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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 42 AUGUST 2009 www.perspektive21.de WIE DIE FRIEDLICHE REVOLUTION GELANG 1989 - 2009 GÜNTER BAASKE: Gut für Deutschland, gut für Brandenburg KLAUS NESS: Türen und Fenster auf THOMAS KRALINSKI: 700 Tage, die die Welt veränderten MARKUS MECKEL: Die Ost-SPD und der Weg zur deutschen Einheit GÜNTHER JAUCH, PEER STEINBRÜCK, MANFRED STOLPE, HANS-OTTO BRÄUTIGAM, RAINER SPEER, MARTINA MÜNCH, JÖRG SCHÖNBOHM und HEINZ VIETZE: Wendegeschichten – Mein 1989 JULI ZEH: „Hier jammert niemand“ MATTHIAS PLATZECK: 1989 – 2009 – 2029 FELIX RINGEL: Willkommen in Hoytopia

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1989-2009 - WIE DIE FRIEDLICHE REVOLUTION GELANG

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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 42 AUGUST 2009 www.perspektive21.de

WIE DIE FRIEDLICHE REVOLUTION GELANG

1989-2009GÜNTER BAASKE: Gut für Deutschland, gut für Brandenburg

KLAUS NESS: Türen und Fenster auf

THOMAS KRALINSKI: 700 Tage, die die Welt veränderten

MARKUS MECKEL: Die Ost-SPD und der Weg zur deutschen Einheit

GÜNTHER JAUCH, PEER STEINBRÜCK, MANFRED STOLPE,HANS-OTTO BRÄUTIGAM, RAINER SPEER, MARTINA MÜNCH,JÖRG SCHÖNBOHM und HEINZ VIETZE: Wendegeschichten – Mein 1989

JULI ZEH: „Hier jammert niemand“

MATTHIAS PLATZECK: 1989 – 2009 – 2029

FELIX RINGEL: Willkommen in Hoytopia

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| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen

20 Jahre nachder friedlichenRevolution von 1989:

Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutsch-land jetzt?

224 Seiten,gebunden

Eine persönliche Bestandsaufnahme

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1989 - 2009Vor 20 Jahren vibrierte es in der DDR und in Osteuropa. Heute nimmt auch

die Perspektive 21 den Jahrestag der Friedlichen Revolution zum Anlass, einwenig zurückzublicken. Dazu haben wir den Mitbegründer der SDP, MarkusMeckel, um seinen Blick auf den Vereinigungsprozess gebeten. Eine ganze Reihevon Persönlichkeiten schildert ihre ganz privaten „Wende-Erlebnisse“. Aber wirwollen nicht nur in den Rückspiegel schauen. Deshalb wirft Matthias Platzeck einen Blick auf die Aufgaben, die uns in Ostdeutschland in den kommenden 20Jahren erwarten.

Mit der vergangenen Ausgabe der Perspektive 21 waren wir der Zeit ein kleinwenig voraus – und darauf sind wir sehr stolz. In jenem Heft erläuterte HaraldChrist seine Vorstellungen, wie die Wirtschafts- und Finanzkrise bewältigt wer-den kann. Heute ist er im Regierungsteam von Frank-Walter Steinmeier fürMittelstandsfragen zuständig.

Zweifellos ist die Lage der SPD vor der Bundestagswahl nicht einfach – aber„die Lage ist offen“. Ich bin sicher, mit Selbstbewusstsein und Überzeugungs-kraft können wir am 27. September unsere Wahlziele erreichen – im Bund undin Brandenburg. Der „Deutschland-Plan“ von Frank-Walter Steinmeier ist eingutes Beispiel, wie man eine Vision mit konkreten Antworten verbinden kann.Günter Baaske erläutert in diesem Heft, warum der Deutschland-Plan gut fürDeutschland und gut für Brandenburg ist.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen

IHR KLAUS NESS

vorwort

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impressum

HERAUSGEBER

¢ SPD-Landesverband Brandenburg

¢ Wissenschaftsforum der Sozialdemokratiein Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel

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Alleestraße 914469 PotsdamTelefon 0331/ 730 980 00Telefax 0331 / 730 980 60

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inhalt

5perspektive21

1989 - 2009WIE DIE FRIEDLICHE REVOLUTION GELANG

MAGAZINGÜNTER BAASKE: Gut für Deutschland, gut für Brandenburg .............................. 17

Frank-Walter Steinmeiers Deutschland-Plan ist mutig und vor allem: machbar

KLAUS NESS: Türen und Fenster auf .................................................................. 111

Warum das Wahljahr für die Sozialdemokraten eine große Chance bereit bereithält

THEMA700 TAGE, DIE DIE WELT VERÄNDERTEN: Was 1989 und 1990 in Europa geschah .. 17

Zusammengestellt von Thomas Kralinski

MARKUS MECKEL: Die Ost-SPD und der Weg zur Deutschen Einheit .................. 35

Die ostdeutschen Sozialdemokraten wollten Freiheit und eine selbstbestimmte Einheit

GÜNTHER JAUCH, PEER STEINBRÜCK, MANFRED STOLPE,HANS OTTO BRÄUTIGAM, RAINER SPEER, MARTINA MÜNCH,JÖRG SCHÖNBOHM UND HEINZ VIETZE: Wendegeschichten – Mein 1989 ............ 51

JULI ZEH: „Hier jammert niemand“ ...................................................................... 69

Über Ost, West, Nord und Süd, Wendeerfahrungen und das Leben in Brandenburg

MATTHIAS PLATZECK: 1989 – 2009 – 2029 .......................................................... 75

10 Thesen über das neue Ostdeutschland

FELIX RINGEL: Willkommen in Hoytopia ............................................................ 89

Über die Schrumpfung einer einstigen sozialistischen Modellstadt und die neue ostdeutsche Avantgarde

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6 dezember 2007 – heft 36

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Gut für Deutschland, gut für Brandenburg FRANK-WALTER STEINMEIERS DEUTSCHLAND-PLAN

IST MUTIG UND VOR ALLEM: MACHBAR

VON GÜNTER BAASKE

„Am besten sagt man die Zukunft voraus, indem man sie selbst gestaltet.“Peter Drucker

E s war die größte Rezession der Nachkriegszeit, Banken brachen zusammen,die Exporte gingen massiv zurück, Unternehmen strauchelten, die Zahl der

Arbeitslosen stieg rasant, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte explo-dierte. Das alles ist gut 15 Jahre her. Anfang der neunziger Jahre wurden Finn-land und Schweden von einer Wirtschafts- und Strukturkrise getroffen, wie siediesen Ländern zuvor noch nicht widerfahren war. Mit harter Arbeit und einerVision von moderner Arbeit, aktivem Sozialstaat und guter Bildung haben sichdie beiden Länder aus der Krise herausgearbeitet. Nach zehn Jahren verzeichne-ten die Staatshaushalte der beiden Länder Überschüsse, die Arbeitslosenquotehatte sich mehr als halbiert, beide Länder gehören zu den wettbewerbsfähigstenauf der Welt.

