiden rechtsextremen Parteien zusammenbei 3 Prozent. Weder die Kommunalwahlergebnisse, noch die Umfragewertesprechen im Moment also für einen erneuten Einzug der Rechtsextremen in denPotsdamer Landtag. Aber noch ist nicht Wahlkampf und schon gar nicht Wahl-tag: Das Falscheste wäre es, davon auszugehen, dass sich das Problem von selbsterledigen wird. Völlig unklar ist zur Zeit, welche Polarisierungen die Wahlkämpfeauslösen können und wie sich die ökonomische Krise, sollte diese andauern odersich gar verstärken, auf das Wahlverhalten auswirken wird. Die Rechtsextremenwerden ihre „antikapitalistische“ Agitationskampagne im Rahmen der Wahl-kämpfe sicher weiter verstärken.

Auch ist noch nicht absehbar, wie sich das rechtsextreme Lager in Branden-burg in diesem Jahr aufstellen wird: Die Auswirkungen des Generationswechsels

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4 Vgl. dazu Gideon Botsch/Christoph Kopke, „Raumorientierte Volkswirtschaft“ und „nationale Solidarität“. Zur wirtschafts-und sozialpolitischen Programmatik und Propaganda der NPD und ihres neo-nationalsozialistischen Umfelds, in: Bulletin fürFaschismus- und Weltkriegsforschung, 31/32 (2008), S. 50-71.

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in der Bundes-DVU und der aktuellen Führungskrise der NPD auf die rechtsex-tremen Strukturen in unserem Bundesland sind gegenwärtig kaum einschätzbar.

Die Wahlergebnisse der Rechtsextremen sind auch von der Wahlbeteiligungabhängig. Regelmäßig scheinen ihnen geringe Wahlbeteiligungen zu nützen. Dierecht hohe Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2008 dürfte sich entspre-chend auf das Wahlergebnis ausgewirkt haben. Es wird also auch darum gehenmüssen, möglichst viele Wählerinnen und Wähler zur Teilnahme an den Wahlenund zur Stimmabgabe für demokratische Parteien zu bewegen, gerade auch inden Randregionen unseres Bundeslandes.

2009 kann der Wiedereinzug der Rechtsextremen in den Potsdamer Landtagnach zwei Legislaturperioden verhindert werden – egal unter welcher Konstella-tion sich DVU und NPD auf einen Wahlantritt einigen werden. Hierfür bedarfes aber weiterhin eines spürbaren und nachhaltigen zivilgesellschaftlichen Enga-gements und einer entsprechenden Wahlkampfstrategie der demokratischenParteien, die sich der rechtsextremen Herausforderung auch in Zukunft werdenstellen müssen. n

G I D E O N B O T S C H U N D C H R I S T O P H K O P K E

sind Politologen und wissenschaftliche Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum

für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam.

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gideon botsch und christoph kopke – rechtsextremisten im landtag am ende?

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Gute Bildung für alle ist die Ant-wort auf die Herausforderungen

unseres Jahrhunderts. Der individuelleBildungsstand entscheidet heute nochviel mehr als früher über Lebensper-spektiven, berufliche Möglichkeitenund gesellschaftliche Teilhabe unsererJugendlichen und damit auch über dieZukunft unseres Landes. Deshalb hatBildungspolitik in Brandenburg hohePriorität und steht für ein leistungsstar-kes, sozial gerechtes und durchlässigesBildungssystem.

Wegen schwieriger Rahmenbedin-gungen – Rückgang der Schülerzahlenund schwierige Haushaltslage – war esin Brandenburg in den vergangenJahren nicht immer ganz leicht, eineerfolgreiche Bildungspolitik zu machen.Trotzdem konnten wir unser Bildungs-system erfolgreich weiterentwickeln.Auch in Zukunft gibt es noch viel zutun, um die Ziele sozialdemokratischerBildungspolitik wie Chancengleichheitund Teilhabe für alle auf hohem quali-tativem Niveau zu sichern.

1. Was wir erreicht haben

Nach der Wende sind in Brandenburgdurch Geburtenrückgang und Abwan-

derung die Schülerzahlen um 50 Pro-zent zurückgegangen. Dieser Rückgangverteilt sich jedoch nicht gleichmäßigüber alle Landesteile. Während er imBerliner Umland nicht so stark war,gingen die Schülerzahlen in den äuße-ren Regionen um bis zu 70 Prozentzurück.

Dass diese dramatische Entwick-lung nicht ohne Schulschließungenvonstatten gehen konnte, liegt auf derHand. Gemeinsam mit den Schulträ-gern haben wir in den vergangenJahren versucht, die notwendigenSchließungen verantwortungs- undplanvoll umzusetzen. Das war nichtimmer einfach, denn natürlich ist dieSchule für die Identität und Stabilitäteiner Gemeinde sehr wichtig. Heuteist die Zeit der Schulschließungenweitgehend vorbei.

Für die jüngsten Schüler gilt füruns das Prinzip „kurze Wege für kurzeBeine“. Obwohl wir nur noch die Hälf-te der Schüler haben, gibt es nochmehr als zwei Drittel der Grundschu-len. Damit konnte ein gut erreichbaresNetz erhalten bleiben. Unser Grund-schulsystem umfasst sechs – statt wie inden meisten Bundesländern vier – Jahr-gänge. Mit der sechsjährigen Grund-

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thema – bildung für alle

Für alle, von Anfang an WIE WIR UNSER BILDUNGSSYSTEM GERECHTER UND BESSER MACHEN

VON HOLGER RUPPRECHT UND KLARA GEYWITZ

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schule ermöglichen wir für alle Kinderdie längste Zeit gemeinsamen Lernens in einem deutschen Flächenland.

2005 haben wir die Gesamt- undRealschulen zur Oberschule verschmol-zen. Damit ist unser Schulsystem über-sichtlicher und gleichzeitig auch fürden demografischen Wandel gewapp-net. Die meisten Oberschulen habensich inzwischen erfolgreich etabliertund leisten mit ihren engagiertenLehrerkollegien sehr gute Arbeit. Umihre Profilierung zu unterstützen ste-hen 25 Millionen Euro aus der „Initia-tive Oberschule“ (IOS) zur Verfügung.Damit werden zum Beispiel Projektegefördert, um die Schülerinnen undSchüler gezielt auf die berufliche Zu-kunft vorzubereiten oder ihre sozialenKompetenzen zu stärken. Dadurchwird der Übergang von der Schule insBerufsleben erheblich erleichtert.

Trotz des Schülerrückgangs habenwir einige größere Gesamtschulen mitgymnasialer Oberstufe als wichtigePfeiler unserer Schullandschaft undsozialdemokratischer Bildungspolitikerhalten können. Die Gesamtschulenbieten das Abitur nach 13 Schuljahrenan. Auch Absolventen der Oberschulemit einem guten mittleren Schulab-schluss können hier das Abitur erwer-ben. Mit den Gesamtschulen und denBeruflichen Gymnasien an den Ober-stufenzentren, die das Abitur ebenfallsnach 13 Jahren anbieten, stellen wirdamit Durchlässigkeit in unserem

Bildungssystem her – eine zentraleZielsetzung unserer Bildungspolitik.

Viele kleine Schulen erhalten

An den verbleibenden ca. 75 GymnasienBrandenburgs wird das Abitur zukünftigwieder nach 12 Jahren abgelegt, nach-dem die Schulzeit nach der Wende auf13 Jahre verlängert worden war. An vie-len Schulen gibt es noch Erfahrungenmit dem 12-jährigen System, so dassdiese Schulzeitverkürzung an unserenGymnasien gut gelingen wird.

Die Zahl der Lehrkräfte an unserenSchulen ist weniger stark zurückgegan-gen als die Schülerzahlen. Das war schondeshalb nötig, weil wir uns in Regionenwie der Prignitz, Uckermark oder Lau-sitz viele kleine Schulen mit kleinenKlassen leisten, denen wir aber eine vollezweizügige Lehrerausstattung gewähren,um gute Unterrichtsqualität zu sichern.In Brandenburg kommen deshalb we-niger Schüler auf einen Lehrer als imBundesdurchschnitt.

Trotzdem hat der Schülerzahlen-rückgang natürlich auch zu einemerheblichen Rückgang beim Bedarf anLehrern geführt. 1991 haben wir zu-sammen mit den Gewerkschaften be-schlossen, keine Lehrer zu entlassen.Stattdessen sollten sich die Lehrkräftedie verbleibende Arbeit solidarisch tei-len. Diese Grundsatzentscheidung hal-ten wir nach wie vor für richtig, auchwenn sie unangenehme Folgen hat. Da

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thema – bildung für alle

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sich die Schülerzahlen im Land nichtgleichmäßig reduzierten, mussten vieleLehrkräfte an die Schulen, an denen sienoch gebraucht wurden, versetzt wer-den. Versetzungen sind für alle Betei-ligten unangenehm: Für die Lehrkräfte,da sie weitere Anfahrtswege haben odersogar umziehem müssen, aber auch fürdie Schulen, da es für Lehrerkollegienbesser ist, wenn sie kontinuierlich zu-sammenarbeiten können. Ein gewissesMaß an Durchmischung mit neuenjungen Lehrkräften tut aber jedemSchulkollegium gut, deswegen habenwir in den vergangen Jahren trotzLehrerüberhang jedes Jahr ca. 200neue Lehrer eingestellt.

Kinder gezielt fördern

Um gute Bildung von Anfang an zufördern, haben wir den Bildungsauf-trag der Kitas gestärkt. So werdenunsere 6-Jährigen gut auf die Schulevorbereitet. An jeder Kita wird durchdie Erzieherinnen ein Jahr vor derSchule die Sprachentwicklung getes-tet; Kinder mit Schwierigkeiten wer-den anschließend gezielt gefördert.

An den Grundschulen haben wir dieFlexible Eingangsstufe ausgeweitet. Siewird inzwischen an 172 Schulen ange-boten. FLEX ist das Kernstück unsererBemühungen um einen kindgerechtenSchulanfang. Alle Kinder werden ent-sprechend ihren Fähigkeiten und Nei-gungen jahrgangsübergreifend gefördert.

Erheblich ausgebaut haben wir einweiteres Kernstück sozialdemokrati-scher Bildungspolitik: Heute sind be-reits 38 Prozent aller Grundschulenund fast 60 Prozent der weiterführen-den Schulen Ganztagsschulen. Fast230 Millionen Euro wurden in denvergangenen Jahren in die Ganztags-schulen investiert.

Großer Sprung nach vorn

Wie alle anderen Bundesländer habenwir auch in Brandenburg einiges unter-nommen, um herauszufinden, wo dieStärken und Schwächen unserer Schulenliegen. Sie sollen sich vergleichen und ausden Ergebnissen lernen können. Deshalbgibt es heute die Schulvisitation, mit derin den vergangenen Jahren bereits fast 75Prozent aller Schulen einmal unter dieLupe genommen wurden. Die Ergebnis-se der Untersuchungen werden mit denSchulen diskutiert. Sie erhalten Hinwei-se, wo Verbesserungen nötig und mög-lich sind. In allen 10. Klassen des Landesfinden seit einigen Jahren zentrale Prü-fungen statt, so dass sich die Schulen an-hand einheitlicher Standards über ihreLeistungsfähigkeit bewusst werden. Glei-ches wird mit dem neu eingeführtenZentralabitur erreicht.

Im Ergebnis der vielfältigen bildungs-politischen Maßnahmen der vergange-nen Jahre hat sich Brandenburg in deninternationalen Schulleistungsstudienwie PISA kontinuierlich verbessert. Auf

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holger rupprecht und klara geywitz – für alle, von anfang an

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diese Leistungssteigerungen kann unserLand stolz sein, Schüler und Elterngleichermaßen. Vor allem gilt: Ohnedas Engagement der Lehrerinnen undLehrer wären diese Verbesserungen un-denkbar gewesen.

2. Was wir noch vorhaben

Wir haben viel erreicht, zufrieden sindwir jedoch noch nicht. Noch haben wirnicht alle Ziele, wie mehr Gerechtigkeitund mehr Chancengleichheit im Bil-dungssystem erreicht. Wir wollen opti-male Förderung für alle, vor allem fürdie Schwachen. Auch in den kommen-den Jahren werden wir deshalb unserBildungssystem Schritt für Schritt wei-ter entwickeln.

MEHR QUALITÄT IN DEN KITAS. Bran-denburg hat bereits heute ein hervorra-gendes Kinderbetreuungssystem. Ins-besondere bei den unter 3-Jährigenstehen wir bundesweit an der Spitze.Dennoch, nichts ist so gut, dass es nichtnoch besser werden kann. Alle Forschun-gen zeigen heute: Je früher Kinder geför-dert und angeregt werden, um so besserfür ihre Entwicklung. Deshalb werdenwir die Betreuungsrelationen als erstes beiden Krippenkindern verbessern. Ziel istes, dass – statt heute sieben – dann nurnoch sechs Kinder auf eine Erzieherinkommen. Um die Qualität unserer Kitaszu verbessern, soll es auch zusätzlicheFortbildungen für die Erzieher geben.

Auch sollen die Leitungskräfte von Be-treuungsaufgaben entlastet werden.

Für diese Qualitätsverbesserungensollen in den kommenden Jahren 20Millionen Euro mehr pro Jahr ausgege-ben werden. Das ist viel Geld, dennder Landeshaushalt wird in den kom-menden zehn Jahren um etwa ein Vier-tel schrumpfen, da die Zuweisungenaus dem Solidarpakt schrittweise sin-ken. Das bedeutet aber auch, dass wiruns nicht gleichzeitig beitragsfreie Ki-tas leisten können – die würden weite-re zweistellige Millionenbeträge kosten.Und die wollen wir nicht mit neuenSchulden bezahlen. Stattdessen werdenwir sicherstellen, dass die Kitagebührenauch in Zukunft sozial gestaffelt unddamit für Familien und Alleinerziehen-de mit geringen Einkommen erschwin-glich bleiben.

BESSERER ÜBERGANG IN DIE SCHULE.Wir wollen die flexible EingangsstufeFLEX weiter ausweiten, um schon inder Grundschule Chancengleichheitzu schaffen. FLEX hat sich bewährtund soll flächendeckend angebotenwerden. Allerdings funktioniert dasModell nur dort gut, wo FLEX mitÜberzeugung praktiziert wird. Des-wegen soll die Ausweitung auf frei-williger Basis erfolgen.

MEHR GANZTAGSSCHULEN. Den Erfolgim Bereich Ganztagsbetreuung wollenwir fortsetzen und in den nächsten

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thema – bildung für alle

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Jahren noch möglichst viele Schulen zuGanztagschulen machen. Dafür wer-den sie mit zusätzlichen Lehrerstundenausgestattet. Im Rahmen des Konjunk-turpakets können die Schulträger wei-tere Ganztagsschulen ausbauen. In denGanztagsschulen sollen sowohl leis-tungsschwache aber auch leistungsstär-kere Schülerinnen und Schüler bei-spielsweise über besondere Formen derAufgabenbetreuungen individuell ge-fördert werden.

WENIGER SCHULABBRECHER. Weil wirdie Aufforderung, kein Kind zurückzu-lassen, ernst nehmen, wollen wir diehohe Zahl der Schüler, die unsereSchulen ohne Abschluss verlassen, er-heblich verringern. Bis 2015 soll sichdie Zahl der Schüler ohne Abschlusshalbieren. Dazu sollen Ganztagsange-bote, aber auch gezielte Fördermaß-nahmen an allen anderen Schulen, aus-gebaut werden.

Zu den Schülerinnen und Schülernohne anerkannten Schulabschluss unddamit ohne befriedigende Berufsper-spektive gehören auch die Absolventenvon Förderschulen, insbesondere inden Förderbereichen Lernen, Spracheund emotionale Entwicklung. Ihre Zu-kunftsperspektiven nachhaltig zu ver-bessern, ist eine weitere wichtige Auf-gabe, der wir uns in den nächstenJahren stellen wollen. Denn wir wissen,viele der Kinder könnten mit individu-eller Förderung und modernen Unter-

richtsmethoden auch in den regulärenSchulen einen vollwertigen Schulab-schluss erreichen – so machen es unsviele unserer Nachbarländer vor.

GRÖSSERE AUFSTIEGSCHANCEN. In derPISA-Studie 2003 war Brandenburg imbundesweiten Vergleich das Land mitdem geringsten Zusammenhang zwi-schen sozialer Herkunft und Bildungs-erfolg. Um es einfacher zu sagen: UnserBildungssystem war deutschlandweit dasgerechteste. Während wir uns bei denschulischen Leistungen in der letztenPISA-Studie 2006 erheblich verbesserthaben, sind wir in diesem Bereich zu-rückgefallen. Dieser Rückschritt ist füruns inakzeptabel, hier wollen wir wiederaufholen. Bessere Leistungen für alle ineinem gerechten System müssen inBrandenburg möglich sein.

Dabei können verschiedene Maß-nahmen helfen. Deshalb soll der erfolg-reiche Schulsozialfonds fortgeführtwerden, dazu werden jährlich über 2Millionen Euro zur Verfügung stehen.Zusätzlich werden wir auch ein soge-nanntes Schüler-Bafög einführen, mitdem bedürftige Schülerinnen undSchüler bei der Vorbereitung auf dasAbitur materiell unterstützt werden.Auf dem Weg zum Abitur soll derSchulerfolg nicht von den finanziellenMöglichkeiten der Eltern abhängen.

UNTERRICHTSAUSFALL REDUZIEREN.Ein Thema, das uns auch immer wieder

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holger rupprecht und klara geywitz – für alle, von anfang an

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beschäftigt, ist der Unterrichtsausfall.Rein statistisch gesehen liegt er zwar beiuns in Brandenburg nicht höher als inanderen Bundesländern. UmfassenderUnterrichtsausfall tritt weder flächen-deckend noch dauerhaft auf. Diese Fest-stellung tröstet aber an den Schulen wenig, an denen wegen langfristiger Er-krankung von Lehrkräften der Unter-richt nicht mehr gut vertreten werdenkann. Deswegen werden wir zum Bei-spiel die sogenannte Vertretungsreserveaufstocken. So können Schulen schnel-ler und besser reagieren.

GUTE LEHRER FÜR GUTE SCHULEN.Derzeit haben wir an unseren Schulennoch ausreichend Lehrkräfte. DieseSituation wird sich schon in wenigenJahren ändern, denn dann scheidenstark besetzte Lehrerjahrgänge altersbe-dingt aus dem Schuldienst aus. Des-halb werden wir Jahr für Jahr vieleneue Lehrer einstellen, um die Unter-richtsversorgung in ganz Brandenburgsicherstellen zu können. So wollen wirin den nächsten Jahren über 1.200 jun-ge Lehrkräfte einstellen – und zwar soschnell wie möglich.

Doch das wird nicht reichen. Wirmüssen schon jetzt Maßnahmen ergrei-fen, um dann genügend Nachfolger fürdie ausscheidenden Lehrkräfte zu finden.Dazu müssen an unseren Hochschulenmehr Lehrer ausgebildet werden als heu-te; in praktisch allen Fächern, vor allemaber bei den Sonderpädagogen und Be-rufschullehrern, weil wir für diese Lehr-ämter derzeit gar nicht ausbilden.

Lehrerinnen und Lehrer erhaltenheute nicht die Anerkennung, die sieverdienen. Die Politik kann Anerken-nung nicht verordnen. Sie kann aberbeständig dafür werben, dass der Leh-rerberuf wieder attraktiver wird. Auchwerden wir dafür sorgen, dass die Be-dingungen für Lehrkräfte in Branden-burg mindestens genau so gut sind wiein den anderen Ländern, die ebenfallsviele neue Lehrkräfte einstellen wollen.

Veränderungen im Bildungssystembrauchen Zeit, ihre Früchte lassen sicherst nach etlichen Jahren ernten. Des-halb braucht man viel Ausdauer und einklares Ziel vor Augen. Wir wollen dafürsorgen, dass unsere Kitas und Schulen inZukunft gerechter und besser werden –für alle und von Anfang an. n

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thema – bildung für alle

H O L G E R R U P P R E C H T

ist Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg.

K L A R A G E Y W I T Z

ist stellvertretende Landes- und Fraktionsvorsitzende der SPD Brandenburg.

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Von Martin Luther stammt derschöne Satz: „Wenn es im Staat

besser werden soll, muss man bei denKindern anfangen.“ Jeder politischVerantwortliche – egal welcher Partei,egal auf welcher Ebene – könnte diesenSatz unterschreiben. Damit wäre nochnichts über den Maßstab politischenHandels erzählt, kein Ziel definiert,keine Institution benannt, die dies amerfolgreichsten garantieren kann. Dassnunmehr aber Einigkeit auch in derkonkreten Umsetzung besteht, nämlichden Ausbau der Kindertagesbetreuungüber das Kindertagesstättenfördergesetzdes Bundes zu forcieren, ist mit demWort Novum nicht erschöpfend be-schrieben.

Vielmehr handelt es sich um eineregelrechte kulturelle Revolution beiden Kollegen Christdemokraten unddem westdeutschen Milieu, die sichnunmehr nicht mehr der progressivensozialdemokratischen Familien- undBildungspolitik verschließen. So ge-winnt das von uns Bildungspolitikernso gerne im Munde geführte Prinzipdes lebenslangen Lernens eine erfreuli-

che praktische Aufwertung. Warumdiese einleitende Worte? Es ist außer-ordentlich lohnenswert noch einmaldarauf zu verweisen, dass das Bild derÜbermutter, die sich für ihre Kinderaufopfert, noch keine über 500-jährigeGeschichte wie der Luther-Ausspruchhat. Vielmehr prägte diese Einstellungbis vor wenigen Jahren eben jeneswestdeutsche Milieu. Und bei vielenMännern in den hinteren Unionsbän-ken sind wir uns auch heute nochnicht sicher, ob die ideologische Über-höhung des Wertes privater Erziehungnicht noch dominierend ist.