Andere Länder machen es vor

Finnland und Schweden haben gezeigt, dass man sich aus einer Krise nur miteiner tauglichen strategischen Vision befreien kann. Aber dazu gehört es eben,ein Ziel anzupeilen und dann die Wege zu beschreiben, die man gehen muss,um dieses Ziel zu erreichen. Genau das hat Frank-Walter Steinmeier mit sei-nem „Deutschland-Plan“ getan. Das Konzept mit dem Namen „Die Arbeit derZukunft“ ist sehr gründlich, sehr klug und sehr verantwortungsvoll. Genau wiesein Autor.

Steinmeier „verspricht“ mit dem Konzept keine vier Millionen Arbeitsplätze.Er formuliert Ziele – und er zeigt auf, wie sie sich realisieren lassen. Er beschreibt,welche Weichen wir stellen müssen, damit in Deutschland in den nächsten zehn,

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zwölf Jahren etwa vier Millionen Arbeitsplätze entstehen können. Und zwardurch n den intelligenten Umbau unserer Industrie. Dabei geht es um moderne Ma-

schinen mit weniger Energieverbrauch, Autos mit neuen Antrieben, neueProduktionsprozesse und natürlich die dazugehörige Software.

n eine Allianz für den Mittelstand. Dabei geht es um bessere Finanzierung für kleine und mittlere Unternehmen, um mehr Unterstützung von Forschungund Entwicklung. Denn die meisten Arbeitsplätze entstehen in den flexiblenkleinen Unternehmen.

n gezielte Investitionen in den Gesundheitssektor. Dabei geht es um neue Jobsin der Kranken- und Altenpflege, in der Medizintechnik und integrierte medi-zinische Versorgung.

n mehr Bildung und bessere Integration. Es geht um mehr Bildung für alle vonAnfang an, um den Ausbau der Kinderbetreuung, um mehr Studienplätze undviel weniger Schulabbrecher.

Wir haben schon viel erreicht

Diese Ziele sind ambitioniert, aber wir können sie erreichen. Und dabei wirdleicht übersehen, dass wir auch schon in den vergangenen Jahren die Kraft hat-ten, hochgesteckte Ziele zu erreichen: n Mit den Arbeitsmarktreformen hatten wir das Ziel verknüpft, die Arbeitslosig-

keit zu halbieren. Anfang 2005, zum Start der Hartz-Reformen, gab es in Bran-denburg 280.000 Arbeitslose, heute – im Sommer 2009 – sind es 160.000. Kein Zweifel, die Arbeitslosigkeit ist immer noch zu hoch. Kein Zweifel, derRückgang vollzog sich langsamer, als wir gehofft hatten. Kein Zweifel, die Ar-beitsagenturen können immer noch besser werden. Aber immerhin ist die Zahlder Arbeitslosen in den vergangenen Jahren um 43 Prozent zurückgegangen.Das ist eine gute Basis um weiterzumachen. Denn noch ist unsere Arbeitsver-mittlung nicht die beste der Welt.

n Energie ist eines der zentralen Zukunftsfelder, schon allein weil Energie- undRohstoffkosten heute für 40 Prozent der Kosten in der Industrie verantwortlichsind. Wir brauchen also Autos und Maschinen, die weniger verbrauchen und effizienter sind. Wir brauchen Energiequellen, die uns unabhängiger von denWeltmärkten machen. Deshalb bauen wir die erneuerbaren Energieträger aus –seit 2000 hat sich die Stromerzeugung aus diesen erneuerbaren Energien ver-dreifacht. Und das bedeutet nichts anderes als Arbeitsplätze hier bei uns. Bei

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den erneuerbaren Energien bestehen bereits heute in Brandenburg fast 6.000Arbeitsplätze – das ist eine Verdoppelung innerhalb von fünf Jahren. Bei glei-cher Dynamik – und jeder erwartet, dass der Ausbau der erneuerbaren Energieneher schneller erfolgt – würden in Brandenburg schon in den kommendenJahren noch einmal 6.000 Jobs entstehen. Das wären auf Deutschland hochge-rechnet etwa 200.000 allein in diesem Sektor.

n Wenn Menschen älter werden – und das werden wir zum Glück –, wird die Ge-sundheitswirtschaft ein immer wichtigerer Wirtschaftszweig. 2005 wurde einevielbeachtete Fachkräftestudie für Brandenburg vorgelegt. Die Autoren derStudie rechneten damit, dass in den fünf Jahren bis 2010 in unserem Land fast4.000 Arbeitskräfte im Bereich der Pflegedienstleistungen gebraucht würden.Niemand hatte diese Zahlen damals angezweifelt, denn der Bedarf wird weitersteigen. Und zwar schon deshalb, weil sich in Zukunft die Zahl der über 80-Jäh-rigen verdoppeln wird. Deshalb ist es heute wichtig, für diese neuen Berufe undDienstleistungen zu werben, deshalb ist es heute wichtig, in diesen Bereichenauszubilden.

All das passiert nicht von allein. Sondern nur, wenn man weiß, welche Zieleman verfolgt – und welche Maßnahmen ergriffen werden können. Deshalb ist esauch so unverständlich, warum manche Frank-Walter Steinmeiers Konzept fürdie „Arbeit von morgen“ schon verdammt haben, bevor sie es überhaupt lesenkonnten. Bei FDP und CDU/CSU wussten sie sofort, was alles nicht geht. Nureins war und ist aus dieser Richtung nicht zu hören: eigene Ideen für neue Ar-beitsplätze. Wahrscheinlich hat man bei Schwarz-Gelb auch keine – sondern nurdie alte Tagesordnung. Und nach der müssten wir einfach mit unkontrolliertenMärkten weitermachen und die Deregulierung vorantreiben. Nach der Lektüreder 66 Seiten des Steinmeier-Papiers könnte ich jede Seite unterschreiben – undich kann nicht verstehen, was an dem Plan falsch sein soll.

Neuer Weg anstatt alter Trott

Wahlkampf ist nichts anderes als ein Wettkampf der Ideen und der Konzepte.Mit Frank-Walter Steinmeiers Vorschlag haben wir jetzt ein Konzept, dass sichgerade nicht auf reines Krisenmanagement beschränkt. Es zeigt einen Weg auf,wie wir unsere soziale Marktwirtschaft erneuern und dabei zugleich das „Soziale“größer schreiben können. „Kinder, sagt mir nich, dass et nich jeht“, hat RegineHildebrandt immer dann unnachahmlich formuliert, wenn sie vor einem neuen

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günter baaske – gut für deutschland, gut für brandenburg

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Problem stand. Genau dies könnte das Motto des Deutschland-Plans sein. Hierwerden neue Wege beschrieben, wie wir in der Wirtschafts-, in der Bildungs-, inder Familien-, Umwelt und Energiepolitik so vorankommen, dass unser Landstärker wird. Nichts Geringeres als das brauchen wir in der tiefsten Wirtschafts-krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir können nicht zurück zum alten Trott –wir brauchen einen Aufbruch zum Neuen und Besseren. Wer hingegen dieMassenarbeitslosigkeit nicht bekämpfen will und sich mit Millionen von Ar-beitslosen abgefunden hat, soll es auch sagen und besser zu Hause bleiben.

Die Zukunft entscheidet sich jeden Morgen um acht

Und für diesen Aufbruch hat Frank-Walter Steinmeier auch Hausaufgaben ver-teilt. Für Bildung verantwortlich sind wir in den Ländern. Und Bildung ist daswichtigste überhaupt. Ohne Bildung keine Fachkräfte, ohne Bildung kein Job,ohne Bildung keine Chance auf sozialen Aufstieg. Die Zukunft entscheidet sichjeden Morgen um acht – in der Schule, in der Kita oder in der Hochschule.Deshalb haben wir uns in Brandenburg vorgenommen, unser Schulsystem deut-lich zu verbessern. Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen – aber immerhinhat unser Land bei der letzten PISA-Bildungsstudie unter allen Bundesländernden größten Sprung nach vorn gemacht. In die Kitas werden wir in den kom-menden fünf Jahren 125 zusätzliche Millionen Euro investieren. Und wir werdenbei der Bildung für mehr Durchlässigkeit sorgen – mit einem Schüler-Bafög unddem Schulsozialfonds – aber ganz sicher ohne Studiengebühren.

Von Bertolt Brecht stammt der schöne Satz: „Wer kämpft, kann verlieren; wernicht kämpft, hat schon verloren.“ Für uns Sozialdemokraten lohnt es sich zukämpfen – und zu gewinnen. Denn wir haben gute Ideen und klare Ziele. Dieanderen nicht. ¢

G Ü N T E R B A A S K E

ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Brandenburger Landtag.

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Türen und Fenster auf WARUM DAS WAHLJAHR FÜR DIE SOZIALDEMOKRATEN

EINE GROSSE CHANCE BEREIT BEREITHÄLT

VON KLAUS NESS

D as ist ein außergewöhnliches Wahljahr. Es ist nicht nur die Fülle der Wah-len: von der Bundespräsidentenwahl über acht Kommunal- und sechs Land-

tagswahlen bis hin zur Bundestagswahl. Zum ersten Mal seit der Vereinigungerlebt Deutschland einen Wahlkampf, bei dem die beiden großen Parteien, SPDund CDU, sich als Partner in der Regierung und Gegner gleichzeitig gegenüber-stehen. Weitaus prägender dürfte jedoch sein, dass das Wahljahr mit der größtenRezession seit dem Kriegsende einhergeht. Wenn man alle Jahre mit „Minus-wachstum“ seit 1949 zusammenrechnet, kommt man nicht auf das Ausmaß derWirtschaftskrise des Jahres 2009: -6 Prozent. Das allein macht deutlich, dass esJahre dauern wird, bis dieser ökonomische Einbruch überwunden sein wird.

Noch weiß keiner, wie sich dieses einmalige Ereignis in Wählerstimmen überset-zen wird. Aus den vergangenen beiden Wahlen dieses Jahrzehnts, 2002 und 2005,wissen wir dreierlei: Die Mobilisierung der sozialdemokratischen Wähler setzte erst(sehr) spät ein – und entschied den Ausgang der Bundestagswahlen auf den letztenMetern. Ferner ließ sich der (relative) Erfolg der SPD bei beiden Wahlen auch eherkulturell und personell begründen – und weniger über die wirtschaftspolitischeHoheit. Hinzu kam der Sieg der SPD im Osten, der entscheidend dazu beigetragenhat, dass Gerhard Schröder Kanzler blieb (2002) und die SPD auf Augenhöhe mitder CDU kam (2005). Aber wirken diese „Erfahrungen“ auch 2009?

Die Krise ist nicht angekommen

Zuerst ein Blick auf die politisch-ökonomische Gesamtlage in der Mitte desJahres 2009. Vollkommen überraschend ist die scharfe ökonomische Krise in denKöpfen der Deutschen (noch) nicht wirklich angekommen. Als sich der Einbruchim vergangenen Herbst abzeichnete, rechnete jeder mit einem schnellen Stim-mungsumschwung in Deutschland. Denn schon in den wirtschaftlich gutenJahren 2006 und 2007 hatten die Deutschen eher zurückhaltend reagiert: Der Auf-schwung sei bei ihnen nicht angekommen. Letzteres gilt nun offenbar auch fürdie Krise. Der Zufall wollte es, dass um die Jahreswende etliche Tariflohnsteige-

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rungen in Kraft traten, die nunmehr – angesichts einer Inflation von nahe Null –richtig etwas wert waren. Durch geschicktes Krisenmanagement und Ausnutzenaller Stabilisatoren – Kurz- und Zeitarbeit, leichte Einkommenssteuersenkungen,Konsumprämien, Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen – will die Krise diePortemonnaies der Deutschen so gar nicht erreichen. Das führt zu einer verhält-nismäßig gelassenen Stimmung und einer Konsumneigung, die sich Politiker undÖkonomen seit Jahren immer gewünscht haben. Auch wenn einzelne Branchenund Regionen sehr unterschiedlich von der Finanz- und Wirtschaftskrise betrof-fen sind: Die Grundstimmung der Deutschen ist nach wie vor erstaunlich po-sitiv. Das muss nicht so bleiben, hält aber nun auch schon über alle Krisen beiHRE, Commerzbank, Opel, Karstadt, Schaeffler und wie sie alle heißen, hinwegan.