Nur 25 Stunden Vorlesen

Inzwischen kann man bei vielen Kon-servativen erleben, wie sie sich vomliebgewordenen und lang gehegtenfamilienpolitischen Tunnelblick verab-schieden. Sie kommen angesichts einerimmer älter werdenden Gesellschaftund einer im europäischen Vergleichgeringen Geburtenrate mit ihren altenVorstellungen von Arbeit und Familieins Straucheln. Und auch sie erkennen,

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Den Kinderschuhen entwachsenFRÜHKINDLICHE BILDUNG UND ERZIEHUNG IN BRANDENBURG

VON JUTTA LIESKE UND MANJA ORLOWSKI

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dass etwas Grundsätzliches in unseremLand nicht stimmen kann, wenn Kin-der ohne ausreichende Sprachkenntnissein die Grundschule kommen und nahe-zu jeder zehnte Schüler eines Jahrgangsdie Schule ohne Abschluss verlässt.Das sind die denkbar schlechtestenVoraussetzungen für ein selbstbestimm-tes und ökonomisch abgesichertes(Berufs-)Leben und damit schließlichauch für die Zukunftsfähigkeit unseresLandes.

Die Kopplung von sozialer Her-kunft und Bildungserfolg ist Deutsch-land in mehren internationalen Ver-gleichsstudien nachgewiesen worden.Ein Beispiel gefällig? Während Ärzte,Rechtsanwälte und Lehrer ihren liebenKleinen, bis sie eingeschult werden, ca.1.700 Stunden etwas vorgelesen haben,sind es bei Kindern aus den so genann-ten unteren Schichten gerade einmal25 Stunden. Das Bekenntnis des Bun-des zum Krippenplatzausbau ist völligrichtig. Um einer Bildungsbenachtei-ligung zu begegnen, ist es zwingend erforderlich, möglichst frühzeitig an-zusetzen. Wenn es darum geht, die de-mografische Entwicklung zu steuern,ist eine flächendeckende Kindertages-betreuung aus dem Instrumentenkas-ten für die „Vereinbarkeit von Familieund Beruf“ nicht mehr wegzudenken.Und wenn es darum geht, die gesell-schaftliche Mehrheit in Deutschlandfür eine moderne Familienpolitik überden Krippenausbau hinaus in eine

politische Mehrheit zu verwandeln,dann ist das nur möglich, weil Sozial-demokraten genau diesen Ansatz vor-ausgedacht, vorbereitet und unterstützthaben. In dem seit 19 Jahren sozialde-mokratisch regierten Brandenburg sindKinder und die Qualität von Bildungund Erziehung schon seit 1990 diezentralen politischen Themen.

Spitzenplatz in Deutschland

Ganz konkret werden 43,3 Prozent derKnirpse unter drei Jahren und fast 94Prozent der über Dreijährigen in Bran-denburg betreut. Das sind Spitzen-plätze im bundesweiten Vergleich. Bil-dungsteilhabe von Anfang an wird inBrandenburg also konsequent umge-setzt. Die brandenburgische öffentlicheHand gibt im Vergleich zu den ande-ren ostdeutschen Ländern am meistenGeld für die unter 10-Jährigen aus. Ge-messen an den gesamten Ausgaben deröffentlichen Haushalte sind es wieder-um die Brandenburger, die mit 5,6Prozent (Ostdurchschnitt 5,3 Prozent)den Spitzenplatz einnehmen. Ganzkonkret zahlte das Land 2001 denKommunen 128,8 Millionen Euro fürdie Kindertagesbetreuung, 2008 warenes 136,9 Millionen Euro und in 2009steigen die Ausgaben auf 149 Millio-nen Euro.

Damit wird die politische Priori-tätensetzung auch finanziell untersetzt.Unsere Erzieherinnen und Erzieher

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thema – bildung für alle

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verfügen über ein hohes Qualifika-tionsniveau. Fast 92 Prozent unserespädagogischen Personals hat einenFachschulabschluss.

Auch in Kitas wird gelernt

Kitas sind aber keine „Verwahranstalten“– deshalb ist es mit einer bloßen Betreu-ung auch nicht getan. Vielmehr ist dieKita der Anfang unseres Bildungsver-laufes. Nur weil es keinen Unterrichts-plan gibt, bedeutet dies noch langenicht, dass in der Kita nichts gelerntwird. Gelernt wird viel, nur eben andersals beispielsweise in der Schule. Diefrühkindliche Bildung soll die natürli-che Neugier der Kids fördern, sie sollenspielend lernen und sich ausprobierendürfen. Denn nie mehr wieder lernt derMensch so viel und so schnell wie inden ersten Lebensjahren. Deshalb hatBrandenburg bereits Mitte der neunzi-ger Jahre einen Prozess zur Qualitäts-steigerung der Bildungsarbeit in denKindertagesstätten angeregt, der vorallem auch die bundesweite Diskussionum Bildungsstandards maßgeblichanfachte. Unter dem etwas umständli-chen Titel „Grundsätze der elementarenBildung“ entwickelte Brandenburg einKoordinatensystem, das die praktischenund wissenschaftlichen Erkenntnisse derfrühkindlichen Bildung und Erziehungso aufschlüsselte, dass das Kitapersonalviele Beispiele und Anregungen an dieHand bekam, wie Kinder beispielsweise

in ihrem Bewegungsdrang, bei den Na-turwissenschaften oder in der Musikunterstützt und gefördert werden kön-nen. Diese „Grundsätze“ sind kein ver-bindlicher Lernplan, sondern eher Hilfeund Anregung und auch der Anlass, dieQualität in der Einrichtung immer wie-der aufs Neue zu überprüfen. Auch des-halb werden die Entwicklungs- undLernfortschritte eines jeden Zöglingsdokumentiert und in Gesprächen mitden Eltern kommuniziert.

Zu viele Sprachdefizite

In Reaktion auf die alarmierendenSprachstörungen der ABC-Schützen hatBrandenburg 2006 die Sprachstands-feststellung und Sprachförderung imletzten Jahr vor der Einschulung einge-führt. Ist man zunächst davon ausge-gangen, dass 5 bis 10 Prozent derKinder stottern, undeutlich reden oderdie Kommunikation gänzlich verwei-gern, wird die Zahl nach allen jetzterfolgten Betrachtungen nach oben kor-rigiert werden müssen. Experten spre-chen davon, dass sich jedes fünfte Kindnicht seinem Alter entsprechend artiku-lieren kann. Betroffen sind vor allemKinder aus sozial schwachen Haus-halten, für die ein optimaler Schulstartund eine Schullaufbahn ohne Sprach-förderung nicht besonders erfolgreichsein dürfte.

Darauf hat auch die kürzlich er-schienene Länderauswertung von PISA

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jutta lieske und manja orlowski – den kinderschuhen entwachsen

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2006 hingewiesen. Der Zusammen-hang zwischen der sozialen Herkunftund der Lesekompetenz ist gerade inBrandenburg bedeutsam angestiegen,so zeigen es die vergleichenden Zahlenvon PISA 2000 zu PISA 2006. So le-gen vor allem die Jugendlichen anGymnasien, deren Eltern zur so ge-nannten oberen und unteren Dienst-klasse gehören, im Gegensatz zu denSchülern, deren Eltern Facharbeiteroder un- und angelernte Arbeiter sind,kräftig zu. Professor Behrmann von derUniversität Potsdam spricht in diesemKontext von einem neuen PISA-Schock, denn über 30 Prozent derGesamtschüler sind auf der ersten dersechs Kompetenzstufen anzusiedeln –das reicht kaum über das Grundschul-niveau hinaus. Brandenburg ist alsogut beraten, wenn es seine Anstren-gungen im Bereich Sprachförderungverstärkt. Dazu gehört eine auskömm-liche Finanzierung ebenso wie die kon-tinuierliche Unterstützung der Erzieherdurch Qualifizierung und Beratung.

Männer gesucht

Selbstredend ist das, was wir soeben fürdie Sprachförderung angemahnt haben,nicht nur auf diese begrenzt. Die Quali-tät in der frühkindlichen Bildung undErziehung steht und fällt mit der Aus-bildung und dem Engagement unseresKita-Personals. Wir haben gut ausgebil-dete und motivierte Erzieherinnen, aber

mehr als jede Dritte ist älter als 51 Jahre.Bis 2010 gehen viele der Frauen inRente.

Ja, Frauen. Denn unter unserenmehr als 11.000 Erzieherinnen und Er-ziehern in den Kitas finden sich gerademal 87 Männer, lediglich 12 Männerleiten eine Kita (gegenüber 1.655Frauen). Die männlichen Bezugsperso-nen fehlen den Kindern – nicht nur,aber vor allem den Jungen. Oder kön-nen Sie sich vorstellen, dass die 55-jährige Erzieherin ihre Jungen mit„Give me five“ abklatscht, wenn sie siemorgens in Empfang nimmt? Schon dieerste Bildungsetappe produziert Unge-rechtigkeiten für Jungen. Leistungsver-weigerung, „Zappel-Philipp-Syndrom“,Schulabbruch, geringere Abiturquotesind nur einige der Folgen im späterenBildungsverlauf. Das Land kann undmuss helfen, Männer in den Bildungs-bereich zu integrieren. So sind vor allemProjekte wie das Programm des BerlinerInstituts für Frühpädagogik und derArbeitsagentur Cottbus zu unterstützen,arbeitslose Männer in einer zweijährigenQualifizierungsmaßnahme zu Erziehernauszubilden. Nach einem ersten erfolg-reichen Durchlauf für 18 Männer läuftderzeit das zweite Projekt mit 20 Män-nern und in weiteren Regionen in Bran-denburg wird über Nachahmer-Projektenachgedacht. Steter Tropfen höhltden Stein. Dänemark hat es geschafft:Mittlerweile arbeiten dort 20 Prozent(männliche) Erzieher.

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Aber nicht nur Männer fehlen.Häufig leidet die pädagogische Arbeitin den Kitas an der fehlenden Zeit fürdie individuelle Förderung der Kinder,für die Umsetzung der elementarenGrundsätze. Und die Qualität einerEinrichtung kann bis zu einem JahrEntwicklungsunterschied bei den Kin-dern im Vorschulalter ausmachen – soder Autor der ersten bundesweitenStudie zur pädagogischen Qualität inKindertagesstätten, Professor WolfgangTietze von der Freien Universität zuBerlin.

Mehr Geld für Kitas

In Brandenburg betreut eine Fachkraftsieben Zöglinge in der Gruppe der 0- bis3-Jährigen, bei den über 3-Jährigen be-treut sie 13 Kinder. Gerade bei denunter 3-Jährigen ist das Personal oftmalsfroh, wenn es das „Waschen, Windeln,Füttern“ ohne große Reibungsverlusterealisieren kann. An Frühförderung istda häufig nicht zu denken. Das Ver-sprechen der brandenburgischen Sozial-demokraten, 25 Millionen Euro vorallem für die Kleinsten der Kleinen zuinvestieren, kommt also genau zumrichtigen Zeitpunkt. Die Mittel sollenvor allem für die Verbesserung des Be-treuungsschlüssels eingesetzt werden.

Wir erwarten uns davon aber aucheine bessere Ausstattung im Bereich derSprachförderung und der Leitungsfunk-tionen. Management und Organisation,

das sind Prozesse, die längst nicht mehrnur in Zusammenhang mit der Wirt-schaft im Munde geführt werden, son-dern auch Einzug in die Bildungsins-titutionen unseres Landes genommenhaben. Denn die Arbeit der Kita-Lei-tung geht weit über das Erstellen vonDienstplänen hinaus. Evaluationen, An-leitungen, Konsultationen, Berichte undvor allem die Arbeit mit den Eltern ge-hören heute ganz selbstverständlich zuden Anforderungen an eine Kita. Undgenau die Arbeit mit den Eltern wird inder Diskussion häufig vernachlässigt.Dabei zeigen Kita-Qualitätsuntersu-chungen wie die von Professor Tietze,dass der familiäre Hintergrund für dieBildungsqualität der Kinder besondersentscheidend ist. Demnach bestimmenstrukturelle Qualitätsmerkmale, wie dieAusbildung der Erzieher, der Betreu-ungsschlüssel oder aber die pädagogischeAusrichtung nur zu 50 Prozent die Qua-lität der Prozesse, also wie das Kind be-treut und gefördert wird. Es muss alsoauch darum gehen, wie die Eltern imUmgang mit ihren Kindern gestärktwerden – und zwar nachhaltig.

Neue Hilfen für Eltern

Brandenburg hat darauf schon vor dreiJahren mit den „Eltern-Kind-Zentren“reagiert. Von 2006 bis 2008 wurde dieGründung der ElKiZe (umständlicheAbkürzungen scheinen ein beliebtesInstrument der Bildungspolitiker zu

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jutta lieske und manja orlowski – den kinderschuhen entwachsen

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sein) mit jährlich 400.000 Euro geför-dert. Im Kern geht es darum, Elternund Alleinerziehende in ihrer alltägli-chen Erziehungsarbeit zu unterstützen.Sind Eltern überfordert, wissen siehäufig nicht, wo sie Hilfe bekommenoder wen sie ansprechen können. Indiesen Zentren sollen die Eltern dieHilfen oder Beratungsmöglichkeitengebündelt vorfinden. Angefangen beider Erziehungsberatung bis zu An-sprechpartnern wie Jugendämter,Gesundheitsdienste, Kinderkliniken,Kinderärzte oder Schuldnerberatung.In zwölf Regionen gibt es mittlerweileEltern-Kind-Zentren und auch bei die-ser Form der Familienunterstützunghaben sich viele Nachahmer gefunden.Brandenburg ist mit diesem erfolgrei-chen Modell der Gemeinwesenarbeit –denn nicht mehr und nicht weniger istein gutes Eltern-Kind-Zentrum – nichtstehen geblieben.

Sozialer Anker für Eltern

Im Nachgang des Projekts hat mansich in Brandenburg darauf konzen-triert, ein Verbindungsglied zwischenElternbildung und Kindertagesbetreu-ung zu konzipieren. Entstanden ist dieIdee der „Eltern-Kind-Gruppen“, diein diesem Jahr durch eine Anschub-finanzierung durch das Land etabliertwerden sollen. Die Eltern-Kind-Grup-pen sind keine Ausgeburt einer wieauch immer gearteten Mode. Will mei-

nen: Der Leser befindet sich auf demHolzweg, wenn er diese Form derFamilienbildung auf das sprichwörtli-che „Prenzlauer-Berg-Pastinaken-PEkiP-Bioeis-Gefühl“ reduzieren will.Vielmehr soll mit Hilfe dieser Grup-pen auf verschiedene Herausforde-rungen reagiert werden. Eltern sollenangeleitet werden, Eltern sollen nichtohne soziale Bezüge auskommen müs-sen – auch wenn sie sich bewusst dafürentscheiden, mit ihren Kindern in denersten Lebensjahren zu Hause zu blei-ben – oder sie keinen Anspruch aufeinen Kitaplatz haben, weil sie nichtim klassischen Sinne berufstätig sind.Entwicklungsdefizite sollen mit Hilfevon pädagogischem Fachpersonal früh-zeitig erkannt und die Eltern-Kind-Bindung gestärkt werden.

Ins Zentrum der Gesellschaft

Die Eltern-Kind-Gruppen sind nichtnur für die Kinder sondern auch fürdie Erwachsenen ein sozialer Anker.Eltern-Kind-Gruppen haben verlässli-che Öffnungszeiten und werden damitzu einem Ort der sozialen Begegnungfür Eltern und Kinder. Sie bieten päda-gogische Aktivität wie zum Beispielgemeinsames Spielen, Singen undBilderbücher-Betrachten. Eine ausge-bildete Erzieherin steht ihnen dabei zurSeite. Auch diese Form der frühkind-lichen Bildung und Erziehung wird inBrandenburg unterstützt. Das Bil-

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thema – bildung für alle

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dungsministerium hat ein Förderpro-gramm aufgelegt, mit dem anfangs 18,später hoffentlich mehr Eltern-Kind-Gruppen mit insgesamt 20.000 Europro Jahr gefördert werden.

Die Reihe der erfolgreichen Maß-nahmen, die wir soeben vorgestellthaben, machen nicht nur Mut, son-dern sie sind Anlass, mit Stolz zusagen, dass Brandenburg den Kinder-schuhen auf dem Gebiet der frühkind-lichen Bildung und Erziehung ent-wachsen ist. Brandenburg war vielfachInitiator und Vorreiter – für Betreu-ungsquote, Bildungsstandards, Quali-fizierungen und Modellprojekte. Nun-

mehr muss das Land aufpassen, dass esdieses System auch ausreichend finan-ziert, sonst wird es im bundesweitenVergleich ins Hintertreffen geraten.Und damit wäre die Chancengleichheitfür unsere Landeskinder gefährdet. DerBeschluss des SPD-Landesvorstandesvom 21. Februar 2009 zeigt deutlich,dass die Kinder-, Bildungs- und Fami-lienpolitik den Sozialdemokraten wich-tig ist. Dies untermauern sie in einemersten Schritt mit zusätzlichen 25 Mil-lionen Euro. Damit ist die frühkindli-che Bildung und Erziehung genau daangekommen, wo sie hingehört – imZentrum der Gesellschaftspolitik. n

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jutta lieske und manja orlowski – den kinderschuhen entwachsen

J U T T A L I E S K E

ist Landtagsabgeordnete aus Brandenburg und jugendpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion.

D R. M A N J A O R L O W S K I

ist Referentin der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.

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D ie humanistische Idee einer „Schu-le für alle“ wird mindestens seit

der Durchsetzung der Schulpflicht leb-haft diskutiert und führte in der inte-grationspädagogischen Debatte inDeutschland in den letzten drei Jahr-zehnten häufig zu einem kontroversenSchlagabtausch. Allen Diskussionen istder Grundgedanke zu eigen, Bildungs-und Erziehungsprozesse so zu gestalten,dass sich alle Kinder und Jugendlichenzu eigenständigen, selbstbewussten Per-sönlichkeiten entwickeln können.

Schon Wilhelm von Humboldt hobhervor, dass durch Bildung alle Kräftedes Menschen angeregt werden sollen,damit diese sich über die Aneignung derWelt entfalten können und zu einer sichselbst bestimmenden Individualität undPersönlichkeit führen. „Humboldts Bil-dungstheorie eröffnete eine unendlicheFülle gleichwertiger Möglichkeiten.Keiner Individualität sollte eine andereForm aufgezwungen werden als geradeihr angemessen war.“1

Bildung ist ein komplexer und be-sonders individueller Prozess, der na-türlich nicht nur auf schulische Bildungzu reduzieren ist. Sehr eindrucksvollstellt Donata Elschenbroich in ihremBuch „Weltwissen der Siebenjährigen“dar, wie viel Wissen Kinder sich biszum Eintritt in die Schule angeeignethaben. Das verleitet mich zu der Be-hauptung: Alle Kinder wollen lernenund sich dabei auch anstrengen! AlleKinder wollen, ihren Möglichkeiten ent-sprechend, gute Leistungen erbringenund das auch erfahren! Alle Kinderwollen, wenn sie erwachsen sind, erfolg-reich und selbstbestimmt am gesell-schaftlichen Leben teilhaben.

Freude am Lernen erhalten

Dafür müssen sie Bedingungen vorfin-den, die die Freude am Lernen ein Le-ben lang erhalten und gleichermaßender Individualität jedes Einzelnen ent-sprechen. Derzeit durchlaufen jedochnur 64 Prozent der Schüler das deut-sche Schulsystem ohne Verzögerung,

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Wie kommt man zur„Schule für alle“? DIE FÖRDERUNG VON KINDERN MIT SONDERPÄDAGOGISCHEM

FÖRDERBEDARF IST EINE BESONDERE HERAUSFORDERUNG

VON KARIN SALZBERG-LUDWIG

1 Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik, Wetzlar 1982

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acht bis zehn Prozent erlangen keinenSchulabschluss. Deshalb ist davon aus-zugehen, dass die Anforderungen undBedingungen der Schule mit den Lern-voraussetzungen der Kinder undJugendlichen nicht immer überein-stimmen. Wer also Veränderungenherbeiführen will, muss zuerst diegegenwärtigen Bedingungen analysie-ren. An dieser Stelle werde ich dieVoraussetzungen für Kinder mit einembesonderen pädagogischen Förderbe-darf analysieren – zuerst mit einemBlick über die Ländergrenzen hinaus.Dort wollen wir schauen, welche Prio-ritäten einzelne Länder in der Beschu-lung von Kindern und Jugendlichenmit besonderen Bedürfnissen setzen.

Nicht ohne mehr Mittel

Unter Bildungsexperten herrscht in-zwischen weltweit darin Übereinstim-mung, „dass die Schulbildung behinder-ter Schüler nicht ohne für sie zusätzlichzur Verfügung gestellte Mittel erfolgenkann, wenn sie auf einer auch nur an-nähernd gleichen Basis wie nicht-behin-derte Schüler Zugang zum Unterrichterhalten sollen.“2

Wer also die Chancengleichheit fürSchüler mit verschiedenen Arten vonLernproblemen untersuchen will, mussdie zur Verfügung stehenden Mittelanalysieren, um den Bedürfnissen der

betreffenden Schüler gerecht zu werden.Dazu wurden die internationalen Da-ten in die länderübergreifenden Kate-gorien A, B und C aufgeschlüsselt:

n KATEGORIE A: BEHINDERUNG. DieseKategorie bezieht sich auf den Bil-dungsbedarf von Schülern, bei deneneine weitgehend normative Überein-stimmung besteht, das heißt, sie sindblind oder schwer sehbehindert, tauboder schwerhörig, schwer geistig be-hindert bzw. mehrfachbehindert.Behinderungen sind medizinisch de-finiert als organische Störungen, dieauf pathologische Befunde zurückzu-führen sind. Es liegen also in der Re-gel eindeutige körperliche Gründefür die Behinderung vor.

n KATEGORIE B: LERNSCHWIERIG-KEITEN. Diese Kategorie bezieht sichauf den Bildungsbedarf von Schülernmit Lernschwierigkeiten, die an-scheinend nicht direkt oder primärauf Faktoren zurückzuführen sind,die zu einer Einstufung in den Kate-gorien A oder C führen. Es handeltsich um Schüler mit Lern- und Ver-haltensschwierigkeiten, die ihremErscheinungsbild nach nicht eindeu-tig auf eine organische Ursacheund/oder eine soziale Benachteili-gung zurückzuführen sind.

n KATEGORIE C: BENACHTEILIGUN-GEN. Diese Kategorie bezieht sich aufden Bildungsbedarf von Schülern,der hauptsächlich auf sozioökonomi-

34 märz 2009 – heft 40

thema – bildung für alle

2 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.),Bildungspolitische Analyse der OECD, Berlin 2003, S. 8 ff.

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sche, kulturelle und/oder linguisti-sche Faktoren zurückzuführen ist. Es liegt eine Art benachteiligter oderatypischer Hintergrund vor, den dasBildungswesen zu kompensieren an-strebt. Diese Schüler erhalten zusätz-liche Bildungsressourcen aufgrundihres sozialen und/oder sprachlichenHintergrunds.

Eine Studie der Organisation fürwirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung von 2003 verdeutlicht,welche Prioritäten in den einzelnenLändern die Beschulung beeinträchtigterKinder hat. Die Grafik zeigt, wie vielProzent der Schüler wegen ihrer Beein-trächtigung zusätzliche Mittel erhalten.

Es ergibt sich ein sehr differenziertesBild, wobei deutlich zu erkennen ist,dass der finanzielle Rahmen, der zurFörderung behinderter, beeinträchtigterund benachteiligter Kinder und Jugend-licher zur Verfügung gestellt wird, inden einzelnen Ländern weit auseinandergeht. Ausgehend von einem Mittelwertvon 9,68 Prozent liegen von den 16Ländern sieben über und neun Länderunter dem Durchschnitt. Zu letzteremgehört auch Deutschland mit einerQuote von 4,4 Prozent. Die größtenDifferenzen ergeben sich aus den Auf-wendungen für Schüler der KategorienB und C. Einige Länder stellen für dieseSchüler gar keine zusätzlichen Mittel zurVerfügung.

35perspektive21

karin salzberg-ludwig – wie kommt man zur „schule für alle“?

4,4

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(199

9)

Kat. A, B und C nur Kat. B nur Kat. C

Geförderte Schüler mit Schwierigkeiten 1999

Quelle: OECD 2003

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Die Beschulung der Kinder undJugendlichen erfolgt sowohl integrativals auch segregativ. In Spanien, denVereinigten Staaten, Italien und Ka-nada werden behinderte Schüler weit-gehend in Regelklassen unterrichtet.Andere Länder dagegen bevorzugenspezielle Schulen, wie zum BeispielBelgien, die Tschechische Republik,Deutschland und die Niederlande. InFrankreich, Finnland und Japan wer-den die Schüler vor allem in speziellenKlassen in Regelschulen unterrichtet.

Die Deutschen sind selektiv

Im internationalen Vergleich ist dasdeutsche Schulsystem demnach sehrselektiv. Die Maßnahmen der Selektionsind vielfältig und beginnen bereits mitder Schulrückstellung, werden durchNichtversetzen bei schwachen Schul-leistungen weitergeführt und differen-zieren mit dem Übergang in die höhe-ren Schulformen noch stärker. Kinder,die in ihren Schulleistungen zu weit vonder Norm abweichen, werden aus demallgemeinen Schulsystem gänzlich aus-gegliedert. Parallel dazu werden beson-dere Maßnahmen zur Integration undFörderung angeboten, die dieser Selek-tion entgegen wirken sollen.

Kontrovers wird der Ort der sonder-pädagogischen Förderung diskutiert,grundsätzlich wird die sonderpädagogi-sche Förderung jedoch nicht in Fragegestellt. Sie orientiert sich seit den von

der Kultusministerkonferenz 1994 veröf-fentlichten Empfehlungen zunehmendan dem individuellen Förderbedarf jedeseinzelnen Kindes. Ihm soll auf der Basiseiner zu schaffenden Chancengleichheit,in der notwendigen Qualität, im erfor-derlichen Umfang und flexibel entspro-chen werden. Es wird hervorgehoben,dass ein sonderpädagogischer Förderbe-darf bei Kindern und Jugendlichen an-zunehmen ist, die in ihren Bildungs-,Entwicklungs- und Lernmöglichkeitenso beeinträchtigt sind, dass sie im Unter-richt der allgemeinen Schule ohne son-derpädagogische Unterstützung nichthinreichend gefördert werden können.Auf dieser Grundlage erfolgt die Fest-stellung sonderpädagogischen Förder-bedarfs.

Auf den Anfang kommt es an

Die auf Seite 37 stehende Tabelle gibtdarüber Auskunft, wie viel Schüler mitsonderpädagogischem Förderbedarf anSonderschulen oder im integrativenUnterricht bundesweit beschult werdenund wie sich die Entwicklung in denletzten Jahren gestaltete. Deutlich wird,dass die Zahl der Schüler mit sonder-pädagogischem Förderbedarf von 1998bis 2006 kontinuierlich angestiegen ist.Der größte Zuwachs (126 Prozent) istim Förderschwerpunkt „emotionaleund soziale Entwicklung“ zu verzeich-nen. Aber auch in den anderen För-derschwerpunkten Sehen (78 Prozent)

36 märz 2009 – heft 40

thema – bildung für alle

Page 37: perspektive21 - Heft 40

und Sprache (69 Prozent) gibt es über-durchschnittliche Zuwächse.

Von allen Schülern besuchten imSchuljahr 2005/06 in Deutschland 4,8Prozent die Sonderschulen. 0,9 Prozentder Schüler lernten an allgemeinenSchulen, das entsprach einer Quotevon 15,7 Prozent aller Förderschüler(siehe dazu auch die Abbildung aufSeite 42). In Brandenburg gab es 2006insgesamt 16.886 Schüler mit sonder-pädagogischem Förderbedarf, das sind6,74 Prozent aller Schüler. Von ihnenwurden 4.565 (oder 25 Prozent) imgemeinsamen Unterricht an allgemei-nen Schulen unterrichtet.

In Brandenburg liegt die Anzahl derSchüler insbesondere in den Förder-schwerpunkten Lernen (3,6 Prozent),geistige Entwicklung (1,22 Prozent) undemotionale und soziale Entwicklung(0,77 Prozent) über dem Bundesdurch-schnitt. Anhand des Vergleichs mit denZahlen von 1998 wird deutlich, dassauch in Brandenburg die Zahl der Schü-ler mit Förderbedarf kontinuierlichgewachsen ist, wenngleich der Zuwachsmit 19 Prozent unter dem Bundes-durchschnitt liegt. Der größte Zuwachsist auch hier bei Kindern mit dem För-derschwerpunkt emotionale und sozialeEntwicklung zu verzeichnen (157 Pro-

37perspektive21

karin salzberg-ludwig – wie kommt man zur „schule für alle“?

Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Bundesrepublik Deutschland

1998 2006 Zuwachs 1998-2006 in Mio in Mio in %

Schüler insgesamt 4,426 5,755 30

Förderschwerpunkt Lernen 2,373 2,673 12

Sonstige Förderschwerpunkte 2,053 3,082 50

Sehen 0,046 0,082 78

Hören 0,109 0,172 57

Sprache 0,352 0,592 69

Körperlich und motorische Entwicklung 0,226 0,353 56

Geistige Entwicklung 0,671 0,899 34

Emotionale und soziale Entwicklung 0,254 0,573 126

Übergreifend bzw. ohne Zuordnung 0,306 0,291 -5

Kranke 0,090 0,121 34

Quelle: KMK, eigene Berechnungen

Page 38: perspektive21 - Heft 40

zent), gefolgt von Kindern mit dem För-derschwerpunkt Sprache (67 Prozent)und geistige Entwicklung (51 Prozent).

Auch wenn die Diagnose sonder-pädagogischer Förderbedarf erst mitdem Eintritt in die Schule gestelltwird, ist doch davon auszugehen, dassdie Beeinträchtigungen bereits imVorschulalter existierten. Einen Belegdafür lieferte der vom Ministerium fürArbeit, Soziales, Gesundheit und Fa-milie des Landes Brandenburg 2007herausgegebene Report zur sozialenund gesundheitlichen Lage von kleinenKindern. So diagnostizierten die Kin-

derärzte zum Schuljahr 2004/05 beiden 13.329 untersuchten Kindern bei3,1 Prozent Sprach- und Sprechstö-rungen, bei 1,5 Prozent Teilleistungs-schwächen, bei 0,8 Prozent Entwick-lungsverzögerungen, bei 1,0 Prozentemotionale und soziale Störungen undbei 1,0 Prozent Hörstörungen.3 Dassind überdurchschnittlich hohe Befun-de, vergleicht man diese mit den För-derquoten.

38 märz 2009 – heft 40

thema – bildung für alle

Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Brandenburg

Förderschwerpunkt 1998 Anteil 2006 Anteil Veränderunginsgesamt in Prozent insgesamt in Prozent 1998-2006

in %

Lernen 13.529 3,78 9.032 3,60 -0,1

Körperliche und motorische Entwicklung 737 0,21 632 0,25 19

Emotionale und soziale Entwicklung 1070 0,30 1.945 0,77 157

Hören 351 0,11 408 0,16 45

Sprache 1.396 0,39 1631 0,65 67

Sehen 218 0,06 170 0,06 0

Geistige Entwicklung 2.882 0,81 3.068 1,22 51

Insgesamt 20.183 5,64 16.886 6,74 19

Quelle: LDS, MBJS

3 Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familiedes Landes Brandenburg (Hg.), Wir lassen kein Kindzurück. Soziale und gesundheitliche Lage von kleinenKindern im Land Brandenburg, Potsdam 2007

Page 39: perspektive21 - Heft 40

Ein Vergleich der sozialen Lage mitdem Gesundheitszustand zeigt, dassSchulanfänger aus sozial benachteilig-ten Familien weniger gesund sind undmehr Beeinträchtigungen und Störun-gen aufweisen. Besonders auffällig sinddie Unterschiede bei den DiagnosenSprachstörungen, Beeinträchtigungender geistigen Entwicklung, psychomoto-rische Störungen und andere psychiatri-sche Erkrankungen. Die Untersuchun-gen zeigen, dass Kinder aus Familienmit niedrigem sozialen Status dreimalhäufiger frühförderrelevante Befundehaben als Kinder aus Familien mit

einem hohen Status. Damit ist abseh-bar, dass diese Kinder deutlich ungüns-tigere Startchancen in der Schule haben.

Besorgniserregend ist, dass die Befun-de mit Relevanz für die Frühförderungzur Einschulungsuntersuchung 2004/05stark angestiegen sind. 17 Prozent derEinschüler hatten frühförderrelevante Be-funde. Bei der Hälfte der Kinder hattendiese Befunde den Charakter einer Erst-diagnose. Damit haben diese Kinder dasoptimale Förder- und Behandlungsalterweit überschritten. Diese Entwicklungzeigt sich auch anhand der Zahlen zuSchulrückstellungen.

39perspektive21

karin salzberg-ludwig – wie kommt man zur „schule für alle“?

Einschulungen im Land Brandenburg

2000/01 in Prozent 2006/07 in Prozent

Grundschulen 12.642 18.699

fristgemäß 11.412 15.447

vorzeitig 401 538

verspätet 829 6,5 2.714 14,5

Förderschulen 448 348

fristgemäß 203 157

vorzeitig 1 3

verspätet 244 54 188 54

Insgesamt 14.686 20.463

fristgemäß 13.052 16.743

vorzeitig 450 582

verspätet 1.184 8 3.138 15

Quelle: MBJS, LDS

Page 40: perspektive21 - Heft 40

Bislang gibt es in Brandenburgkeine verbindliche Förderung nach derRückstellung, denn im Schulgesetzwird in § 51 festgehalten: „Bei einerZurückstellung vom Schulbesuch solleine anderweitige Förderung, insbeson-dere durch den Besuch einer Kinder-tagesstätte oder durch rehabilitativeFrühförderung, gewährleistet sein.“Damit ist Brandenburg das einzigeBundesland, welches keine verbindli-chen Einrichtungen der Frühförderungnach Rückstellung (z. B. Vorklassen,Förderklassen oder Schulkindergärten)vorhält und somit unter ungünstigenUmständen wertvolle Zeit für eineindividuelle Förderung verstreichenlässt. Besonders betroffen sind Kindermit einem schwierigen sozialen Um-feld, die wenig Unterstützung bekom-men und in der Gesellschaft keineLobby haben.

Eine soziale Frage

Soziologischen Untersuchungen zu-folge sind Behinderungen im gesell-schaftlichen Kontext ungleich verteilt.Mit sinkender sozialer Schichtzuge-hörigkeit nimmt das Risiko, behin-dert zu werden, zu. Dieses Phänomentritt bei Schülern, die den Anforde-rungen des Regelschulsystems nichtentsprechen können, besonders deut-lich hervor. „Mehrere Längsschnitt-studien zur kindlichen Entwicklunghaben sehr eindrücklich nachgewie-

sen, wie die Kumulation von psycho-sozialen Risikofaktoren mit erhebli-chen und dauerhaften Beeinträchti-gungen der kindlichen Entwicklungverbunden ist.“4

Zur Erfassung der Lebensbedingun-gen behinderter Schüler gibt es wenigeUntersuchungen. Eine BrandenburgerStudie zur Lebenssituation lernbeein-trächtigter Schüler aus dem Jahre 19975

bestätigt die von Gerhard Klein eben-falls 1997 erfassten Daten aus Baden-Württemberg. Demnach wächst derüberwiegende Teil der lernbeeinträch-tigten Förderschüler unter Bedingungenmit hohen psychosozialen Risikofakto-ren auf. Zahlreiche Untersuchungenbelegen, dass 80 bis 90 Prozent derlernbeeinträchtigten Schüler aus sozialschwachen Verhältnissen kommen. Diesich vergrößernde Kinderarmut wird das Problem also in den kommendenJahren noch verschärfen.

In jeder Gesellschaft gab und gibt esMenschen mit Beeinträchtigungen undBehinderungen. Das Schulsystem musssich also darauf einstellen, dass es immerKinder geben wird, die besonderer Hilfebedürfen. Diese bereitzustellen, mussGrundanliegen einer humanistischenGesellschaft sein. Um sicherzustellen,

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thema – bildung für alle

4 Gerhard Klein, Sozialer Hintergrund und Schullaufbahn;in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 2 (2001), S. 51-61

5 Gerda Siepmann, Belastungsfaktoren lernbehinderter Schü-lerinnen und Schüler im Land Brandenburg und Schlussfol-gerungen für eine vorschulische Förderung; in: dies. (Hg.),Frühförderung im Vorschulbereich, Frankfurt am Main2000

Page 41: perspektive21 - Heft 40

dass diese Hilfe auf der Grundlage fach-licher Standards auch tatsächlich erfolgt,müssen Handlungskonzepte zur Verfü-gung gestellt werden, die die realenGegebenheiten berücksichtigen. Aussonderpädagogischer Sicht sind in denkommenden Jahren im BildungssektorSchwerpunkte zu setzen, die sich andem übergreifenden Ziel aller sonderpä-dagogischen Bemühungen orientieren:individuell angepasste Hilfe zur Selbst-hilfe in größtmöglicher Autonomie undbei größtmöglicher Partizipation fürBehinderte bzw. von Behinderung be-drohte Menschen.6

Mehr individuelle Förderung

Schwerpunkte der individuellen son-derpädagogischen Förderung sind zumeinen die Sicherung des Lernerfolgs imallgemein bildenden Kerncurriculumdurch didaktisch und methodisch an-gepasste Inhalte und begleitender För-derunterricht. Zum anderen geht esum die Ergänzung des Kerncurricu-lums der Allgemeinen Schulen durchspezifische und individuell angepassteInhalte. So werden beispielsweise kom-pensatorisch substituierende Qualifi-kationen vermittelt, wenn blinde Men-schen statt der Schwarzschrift diePunktschrift erlernen. Kompensatorischergänzende Qualifikationen werden

vermittelt, wenn blinde oder sehbehin-derte Menschen ein Mobilitätstrainingerhalten oder bei schwerhörigen dieGebärdensprache unterrichtet wird.

Ein zentrales Element der Qualitäts-sicherung sonderpädagogischer Förde-rung ist der individuelle Förderplan, derfestlegt, welche Fördermaßnahmen fürdas Kind unabdingbar sind. Auf dieserGrundlage kann man entscheiden, wodie Förderung erfolgen kann. Kinderund Jugendliche mit Beeinträchtigun-gen im Lern- und Leistungsverhaltensind in ihrem Alltag oft mit ungünsti-gen und belastenden Lebenssituationenkonfrontiert. Für sie müssen Unterstüt-zungssysteme geschaffen werden, dieden Kindern und Jugendlichen auchaußerhalb von schulischem Unterrichtzur Verfügung stehen. Dazu zählenneben einer systematischen Frühförde-rung auch therapeutische und beratendeAngebote für Kinder und Eltern, diebesonderen psychosozialen Belastungenausgesetzt sind.

Der Vergleich mit dem PISA-SiegerFinnland macht deutlich, was dort an-ders gemacht wird. Zunächst einmalfällt auf, dass in Finnland wesentlichmehr Schüler eine zusätzliche Förde-rung erhalten.

In Finnland erhalten alle Schülermit Lernschwierigkeiten (KategorieB), die in Deutschland gar nicht indas Tätigkeitsfeld von Sonderpäda-gogen fallen, neben dem regulärenUnterricht in ihrer Schule den soge-

41perspektive21

karin salzberg-ludwig – wie kommt man zur „schule für alle“?

6 Siehe dazu die Standards der sonderpädagogischen Förde-rung, veröffentlicht 2008 in der „Zeitschrift für Heilpäda-gogik“

Page 42: perspektive21 - Heft 40

nannten „Ambulanten Sonderunter-richt“ (21 Prozent der Schüler). DieseKinder sind nicht offiziell als „behin-dert“ diagnostiziert. Sie haben Pro-bleme in den Kulturtechniken odereinigen Fächern. Um diese zu kom-pensieren, bekommen sie für zwei bisvier Stunden wöchentlich eine beson-dere Förderung, je nach Bedarf durch-gehend oder nur für eine gewisse Zeitund individuell auf jedes einzelneKind zugeschnitten.

Kinder mit schwerwiegenden undlangandauernden Lern- und/oder Ver-haltensproblemen werden vorrangig in

speziellen Klassen nach einem individu-ellen Entwicklungsplan an den Regel-schulen unterrichtet. Sie sind trotzdemMitglied einer Regelschulklasse, um ihreTeilhabe am gesellschaftlichen Lebender Schule nicht einzuschränken.

In Sonderschulen werden in Finn-land die Kinder unterrichtet (1,5 Pro-zent), die ein Unterstützungssystembenötigen, das die Regelschule nichtzur Verfügung stellen kann. DieseSonderschulen verstehen sich gleicher-maßen als Kompetenzzentren. So gibtes beispielsweise in Finnland nur eine(!) Schule für blinde und sehbehinderteKinder, die ihre Kompetenzen durchSchulungen oder auch unterstützendeDiagnostik weitergibt.

Es gibt natürlich auch in Deutsch-land Schüler, die im Verlauf ihresSchulbesuchs Schwierigkeiten haben.Dazu zählen zehn bis zwanzig Prozenteines Jahrgangs. Bislang stehen fürdiese Kinder im sonderpädagogischenFördersystem in Deutschland sehrwenige zusätzliche Mittel zur Verfü-gung. Die allgemeinen Schulen könnenaus sich heraus die an sie gestelltenHerausforderungen im Hinblick aufeine differenzierte Förderung allerSchüler nicht bewältigen. Deshalb sindflexible und durchlässige Strukturenerforderlich, die eine Förderung ineiner kleinen separaten Gruppe ebensovorsehen wie kooperative und inklusiveAngebote. Das erfordert einen Perspek-tivenwechsel im gesamten Schulsystem.