Zwischen Realität und Illusion

Parallel dazu ist die öffentliche Meinung innerhalb weniger Monate von einemeher neo-liberalen zu einem nachfrageorientiert-interventionistischen Mainstreamumgeschlagen – und stützt damit eine ohnehin eher ganz grundsätzlich sozialde-mokratische Grundstimmung im Land. Auch wenn die SPD selbst von dieserGrundstimmung (noch) nicht profitiert. Gleichzeitig hatten alle Kommentatorenin der Krise einen Aufschwung der Linkspartei erwartet, die sich in der Vergan-genheit doch am ehesten als große Kritikerin der real-existierenden kapitalistischenVerhältnisse generiert hatte. Doch dieser Aufschwung ist schlicht ausgeblieben.

Die alte PDS hat in den vergangenen 15 Jahren eine erstaunliche Wende voll-zogen: von der gehassten SED-Nachfolgerin zu einer von drei bestimmendenParteien im Osten, die in vielfacher Weise in Verantwortung steht. Die PDSstellt und stellte zahlreiche Bürgermeister, Landräte, Minister – und begriff sichin einigen Ländern auch zunehmend als Regierungspartei im Wartestand. Dasführte zu einer Entradikalisierung mancher Forderungen und zum Versuch, ausdem gesellschaftlichen „Ghetto“ der Wendeverlierer auszubrechen. Besondersdeutlich lässt sich dies anhand des Wahlprogramms der Linkspartei in Branden-burg sehen. Ein erster Entwurf sprach noch davon, die durchschnittliche Grup-pengröße in den Kitas von derzeit 14 Kindern auf 10 zu senken. Kostenpunkt fürdas Land: 50 Millionen Euro jährlich. Das würde die Ausgaben für die Kinder-tagesstätten um ein ganzes Drittel erhöhen – eine schlichte Illusion angesichts derschwieriger werdenden Haushaltslage. Im Laufe der Beratungen innerhalb vonFraktion und Partei wurde der Entwurf dann entschärft – man kann auch ein-

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fach sagen: realitätsnäher. Ziel ist nunmehr eine Gruppengröße von 12 Kindern.Das mag nicht revolutionär sein, aber immerhin erreichbar.

Zur gleichen Zeit verschärft die Bundespartei jedoch ihren Kurs – dort gilt dasPrinzip: schneller, höher, weiter. Ein Mindestlohn soll nicht bei 8 sondern bei 10Euro liegen, Hartz IV soll nicht mehr auf „nur“ 435 Euro sondern gleich auf 500Euro angehoben werden, ein neues Investitionsprogramm des Bundes nunmehr200 Milliarden Euro umfassen. Dem großen Vorsitzenden Lafontaine hörendabei immer weniger Menschen zu. Er macht dies wett mit immer härterer Rhe-torik, in der es nur so von „Verbrechern“ und „Schurken“ wimmelt – gemeintsind damit immer die Politiker der anderen Parteien. Die Umfragewerte derLinkspartei sind seit dem Herbst 2008 um gut ein Drittel gesunken. Doch derZoff fängt gerade erst an. Es zeigt sich, dass mit der Vereinigung von WASG undPDS doch nicht zusammengewachsen ist, was zusammen gehört. Denn im Westenbekriegen sich die Linken bei den Kandidatenaufstellungen und überziehen sichwechselseitig mit Anzeigen und Beschimpfungen. Moderate Linke aus demWesten flüchten in den Osten, manche Realos werden gar nicht erst aufgestelltoder auf hintere Listenplätze durchgereicht.

Die Linkspartei ringt mit sich selbst

Es zeigt sich nunmehr, dass die Lafontainetruppe im Westen eben doch eine An-sammlung von Selbstdarstellern, Sektieren und selbst ernannten Revolutionärenist. Auch die Gewerkschafter, die auszogen, mit der WASG „ordentliche“ linkePolitik zu machen, werden zunehmend an den Rand gedrängt. Dabei rächt sichauch, dass die Linkspartei bis heute kein Programm hat und einzig von den Ein-gebungen ihrer Vorsitzenden oder den wilden Ideen mancher Weltverbessererlebt. Die Folge: Im Westen haben sich die Umfragezahlen der Linken seit demHerbst mittlerweile nahezu halbiert.

Dabei wird auch den alten PDS-lern im Osten immer unwohler. Manchesprechen bereits davon, den „Kampf um die Partei“ verloren zu haben. VomStolz, mit der neuen Partei endlich im Westen angekommen zu sein, ist nichtmehr viel übrig. Man fängt an zu ahnen, dass die Krise der Linkspartei imWesten sich ganz schnell auch im Osten niederschlagen kann. Die Sprache derVerzweiflung spricht deshalb auch aus dem Aufruf „Ringen wir darum IN unse-rer Partei“ des reformorientierten Forums Demokratischer Sozialismus.

Denn manche haben bereits die Konsequenzen gezogen und sind ausgetreten,wie jüngst eine Europaabgeordnete, der Berliner Finanzexperte oder ein ehemaliger

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klaus ness – türen und fenster auf

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Stadtrat. Anzunehmen ist, dass der Exodus noch nicht zu Ende ist. Zu viel Unzu-friedenheit staut sich in den Ost-Landesverbänden auf. Er entlädt sich zum Beispielin mickrigen Resultaten bei den Wahlen ihres Spitzenpersonals – wie unlängst inBrandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Wer genau hinschaut, stellt außer-dem fest, dass der große Zustrom zur Linkspartei – von dem Lafontaine immerspricht – eher ein Rinnsal ist. Im Osten, wo nach wie vor drei Viertel der Linken-Parteimitglieder wohnen, gehen die Mitgliedszahlen unverändert zurück. Genaugesagt um 8 Prozent innerhalb der letzten zwei Jahre. Auch die Zahl der Neuein-tritte in die Linkspartei hat nachgelassen – und liegt entgegen mancher Vermutungum die Hälfte unter der Zahl der sozialdemokratischen Neumitglieder.