42 märz 2009 – heft 40

thema – bildung für alle

6,2%

1,5%

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0,9%

4,8%

5,8%

21,0%

28,7%

Anteil an allenSchülern

Schüler inSpezialschulen

Schüler inSpezialklassen oder Gruppenan Regelschulen

ambulanterSonderunterricht

Schüler mit sonderpädago-gischem Förderbedarf in Deutschland und Finnland

Quelle: KMK 2008, eigenes Material

Deutschland Finnland

Page 43: perspektive21 - Heft 40

Denn nur durch eine generelle Re-form des Schulsystems können auch dieFörderbedürfnisse behinderter Kinderzum Grundanliegen der allgemeinenPädagogik werden. Bislang wird denSonderschulen häufig „vorgeworfen“, sieseien an der Segregation der Kinderschuld. In aller Regel ist es aber so, dassSonderpädagogen erst auf Anfrage hintätig werden. Die Überwindung derSegregation kann nur dann gelingen,wenn in den allgemeinbildenden Schu-len Heterogenität als Chance begriffenund Integration als ethische und nichtbloß als schulorganisatorische Kategorieverstanden wird. Das bedeutet nicht,dass es im Ergebnis der integrativenBeschulung keine behinderten Kindermehr gibt. Es wird auch in einem sol-chen System immer Kinder und Jugend-liche geben, die die Anforderungen desKerncurriculums nicht erfüllen könnenund einen Abschluss auf der Grundlageihres Förderschwerpunktes erhalten(Lernen oder geistige Entwicklung). Dasbedeutet auch nicht, dass es kurzfristigkeine Förderschulen mehr geben wird.Solange die Bedingungen an den Regel-schulen eine angemessene Förderungnicht in jedem Fall zulassen, müssenAlternativen vorhanden sein.

Schule anders machen

Auch in Zukunft werden 10 bis 20 Pro-zent der Schüler zeitweilig und partiellSchwierigkeiten im schulischen Lernen

haben. Sie brauchen besondere Unter-stützung. Zwei bis vier Prozent derSchüler benötigen langfristig und umfas-send sonderpädagogische Fördermaß-nahmen. Um die Lust am Lernen zu er-halten,

n ist sicherzustellen, dass alle Kinderund Jugendlichen, die eine besonde-re Förderung benötigen, diese aucherhalten,

n muss die Förderung so früh wie mög-lich beginnen, systematisch erfolgenund dem speziellen Anspruch jedesKindes gerecht werden,

n muss sich die sonderpädagogischeFörderung an der Bedürfnislage desKindes oder des Jugendlichen orien-tieren. Daraus wird abgeleitet, wel-cher Ort die besten Voraussetzungenfür die Förderung des Kindes oderJugendlichen bietet (Sonderschulen,Sonderklassen und Regelklassen).

n müssen die schulischen Angebote flexibel und durchlässig sein,

n müssen speziell ausgebildete Sonder-pädagogen und Regelschullehrer zurVerfügung stehen,

n müssen Kinder und Jugendliche inschwierigen Lern- und Lebenslagenbesondere Unterstützung erhalten.

Um dem gerecht zu werden undschrittweise eine inklusive Beschulungaller Kinder zu erreichen, braucht esgrundlegende Veränderungen im Schul-system. Sie müssen von der Gesellschaft

43perspektive21

karin salzberg-ludwig – wie kommt man zur „schule für alle“?

Page 44: perspektive21 - Heft 40

mitgetragen werden. Denn alle Anstren-gungen in der Schule sind vergebens,wenn sich die außerschulischen Bedin-gungen nicht ändern. Mit diesen Verän-derungen geht eine Neugestaltung derTätigkeit von Sonderpädagogen undRegelschullehrern einher. Sonderpäda-gogen werden häufiger in Regelschulentätig sein und Regelschullehrer müssensich mehr denn je dem Phänomen vonBehinderung und Beeinträchtigung stel-len. Das erfordert ein Umdenken beiallen Pädagogen und in allen Schul-stufen. Dafür müssen Handlungskon-zepte entwickelt werden und den Päda-gogen zur Verfügung stehen und daraufmüssen sich die Universitäten in derLehrerausbildung einstellen.

In Brandenburg ist es deshalb drin-gend erforderlich,

n den Schulen Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie für innovative Kon-zepte benötigen und eigenverant-wortlich einsetzen,

n sicherzustellen, dass an den Schulengut ausgebildete Pädagogen undSonderpädagogen eingesetzt werden(derzeit stehen behinderten Schü-lern nur annähernd 50 Prozent derbenötigten Sonderpädagogen zurVerfügung),

n im „Potsdamer Modell“ der Lehrer-bildung Inhalte zu installieren, diezukünftige Lehrer befähigen, aufLern-, Leistungs- und Verhaltens-probleme ihrer Schüler angemessenzu reagieren und

n die Ausbildung von Sonderpädago-gen an der Potsdamer Universitätaufzubauen und diese dem veränder-ten Tätigkeitsbild anzupassen. n

44 märz 2009 – heft 40

thema – bildung für alle

D R. K A R I N S A L Z B E R G-L U D W I G

vetritt an der Universität Potsdam derzeit die Professur für sonderpädagogische Kompetenz und ist Landesvorsitzende des

Verbandes Sonderpädagogik in Brandenburg.

Literatur zum Weiterlesen:

Gabriele Bellenberg/Gertrud Hovestadt/Klaus Klemm, Selekti-vität und Durchlässigkeit im allgemein bildenden Schulsystem.Rechtliche Regelungen und Daten unter besonderer Berück-sichtigung der Gleichwertigkeit von Abschlüssen, Essen 2004

Helmut Breuer/Maria Weuffen, Lernschwierigkeiten am Schul-anfang. Schuleingangsdiagnostik zur Früherkennung und Früh-förderung, Weinheim/Basel 1999

Günther Cloerkes, Soziologie der Behinderten. Heidelberg 1997

Gerhard W. Lauth/Matthias Grünke/ Joachim C. Brunstein(Hg.), Interventionen bei Lernstörungen. Förderung, Trainingund Therapie in der Praxis, Göttingen et.al. 2004

Karin Salzberg-Ludwig/Birgit Tyziak, Wie flexibel muss dieFlexible Eingangsphase sein, um allen Kindern gerecht zu wer-den?; in: Verband Sonderpädagogik e.V. (Hg.): Fit fürs Lernen!Erziehung und Unterricht für Kinder mit dem Förderschwer-punkt Lernen in der Primarstufe, Würzburg 2005

Ulrich Schröder, Lernbehindertenpädagogik. Grundlagen undPerspektiven sonderpädagogischer Lernhilfe, Stuttgart 2000

Rolf Werning/Birgit Lütje-Klose, Einführung in die Lernbe-hindertenpädagogik, München/Basel 2003

Hans Weiß, Frühförderung mit Kindern und Familien inArmutslagen, München/Basel 2000

Page 45: perspektive21 - Heft 40

D ie duale Ausbildung in Form derZusammenarbeit des Ausbildungs-

betriebes für den berufspraktischen Teilund der Berufsschule für den theoreti-schen Teil ist die vorherrschende Formder Berufsausbildung in Deutschland.So sind von den 50.000 BrandenburgerAuszubildenden ca. 66 Prozent derSchülerinnen und Schüler im berufsbil-denden System.

Deutschland ist in Europa mit die-sem System eine Ausnahme. In denmeisten europäischen Staaten domi-niert die staatliche vollzeitschulischeBerufsausbildung mit einem anschlie-ßenden Wechsel in eine betrieblicheTätigkeit, eine betriebliche oder wei-terführende Qualifizierung.

Die Empfehlungen und Reformmo-delle für die duale Ausbildung reichenvon den Tarifpartner DIHK1 und IGMetall2 über Ministerien3 und Stif-tungen4 bis hin zu Verbänden5. In die-sem Beitrag sollen einige Kernpunktedieser differenzierten Diskussion skiz-ziert werden.

Das System der dualen Ausbildungunterliegt in seiner Entwicklung, nach

Branchen und Regionen differenziert,den volkswirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen der Konjunktur, Rationali-sierung und Globalisierung genauso sowie der demografischen Entwicklung.

Flexibel wie ein Supertanker

Diese Rahmenbedingungen wirken sichauf die Entwicklung der Berufe undderen Anforderungen an die Flexibilitäteinerseits und fachliche Qualifikationbzw. Spezialisierung andererseits aus.Das Bundesinstitut für Berufliche Bil-dung und das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung der Bundesagenturfür Arbeit geben einen Überblick überca. 360 Ausbildungsberufe in 93 Berufs-gruppen und 52 Berufsfeldern. DiesesSystem gleicht in der Fähigkeit und Ge-

45perspektive21

Sicher ist nur dieVeränderungZUR ZUKUNFT DER DUALEN AUSBILDUNG UND DER BERUFSSCHULE

VON THOMAS MICHAELIS

1 DIHK, Dual mit Wahl. Ein Modell der IHK-Organisationzur Reform der betrieblichen Ausbildung, 2007

2 IG Metall, Unser Projekt europäischer Kernberufe.Leitlinien für die Gestaltung von Berufen, 2007

3 BMBF, Innovationskreis des BMBF. 10 Leitlinien zur Mo-dernisierung der beruflichen Bildung, 2007

4 Bertelsmann Stiftung, Die Berufsausbildung in derWissensgesellschaft – eine Standortbestimmung, 2007

5 VLW Bundesverband, Wegpunkte zur Weiterentwicklungder Beruflichen Bildung, 2006

Page 46: perspektive21 - Heft 40

schwindigkeit zu notwendigen Rich-tungsänderungen einem Supertanker.

Die Auszubildenden sollen eine ho-he berufsfachliche Spezialisierung erfah-ren, wie zum Beispiel beim Speiseeis-hersteller oder der Automatenfachkraft,aber gleichzeitig flexibel und breit ein-setzbar sein, wie der Beruf des Mecha-tronikers bereits in der Bezeichnungandeutet. Diese eher widerstreitendenAnforderungen weisen auf einen erstenEntwicklungsprozess hin.

Das Berufsprinzip bleibt zentral undwird sogar gestärkt. Es wird eine Ent-wicklung hin zu Kernberufen oder Be-rufsgruppen geben, die eine breiteGrundlage an Kernkompetenzen undQualität bieten. Darauf aufbauendwerden Module und Erweiterungs-möglichkeiten die notwendige, zumTeil auch sehr betriebsorientierte,Spezialisierung eröffnen und sichern.

Diese Entwicklung korrespondierteng mit dem zweiten Entwicklungs-prozess: der Verbesserung der Ver-gleichbarkeit von Abschlüssen undQualifikationen im Rahmen der Eu-ropäischen Union. Im Studienbereichwurde mit den international bekanntenBachelor- und Masterstudiengängeneine europäische Vergleichbarkeit ge-schaffen. Nun werden durch einenDeutschen Qualifikationsrahmen(DQR) auf der Grundlage eines Eu-ropäischen Qualifikationsrahmens(EQR) die deutschen Abschlüsse an-hand von acht Niveaustufen mit den

beruflichen Qualifikationen in Europadurch eine entsprechende Zuordnungvergleichbar gemacht. Ein schwierigerpolitischer Prozess, der in seiner Trag-weite noch nicht überall erkanntwurde. Mittels einer Vergabe von Leis-tungs-/(Credit-)punkten können for-male und informelle Lernergebnissevon lizensierten Stellen anerkannt wer-den, um ggf. eine höhere Niveaustufezu erreichen. Hier liegt ein hohes Dis-kussionspotenzial, da die Konsequen-zen für das duale System und die Be-rufsschule noch nicht vollständigabsehbar sind. Eine Flexibilisierungund Modularisierung mit dem Ziel dererhöhten Durchlässigkeit ist diesemDQR bzw. EQR immanent.

Ohne Abitur studieren

Diese Entwicklung leitet zum drittenEntwicklungsprozess über. Aus gesell-schaftlichen und volkswirtschaftlichenGründen gewinnen die Verbesserungder Durchlässigkeit und Anschlussfä-higkeit von Abschlüssen der Berufsaus-bildung zum Hochschulstudium sowieein erfolgreiches Schnittstellenmana-gement zunehmend an Bedeutung.

Rückläufige Schülerzahlen bei stei-gendem Fachkräftebedarf und das Zieleines höheren Akademisierungsgradesfordern die effiziente Nutzung vonRessourcen. Dies wird möglich, indemLeistungen der Berufsausbildung zumStudium anerkannt werden. Dies

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würde begabten jungen Menschen mitBerufsausbildung, aber ohne Abitur,den Weg zur Hochschule eröffnen. Eswird eine Schlüsselfunktion für dieBerufsschulen, Angebote zu unterbrei-ten, die studienqualifizierend in dieBerufsausbildung integriert werdenkönnen.

Gleichzeitig benötigt der Arbeits-markt weiter qualifizierte bzw. benach-teiligte Jugendliche, die über Zusatz-angebote an die Anforderungen derBerufsausbildung herangeführt werdenmüssen. Im Verlauf der Berufsausbil-dung unterstützt die Berufsschule überdie formalen Inhalte hinaus ihre Schü-ler, um ihnen gemeinsam mit demAusbildungsbetrieb einen erfolgreichenAbschluss und Einstieg in das Arbeits-leben zu sichern. Ähnliches war bereitsim Brandenburger Ausbildungskonsenszwischen Landesregierung und Wirt-schaft verabredet.

Selbstständige Berufsschulen

Insgesamt ist festzuhalten, dass denkomplexen und sehr differenzierten,teilweise widersprüchlichen Erwartun-gen an das berufliche Ausbildungs-system in Deutschland durch entspre-chend differenzierte Veränderungen inden rechtlichen Rahmenbedingungenund entsprechende Ressourcen begeg-net werden muss. Dazu gehört dieSelbstständigkeit der Berufsschulen, die kontinuierliche Modernisierung

der technischen Ausstattung, die Aus-,Fort- und Weiterbildung der Kolle-gien, um die Gleichwertigkeit im dua-len System zu gewährleisten.

Schülerzahlen gehen zurück

Der schulische Teil der Berufsausbil-dung im dualen System erfolgt inBrandenburg in den 28 Oberstufen-zentren des Landes. Rund 50.000 Aus-zubildende von den insgesamt etwa65.000 Schülern im System der berufli-chen Bildung werden von 2.700 Lehr-kräften unterrichtet. Die Oberstufen-zentren bieten mit ihrer Konzentrationunterschiedlichster Bildungsgänge inteilzeit- und vollzeitschulischer Organi-sation von der Förderung benachteilig-ter Schüler über die Berufsschule undBerufsfachschule bis zur Fachschule,Fachoberschule und dem BeruflichenGymnasium ein Spektrum, das grund-sätzlich den bereits skizzierten Entwick-lungen der Anschlussfähigkeit undDurchlässigkeit zur Höherqualifizierungentgegenkommt. Das Land und dieSchulträger – Landkreise bzw. kreisfreieStädte – sanierten und modernisiertenin den letzten 15 Jahren die Oberstu-fenzentren mit sehr großem Engage-ment. Damit ist ein im Bundesvergleichhoher Standard in der sächlichen undtechnischen Ausstattung erreicht.

Die Entwicklung der dualen Ausbil-dung in Brandenburg muss man stär-ker als in der bundesdeutschen Pers-

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pektive vor dem Hintergrund der de-mografischen Entwicklungen, regiona-len Wirtschaftsstrukturen und kon-junkturellen Entwicklung betrachten.Zusätzlich ist eine Differenzierung zwi-schen dem Berliner Umland und denländlichen Regionen nötig.

Erstmals freie Lehrstellen

Der Tiefpunkt der Schülerzahlen wirddie Oberstufenzentren im Schuljahr2012/ 2013 mit jeweils regionalenUnterschieden erreichen. Der Rück-gang wird zunächst weniger deutlichausfallen als in den allgemeinbildendenSchulen, da sich die Verweildauer inden Oberstufenzentren verlängert. Dieskann durch eine Höherqualifizierunggeschehen, wenn so genannte Altbe-werber nach dem Wehrdienst odernach einer Elternzeit in eine Ausbil-dung gehen, Auszubildende einenhöherwertigen Schulabschluss anstre-ben oder Schüler mit besonderemFörderbedarf nach einer Berufsvor-bereitungsphase und Praktika in dieduale Ausbildung wechseln.

Mit Beginn des Ausbildungsjahres2008/ 2009 konnten erstmals seitJahren des Bewerberüberhanges Aus-bildungsstellen nicht besetzt werden.Zwei Hauptgründe wurden von denAusbildungsbetrieben angeführt. Ineinigen Fällen lagen keine ernstenBewerbungen vor. Das traf teilweiseHandwerksberufe, deren Anforde-

rungsprofil oder Belastungen, Imageoder Entlohnung vielen Schülern nichtattraktiv genug erscheinen. Häufigerentsprachen die schulischen Leistungensowie die personale und soziale Kompe-tenz der vorliegenden Bewerber nichtden Erwartungen und Ansprüchen derAusbildungsbetriebe. Besser qualifizier-te junge Leute beginnen möglicherwei-se ein Studium, bewerben sich inBranchen oder Berufen mit besseremImage sowie höheren Gehalts- undAufstiegsmöglichkeiten. In den länd-lichen Regionen ist diese Entscheidungnoch mit einem Wegzug aus der Re-gion verbunden, da die jungen Leute in der Heimatregion keine persönlichenEntwicklungschancen sehen. Langfristigist dies ein volkswirtschaftliches Pro-blem, was mittlerweile durch ein besse-res Schnittstellenmanagement Schule –Ausbildung – Studium bearbeitet wird.Dazu können die Phasen der Ausbil-dungsfähigkeit, der Berufsorientierung,der Berufswahl und Ausbildung sowieder Weiterbildung betrachtet werden(wobei das Letztere nicht das lebenslan-ge Lernen im Berufsleben sondern einerdirekten Zusatzqualifikation meint).

Die Vermittlung von Wissen, Fertig-keiten und Kompetenzen findet zu-nächst in der Allgemeinbildung stattund soll die Grundlage legen, eine Aus-bildung erfolgreich zu absolvieren. DieBedeutung des Elternhauses, des sozia-len Umfeldes und der Peer-Group istdabei als sehr hoch einzuschätzen. In

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dieser Zeit geben Praktika kleine Ein-blicke in die Berufswelt und den Ar-beitsalltag. Häufig wird die Effektivitätder Praktika allerdings überschätzt.

Bessere Förderung für alle nötig

In den Phasen der Berufsorientierungund Berufswahl können die Oberstu-fenzentren mit vielfältigen Angebotenin enger Kooperation mit Ausbildungs-betrieben eine größere Hilfestellunggeben. Die Partner der dualen Aus-bildung stellen in vielfältiger Form(Projekttage im OSZ, Betriebsbesich-tigungen, Ausbildungsbörsen, Schnup-perunterricht) gemeinsam die Vielfaltund Anforderungen der Berufe dar.Mit dem „Netzwerk Schule-Wirt-schaft“ sind Grundlagen gelegt undgute Erfahrungen gemacht worden.Die berufliche Bildung beginnt bereitsvor dem ersten Ausbildungstag undsoll helfen, Abbrecherquoten aufgrundfalscher Entscheidungen zu reduzieren.

In der Ausbildungsphase sind For-men der Förderung besonderer Bega-bungen wichtig. Dies gilt für sehr ta-lentierte und motivierte Schüler, denenzusätzliche Angebote gemacht werden.Diese können zertifiziert und als Zu-satzmodul später, zum Beispiel ineinem Studium oder einer Weiterbil-dung, angerechnet werden.

Gleichermaßen ist die Förderungvon benachteiligten oder lernschwäche-ren Schülern während der Ausbildung

durch die Berufsschulen für den Prü-fungserfolg, aber mehr noch für denErfolg im Berufsleben notwendig. DieWirtschaft benötigt Fachkräfte und dieschwächeren Schüler sind ein Poten-tial, das genutzt werden muss. DieFörderung unterschiedlich ausgeprägterBegabungen kostet Ressourcen, ist abereine wichtige Zukunftsinvestition.

Eine Integration einer Höherquali-fizierung oder die Anrechenbarkeit vontheoretischen Leistungen in der Berufs-ausbildung in einer Anschlussqualifi-zierung eröffnet jungen Leuten eineweitergehende Perspektive und bindetsie möglicherweise auch in der Region.Voraussetzung wäre aber die Gleich-wertigkeit von beruflicher und schuli-scher Ausbildung, die teilweise durchden Qualitätsrahmen und ein Punkte-system erreicht wird.

Geförderte Strukturen

Der Rückgang der Schülerzahlen erfor-dert in Brandenburgs Regionen undOberstufenzentren eine Modifikationder Klassenbildung. Sie ist angesichtsknapper Ressourcen mit einer Mindest-zahl der angemeldeten Auszubildendenin den jeweiligen Berufen verknüpft.Das führte und führt zunehmend zueiner Konzentration der Berufe undAusdünnung des Angebotes in denRegionen. Gewachsene Strukturen derZusammenarbeit, wie sie das dualeSystem erfordert und die durch die

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rechtlichen Rahmenbedingungen fest-gelegt sind, werden durch einen Kon-zentrationsprozess gefährdet.

Mehr gemeinsamer Unterricht

Zukünftig werden ähnliche Berufe oderBerufsgruppen im berufsübergreifendenallgemeinbildenden Unterricht und ingemeinsamen berufsbezogenen Lernfel-dern gemeinsam unterrichtet. Mit dieserFlexibilität in der Unterrichtsorganisa-tion eröffnen sich mehrere pädagogi-sche, organisatorische und strukturelleMöglichkeiten. Berufe und Auszubil-dende, die unter den Bedingungen derberufsscharfen Klassenbildung dieRegion verlassen müssten, können inder Region den schulischen Teil derAusbildung absolvieren. Gleichzeitigbleibt die enge, auch persönliche, Ko-operation mit dem Ausbildungsbetrieberhalten. In den Berufsschulen könnengemeinsame Klassen gebildet werden,Ressourcen gespart und gleichzeitig einvielfältiges Angebot der regionalenWirtschaft angeboten werden. Auszu-bildende aus affinen, aber unterschiedli-chen Berufen, erhalten zunehmend dieMöglichkeit des Erfahrungsaustauschesund erweitern ihre Perspektiven hin zuähnlichen Berufen und deren Anforde-rungen und Erfahrungen. Eine Spezia-lisierung zur Erhaltung der Qualitäterfolgt ab dem letzten Ausbildungsjahr,soweit dies entsprechend den Rahmen-plänen und Prüfungen erforderlich ist.