Die PDS verliert ihre Funktion

Es kann aber auch sein, dass mit der Gründung der Linkspartei schlicht etwas zuEnde geht, das auf tiefere Veränderungen im Osten zurückgeht. Zwanzig Jahrenach der Friedlichen Revolution entwickeln sich die ostdeutschen Regionenstärker auseinander. In einigen Gegenden herrschen mit vier oder fünf ProzentArbeitslosigkeit fast bayrische Verhältnisse, andere kämpfen immer noch mitAbwanderung und hoher Armutsquote. Bisher ist auch die Widerstandskraft derOst-Länder in der Wirtschaftskrise erstaunlich. Das mag auf der einen Seite mitder geringeren Fallhöhe, andererseits aber auch mit einer größeren „Krisenkom-petenz“ zu tun haben. Die Wirtschaftsstruktur der neuen Länder ist in den ver-gangenen Jahren robuster geworden, der Aufbau Ost hat sich Schritt für Schritt in die Gesellschaft eingearbeitet. Mit der Folge, dass die obere Mitte und dieOberschicht in den vergangenen Jahren gewachsen ist, während die Mitteschrumpft und das untere Drittel stabil bleibt.

Angesichts dieser Ausdifferenzierung der ostdeutschen Gesellschaft wird es des-halb in Zukunft schwieriger werden, reine „ostdeutsche“ Positionen zu beschreiben.Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt immer noch erhebliche wirtschaftli-che und soziale Unterschiede zwischen Ost und West. Aber auch innerhalb desOstens werden die Unterschiede größer – einschließlich der generationellen. Erst-mals wählen 2009 junge Menschen den Landtag oder den Bundestag, die erst nachder Vereinigung zur Welt gekommen sind – und die DDR nur noch aus Erzählun-gen oder dem Geschichtsbuch kennen. Es ist deshalb gut möglich, dass die PDS/Linke nunmehr 20 Jahre nach der Wende langsam aber sicher eine ihrer Funktio-nen verliert – die der „Heimatpartei Ost“. Die PDS hat in den ersten beiden Jahr-zehnten des vereinigten Deutschlands eine wichtige Rolle gespielt, indem sie große

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Teile der ostdeutschen Gesellschaft in die gesamtdeutsche integriert hat. DieseAufgabe scheint nun langsam aber sicher beendet zu sein. Die Linkspartei verliertein Alleinstellungsmerkmal im Osten – eben weil sie keine rein ostdeutsche Parteimehr ist und weil es „den“ Osten auch immer weniger gibt.

Neue Perspektiven

Das kann zur Chance für die Sozialdemokratie im Wahljahr werden. Die Bevöl-kerung vertraut der Linkspartei immer dann, wenn es darum geht, Probleme gut zu beschreiben. Als Problemlösungspartei wurde die Linke nie ernst genommen.Jetzt in der tiefsten wirtschaftlichen Krise rächt sich das. Denn die Menschen wol-len in schwierigen Zeiten Leuten vertrauen, die nicht nur mit immer schärferenSprüchen durchs Land laufen, sondern Leuten, die Probleme lösen – gerade inschwierigen Zeiten.

Die SPD ist im Osten schon immer die Partei der Mitte gewesen. Das hat denVorteil, dass sie all jene ansprechen kann, die mit Augenmaß und Vernunft regiertwerden wollen, ohne dass soziale Maßstäbe vergessen werden. Die SPD kann sichdabei ein ostdeutsches Wählerklientel erschließen, das sich den Aufstieg in den ver-gangenen Jahren hart erarbeitet hat, gleichwohl aber die soziale Balance im Landnicht mehr gesehen hat und so in den vergangenen Jahren eher bei der Linksparteiwar. In so unsicheren Zeiten wie in diesem Wahljahr bedeutet das, den Menschenzuzuhören, ihre Probleme ernst zu nehmen, Politik zu erklären und Zuversicht zuvermitteln. Denn die Verunsicherung über die Zukunft ist groß, darüber lässt sichnicht hinwegsehen. Gerade im Osten. Dann wäre es auch möglich, dass die Sozial-demokraten wie 1998, 2002 und 2005 auch wieder stärkste Kraft in den neuenLändern werden.

Und es geht zweitens darum, Türen und Fenster aufzumachen. Mancher Sozial-demokrat hat die strikte Weigerung der neugegründeten SDP nach der Wende,ehemalige SED-Mitglieder aufzunehmen, als historischen Fehler bezeichnet. Gutmöglich, dass dies jetzt, 20 Jahre später, ein wenig korrigiert werden kann. Die Zeitdafür ist reif. Ganz neue Perspektiven würden sich öffnen. ¢

K L A U S N E S S

ist Generalsekretär der SPD Brandenburg.

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klaus ness – türen und fenster auf

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1. JANUAR +++ WASHINGTON/MOSKAU

Der sowjetische Parteichef Gor-batschow und US-Präsident RonaldReagan halten erstmals Neujahrs-botschaften im jeweils anderen Land.

11. JANUAR +++ BUDAPEST +++

Das Parlament beschließt ein Vereins-und Versammlungsgesetz. Es erlaubtdie Bildung von Parteien, Gewerk-schaften und Vereinigungen sowiederen Recht auf Kundgebungen undDemonstrationen.

15. JANUAR +++ PRAG +++

Anlässlich des 20. Jahrestages derSelbstverbrennung von Jan Palachkommt es auf dem Wenzelsplatz zuDemonstrationen, die von der Polizeiniedergeknüppelt werden. 500 De-monstranten werden verhaftet, unterihnen Václav Havel, der zu neunMonaten Haft verurteilt wird.

19. JANUAR +++ OST-BERLIN +++

Auf einer Konferenz sagt Erich

Honecker, die Mauer werde noch in„50 und 100 Jahren bestehen bleiben“.

20. JANUAR +++ WASHINGTON +++

Der neue US-Präsident George Bushtritt sein Amt an.

29. JANUAR +++ WEST-BERLIN +++

Eberhard Diepgen verliert die Abgeord-netenhauswahl. Walter Momper wirdneuer Regierender Bürgermeister miteiner Koalition aus SPD und AlternativerListe. Die Republikaner ziehen mit 7,5Prozent in das Landesparlament ein.

6. FEBRUAR +++ BERLIN +++

An der Berliner Mauer wird ChrisGueffroy bei einem Fluchtversucherschossen. Er wird der letzte Mauer-Tote sein.

6. FEBRUAR +++ MADALENKA +++

In Polen beginnen die Gespräche amRunden Tisch zwischen Regierung undSolidarnosc.

11. FEBRUAR +++ BUDAPEST +++

Das Zentralkomitee der ungarischen

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thema – 1989 – 2009thomas kralinski – 700 tage, die die welt veränderten

700 Tage, die die WeltverändertenWAS 1989 UND 1990 IN EUROPA GESCHAH

ZUSAMMENGESTELLT VON THOMAS KRALINSKI

1989

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Kommunisten tritt für ein Mehr-parteiensystem ein.

15. FEBRUAR +++ AFGHANISTAN +++

Die UdSSR zieht ihre letzten Truppenaus Afghanistan ab. Der sowjetischeAußenminister Schewardnadse kündig-te zuvor den Abzug von 260.000Soldaten aus dem Osten und Südender Sowjetunion an.

1. MÄRZ +++ OST-BERLIN +++

Die Schriftstellervereinigung PEN-Zen-trum der DDR fordert die Freilassungvon Václav Havel. Das PEN-Zentrumder BRD fordert dies am 22. März.

26. MÄRZ +++ SOWJETUNION +++

Bei der Wahl zum Kongress der Volks-deputierten können die Wähler erstmalsseit 70 Jahren zwischen mehreren Kan-didaten auswählen. Gewählt wird u. a.der Bürgerrechtler Andrej Sacharow. Erstirbt am 8. Dezember 1989.

3. APRIL +++ OST-BERLIN +++

Der Schießbefehl an der DDR-Grenzewird ausgesetzt.

5. APRIL +++ WARSCHAU +++

In Polen einigen sich die Regierung undOpposition am „Runden Tisch“ auf den„Gesellschaftsvertrag“, der u. a. halbfreieWahlen vorsieht.

8. APRIL +++ POTSDAM +++

Im Haus des Kulturbundes treffen sich

erstmals 121 Vertreter von 24 unab-hängigen Interessengemeinschaften ausder ganzen DDR zu einem Erfahrungs-austausch über die Themen Umwelt-schutz und Stadtgestaltung.

17. APRIL +++ WARSCHAU +++

Die Solidarnosc wird wieder zugelassen.

25. APRIL +++ MOSKAU +++

Das ZK der KPdSU wird radikal ver-jüngt. Aus dem Amt scheidet u. a.Andrej Gromyko, der von 1957-1985Außenminister und anschließend bis1988 Staatsoberhaupt war. Er stirbt am2. Juli 1989.

2. MAI +++ UNGARN +++

Ungarn beginnt mit dem Abbau vonÜberwachungsanlagen an der Grenzezu Österreich.

7. MAI +++ DDR +++

An der Kommunalwahl nehmen offizi-ell 98,8 Prozent der Wähler teil. 98,9Prozent sollen für die Kandidaten der„Nationalen Front“ gestimmt haben.Bürgerrechtler machen nach Kontrol-len Wahlfälschungen publik.

8. MAI +++ LEIPZIG +++

Erstmals Polizeikessel zum Friedens-gebet in Leipzigs Nikolaikirche.

8. MAI +++ BUDAPEST +++

Der ehemalige ungarische KP-ChefJános Kádár verliert mit dem Ehren-

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thema – 1989 – 2009

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präsidenten sein letztes Parteiamt. Erstirbt am 6. Juli 1989.

11. MAI +++ MOSKAU +++

Michael Gorbatschow kündigt den ein-seitigen Abzug von 500 atomaren Kurz-streckenraketen der UdSSR aus Osteu-ropa an.

13. MAI +++ PEKING +++

Auf dem Platz des Himmlischen Frie-dens beginnen mehrere tausend Stu-denten einen Hungerstreik. Sie for-dern mit Demonstrationen seit MitteApril mehr Demokratie und Presse-freiheit.

23. MAI +++ WIEN +++

Die Warschauer Pakt-Staaten schlagender NATO die gleichzeitige Auflösungbeider Militärbündnisse vor.

23. MAI +++ BONN +++

Das Grundgesetz wird 40 Jahre alt.Richard von Weizsäcker wird zu einerzweiten Amtszeit als Bundespräsidentwiedergewählt.

25. MAI +++ MOSKAU +++

Michael Gorbatschow wird nach einerheftigen Debatte vom Kongress derVolksdeputierten zum Staatspräsiden-ten gewählt.

30. MAI +++ BRÜSSEL +++

Die NATO-Staaten einigen sich dar-auf, die Modernisierung atomarer

Kurzstreckenraketen bis 1992 aufzu-schieben. Ob neue Raketen aufgestelltwerden, soll vom Erfolg der Verhand-lungen über konventionelle Streitkräftein Europa (KSE) abhängen.

30. MAI +++ OST-BERLIN +++

Die Berliner Philharmoniker spielenerstmals seit dem Mauer-Fall wieder inOst-Berlin.

4. JUNI +++ PEKING +++

Mit brutaler Gewalt schlägt die chinesi-sche Armee die Demokratiebewegungauf dem Platz des Himmlischen Frie-dens nieder. Dabei kommt es schät-zungsweise zu 3.600 Toten und 60.000Verletzten.

4. JUNI +++ POLEN +++

Erstmals können ein Drittel der Sitzedes Sejms und alle 100 Sitze des Senatsfrei gewählt werden. Die kommunisti-sche Partei PVAP erleidet eine vernich-tende Niederlage, die Solidarnosc er-ringt die meisten Stimmen.

12. JUNI +++ BONN +++

Michael Gorbatschow ist zu einemStaatsbesuch in der Bundesrepublikund wird mehrfach begeistert gefeiert.

16. JUNI +++ BUDAPEST +++

300.000 Menschen nehmen an derTrauerfeier zu Ehren von Imre Nagy,dem Führer des Volksaufstandes von1956, teil.

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17. JUNI +++ BONN +++

Erhardt Eppler redet zum Staatsakt am„Tag der deutschen Einheit“: „Ich will,dass sich die DDR-Bürger in die inne-ren Angelegenheiten der DDR einmi-schen können.“

21. JUNI +++ RUMÄNIEN/UNGARN +++

Rumänien errichtet an der Grenze zuUngarn einen Grenzzaun, der bereitszu 90 Prozent fertiggestellt ist. Damitsoll die weitere Flucht von Angehöri-gen der ungarischen Minderheit ausRumänien verhindert werden.

27. JUNI +++ MOSKAU/MAGNITOGORSK +++

DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker besucht, zum letzten Mal,die Sowjetunion.