Mit dieser Maßnahme kommt dasLand der Entwicklung von Kernbe-rufen vor dem Hintergrund der de-mografischen Entwicklung und denvorhandenen Ressourcen nach. EineEntwicklung, die angesichts der 360Ausbildungsberufe in Deutschlandsinnvoll sein wird.

Angemerkt sei an dieser Stelle, dassder Fachkräftemangel auch die Schulentreffen wird. Der Altersdurchschnittder Lehrkräfte in berufsbezogenenFächern erfordert dringend die Ge-winnung und Ausbildung des Nach-wuchses für das Lehramt an berufsbil-denden Schulen.

Teilhabe und Chancengleichheit

Selbstbewusstsein und Identität desMenschen definieren sich über dieSelbstwirksamkeit seines Handelns, dieindividuelle Unabhängigkeit sowie einsinnvoll und befriedigend strukturiertesLeben in einem sozialen Kontext mitentsprechender gesellschaftlicher Aner-kennung. Dabei spielt die qualifizierteBerufsarbeit eine wesentliche Rolle. DieBefähigung zu einer Berufsausbildungund die erfolgreiche Berufsausbildungmit entsprechender Zukunftsperspektiveverringern gesellschaftliche Ausgrenzungund Frustrationspotentiale und moti-vieren zur Teilhabe. GesellschaftlicheChancengleichheit erhöht sich mit derdualen Ausbildung verbunden mit ent-sprechender formaler Anerkennung und

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einer großen Durchlässigkeit zu höhe-ren Abschlüssen und Bildungsgängen.Die gesellschaftspolitische Dimensiondieser zugegeben sehr verkürzten Dar-stellung der Zusammenhänge ist offen-sichtlich.

Eine qualifizierte Berufsausbildungreduziert die Gefahr längerfristiger Ar-beitslosigkeit um ein Vielfaches. DieseFeststellung wird regelmäßig durch dieErhebungen der Bundesagentur fürArbeit bestätigt. Eine Berufsausbildungerhöht die Erfolgswahrscheinlichkeitvon Qualifizierungsmaßnahmen. Da-mit werden letztlich die Sozialkassenerheblich entlastet.

Die Volkswirtschaft Brandenburgs ist – wie die gesamte Bundesrepublik –auf eine qualifizierte Berufsausbildungund Berufsarbeit angewiesen. Es ist eineRessource für das Handwerk, denDienstleistungsbereich, Handel undIndustrie. Ebenso stellt der erarbeiteteLebensunterhalt die binnenwirtschaft-liche Kaufkraft dar, durch die ebenje-ne Wirtschaftsbereiche regional finan-ziert werden. Die Berufsschule und dieberufliche Ausbildung werden deshalbauch in Zukunft wichtige Bestandteiledes deutschen Bildungssystems sein.Entscheidend dafür ist ihre Fähigkeitzur Veränderung. n

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thomas michaelis – sicher ist nur die veränderung

T H O M A S M I C H A E L I S

ist stellvertretender Schulleiter des Oberstufenzentrums Ostprignitz-Ruppin

und Landesvorsitzender des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen.

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Zu wenige Schulabsolventen in derMark gehen den Weg einer Stu-

dienaufnahme und lassen hierdurchwichtige persönliche Lebenschancenverstreichen. Für diese Entwicklungsind im Wesentlichen zwei Faktorenverantwortlich: die starke Abwande-rung Studienberechtigter und diegeringe Quote beim Übergang vonSchule zu Hochschule. Wir wollen hierdie Ursachen und Folgen dieser Ent-wicklung analysieren und das Projekt„Studium lohnt!“ vorstellen. Dazukooperieren acht BrandenburgerHochschulen, um die Abwanderungjunger Qualifizierter zu vermindernund die Studierneigung in Branden-burg zu erhöhen. Während der drei-jährigen Projektlaufzeit werden anallen zur Hochschulreife führendenSchulen im Land Brandenburg Maß-nahmen zur Studienorientierung eta-bliert.

Es gehört zur gesellschaftlichen undpolitischen Realität des letzten Jahr-zehnts, dass die neuen Bundesländermassiv Studienberechtigte an die altenBundesländer verlieren. Besondersstark trifft dieser Abwanderungsprozess

das größte Flächenland der neuenBundesländer, Brandenburg. Es weistden mit deutlichem Abstand größtennegativen Wanderungssaldo der neuenLänder auf und verlor, allein im Win-tersemester 2006/07 etwa 16.600Hochschulzugangsberechtigte an ande-re Bundesländer, vor allem an die inseinem Zentrum liegende Bundes-hauptstadt Berlin.

Zu wenig Abiturienten studieren

Zur Untersuchung des zweiten Fak-tors, der Übergangsquote, ist zunächstdie Betrachtung der Studienberechtig-tenquote notwendig. Sie gibt Auskunftüber die Zahl potenzieller Studieren-der, das heißt die Anzahl derjenigenSchülerinnen und Schüler eines Alters-jahrgangs, die gemessen an der Ge-samtstärke eines Jahrgangs, die Hoch-schulreife erwerben. Die Anzahl derStudienberechtigten in Brandenburgentspricht im langjährigen Trend be-trachtet etwa dem Bundesdurchschnitt,liegt seit Mitte der neunziger Jahredurchgängig 2 bis 3 Prozentpunkteüber dem Durchschnitt der ostdeut-

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Studium lohnt!WIE DIE BRANDENBURGER HOCHSCHULEN SCHÜLERN

MEHR LUST AUFS STUDIUM MACHEN

VON SABINA BIEBER, CHRISTIAN MÖDEBECK UND ROBERT MEILE

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schen Länder von 37 Prozent. So lagdie Studienberechtigtenquote 2006 inBrandenburg bei 40 Prozent undwurde in den neuen Bundesländernnur knapp von Thüringen übertroffen(40,3 Prozent). Dementsprechend istdas Potenzial künftiger Studienanfän-gerinnen und -anfänger im Verhältniszum Durchschnitt der neuen Länder in Brandenburg sogar größer.

Vor diesem Hintergrund gewinntdie Übergangsquote als Indikator, derdie Ausschöpfung dieses Studienpo-tenzials anzeigt, besondere Bedeutung.Nach einer aktuellen Studie des Statis-tischen Bundesamtes weist Branden-burg bundesweit die geringste Über-gangsquote auf. Lediglich 61,7 Prozentder Studienberechtigten eines Jahrgangsentscheiden sich im Zeitraum von sechsJahren nach Erwerb der Hochschulreifefür ein Hochschulstudium. Dies istnicht nur im Vergleich zum Bundes-durchschnitt (76,1 Prozent) ein niedri-ger Wert, sondern auch im direktenVergleich zum nächstplatzierten Bun-desland Hamburg (68,7 Prozent).1

Land ohne Hochschultradition

Dieser Sachverhalt wird insbesondereangesichts der Studie des Hochschul-informationssystems „Studienbereit-schaft in Brandenburg“ interessant.Die Autoren zeigen in ihr auf, dass dieÜbergangsquote von 81 Prozent zuBeginn der neunziger Jahre auf 59

Prozent am Ende des Jahrzehnts sank.2

Sie belegt damit einen dramatischenEinbruch der Übergangsquote. Bran-denburg erzeugt demnach ein im Ver-gleich zum Durchschnitt der neuenLänder hohes Studienpotenzial, dasjedoch von den Studienberechtigtenauffallend selten eingelöst wird.

Als Erklärungsansatz für die geringeAusschöpfung kann vor allem der vonden Absolventinnen und Absolventenbesuchte Schultyp herangezogen wer-den. Er übt einen erheblichen Einflussauf die allgemeine Studienbereitschaftaus. 2004 entschieden sich bundesweit78 Prozent der Studienberechtigtenvon allgemeinbildenden Schulen fürein Hochschulstudium, hingegen nur59 Prozent der Absolventen berufsbil-dender Schulen. In Brandenburg stelltsich die Situation nochmals verschärftdar: Hier lösten lediglich 46 Prozentder Absolventen, die ihre Hochschul-zugangsberechtigung an berufsbilden-den Schulen erworben haben, dieMöglichkeit des Studierens tatsächlichein. Dieser Sachverhalt kann maßgeb-lich die Unterschiede in den Über-gangsquoten im Vergleich der Bundes-länder erklären, nicht jedoch die Fragenach den Ursachen für die niedrigeStudienbereitschaft von Schülern be-rufsbildender Schulen. Hierzu sollen

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1 Statistisches Bundesamt, Hochschulen auf einen Blick,Wiesbaden 2008, S. 8.

2 Christoph Heine/Markus Lörz, Studienbereitschaft inBrandenburg, HIS 5/2007, S. 12ff.

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zwei zentrale Punkte herangezogenwerden.

Zum einen kann Brandenburg aufkeine ausgeprägte Hochschultraditionverweisen. Es ist anzunehmen, dassgroße Teile der brandenburgischenBevölkerung deshalb keine gewachse-nen Berührungspunkte zur akademi-schen Bildung im eigenen Landund/oder zur akademischen Bildung im Allgemeinen haben. Dies hat Fol-gen für die Gestaltung der Bildungs-biografien der Jugendlichen, die über-proportional häufig von traditionellenaus dem Elternhaus und dem sozialenUmfeld bekannten Mustern beeinflusstwerden. Diese nun wiederum räumeneinem Lehrberuf häufig einen höherenStellenwert als einem Studium ein.

Berufsausbildung verlockender

Auf der anderen Seite zeigen sich spezi-fische motivationale Dispositionen, dieeiner hohen Studierbereitschaft eherhinderlich entgegenstehen: Branden-burger Studienberechtigte zeigen sichhäufig extrinsisch, das heißt durchäußere Anreize wie hohes Einkommen,berufliche Sicherheit oder Aufstiegs-möglichkeiten motiviert und sehen inihrer Ausbildungswahl eine gute Mög-lichkeit zur „persönlichen Verwirkli-chung“. Dadurch, dass eine nicht-aka-demische Laufbahn als gleichwertigeAlternative zu einem Hochschulstu-dium angesehen wird, wird zugleich

übersehen, dass die angegebenen ex-trinsischen Motive in hohem Maßemit einer akademischen Ausbildungeinhergehen.

Alles in allem stellt diese spezifischeKonstellation für die zukünftige wirt-schaftliche Entwicklung des Bundes-landes eine nicht zu unterschätzendeNotlage dar. Zunächst führt die hoheZahl von Interessenten mit Hochschul-reife für betriebliche Ausbildungsberufezu einer Verdrängung von Bewerbernmit niedrigerer Qualifikation. Dieservertikale Verdrängungsprozess, an des-sen oberen Ende Schüler mit Hoch-schulzugangsberechtigung Lehrstellenbesetzen, führt dazu, dass am unterenEnde Schüler ohne Möglichkeit zumHochschulzugang durch Maßnahmender überbetrieblichen Ausbildung auf-gefangen werden müssen. Deshalb istes im Land erforderlich, sowohl Maß-nahmen zur Sicherung des Fach- undFührungskräftebedarfs anzustrengen alsauch gegen eine hohe Jugendarbeitslo-sigkeit vorzugehen.

Ein Projekt, viele Maßnahmen

In Anbetracht des fortschreitendendemografischen Wandels und seinerKonsequenzen, sowie der dramatischenAbwanderungssalden ist davon auszu-gehen, dass sich diese Situation weiterverschärft. Es ist zu erwarten, dass vorallem die wachsenden Zweige der In-dustrie wie der Fahrzeug- und Maschi-

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sabina bieber, christian mödebeck und robert meile – studium lohnt!

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nenbau vom Rückgang qualifizierterFachkräfte besonders betroffen seinwerden.

Als Reaktion auf die zuvor skizzierteAusgangslage wurde das Projekt „Stu-dium lohnt!“ als Initiative der Bran-denburger Hochschulen und des Mi-nisteriums für Wissenschaft, Forschungund Kultur 2008 initiiert und mitMitteln des Europäischen Sozialfondsfinanziert.3 Das oberste Ziel des Pro-jektes ist es, das vergleichsweise hoheStudienpotenzial besser auszunutzen –oder anders ausgedrückt die Brutto-studierquote des Landes zu steigern.Hierzu kooperieren acht Branden-burger Hochschulen (alle außer derHFF in Potsam-Babelsberg) währendder dreijährigen Projektlaufzeit. Sieetablieren ein breites Spektrum anMaßnahmen der Studienorientierungan allen zur Hochschulreife führendenSchulen in Brandenburg. So könnennicht nur Grenzen einzelner Projekt-partner unter Berücksichtigung undNutzung von Alleinstellungsmerkma-len und spezifischen Möglichkeitenanderer Projektpartner kompensiertwerden, sondern besteht zugleich dieChance, ein breit gefächertes undumfangreiches Netzwerk der Studien-orientierung an den HochschulenBrandenburgs zu implementieren.

Durch geeignete Formen der Infor-mationsvermittlung und Einbezugsämtlicher für den Studienorientie-rungsprozess relevanter Interessen-gruppen (insbesondere Schüler, Lehrerund Eltern) sollen Synergien in derUnterstützung der Schüler bei ihrerkonkreten Studienentscheidung er-reicht werden. Darüber hinaus soll aufdiesem Weg einem auf mangelndemWissen und falschen Erwartungen ba-sierenden Studienabbruch präventiventgegengewirkt werden. Durch dieGesamtheit der Maßnahmen trägt dasProjekt somit auch zu einer Stärkungder Bildungs- und Hochschulland-schaft bei und leistet auf diese Weiseeinen Beitrag zur Verminderung derAbwanderung junger Studierender.

Studenten vermitteln Erfahrungen

Um diese Ziele erreichen zu können,wurde „Studium lohnt!“ erarbeitet, dassich aus zwei einander ergänzendenHandlungsfeldern zusammensetzt, de-nen jedoch unterschiedliche Konzep-tionen und Ansätze der Studienorientie-rung zugrundeliegen. Sowohl demHandlungsfeld „Schüler-Alumni“ alsauch dem Handlungsfeld „IntensiveSchulbetreuung“ gingen 2007 Pilotpro-jekte voraus, in denen Maßnahmen undMethoden ausprobiert und elaboriertwurden.

Besonderes Merkmal des Hand-lungsfeldes „Schüler-Alumni“ sind

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3 Eine Übersicht über ähnliche Projekte in Brandenburg undanderen Bundesländern hat das Institut für Hochschulfor-schung in Wittenberg zusammengestellt: www.hochschul-kampagne.de/marketing/laenderkampagnen.htm

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seine Hauptakteure, das heißt in einerspeziellen Schulung ausgebildete Stu-dentinnen und Studenten, die Grund-wissen über Studienorientierung, Prä-sentationstechniken und Workshop-Planung besitzen. Grundidee ist es, dieErfahrungen der Studierenden fürSchüler durch eine intensive, rechtzei-tige und ihren Bedürfnissen und Er-wartungen gerecht werdende Informa-tionsveranstaltung erlebbar zu machenund so Schwellen- und Berührungs-ängste abzubauen.

Zwei Typen von Entscheidern

Ausgehend von der Überlegung, Schü-ler möglichst früh zu erreichen, werdenalle Jahrgangsstufen der Oberstufe be-rücksichtigt. Zur optimalen Unter-stützung der anstehenden individuellenberuflichen Richtungsentscheidungwerden die besonderen jahrgangsspezi-fischen Bedürfnisse der Schüler in denVeranstaltungen adäquat berücksich-tigt. Theoretisch werden der Arbeit dieverschiedenen Prozessphasen und ihreEinflussfaktoren nach Tutt zugrundegelegt.4

Aufbauend auf den ErgebnissenTutts konnten in einer Studie desCentrums für Hochschulentwicklungzwei Typen von Entscheidungsträ-

gerinnen und -trägern identifiziert werden: Ein erster Typ, der durcheine maßgebliche Überschneidung vonEntscheidungsphasen mit den einzel-nen Jahrgängen charakterisiert ist undein zweiter Typ mit einer kurzen Ab-folge der einzelnen Entscheidungspha-sen innerhalb des letzten Schuljahres.Da die langfristige Begleitung derSchüler im Mittelpunkt des Projektessteht, wurde die theoretische Konzep-tion des Handlungsfeldes den zielgrup-penspezifischen Erfordernissen desersten Typs angepasst. Dementspre-chend wurden in der Jahrgangsstufe 11Module zur Prozessanregung, in Jahr-gangsstufe 12 Module zur Unterstüt-zung der Such- und Vorauswahl undin der Jahrgangsstufe 13 Module zurEntscheidungsfindung erarbeitet. Aufdiese Weise wird nicht nur dem spezi-ellen Informations- und Beratungsbe-darf der Schüler entgegen gekommen,sondern werden zugleich Redundanzenbei mehrfachen Schulbesuchen vermie-den und neue Impulse für die Studien-entscheidung gesetzt.

Für Schüler, Lehrer und Eltern

Das zweite Handlungsfeld stellt – imUnterschied zum ersten – die längerfri-stige und kontinuierliche Begleitungausgewählter Schulen durch Projekt-mitarbeiterinnen und Projektmitar-beiter in den Mittelpunkt. Aufgrundder oben beschriebenen Ausgangslage

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sabina bieber, christian mödebeck und robert meile – studium lohnt!

4 Vgl. Lars Tutt, Der Studienentscheidungsprozess:Informationsquellen, Informationswünsche undAuswahlkriterien bei der Hochschule, Duisburg 1997

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werden alle Oberstufenzentren desLandes betreut. Darüber hinaus wur-den 17 weitere Schulen mit gymnasia-ler Oberstufe durch ein landesweitesBewerbungsverfahren ausgewählt.

Hauptaufgabe dieses Handlungs-feldes stellt die Verdichtung bereitsbestehender Ansätze und Koopera-tionen zur Berufs- und Studienorien-tierung zu einem schuleigenen undschulprofilprägenden Konzept derBerufs- und Studienwahl dar. Hierzuwerden alle Zielgruppen, das heißtSchüler, Lehrer und Eltern durchVeranstaltungen angesprochen.

Intensive Vorbereitungen

Um eine Entwicklung der Studienori-entierung an den Schulen anzustoßen,genügt es nicht, sich ausschließlich anden Bedürfnissen, die von der jeweili-gen Schule gesehen werden, zu orien-tieren. Aus diesem Grund bedurfte eseines eigenständigen, universellen Stu-dienorientierungskonzeptes, das denMaßstab der praktischen Arbeit vor-gibt. Hierzu wurden auf Grundlage vonLiteraturrecherchen und Expertenge-sprächen inhaltliche Module hergelei-tet, die das gesamte Spektrum studien-orientierender Maßnahmen inhaltlichabdecken und gleichsam den Experten-stand zur Studienorientierung widerspie-geln. Überdies wurden Arbeitsprinzipiender Intensivbetreuung im Allgemeinenund für jedes Modul im Speziellen defi-

niert, so dass ein allgemeines Studien-orientierungskonzept entstand.

Erst in einem zweiten Schritt ging esum die konkrete Planung von Veran-staltungen und Workshops, die deneinzelnen Modulen zugeordnet sind.Hierzu wurden Zielgruppenbefragun-gen und Anamnesegespräche an denSchulen durchgeführt. So wurde esschließlich möglich, das Konzept andie Bedürfnisse der jeweiligen Schulezu adaptieren, bestehende Kooperatio-nen zu integrieren und ferner Moduleund Prinzipien theoretisch zu vervoll-ständigen (siehe Abb. auf Seite 59).

Um eine adäquate Qualität der Veranstaltungen zu gewährleisten und bestehende Module weiter zuentwickeln, finden in regelmäßigen Abständen gemeinsame Arbeitsgrup-pentreffen aller beteiligten Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter statt, diedem Erfahrungsaustausch und dergegenseitigen Reflexion dienen. Wert-volle Impulse zur Qualitätssicherungund zum Ausbau der fachlichen Qua-lifikation der Mitarbeiter sollen fernervon gegenseitigen Hospitationen, Fort-bildungen und Tagungsteilnahmenausgehen.

Große Resonanz macht Mut

Derzeit kann man noch nichts sagen. ob„Studium lohnt!“ mit seinen Maßnah-men die Projektziele – höhere Studier-neigung der Schüler sowie Verringerung

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der Studienabbrüche und der Abwan-derung – erfolgreich ist. Es ist davonauszugehen, dass die Effekte der Maß-nahmen erst mit deutlicher zeitlicherVerzögerung und damit erst nach Ab-schluss des Projektes sichtbar werden.