7. JULI +++ BUKAREST +++

Auf einer Gipfelkonferenz des War-schauer Paktes gibt es heftige Konfliktezwischen Reformbefürwortern und Re-formgegnern. Michael Gorbatschowbeendet die „Breshnew-Doktrin“ vonder begrenzten Souveränität der Ost-block-Staaten. Es folgt die „Sinatra-Doktrin“: Jeder sozialistische Staat habedas Recht auf seinen eigenen Weg.

9.-11. JULI +++ WARSCHAU/DANZIG +++

US-Präsident George Bush besuchtPolen und sichert wirtschaftliche Unter-stützung zu. Er trifft auch Lech Walesa,den Führer der Solidarnosc, und redetvor dem neu gewählten Parlament.

11.-13. JULI +++ BUDAPEST +++

US-Präsident George Bush besuchtUngarn. Er kündigt Handelserleichte-rungen an und sichert Unterstützungbei Wirtschaftsreformen und im Um-weltschutz zu.

19. JULI +++ WARSCHAU +++

Wojciech Jaruzelski wird mit einerStimme Mehrheit vom Parlament zumpolnischen Präsidenten gewählt. Da-nach tritt er als Parteichef der Kommu-nisten zurück.

24. JULI +++ OST-BERLIN +++

Markus Meckel und Martin Gutzeitrufen zu Gründung einer sozialdemo-kratischen Partei in der DDR auf.

30. JULI +++ RIGA +++

Der Oberste Sowjet von Lettland be-schließt eine Deklaration über die Sou-veränität der baltischen Republik.

1. AUGUST +++ HAMBURG +++

Der Axel-Springer-Verlag verzichtet in seinen Publikationen beim Begriff„DDR“ auf die Anführungszeichen.

8. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Die Ständige Vertretung der BRDwird wegen Überfüllung geschlossen.Dort halten sich 130 Zufluchtsuchen-de auf. Sie verlassen die Vertretung am8. September, ihnen wurde Straffrei-heit und die baldige Ausreise zuge-sichert.

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10. AUGUST +++ LEIPZIG +++

Der erste innerdeutsche Linienflug vonFrankfurt (Main) nach Leipzig wird ein-gerichtet. Kurz darauf beginnt die Inter-flug einen Liniendienst von Leipzig nachDüsseldorf.

11. AUGUST +++ BONN +++

Die SPD-Programmkommission unterOskar Lafontaine stellt das Regierungs-programm „Fortschritt 90“ vor. Kern-elemente sind eine Öko-Steuer, derAusstieg aus der Atomkraft, ein Tempo-limit auf Autobahnen, die Erhöhungder Kilometerpauschale und die Re-duzierung von Rüstungsausgaben.

13. AUGUST +++ BUDAPEST +++

Die BRD-Botschaft in Ungarn wirdgeschlossen. Dort halten sich über1.000 Flüchtlinge auf. Ungarn lässt am24. August 108 Flüchtlinge mit Rot-Kreuz-Papieren ausreisen.

14. AUGUST +++ ERFURT +++

Anlässlich der Übergabe des ersten 1-Megabit-Speichers der DDR deklariertErich Honecker: „Den Sozialismus inseinem Lauf hält weder Ochs nochEsel auf“.

19. AUGUST +++ SOPRON +++

900 DDR-Bürger nutzen ein „Pan-europäisches Picknick“ an der unga-risch-österreichischen Grenze zu einerMassenflucht. Im August fliehen über10.000 DDR-Bürger nach Österreich.

23. AUGUST +++ BALTIKUM +++

Mit einer mehrere hundert Kilometerlangen Menschenkette gedenken Litau-er, Letten und Esten dem 50. Jahrestagder Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes und fordern ihre erneute Unab-hängigkeit.

24. AUGUST +++ WARSCHAU +++

Tadeusz Mazowiecki wird als erster nicht-kommunistischer Regierungschef Polensseit über 40 Jahren vom Sejm gewählt.

26. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Markus Meckel und Martin Gutzeitstellen die Initiative zur Gründungeiner SDP öffentlich vor.

1. SEPTEMBER +++ BONN +++

Anlässlich des 50. Jahrestages desBeginns des 2. Weltkrieges verzichtetBundespräsident von Weizsäcker ineiner Botschaft an den polnischenPräsidenten auf Gebietsansprüche jen-seits der polnischen Westgrenze.Bundeskanzler Helmut Kohl weigertsich, diesem Beispiel zu folgen.

4. SEPTEMBER +++ LEIPZIG +++

Die erste Montagsdemonstration findetin Leipzig statt.

10. SEPTEMBER +++ BUDAPEST +++

Ungarn kündigt ein Abkommen mitder DDR und lässt alle DDR-Bürger,die in mehreren Lagern auf ihre Aus-reise warten, ausreisen. Die DDR pro-

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testiert heftig und wirft Ungarn Men-schenhandel und Einmischung in inne-re Angelegenheiten vor.

11. SEPTEMBER +++ GRÜNHEIDE +++

30 DDR-Regimekritiker, unter ihnenBärbel Bohley und Jens Reich, grün-den die Reformbewegung „NeuesForum“. Der Gründungsaufruf wirdinnerhalb weniger Tage von 1.500DDR-Bürgern unterzeichnet.

15. SEPTEMBER +++ OST-BERLIN +++

Die Bürgerbewegung „DemokratieJetzt“ wird gegründet.

30. SEPTEMBER +++ PRAG +++

Alle in die BRD-Botschaft geflüchtetenDDR-Bürger dürfen ausreisen. In denfolgenden Tagen fahren insgesamt17.000 Menschen mit Sonderzügenüber die DDR in die BRD.

2. OKTOBER +++ LEIPZIG +++

An der Montagsdemonstration neh-men 15.000 Menschen teil.

2. OKTOBER +++ OST-BERLIN +++

Der „Demokratische Aufbruch“ gründetsich.

3. OKTOBER +++ OST-BERLIN +++

Die DDR-Führung setzt den visafreienVerkehr mit der Tschechoslowakei aus.

4. OKTOBER +++ DRESDEN +++

Bei der Durchfahrt der Züge mit den

Flüchtlingen aus der Prager Botschaftin die Bundesrepublik kommt es amHauptbahnhof zu schweren Auseinan-dersetzungen zwischen der Polizei undAusreisewilligen. Viele Dresdner habendort versucht auf die Züge zu springen.

7. OKTOBER +++ SCHWANTE +++

Die Sozialdemokratische Partei der DDRwird wiedergegründet. Es ist die erstePartei, die sich in der DDR neu gründet.