Gleichwohl werden die Maßnahmenbegleitend evaluiert. Auf diese Weisesind Auswertungen über die Zufrie-denheit der Personen, die bisher anVeranstaltungen teilgenommenhaben, möglich. Insgesamt wurden anallen zur Hochschulreife führendenstaatlichen Schulen in BrandenburgInformationsveranstaltungen fürSchülerinnen und Schüler durchge-führt. Zu diesen Einsätzen addierensich Veranstaltungen für Eltern, Leh-rerfortbildungen und Exkursionen andie Hochschulstandorte im Rahmender intensiven Schulbetreuung. 2008wurden insgesamt 623 Veranstaltungendurchgeführt und über 12.000 Personenerreicht. Davon nahmen 10.900 Schü-lerinnen und Schüler an 594 Veranstal-tungen teil, was einer durchschnittlichenTeilnehmerstärke von 18 Schülern proVeranstaltung entspricht. Die verblei-benden Teilnehmer waren Lehrer (300),die an insgesamt sechs Fortbildungenteilnahmen und Eltern (1.000), die an23 Elterninformationsabenden über Stu-dienperspektiven informiert wurden.

Erste Evaluationsergebnisse zur Zu-friedenheit der Schüler und ihrer Stu-dienmotivation liegen für das Hand-lungsfeld „Schüler-Alumni“ seit Kurzem

vor. Die bislang ausgewerteten knapp700 Evaluationsbögen zeigen, dass dieVeranstaltungen auf eine überwiegendpositive Resonanz bei der Zielgruppegestoßen sind. 87 Prozent aller Schülerbewerten die von ihnen besuchten Ver-anstaltungen mit gut und sehr gut, 12Prozent hat die besuchte Veranstaltungdurchschnittlich gefallen. Lediglich 1Prozent der erreichten Schüler bewertetedie Veranstaltung schlechter als durch-schnittlich. Nach Schulnoten ergibt dieseine Gesamtbewertung von 1,87 für dasHandlungsfeld „Schüler-Alumni“.

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sabina bieber, christian mödebeck und robert meile – studium lohnt!

Inhaltliche Module „IntensiveSchulbetreuung“

n Individuelle Studienorientierungn Anforderungen an zukünftige

Studierenden Informationen zum Studiumn Strukturierte Informationsfindungn Wissenschaft LIVEn Chancen durch Bildung

Allgemeine Arbeitsprinzipien„Intensive Schulbetreuung“

n Zielgruppen- und Bedürfnis-orientierung

n Orientierung ab Klasse 9n Konzeptbasiertes Arbeitenn Verzahnung von Bildungsarbeit

mit Studienberatungenn Weiterbildung der Mitarbei-

terinnen und Mitarbeiter

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Ein hoher Stellenwert wird imRahmen der Projektevaluation derEinschätzung der Studienmotivation,die die Schüler unmittelbar im An-schluss an die Veranstaltungen angebenmussten, zugeschrieben. Die Auswer-tung ergab, dass nach der Veranstal-tung knapp 45 Prozent aller befragtenSchüler angaben, dass ihre Motivationzu studieren durch den Besuch derVeranstaltung zugenommen bzw. starkzugenommen habe. Zusätzlich gaben41 Prozent der Schüler an, dass ihreStudienmotivation – unabhängig vomkonkreten Besuch einer „Schüler-Alumni“-Veranstaltung – hoch ausge-prägt gewesen sei. Es verbleiben 13Prozent, deren Motivation zur Auf-nahme eines Studiums unverändertgering ausgeprägt ist und ein ver-schwindend geringer Anteil von 1,5Prozent, die angaben, dass ihre Stu-dienmotivation durch den Besucheiner Veranstaltung gesunken sei. In-wieweit die Veranstaltungen tatsächlichzur Aufnahme eines Studiums beigetra-gen haben bzw. beitragen werden,kann an dieser Stelle (noch) nicht be-antwortet werden. Hierzu bedarf esweiterführender Forschungsanstren-gungen.

Die durchgängig positiven Bewer-tungen und die Erfahrungen der Mit-

arbeiter vor Ort mit den Schülern,Lehrern und nicht zuletzt den Elternbekunden eindeutig, dass ein großerBedarf nach Unterstützung bei allenThemen der Studienorientierung vor-handen ist. Aus den bisherigen Ergeb-nissen kann abgeleitet werden, dassdie Teilnahme an den vom Projektinitiierten Veranstaltungen von denTeilnehmern als sinnvolle Möglich-keit bzw. ergänzender Baustein zurStudienorientierung wahrgenommenwird.

Dauerhafte Projekte nötig

Vor dem Hintergrund des Branden-burger „Gesetzes zur Neuregelung desHochschulrechts“ von Ende 2008 be-kommt das Projekt „Studium lohnt!“eine neue Dimension. Im Gesetz heißtes, dass die Hochschulen BrandenburgsStudienberechtigte „über die Vorzügeeines Hochschulstudiums“ und „überInhalte, Aufbau und Anforderungeneines Studiums“ unterrichten sollen.Sowohl aus inhaltlicher als auch ausstruktureller Sicht ist dafür eine dauer-hafte Verbindung der Hochschul-Stu-dienberatung mit dem Projekt „Stu-dium lohnt!“ notwendig, um auchüber 2010 hinaus diese Aufgabe erfül-len zu können. n

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thema – bildung für alle

DR. SABINE BIEDER, CHRISTIAN MÖDEBECK UND ROBERT MEILE

arbeiten bei der Zentralen Studienberatung der Universität Potsdam.

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Im Wahljahr 2009 ist die Wissen-schafts- und Bildungspolitik trotz

einiger sozialdemokratischer Bemü-hungen bislang noch kein großes The-ma in der politischen Auseinander-setzung. Dafür gibt es verschiedeneGründe. Zum einem ist das bundespo-litische Parteienprofil zu Beginn desWahljahres noch nicht in vollem Um-fang programmatisch geschärft; es wirdim Gesamtkonzept erst zu einem späte-ren Zeitpunkt präsentiert. AktuelleDebattenbedürfnisse, wie die Diskus-sion über die Reaktionen zur Finanz-krise und über antizyklische Konjunk-turprogramme, überlagern zudemzurzeit noch die eher strategisch ange-legten Profilierungsüberlegungen undbeeinflussen möglicherweise auchderen Orientierung. Zum anderenhaben in diesem Zusammenhangstrukturelle Faktoren Bedeutung, dieunser System der bundesstaatlichenWillensbildung prägen.

Insbesondere nach der Föderalismus-reform von 2006 gibt es für Wissen-schaft und Bildung keine ausreichenden

Bundeszuständigkeiten mehr. Deshalbfehlt auch eine geeignete bundespoliti-sche Plattform für eine kontinuierlichgeführte Debatte und das Handeln indiesem Politikbereich, was ihn notwen-digerweise entwertet. Auf diesem Ge-biet weist Deutschland auch nach dereinvernehmlich getroffenen Bund-Länder-Feststellung auf dem letzten„Bildungsgipfel“ vom Oktober 2008,zudem erhebliche Defizite auf, ebensobeträchtliche regionale Unterschiede.Das damit angelegte Spannungsver-hältnis zwischen einem ausgeprägtenHandlungsbedarf auf nationaler undregionaler Ebene einerseits und Män-geln im politischen Steuerungspotentialandererseits stellt vor allem eine linkeVolkspartei wie die SPD vor Heraus-forderungen.1

Im Wahljahr wird es in erster Liniedarum gehen, wie das alte sozialdemo-kratische Ziel von Emanzipation undChancengleichheit durch bessere und

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Der HandlungsbedarfbleibtWIE WISSENSCHAFTS- UND BILDUNGSPOLITIK NACH DER

FÖDERALISMUSREFORM UND DEM BILDUNGSGIPFEL AUSSEHEN KANN

VON ANDREA WICKLEIN UND KLAUS FABER

1 Siehe dazu Klaus Faber, Legitimations- und Finanzierungs-defizite – Zur Lage der Wissenschafts- und Bildungspolitikim Bundesstaat, in: perspektiven ds, 1 (2008)

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mehr Bildung für alle verwirklicht wirdund in glaubwürdige Umsetzungsvor-schläge übersetzt wird. Der SPD wird,nicht nur auf Bundesebene, auf diesemGebiet nach wie vor eine gewisse Kom-petenz zugeschrieben. Politische Mit-bewerber sind allerdings seit längererZeit erkennbar. Die Union hat nichterst mit den Initiativen von Bundes-kanzlerin Angela Merkel („Bildungs-republik Deutschland“, Bildungsgipfel2008) das Bildungsthema entdeckt.

Kein weiches Thema mehr

Ein bestimmtes, mitunter auch in derSPD anzutreffendes, Politikverständnissah und sieht in „weichen“ politischenThemen wie Familien-, Bildungs- oderWissenschaftspolitik wohl eher Ran-kenwerk, das die eigentlich wichtigeninnenpolitischen Kernthemen wie etwadie Wirtschafts-, Sozial-, Arbeitsmarkt-und vielleicht noch Finanzpolitik ver-ziert. Dass es sich hier um eine Fehl-einschätzung von entscheidendengesellschaftspolitischen Veränderungs-bewegungen und Ausgangsbedingun-gen handelt, haben inzwischen nichtnur die Anhänger der These vom „vor-sorgenden Sozialstaat“ bemerkt.

Schon seit längerer Zeit vollziehtsich in einem größeren Teil der ent-wickelten Länder ein rasanter Ent-wicklungsprozess hin zu einer „Wis-sensgesellschaft“. Es geht dabei nichtnur und in erster Linie um die Ver-

besserung des Bildungsangebots vonder vorschulischen Erziehung bis zumAbschluss der Sekundarstufe. Erkenn-bar ist darüber hinaus die Entwick-lungsperspektive einer Hochschulaus-bildung für die große Mehrheit derBevölkerung. Sie ist in einigen Staatenbereits heute erreicht oder wird dort inabsehbarer Zeit erreicht werden(Finnland und andere skandinavischeStaaten, Australien, aber auch USA,Israel, Südkorea etc.). Auch Schwel-lenländer wie China holen auf demWissenschaftsgebiet mit einem beacht-lichen Tempo auf, was etwa die enor-men Steigerungsraten der Forschungs-ausgaben (mit denen sich Deutschlandnicht vergleichen kann) oder ebensodie Zahlen der jährlich ausgebildetenIngenieure zeigen. Die Investitionenund Leistungen Indiens im IT-Bereichsind ebenso beeindruckend.

Hochschulen sind Chancen

Im Hochschul- und Forschungssektorfindet ein globaler Qualifikationswett-bewerb statt, der auch über die deut-schen Zukunftschancen entscheidet.Ein funktionstüchtiges Schulwesen isteine notwendige, aber nicht ausrei-chende Voraussetzung dafür, um ameigentlichen Wettbewerb im Wissen-schaftsbereich teilnehmen zu können.Die individuellen Entfaltungsmöglich-keiten, einschließlich der Berufschan-cen, werden künftig mehr denn je von

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thema – bildung für alle

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einer Hochschulausbildung abhängen.Mit dem vor uns stehenden Verände-rungsprozess sind weitgehende gesell-schaftspolitische Folgewirkungen,deren Ausmaß und Richtung wir nur in Umrissen erkennen können.

Kein Konsens zur Schule

Dass ein entscheidend verbessertesQualifikationsniveau auch den Ar-beitsmarkt verändern wird, gehörtdabei zu den eher banalen Erkennt-nissen. Eine andere Struktur der Ar-beitskraftnachfrage wird entstehen.Neue Arbeitsplätze werden durch dieÄnderung der Qualifikationslage ge-schaffen, die sich aber auch sonst inder Wirtschaft, unter anderem imSektor der Dienstleistungs- und Pro-duktnachfrage, auswirken wird. In denWandlungsprozess sind ebenso die So-zialsysteme, Kultur, Medien und diePolitik einbezogen.

Der deutsche Aufholbedarf auf denGebieten von Wissenschaft und Bil-dung wird seit einiger Zeit auch in denprogrammatischen Aussagen der Par-teien der Großen Koalition und ihrerVertreter thematisiert. Vor allem nachden PISA-Debatten gibt es zwischenden Parteien keinen Konsens darüber,in welche Richtung das dreigliedrigeSchulwesen weiterentwickelt oder ob es insgesamt überwunden werden soll.Wohl aber gibt es eine Verständigungdarüber, dass im Schulbereich durch-

greifende Änderungen erforderlich sind– insbesondere mit dem Ziel, die Inte-gration von Migrantenkindern deutlichzu verbessern, den Anteil der Hoch-schulzugangsberechtigten sowie dieZahl der Studienanfänger zu erhöhen.Übereinstimmung besteht auch weitge-hend darüber, dass die deutschen Aus-gaben im Schulwesen zu niedrig sind,dass die Pro-Kopf-Ausgaben im Hoch-schulsektor erhöht sowie die Defizitein Forschung und Entwicklung ausge-glichen werden müssen. Der Beitragder deutschen Wirtschaft vor allem zuden Forschungs- und Entwicklungsaus-gaben entspricht ebenso wenig deninternationalen Standards.

Deutscher Nachholbedarf

Der deutsche Nachhol- und Moderni-sierungsbedarf in Wissenschaft undBildung ist durch viele überprüfbareinternationale Vergleichsdaten belegt,also nicht erst auf dem Bildungsgipfelvon 2008 festgestellt worden. Ein Blickauf einige Einzeldaten lässt die Aus-gangslage deutlicher erkennen. Deutsch-land hat nach OECD-Studien zumBeispiel bei den Hochschulzugangs-berechtigten, den Studierenden oderden Hochschulabsolventen wesentlichkleinere Anteile am jeweiligen Alters-jahrgang als andere Länder. NachOECD-Vergleichsuntersuchungenunter 27 Industrienationen studieren, so der allgemeine Trend, immer mehr

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junge Menschen. Im Schnitt desOECD-Vergleichs sind das fast 50Prozent eines Altersjahrgangs. Nicht nur Finnland (mit über 70 Prozent),Schweden und Norwegen, sondernauch Polen oder Australien haben beider Zahl der Studienanfänger proAltersjahrgang bereits die 60-Prozent-Grenze überschritten. In Deutschlandbeträgt dieser Anteil zurzeit 39 Prozent.Die ostdeutschen Durchschnittsanteileliegen noch immer deutlich unter denentsprechenden westdeutschen Anteilen.Nicht erst durch die PISA-Debattensind die schon angesprochenen deut-schen Schuldefizite bei der Verwirk-lichung von Chancengleichheit für be-nachteiligte soziale Schichten und fürImmigranten bekannt.

Defizite auch in den Ländern

Auch aus anderen Gegenüberstellun-gen ergibt sich ein für Deutschlandungünstiges Bild. Die USA geben, mitöffentlichen und privaten Finanzie-rungsanteilen, pro Kopf der Bevölke-rung für das Hochschulwesen fast dop-pelt so viel aus wie Deutschland. Inungefähr der gleichen Höhe sind diePro-Kopf-Ausgaben für die Hoch-schulen in Finnland oder Schweden –wobei diese wie in Deutschland über-wiegend öffentlich finanziert sind.

Nicht nur im internationalen Ver-gleich gibt es Defizite. Auch die inner-deutschen Unterschiede weisen eine zu

große, die gesamtstaatliche Entwick-lung behindernde Spannbreite auf. Inder Hochschulfinanzierung haben ost-deutsche Regionen gegenüber demdeutschen Schnitt einen zum Teil er-heblichen Rückstand. Gemessen an denHochschulausgaben pro Kopf der Be-völkerung belegen einige der fünf ost-deutschen Flächenstaaten einen Platzam Ende der deutschen Leistungsskala.

Mehr Studenten

Im gesamtdeutschen Überblick istdabei (wenn man einmal vom Son-derfall der Stadtstaaten absieht) übri-gens keine allgemeine Korrelationersichtlich, nach der etwa längere Zeitvon der SPD regierte Länder hohe Pro-Kopf-Ausgaben, andere Länder demge-genüber einen geringeren Ausgabensatzhaben. Das weist auf eine föderalis-muspolitische und eine wissenschafts-bzw. bildungspolitische Herausforde-rung hin. Eine der Fragen, die sichdabei stellen, ist, wie sich die Partei-enprogrammatik zu den teilweiseerheblichen Unterschieden zwischenden Ländern verhält.

In ganz Deutschland ist in denkommenden Jahren ein neuer Anstiegder Studierendenzahlen absehbar. InOstdeutschland ist deshalb eine Be-schleunigung des Hochschulausbauserforderlich, ebenso eine Erweiterunganderer Wissenschaftskapazitäten, eineAusschöpfung der ostdeutschen Bil-

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dungsreserven und eine wirksameWerbung für ein Studium an ostdeut-schen Hochschulen. Auch die Profil-bildung spielt im Hochschulbereicheine wichtige Rolle. Die Erhebung vonStudiengebühren passt vor diesemHintergrund weder in die regionale,noch in die überregionale Wissen-schaftslandschaft.

Auch bei der Nutzung der erworbe-nen Hochschulzugangsberechtigungen(„Studierquote“) bestehen zwischenden Bundesländern erhebliche Unter-schiede, die im Einzelnen auch nichtdem Ost-West-Schema folgen. Denletzten Platz belegt zurzeit Branden-burg. Auch die Positionsplätze der ein-zelnen Länder bei der Studierquote las-sen keine Korrelation erkennen, dieetwa der Vermutung folgen würde,lange von der SPD regierte Ländermüssten eine hohe, andere Länder eineniedrigere Studierquote haben.

Mehr Investitionen

Diese kurze Bilanz zeigt den Hand-lungsbedarf auf. Mehr Investitionen inWissenschaft und Bildung und einePolitik der Öffnung für mehr Bil-dungschancen sind erforderlich. Derpolitische Handlungsspielraum, vorallem der Landesebene, ist auf diesemFeld allerdings begrenzt. Viele finanz-schwache Bundesländer sind aus eige-ner Kraft nicht in der Lage, bei denInvestitionen in Wissenschaft und

Bildung den Anschluss an die anderenLänder zu erreichen, geschweige denndie nach internationalen Vergleichs-maßstäben notwendigen gesamtstaatli-chen Ausgabensteigerungen mitzufi-nanzieren.

Was der Bund nicht darf

Wesentliche Mitfinanzierungsmöglich-keiten des Bundes, zum Beispiel imSchulbereich, auf denen unter anderemdas Förderprogramm für Ganztags-einrichtungen beruht, sind durch dieFöderalismusreform von 2006 wegge-fallen. Das gilt auch für die Gemein-schaftsaufgabe Hochschulbau. Das2006 eingeführte neue Instrument derBund-Länder-Wissenschaftsfinanzie-rung nach Art. 91b des Grundgesetzesist kein ausreichender Ersatz – undzwar mit Blick auf die nötige Einstim-migkeit in der Beschlussfassung unddie daraus folgenden Blockadepositio-nen sowie zum Teil auch wegen derBeschreibung des erfassten Sachgebiets.Zahlreiche wichtige Initiativen in derWissenschafts- und Bildungspolitiksind in Deutschland von der Bundes-ebene ausgegangen und mitgefördertworden. Am – inzwischen vielfach ver-nachlässigten – Hochschulbau hattesich zum Beispiel der Bund seit denfünfziger Jahren bis 2006 maßgeblichbeteiligt.

Hier schließt sich der Kreis. FürWissenschaft und Bildung gibt es keine

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ausreichenden Bundeszuständigkeitenmehr, die auch die Finanzierung inausreichendem Umfang erfassen. Da-mit fehlt auch ein regelmäßig zur Ver-fügung stehender und wirksamer bun-despolitischer Ansatzpunkt für dieDebatte und das Handeln – was auchfür die Landespolitik negative Konse-quenzen hat. Dies gilt vor allem, wennman diese an Standards misst, die zumBeispiel von den skandinavischen Staa-ten und in bestimmten Sektoren eben-so von den USA gesetzt werden. Auchdie neuerdings vom Bund-Länder-Bil-dungsgipfel von 2008 beschriebenenZielerklärungen können mit den zur-zeit zur Verfügung stehenden Instru-menten und Länderfinanzmitteln nichterreicht werden.

Was bringt der Bildungsgipfel?

Welchen Sinn macht unter den skiz-zierten finanz- und föderalismuspoliti-schen Rahmenbedingungen überhauptder Bund-Länder-Bildungsgipfel von2008? Die – problematische – verfas-sungspolitische Weichenstellung derGroßen Koalition durch die Födera-lismusreform von 2006 kann selbstver-ständlich auch ein Bund-Länder-Gipfelnicht umgehen oder rückgängigmachen, auch nicht die beschriebenenKompetenzverluste des Bundes. DerGipfel kann aber unter den politischenAusgangsbedingungen, zu denen eineBundestagswahl zumindest einen

Beitrag leistet, nach Wegen suchen,einige Auswirkungen der Föderalis-musreform zu mildern.

Unsichere Finanzierung

Trotz der Einschränkung seiner Kom-petenzen bleiben dem Bund einigeMitfinanzierungsmöglichkeiten, diezum Teil allerdings eine enge Bund-Länder-Kooperation voraussetzen.Dazu gehört die geschilderte neueBundesfördermöglichkeit nach Art.91b des Grundgesetzes für Vorhabenund Einrichtungen in der Wissen-schaft, die es auch aufgrund der Ini-tiative ostdeutscher SPD-Bundestags-abgeordneter gibt. Wenn alle Länderzustimmen, kann eine in den Bund-Länder-Finanzierungsanteilen flexibleund umfassende Vereinbarung ge-schlossen werden, die im Volumen, inder Dauer und in den Anwendungs-gebieten (zum Beispiel in der Lehrenach den Vorschlägen des Wissen-schaftsrats) weit über den Bund-Länder-Hochschulpakt 2010/2020hinausgehen kann, der ebenfalls aufdieser neuen Grundgesetzbestimmungberuht. Die Länder können auf dieseWeise ebenso auf dem Gebiet der ge-meinsamen Forschungsförderung ent-lastet werden. Den so gewonnenenSpielraum könnten sie für Investitio-nen in anderen Sektoren ihrer Zustän-digkeiten in Wissenschaft und Bildungnutzen. Derartige Bund-Länder-Ab-

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sprachen setzen, um es zu wiederholen,einen politischen Konsens aller Betei-ligten voraus.

Auch in weiteren Bundeskompetenz-bereichen sind eine Bundesmitfinanzie-rung und die damit verbundene Ent-lastung der Länder für Anstrengungenin Wissenschaft und Bildung denkbar.Das gilt unter anderem für Investitio-nen auf Gebieten, für die der Bundüber eine Gesetzgebungskompetenzverfügt. Schwieriger ist demgegenübereine Neuverteilung des Steueraufkom-mens zwischen Bund und Ländern mitdem Ziel, damit den Ländern dieMöglichkeit zu geben, mehr Geld fürWissenschaft und Forschung aufzu-bringen. Die Verteilung der Bund-Länder-Steueranteile sollte möglichstnicht für aktuelle Förderprogrammegeändert werden. Nach den Erfahrun-gen mit vergleichbaren Finanzierungs-konstruktionen wäre auch nicht sicher,ob zusätzliche Ländersteueranteile inder gesamtstaatlichen Bilanz tatsächlichder Wissenschaft und der Bildung zu-gute kämen.

Das Ziel: 10 Prozent

Auf dem Bildungsgipfel vom Oktober2008 konnten sich Bund und Ländernoch nicht auf ein gesamtstaatlichesFinanzierungspaket für Bildung undWissenschaft einigen. Die entsprechen-den Beschlüsse sollen nach der Bundes-tagswahl gefasst werden. Andererseits

sind sich Bund und Länder schon jetztdarin einig, den gesamtstaatlichen Bil-dungsausgabenanteil am Bruttoinlands-produkt bis 2015 in erheblichem Um-fang – von derzeit 6 Prozent auf dann10 Prozent – zu erhöhen. Die geplanteSteigerungsrate macht deutlich, dassdie Regierungschefs von Bund undLändern zumindest die Dimension desdeutschen Nachholbedarfs erkannt undanerkannt haben. Auch FinanzministerPeer Steinbrück hat sich sehr engagiertfür diese Zielsetzung ausgesprochenund damit nicht nur im Kreis der Fi-nanzminister Maßstäbe gesetzt. Auchder sozialdemokratische Kanzlerkandi-dat Frank-Walter Steinmeier steht füreinen bildungs- und wissenschaftspoli-tischen Schwerpunktansatz.

Helmut Schmidt hat Recht

Helmut Schmidt hat in seinem jüngstenBuch noch einmal darauf hingewiesen,dass Deutschland über keine wesentli-chen Rohstoffressourcen verfügt undsich im Wettbewerb mit Ländern wieder Volksrepublik China und Indienbefindet. Diese Länder sind auf demWeg, auch in Bereiche wie den Auto-oder Maschinenbau mit immer besserenund zudem preiswerteren Produktange-boten einzudringen – in Bereiche also,in denen ein Teil des deutschen Export-erfolgs erzielt wird. Plausible Alternati-ven zur dringend gebotenen Erhöhungdes durchschnittlichen Ausbildungs-

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und Qualifikationsniveaus in Deutsch-land gibt es – nicht nur nach seinerAuffassung – demnach nicht. Man musshinzufügen: Das, was der deutscheGesamtstaat auf diesem Gebiet bislanggeleistet hat, reicht nicht aus, um unse-ren internationalen Wettbewerbsrück-stand aufzuholen. Jede sinnvolle politi-sche Anstrengung, dies zu ändern – unddazu gehört trotz aller offenen Fragenund Mängel auch der Bildungsgipfel –sollte daher unsere Unterstützung fin-den. Mehr noch, die SPD sollte selbstdie Initiative ergreifen und Vorschlägefür einen gemeinsamen Bund-Länder-Investitions- und Förderpakt im Wis-senschafts- und Bildungsbereich vorle-gen.

Ein neuer Förderpakt

Die SPD wird vielleicht mehr als andereParteien auch an der Glaubwürdigkeitihrer Programm- und Sachzielaussagengemessen. Das gilt auf allen Ebenenfür die Wissenschafts- und Bildungs-politik, auch in einer Bundestagswahl.Sozialdemokratische Wählerinnenund Wähler werden es nach allenErfahrungen nicht akzeptieren, wennman Fragen zu den grundsätzlichenZielsetzungen für Bildung und Wis-senschaft und nach ihrer Realisierungmit dem Hinweis auf föderalismuspo-litische Abstimmungsschwierigkeitenund Kompetenzmängel ausweichendbeantwortet.

Es gibt eine Reihe von guten Grün-den, die dafür sprechen, auf diesemGebiet in absehbarer Zeit keinenneuen Anlauf zu einer Verfassungsän-derung zu planen. Wenn das so ist,müssen wir aber glaubwürdige undkonkrete Vorschläge erarbeiten, waswir verbessern und realisieren wollen.Ein Bund-Länder-Förderpakt für Wissenschaft und Bildung hat Sinn,um die deutschen Rückstände und die Strukturverzerrungen innerhalbDeutschlands auszugleichen. Er hatSinn, weil die Verbesserung der Bil-dungschancen allen nutzt. Sie bringtfür jeden mehr Entfaltungsmöglich-keiten und fördert zugleich unsereinternationale Wettbewerbsfähigkeit.Der Förderpakt sollte von einer ge-meinsamen Bund-Länder-Arbeits-gruppe vorbereitet und auch in derDurchführung begleitet werden. So-zialdemokraten im Bund und in denLändern sollten eine entsprechendeInitiative gemeinsam aufgreifen undzum Wahlthema machen.

In die Zukunft investieren

Die Förderprogramme, die jetzt alsAntwort auf die Wirtschaftskrise aufden Weg gebracht wurden, werden zuRecht vor allem danach ausgewählt,ob und inwieweit sie die Konjunkturstützende Effekte haben. Sie müssenaber ebenso weitere Anforderungenerfüllen. Zumindest ein Teil der

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Maßnahmen muss aus Investitionen indie Zukunft bestehen. Diese Bedingun-gen erfüllen zum Beispiel Investitionenim Bildungs- und Wissenschaftsbe-reich. Das von der Bundesregierung imJanuar vorgelegte zweite Konjunktur-

paket von Bund, Ländern und Kom-munen enthält solche wichtigen An-satzpunkte für Bildungs- und Wis-senschaftsinvestitionen, die auch aufInitiativen der SPD-Bundestagsfrak-tion zurückgehen. n

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A N D R E A W I C K L E I N

ist Bundestagsabgeordnete aus Potsdam und Sprecherin der Arbeitsgruppe Aufbau Ost

der SPD-Bundestagsfraktion.

K L A U S F A B E R

ist Staatssekretär a.D. und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in

Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e. V.

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M aria und Joachim Meier* habeneine kleine Odyssee hinter sich.

Sie haben sich mit Schulleitern, Land-räten und Bürgermeistern unterhalten.Sie haben beantragt, gebettelt und ge-stritten. Sie waren der Verzweiflungnahe. Denn sie wussten, dass ihr SohnJan* etwas kann. Auch wenn sie nichtwussten, welche Talente es genau sind,die ihr Sohn hat, und wie weit sie rei-chen würden. Nur bei einem waren siesich sicher: Die Sonderschule ist nichtder richtige Ort für ihr Kind. Dortwürde man nicht erkennen, dass undworin Jan richtig stark sein kann.Aber in genau diese so genannte För-derschule wollten die Behörden ihrenSohn stecken – gleich nach dem Kin-dergarten.

Wenn Maria und Joachim Maierheute über diese Geschichte sprechen,dann kann man über ihre Gesichter dieGemütszustände wandern sehen, diesie durchlebt haben. Die Ratlosigkeitund die Unsicherheit darüber, wie weitman gehen darf, um seinem KindChancen zu verschaffen, die man noch

nicht mal selber kennt. Den Mut unddie Kampfbereitschaft, nicht einfachaufzugeben, ihren Sohn nicht allein zulassen. Und das Glück, die Freude, dieaus ihnen herausströmt, wenn sie er-zählen: Es hat sich gelohnt, wir hattenRecht, unser Kind kann etwas! „Jan istbeim Lesen und Schreiben nicht derschnellste“, erzählt der Vater. „Aberirgendwann haben sie in der Waldhof-schule in Templin gemerkt, wie gutJan beim Rechnen ist.“ So schnell näm-lich, dass der unter gelegentlichen epi-leptischen Anfällen leidende Junge sei-ne eigenen, vermeintlich fest stehendenGrenzen überschritt. Bald auch dieGrenzen anderer Schüler. Jan, der Lang-same, war plötzlich so schnell und gutmit den Zahlen, dass seine Mitschülersagten: „Wahnsinn, was der Jan kann.Damit hätten wir nicht gerechnet.“

Alle Schüler gehören zusammen

Jan ist ein behindertes Kind, wie vielesagen würden. Jan ist ein besonderes,ein einzigartiges Kind wie jedes ande-re, sagt Wilfried W. Steinert, der Lei-ter der Waldhofschule in Templin,

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Jan in der SackgasseODER: DAS DRAMA VON BILDUNG UND GERECHTIGKEIT. GUTE

SCHULEN GIBT ES – ABER WIE KÖNNEN SIE ZUM VORBILD WERDEN?

VON CHRISTIAN FÜLLER

* Namen geändert.

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eine knappe Autostunde nördlich vonBerlin im Brandenburgischen gelegen.„Alle Schüler gehören zusammen“,sagt Steinert, „nicht nur, weil sie von-einander profitieren können. Sonderneinfach, weil es sie gibt. Weil sie dasind.“

Nachdem Jan eine lange Suchphasehinter sich hatte, landete er glücklichin jener Schule, die etwas macht, dassich kaum jemand vorstellen kann. Siedreht Integration auf den Kopf, willsagen: Die Waldhofschule Templinintegriert nicht so genannte behinderteKinder in kleinen Portionen in eine Re-gelschule. Nein, sie nimmt so genanntenormale Kinder in eine ehemalige Schu-le für geistig behinderte Kinder auf.Und erzielt sozial, kognitiv und pädago-gisch damit große Erfolge. Die Wald-hofschule war 2007 unter dem DutzendNominierten für den Deutschen Schul-preis. Um diese gute Schule besuchen zukönnen, muss Jan nun zweimal am Tageine Stunde fahren.

Talente suchen …

Jan und sein Irrweg zur guten Schulesind ein sehr individueller Fall. SeineKrankheit, wenn man sie so nennenwill, können auch die Ärzte nicht exaktbeschreiben, weil sie so speziell undeinzigartig ist. Es gehört eine starkeSehstörung dazu und Epilepsie. AberJan ist auch wieder der Normalfall.Der ganz alltägliche Fall, wie Schulen

Kindern den Weg verbauen. Anstattdie Talente und Stärken von Kindernzu suchen und zu entwickeln, legen sieKinder fest und stecken sie in Schub-laden. Viele Brandenburger Bildungs-politiker meinen, bei ihnen sei dasanders. Aber die Unterschiede zwi-schen den Benachteiligungen, wie siedas deutsche Schulsystem und dasbrandenburgische produzieren, sindnur marginal.

… und Stärken entwickeln

Die Kennzeichen des Bildungssystemsin Deutschland sind bekannt. Es weistkrasse Unterschiede zwischen Schulenund Schülern auf. Es ist leistungsmä-ßig allenfalls Mittelmaß. Und es istungerecht, weil die Kompetenzen unddie Erfolge der Schüler stark davonabhängen, aus welchem Elternhaus siekommen. Acht Prozent der Schülerverlassen ohne Abschluss die Schule.21 Prozent der 15-Jährigen könnennicht richtig lesen, man nennt siedaher Risikoschüler. 400.000 Schülerstecken in einem Sonderschulwesenfest, das in acht von zehn Fällen kei-nen Abschluss vergibt. Und der Natio-nale Bildungsbericht des Jahres 2008zeigt: 28 Prozent der 20- bis 25-jähri-gen Deutschen besitzt weder einenGesellenbrief noch den Abschluss ei-ner Sekundar-II-Stufe. Ein Drittel istalso ohne Anschluss. „Wir organisie-ren für diese Klientel eher Abbrüche

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thema – bildung für alle

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als Anschlüsse“, sagt dazu der Göttin-ger Soziologe und BildungsforscherMartin Baethge, einer der Autoren desBildungsberichts.

So steht es mit unschöner Regel-mäßigkeit auch in den PISA-Studienseit der ersten Studie, die im Dezember2001 den PISA-Schock auslöste.

Nach PISA-Studien wird in Pots-dam immer wieder behauptet, Bran-denburg habe „das sozial gerechtesteSchulsystem Deutschlands“. Tatsäch-lich sehen Brandenburgs Ergebnisse inSachen Gerechtigkeit besser aus als diedeutschen. Genauer: Sie waren es. ImJahr 2000 war die Chance für ein Bran-denburger Akademikerkind, aufs Gym-nasium zu kommen, doppelt so hochwie die für ein Arbeiterkind. ZumVergleich: In Bayern war zur gleichenZeit Gymnasialbesuch für Akademi-kerkinder sieben Mal so wahrscheinlichwie für Arbeiterkinder! In der jüngstenPISA-Studie 2006 ist Brandenburg aberdeutlicher schlechter geworden. Es istdort heute viermal so wahrscheinlichaufs Gymnasium zu kommen, wennPapa und Mama studiert haben, alswenn sie Facharbeiter sind.

Alle Schüler werden besser

Im Bildungsministerium in Potsdamrätselt man noch, warum sich die Si-tuation so stark verschlechtern konn-te. Zumal es gelungen ist, die Zahlder Risikoschüler von 30 auf 24 Pro-

zent zu reduzieren. Zugleich stiegendie Leistungen der BrandenburgerSchüler insgesamt an, so dass dasLand nun die Schlusslichter hintersich gelassen hat und ans PISA-Mittel-feld Anschluss gefunden hat. Was alsoist passiert, dass trotzdem die Unge-rechtigkeit steigt?

Brandenburgs Entwicklung zeigt dasDrama von Schulerfolgen und sozialerGerechtigkeit. Die wichtigste Erkennt-nis ist, dass alle Schüler besser werden.Die Zuwächse der Leseleistungen seitdem Jahr 2000 sind die zweitstärkstenin Deutschland überhaupt. Das ist eineuneingeschränkt gute Botschaft. Den-noch verweisen die PISA-Forscher dar-auf, dass Besserwerden allein nichtreicht. Die Schere zwischen guten undschlechten Schülern geht nämlich auf –wenn Akademikerkinder ihre Leistun-gen stärker verbessern als die Arbeiter-kinder. Hinzu kommt in Brandenburg,dass die bildungsbürgerlichen Schich-ten ihren Anteil am Gymnasium aus-weiten. Im Jahr 2006 besuchten über60 Prozent der Akademikerkinder diePenne – ein Zuwachs von über zehnProzentpunkten gegenüber 2000. Dieintellektuelle Oberschicht, so die Inter-pretation der Forscher, hat ihre Lek-tion aus PISA gelernt. Das ist gut – aberes bringt das sensible Gleichgewicht derBildungsgerechtigkeit sofort aus demLot, wenn im unteren Leistungsseg-ment nicht ebenso große Erfolge erzieltwerden. Und das ist nicht der Fall.

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christian füller – jan in der sackgasse

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Die Gesamtbilanz des Brandenbur-ger Bildungssystems löst damit weitergemischte Gefühle aus. Den erfreuli-chen Leistungszuwächsen steht nachwie vor ein Viertel von 15-Jährigengegenüber, das nur auf Grundschul-niveau lesen kann. Aber nur 11 Pro-zent der Schüler gelten als exzellenteLeser. Brandenburg produziert alsoweiter mehr Risikoschüler als Spitzen-schüler. Die Kombination von Leis-tungssteigerungen im oberen Segmentbei bleibend hohem Anteil von Bil-dungsverlierern sorgt dafür, dass Bran-denburgs Schule heute ungerechter dasteht als noch vor sechs Jahren.

Das ist insgesamt ein kritischer Befund auch für das BrandenburgerBildungssystem. Was soll man voneiner Schule halten, die nur magereLeistungen hervorbringt? Zu waseigentlich soll die Schule nutze sein,wenn nicht für die Förderung undLebenschancen seiner Teilnehmer?Was soll die Schulpflicht noch, wennsie die Bürger dazu zwingt, ihre Kin-der in Schulen zu schicken, die sowenig Wirkung zeigen und so trägesind? Was in diesen Fragen auf-scheint, ist die Anmutung von Farce,Tragödie und Endspiel. Schule ist ineiner großen Krise – auch in Bran-denburg. Und jeder kann es sehen,PISA braucht man dazu gar nicht.

Wenn der zehnjährige Fritz ein Be-dürfnis hat, dann geht es ihm wiemanchem anderen kleinen Jungen. Er

hat keine Lust, gleich Pipi zu machen.Nur hat das Zögern bei Fritz ganzandere Ursachen, als noch etwas fertigbesprechen oder spielen zu wollen.„Ich gehe nicht zu den Toiletten aufunserer Schule, weil die unglaublichschmutzig sind“, sagt der kleine Kerl.

Fritz besucht die BabelsbergerBruno-H.-Bürgel-Grundschule. 360Schüler lernen dort, um sich auf wei-terführende Einrichtungen vorzube-reiten. Als Toilette steht ihnen eineschmuddelige Baracke auf dem Hofzur Verfügung. Es gibt auch neue Toi-letten und Duschen, sie gehören zurTurnhalle. Aber auch dorthin gehendie Kinder nicht. Dazu müssten sieeine einsturzgefährdete Umkleidedurchqueren. Stützen sichern die Decke – seit zwei Jahren.

Der Glanz der alten Tage

Die Bruno-H.-Bürgel-Schule ist soetwas wie eine Miniatur des Bildungs-systems. 1907 als Gemeindeschule 1 er-öffnet, galt sie als eine der modernstenBildungsstätten ihrer Zeit. Die Fassadewurde für das 100-jährige Jubiläum her-ausgeputzt. Von außen merkt man ihrden Glanz der alten Tage an. Drinnenaber ist etwas faul. Die Mensa ist eineBaracke, die man noch zu DDR-Zeitenan ein Fachwerkhaus geklebt hat. Indem modrigen Flachbau haben gerade60 Kinder Platz. 210 Hortkinder aberwollen hier täglich essen.

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„Es wird darum gebeten, menschen-würdige Zustände herzustellen“, lautetedas Urteil. Und das war keine polemi-sche Bemerkung eines Besuchers, son-dern das amtliche Ergebnis der Begut-achtung der Bürgel-Schule durch dieBrandenburger Schulinspektion. „Men-schenwürdige Zustände herstellen.“Ursula Fiess, die Gesamtelternspre-cherin, will niemanden aufwiegeln.„Aber ich finde diesen Zustand frag-würdig im 21. Jahrhundert. Wir sindschon im vergangenen Jahrhundert aufden Mond geflogen – und bei uns ander Schule schaffen wir es nicht mal,die Toiletten zu reparieren.“

Immer mehr Privatschulen

Das ist keine lustige Anekdote aus derBrandenburger Provinz: Eine vonHaus aus verunsicherte Elternschaftmuss erleben, dass der Staat in SachenSchulen ein unsicherer Kantonist ist.Ein Hallodri, dem jedes Pflichtgefühlder für ihre Zuverlässigkeit einst soberühmten preußischen Verwaltungabgeht. Die organisierte Verantwor-tungslosigkeit des Schulwesens ist indeskein Brandenburger Phänomen. Überallaus Deutschland lassen sich Groteskenerzählen, bei denen Unterrichtsausfallquasi unbesiegbar ist, Gymnasiasten wieAkkordlöhner bis zum Nachmittagohne Mahl pauken müssen und Lehrer,die besonders gut sind, wegen Störungdes Schulfriedens versetzt werden. Der

Staat betreibt in Deutschland über 90Prozent der Schulen selbst. Er zwingtdie Kinder qua Schulpflicht in dieseSchulen – kann aber nicht einmal lü-ckenlosen Unterricht garantieren. VonLernerfolgen und Kompetenzzuwächsenfür wirklich viele ganz zu schweigen.

Die Eltern reagieren darauf verzwei-felt. Sie verfallen in Apathie. Sie lassendie Situation über sich ergehen. Man-che Schulkonferenz muss inzwischenganz ohne Elternvertreter auskom-men. Auch ein anderer Teil der Elternzieht sich zurück – er verlässt das öffent-liche Schulsystem. Seit Mitte der neun-ziger Jahre ist die Zahl der Privatschü-ler in Deutschland um etwa 30 Prozentgestiegen. Über 670.000 Kinder besu-chen private allgemeinbildende Schu-len, das sind inzwischen acht Prozentder Schüler insgesamt.

Um Potsdam tiefrot

Wenn die Rate an Privatschülern derLackmustest für den übersäuertenZustand eines Schulwesens ist, dann istdas Papierchen in und um Potsdamtiefrot gefärbt. Rund 20 Prozent derSchüler im Raum Potsdam besuchenprivate Schulen. Sie gehen lieber infreie, kommerzielle oder konfessionelleBildungseinrichtungen als in die staat-lichen Anstalten. Die Bürger fliehen inScharen das öffentliche Schulsystem.„Ich zahle Steuern, da kann ich erwar-ten, dass ich dafür ein gutes Bildungs-

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system bekomme.“ So drohte der Teil-nehmer einer Podiumsdiskussion inPotsdam. Und er brauchte dem anwe-senden Bildungsstaatssekretär BurkhardJungkamp (SPD) nicht näher zu erklä-ren, was passiert, wenn das Land nichtgute Schulen schafft.

Brandenburg ist ein Beispiel dafürwie deutsche Schule sich ganz allge-mein darstellt: Unterdurchschnittlichin seinen Leistungen, bürokratisch ge-lähmt, unfähig, auf eine sich schnellwandelnde gesellschaftliche Situationzu reagieren. In Brandenburg aber gibtes noch etwas anderes – hochfahrendeAnsprüche, die verfehlt werden. Dennin Potsdam hatte man schon die Sonneaufgehen sehen.

Das Kapital ist im Kopf

Es ist gar nicht so lange her, da brachteeiner der besten Brandenburger eineinteressante Reportage aus der finni-schen Stadt Jyväskylä mit. „Das Kapitalist im Kopf“, schreibt der Autor pro-grammatisch. Er schildert die Detailsdes famosen finnischen Bildungssys-tems. Er huldigt dem Prinzip „Nieman-den zurücklassen!“. Und er geht weiter,zeigt seinen Brandenburgern, wie nurgute Schule die Grundlage einer wis-sensbasierten Ökonomie sein kann. Ertut das ganz konkret vor Ort, indem erbeschreibt, wie das WeltunternehmenNokia nach Jyväskylä geht, wie Unter-nehmen und Bildungsinstitutionen zu-

sammenarbeiten. Die beigefügten Fotosvon 2004 zeigen den begeisterten Be-richterstatter, einen gewissen MatthiasPlatzeck beim Besuch einer Grundschu-le. Daheim in Brandenburg ist PlatzeckLandesvater. Jahrelang hat er, Finnlandsfaire „Kein Kind bleibt zurück“-Schuleim Hinterkopf, einen neuen vorsorgen-den Sozialstaat propagiert. Grundlagedafür ist, schwärmt Platzeck, dass „dasWohl des Kindes in Finnland im Mit-telpunkt steht“.

Unvereinbare Systeme

Wo ist der Schwung der Brandenbur-ger Bildungspolitik geblieben? Sprie-ßen in der Mark die guten Schulen ausdem Boden? Wer setzt die avanciertenIdeen des Landesvaters um? In derSzene gilt Brandenburgs Schulpolitikheute nicht mehr als reformorientiert,sondern als eine, die eine Todsündebegangen hat. Eine der wichtigstensystematischen Umstellungen ist dieweg von der Bewertung der Schülerhin zur Analyse des ganzen Bildungs-systems. Zu diesem Zweck werdenüberall in Deutschland so genannteVergleichsarbeiten eingeführt. Sie dienendazu, den politisch Verantwortlichenund der zentralen Qualitätsagentur Aus-kunft über den pädagogischen Zustandder Schulen zu geben. Das ist wichtig,um genau beobachten zu können, wel-che Schule im Vergleich zu anderenSchulen ihre Ziele nicht erreicht. Ver-

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gleichsarbeiten sind mitnichten dazuda, den einzelnen Schüler zu benoten.Brandenburg aber tut dies. Es nutztdie Vergleichsarbeiten auch für dieNotenvergabe. Die Vermischung desRöntgenblicks auf das System mit derZensierung des Schülers mixt zwei un-vereinbare Systeme. Die Vergleichs-arbeit misst Kompetenzen, um denSchüler besser fördern zu können. DieKlausur bewertet den Wissensstanddes Schülers per Note, um ihn bessersortieren zu können.

Lob und Ermunterung

Für den Außenstehenden mutet daswie eine Petitesse an. Beim Blick indie besten Brandenburger Schulenwird deutlich, dass dahinter völligunterschiedliche Philosophien stehen.Platzecks finnisches Credo „KeinKind bleibt zurück“ bedeutet in denschulischen Alltag übersetzt: Weg vonder Auslese – hin zur Förderung desSchülers. Sowohl in der Montessori-Oberschule in Potsdam, einem derSchulpreisträger des Jahres 2007, alsauch in der Waldhofschule Templinist die Note nur mehr ein Übel. Eswird möglichst erst am Ende derSchulzeit eingesetzt. Schulintern prak-tizieren beide Schulen aber ein völliganderes System von Diagnose – eines,das durch Lob und Ermunterung dieStärken der Schüler sichtbar und er-fahrbar machen will.

Die Zensur ist das zentrale Steue-rungsinstrument des alten Lernens.Eines Lernens, das sich dadurch aus-zeichnet, dass sich der Schüler demvorhandenen Schulsystem anzupassenhat. Das bedeutet unweigerlich, dass erbewertet, zensiert und in Fällen abge-schult wird. Die Note ist an den Über-gangsstellen also dazu da, die Schwä-chen des Schülers bloßzulegen. Einpaar Kinder sollen zurück bleiben. Dasist die alte, immer noch gültig Philo-sophie der Regelschule.

Der Entwicklungsbericht und dasSchüler-Lehrer-Elterngespräch sind dieInstrumente, um beim neuen Lernendie Stärken des Schülers zu entdeckenund auszubauen. Er muss nicht sortiertwerden, weil er nicht im Gleichschrittmit einer frontal beladenen Gruppemithalten muss. Es geht darum, dieindividuellen Fähigkeiten und Talentedes einzelnen Schülers ausfindig zumachen. Daher ist der Frontalunter-richt in guten Schulen das am wenig-sten benutzte pädagogische Format. Es gibt stattdessen Frei- und Wochen-planarbeiten, bei denen der Schülerrelative Freiheiten erhält, seine Kompe-tenzen einzuüben und zu steuern. Esgibt Werkstätten und Projekte, in de-nen die Schüler sogar weitgehende,manchmal absolute Freiheiten erhalten,sich eigene Themen und Fragestellun-gen zu wählen.

Wem das zu theoretisch erscheint,der sei an Matthias Platzeck und an

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christian füller – jan in der sackgasse

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Jan verwiesen. Jans Talente zu ent-decken und ihn nicht etwa in einerSonderschule einer so genannten re-duktiven Didaktik auszusetzen, kannnur in selbständigen Lernformen gelin-gen. Die ständige Note wäre für einenSchüler wie Jan Gift. Sie würde ihmund den Schülern ständig vor Augenführen, wo seine Schwächen liegen.Aber auch für Schüler, die schnellerund fordernder sind, ist die individuelleMethode mehr Wert – weil sie keinenmehr zwingt, auf den hinterher trotten-den Klassenverband zu warten. Indivi-duelle Projekte und Aufgaben erlaubenhöhere Geschwindigkeiten, mehr Mo-tivation, größere Tiefenschärfe.

Umbau auf Lernen 2.0

Heute fordern vor allem die großenIndustrieunternehmen von ihren Mit-arbeitern die Fähigkeit, eigenständig undim Team nach Lösungen für neue Pro-bleme zu suchen. Schüler guter Schulenmit individuellen Methoden trainierendas täglich. Schüler gegliederter Systemeüben das eher zufällig. Und sie motivie-ren nicht, sondern demütigen im Ge-genteil bestimmte Schülergruppen soregelmäßig, dass sie für individuelleArbeiten schwer zu gewinnen sind.

Zwischen guten Schulen und einertechnologisch hochwertigen Produk-tion gibt es genauso eine Verbindungwie zwischen Regelschulen und einerwachsenden Dichte prekärer Milieus.

Diese Verbindung ist die Demografie.In Zeiten schrumpfender Gesellschaf-ten darf und kann man kein Kindzurück lassen. Weder aus moralischennoch aus ökonomischen Gründen. BeiSchulreformen ist es wahrscheinlichwie bei Schwangerschaft – es geht nurganz oder gar nicht. Ein bisschenSchulreform ist unmöglich. Die Ge-sellschaft, die Wirtschaft, der Staat müs-sen sich entscheiden, was sie wollen.Chancen für möglichst jeden Schüler –das bedeutet einen radikalen Umbauauf Lernen 2.0. Das Lernen1.0, sprichein Unterrichtsarrangement à la Feuer-zangenbowle, stammt aus dem letztenJahrhundert. Es hat uns wie die neue-ren Längsschnittstudien des Wissen-schaftszentrums zeigen, sich verfesti-gende Nachteilsmilieus beschert. Diegute Schule, die nicht mehr frontalWissen verlädt, sondern individuellTalente entdecken und Potenziale ent-wickeln hilft, ist die zum vorsorgendenSozialstaat gehörende Basiseinheit.

Matthias Platzeck hat also Rechtund unrecht zugleich. Ja, er besitzt dasrichtige Konzept des Chancensozial-staats, bei dem nicht mehr die Bis-marckschen Versicherungen, sondernein exzellentes Bildungssystem im Vor-dergrund stehen. Nein, er sollte nichtzulassen, dass gute Schulen nicht mehrmit dem nötigen Enthusiasmus geför-dert und entwickelt werden.

Die Geschichte von Jan ist übrigensnoch nicht zu Ende. Bald kommt er in

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die siebte Klasse. Aber eine siebteKlasse, die integrativen Unterrichtmacht, gibt es in seiner Nähe bislangnicht. Also müsste er wieder in eineSonderschule. Man sieht seinen

Eltern an, wie sehr sie diesen Mo-ment hassen, in dem klar wird, dasses keine gute Schule für ihr Kindgibt. Und man sieht, dass sie wiederdafür kämpfen werden. n

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christian füller – jan in der sackgasse

Was zeichnet gute Schulen aus?

Der Autor hat die fünf besten deutschen Schulen besucht. Sie stammen aus fünf Bun-desländern und fünf verschiedenen Schulformen. Interessant war die Frage: Was habensie gemeinsam? Tatsächlich lassen sich eine Reihe verallgemeinerbarer Schlüsse zie-hen. Gute Schulen lehren uns sieben Lektionen:

1. Schulen müssen Regeln brechen, um wirklich gut zu werden.

2. Sie brauchen einen starken Möglichmacher, das ist meistens ein charismatischer Schulleiter,der die Schule lenkt und in ihr einen reformpädagogischen Geist verbreitet.

3. Gute Schulen sind immer von einem Grundprinzip durchdrungen, das für die deutsche Auslese-und Sitzenbleiberschule ungewöhnlich ist: Sie haben Respekt vor ihren Schülern.

4. Dieser Respekt drückt sich darin aus, dass Schüler anders lernen, individuell und in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Dazu haben gute Schulen eine Vielzahl von Lehr- und Lernformenentwickelt (z. B. Projekte, Werkstätten, Freiarbeit, Lernlabore), die nur noch selten Frontal-unterricht enthalten.

5. Gute Schulen geben ihren Schützlingen eine Vielzahl von Hilfen. Weil Kinder heute oft nichtdidaktische Kniffe brauchen, sondern verlässliche Beziehungen.

6. Die guten Schulen haben beeindruckende Lehrer, die nicht mehr Einzelkämpfer sind, sondernin Teams arbeiten.

7. Und sie werden nicht allein vom Staat betrieben. Sie haben so gute Außenbeziehungen zu ihrer lokalen Umwelt, Unternehmen, Vereinen, Wohnungsbaugesellschaften, Behörden undnicht zuletzt zu den Eltern, dass der Einfluss des Staates dort deutlich relativiert wird.

C H R I S T I A N F Ü L L E R

ist Journalist bei der Berliner tageszeitung „taz“ und Autor des Buches „Schlaue Kinder, schlechte Schulen“.

Am 2. April erscheint sein neues Buch „Die Gute Schule: Wo unsere Kinder gerne lernen“, in dem das Prinzip der 100 besten deutschen

Schulen beschrieben wird – darunter die Waldhofschule in Templin.

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PERSPEKTIVE 21: Sachsen belegte beimjüngsten PISA-Test in allen drei Diszi-plinen – Naturwissenschaften, Mathe-matik und Lesekompetenz – den erstenPlatz. Ist das Zufall? MARTIN DULIG: Sicher nicht. Wir konn-ten zum einen auf ein großes Potentialaufbauen – nämlich polytechnisch undgut ausgebildete Lehrer. Und dann hatSachsen zu Beginn der neunziger Jahreeine richtige Entscheidung getroffenund das westdeutsche dreigliedrigeSchulsystem eben nicht übernommen.Stattdessen haben wir mit den Mittel-schulen die Haupt- und Realschule un-ter einem Dach untergebracht. Unddiese Struktur ist seit der Wende relativstabil. Das alles scheint sich auszuzah-len. Allerdings dürfen wir auch nichtvergessen, dass dieser erste Platz nur rela-tiv ist. Ein Grund liegt darin, dass andereschlechter sind. Sachsen und Thüringenpunkten auch wegen ihrer homogenenSozialstruktur.

Nach der ersten PISA-Studie hat Sachsenvor allem Veränderungen im Grund-

schulbereich vorgenommen. Wie sahendie aus? DULIG: Zunächst einmal geht es um dieLernmethoden. Die Grundschulen ha-ben am besten und schnellsten ihre Me-thoden überprüft – und nehmen jetztmehr auf individuelle LernprozesseRücksicht, machen zum Beispiel Pro-jektunterricht. Es gibt eine flexibleSchuleingangsphase, bei der Kinder sich bis zum Ende des zweiten JahresZeit nehmen können, das erste Schul-jahr zu absolvieren. Die Verzahnungmit den Kitas läuft viel besser. Im letz-ten halben Jahr vor der Einschulungsind Grundschullehrer für drei Stundendie Woche an der Kita. Ein Bildungs-plan für das letzte Kita-Jahr wurde ge-setzlich verankert. All das braucht seineZeit, aber es scheint sich langfristig po-sitiv auszuwirken.

Also hat Sachsen alles richtig gemacht? DULIG: Im Rahmen des bestehendenSystems wurde sicher vieles richtig ge-macht. Und sicher spielen die Struktu-ren auch eine Rolle. So ist auffallend,

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Ende der Osterhasen-PädagogikÜBER DEN SÄCHSISCHEN PISA-ERFOLG, DEN GLANZ VON GOLD UND

WAS MAN VON SACHSEN LERNEN KANN SPRACH THOMAS KRALINSKI

MIT MARTIN DULIG

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dass es in Sachsen deutlich wenigerSchüler mit schwach ausgebildetenKompetenzen gibt als in anderen Bun-desländern. Auf der anderen Seite ha-ben wir aber eine genauso schwacheSpitze wie in Deutschland insgesamt.Die Veränderungen bei PISA von 2000bis 2006 sind mit Strukturveränderun-gen aber kaum zu erklären. Die Diskus-sionen um die PISA-Studien haben vorallem bewirkt, dass Lehrer ihren Blickauf das Lernen und die Schüler geänderthaben. Das fiel glücklicherweise damitzusammen, dass eine neue Generationvon Lehrplänen eingeführt wurde.Nicht mehr Wissensvermittlung, son-dern der Erwerb von Kompetenzen stehtim Vordergrund. Da hat eine sanfte Re-volution von innen stattgefunden. Undzwar ganz ohne Gesetzesänderungen.

Was heißt das? DULIG: Es gibt heute mehr Projekt-unterricht und mehr fächerübergreifen-den Unterricht. Die Lehrer wendenneue Methodik und Didaktik an. Vielehaben verstanden, dass der Frontal-unterricht die Methode des 19. Jahr-hunderts ist. Für die Schule des 21.Jahrhunderts brauchen wir eine andereSchul- und Lernkultur.

Und wie soll die aussehen? DULIG: Das Gehirn ist keine Festplatte,wo man was draufspielt, es in Ordnerpackt und dann wieder abruft. Lernenfunktioniert anders. Es hat etwas mit

der Lebenswelt des Lernenden zu tun.Deshalb brauchen wir eine andereLernkultur, die stärker auf Selbstver-antwortung setzt. Lernen bedeutetKompetenzerwerb. Und dabei müssendie Lehrer jungen Menschen helfen.Was wir bisher hatten, war „Osterha-senpädagogik“: Der Lehrer versteckt dasWissen und freut sich, wenn die Kinderes finden. Dieses Prinzip müssen wirüberwinden. Und dabei sind wir schonein gutes Stück voran gekommen.

Schulen brauchen Autonomie

Aber offenbar nicht überall. Denn auchin Sachsen sind in den vergangenenJahren viele freie Schulen entstanden. DULIG: Ja und zwar nicht aus Frust, weilin einem Ort die Schule mangels Kin-dern geschlossen werden musste. Nein,die Eltern wollen bessere Schulen ha-ben. Die freien Schulen müssen zwardieselben Lernziele erreichen wie diestaatlichen Schulen. Sie haben dabeiaber mehr Freiheiten und mehr Mög-lichkeiten von starren Regeln abzuwei-chen. Mein Ziel ist, dass die staatlichenSchulen genauso attraktiv sind wie diefreien Schulen. Sie brauchen deshalbmehr Autonomie und mehr Verant-wortung. In den Schulen selbst steckendie Kompetenzen und die Ressourcen.Wenn eine Schule für sich selbst verant-wortlich ist, wird sie auch besser. Wiedas funktioniert, kann man gut an denskandinavischen Schulen sehen.

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Was kann man noch von denen lernen? DULIG: Dass Lernpläne Bildungszielebeschreiben sollten – und nicht jedeneinzelnen Schritt, was man wann wie imUnterricht zu behandeln hat. Wichtigist aus meiner Sicht die Erkenntnis, dasslängeres gemeinsames Lernen besser fürdie Kinder ist.

Mehr gemeinsames Lernen

Warum? DULIG: Wir wissen, dass die Sortierungder Kinder nach der 4. Klasse keine sau-bere Trennung nach dem Leistungsni-veau ist. In Sachsen könnte die Hälfteder Mittelschüler gemessen an ihrenLeistungen das Abitur ablegen. Ande-rerseits senken wir das Niveau an denMittelschulen, wenn wir ihnen die Leis-tungsspitzen nehmen würden. Undauch die 7. Klasse ist zu früh, weil dasfür viele Kinder ein schwieriges Alter ist.

Deshalb setzt sich die sächsische SPD fürdie Gemeinschaftsschule ein? DULIG: Ja, dort soll das gemeinsameLernen mindestens bis zur 8. Klasse ge-hen. Verbunden mit viel mehr Verant-wortung vor Ort und einer anderen offeneren Lernkultur nimmt so eineSchule des 21. Jahrhunderts Gestalt an.Diese Schulen hat die SPD nach derRegierungsbeteiligung 2004 durchge-setzt. Zwar nur als Schulversuch an bis-her acht Standorten, zu denen in die-sem Jahr noch vier hinzukommen

können. Das ist ein guter Anfang.Entscheidend ist: Es gibt die Gemein-schaftsschulen und sie sind ein Erfolgs-modell. Ideologische Grabenkämpfeverlieren sich schnell vor Ort. Selbst inCDU-Kommunen gibt es mittlerweileGemeinschaftsschulen – eben weil dasKonzept überzeugt. Und dass solcheSchulen gute Leistungen bringen, zei-gen nicht nur die internationalen Vor-bilder sondern zum Beispiel auch dasChemnitzer Schulmodell. Dort lernendie Kinder sogar bis zur 10. Klasse zu-sammen – und anschließend machenmehr als 50 Prozent Abitur. Gemein-sames Lernen fördert also auch die Leis-tung, wenn es pädagogisch verantwort-lich gestaltet wird.

Keine Patentlösungen

Längeres gemeinsames Lernen bedeutetdann aber auch, sich von der Zweiglie-drigkeit des Schulsystems zu verabschie-den? DULIG: Wenn gesagt wird, Sachsen sei sogut bei PISA weil wir ein zweigliedrigesund kein dreigliedriges Schulsystem ha-ben – dann sage ich: Stellt Euch vor, wiegut wir erst sein werden, wenn wir eineingliedriges System haben. Die Effektewären riesig. Deshalb wollen wir dieGemeinschaftsschule zum Regelfall ma-chen. Aber wie gesagt: Es geht nicht nurum die Struktur, sondern auch um dieLernkultur. Vor allem die muss sich ver-ändern – und das wird Zeit brauchen.

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mit martin dulig – ende der osterhasen-pädagogik

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Trotz aller Erfolge ist auch in Sachsennicht alles Gold, was glänzt. Die Zahlder Förderschüler ist ähnlich hoch wie inanderen Bundesländern. DULIG: Hinzu kommt, dass 80 Prozentder Förderschüler am Ende keinen Ab-schluss haben. Sachsen bietet in SachenBildung keine Patentlösungen. Wir ha-ben ähnliche Probleme wie andereBundesländer auch. Fast zehn Prozentder Schüler verlassen bisher die Schuleohne Abschluss. Seit 1991 sind das100.000 – eine unvorstellbar großeZahl. Es ist ja gut, wenn viele junge

Menschen auch die Förderung bekom-men, die sie brauchen. Aber das darfnicht dazu führen, dass Schüler ausge-sondert werden. Deshalb ist es unserZiel, die Förderschulen überflüssig zumachen. Die Förderschüler müssen indie Regelschulen integriert werden,auch um die Kinder weniger zu stigma-tisieren. Und dort brauchen sie indivi-duelle Förderung. Dafür müssen wirden Schulen die Ressourcen nicht mehrnur nach der Zahl der Schüler sondernauch nach dem Förderbedarf der Schü-ler zur Verfügung stellen. n

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M A R T I N D U L I G

ist Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag.

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88 märz 2009 – heft 40

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Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

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Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wir

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