7. OKTOBER +++ OST-BERLIN +++

Die DDR-Führung feiert den 40. Jah-restag der DDR-Gründung. Die Feiernwerden von Protestkundgebungenüberschattet.

8. OKTOBER +++ BUDAPEST +++

Die „Ungarische Sozialistische Arbei-terpartei“ löst sich selbst auf und grün-det sich als „Ungarische SozialistischePartei“ MSZP neu.

9. OKTOBER +++ LEIPZIG +++

An der Montagsdemonstration neh-men 70.000 Menschen teil. Die Sicher-heitskräfte der DDR greifen –wider Er-warten – nicht ein.

16. OKTOBER +++ LEIPZIG +++

Die DDR-Medien berichten erstmalsvon den Leipziger Montagsdemonstra-tionen mit über 100.000 Teilnehmern.

18. OKTOBER +++ OST-BERLIN +++

Nach 18-jähriger Amtszeit tritt Erich

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Honecker als SED-Generalsekretär undStaatsratsvorsitzender zurück. Nachfol-ger wird Egon Krenz. Bei seiner Wahlzum Staatsrats- und Verteidigungsrats-vorsitzenden erhält er in der Volks-kammer 26 Gegenstimmen und 26Enthaltungen.

23. OKTOBER +++ BUDAPEST +++

Staatspräsident Szüros erklärt die„Volksrepublik“ zur „RepublikUngarn“.

28. OKTOBER +++ PRAG +++

Die Polizei löst eine erste Massende-monstration von 10.000 Menschen aufdem Wenzelsplatz gewaltsam auf.

30. OKTOBER +++ OST-BERLIN +++

Zum letzten Mal wird die Propagan-dasendung „Schwarzer Kanal“ mit KarlEduard von Schnitzler im DDR-Fern-sehen ausgestrahlt.

2. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Der FDGB-Chef Harry Tisch und die Volksbildungsministerin Margot Honecker treten zurück. Auch die Vorsitzenden der Blockparteien CDU(Gerald Götting) und NDPD (HeinrichHomann) treten zurück.

4. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Bei der größten Kundgebung derDDR demonstrieren 500.000 Men-schen für Demokratie, Reformen undReisefreiheit.

7. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Die DDR-Regierung unter Willi Stophtritt zurück.

8. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Das gesamte SED-Politbüro tritt zu-rück.

9. NOVEMBER +++ BERLIN +++

Die Mauer fällt.

10. NOVEMBER +++ SOFIA +++

Der bulgarische KP-Chef TodorSchiwkow wird abgelöst. Nachfolgerwird Petar Mladenow.

13. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

In einer ersten geheimen Abstimmungwählt die Volkskammer GüntherMaleuda von der Bauernpartei zuihrem neuen Präsidenten und HansModrow zum neuen Ministerpräsi-denten. Er wird der letzte SED-Regie-rungschef sein.

13. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Während seiner ersten und letztenRede vor der Volkskammer wird Stasi-Chef Erich Mielke verlacht – u. a. fürseinen Satz, dass die Stasi „einenaußerordentlich hohen Kontakt mitallen werktätigen Menschen überall“gehabt habe.

13. NOVEMBER +++ LEIPZIG +++

Höhepunkt der Montagsdemonstra-tionen mit 200.000 Teilnehmern.

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17. NOVEMBER +++ PRAG +++

Die Polizei geht erneut brutal gegeneine Großdemonstration auf demWenzelsplatz vor. Mit 50.000Teilnehmern ist es die größteDemonstration seit 20 Jahren.

18. NOVEMBER +++ SOFIA +++

Erstmals demonstrieren 100.000Menschen in Bulgarien für Demo-kratie, das Ende der Zensur, gegenKorruption und polizeilicher Unter-drückung.

18. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Die Volkskammer richtet einen Unter-suchungsausschuss zur Überprüfungvon Amtsmissbrauch und Korruptionein.

20. NOVEMBER +++ BUKAREST +++

Auf dem Parteitag der rumänischenKommunisten lehnt Parteichef NicolaeCeausescu jegliche Reformen ab.

21. NOVEMBER +++ PRAG +++

Der CSSR-Regierungschef LadislavAdamec trifft erstmals den Sprecherdes Bürgerforums, Václav Havel, zuVerhandlungen.

24. NOVEMBER +++ PRAG +++

Die gesamte Führung der tschechoslo-wakischen KP tritt zurück. Parallelsprechen Václav Havel und AlexanderDubcek, die Symbolfigur des „PragerFrühlings“ auf einer Großdemonstra-

tion auf dem Wenzelsplatz vor über200.000 Menschen.

26. NOVEMBER +++ OST-BERLIN +++

Bürgerrechtler, Künstler und SED-Re-former stellen den Aufruf „Für unserLand“ vor, in dem sie sich für einenreformierten Sozialismus und eine ei-genständige DDR einsetzen.

27. NOVEMBER +++ LEIPZIG +++

An der Montagsdemonstration nehmen150.000 Menschen teil. Es kommt zuersten Rufen nach „Deutschland einigVaterland“.

28. NOVEMBER +++ BONN +++

Bundeskanzler Helmut Kohl stellt den„Zehn-Punkte-Plan“ zur Überwindungder deutschen Teilung vor – mit demZiel einer Konföderation. Der Planwar weder innenpolitisch noch mit deneuropäischen Nachbarn abgestimmt.

29. NOVEMBER +++ PRAG +++

Das tschechoslowakische Parlamentstreicht den Führungsanspruch der KPaus der Verfassung.

30. NOVEMBER +++ BAD HOMBURG +++

Der Vorstandssprecher der DeutschenBank, Alfred Herrhausen, wird vonRAF-Terroristen ermordet.

1. DEZEMBER +++ OST-BERLIN +++

Die Volkskammer streicht den Führungs-anspruch der SED aus der Verfassung.

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2. DEZEMBER +++ MALTA +++

Die Präsidenten der USA und UdSSR,Bush und Gorbatschow, treffen sich zueinem außerordentlichen Gipfel. Bushbietet an, mit wirtschaftlicher Hilfe dieReformen in der Sowjetunion zu unter-stützen.

3. DEZEMBER +++ OST-BERLIN +++

Die gesamte SED-Führung unter EgonKrenz tritt zurück. Honecker, Stophund Mielke werden aus der SED aus-geschlossen. Sie werden ebenso wie Ex-ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittagund dem ehemaligen FDGB-ChefHarry Tisch verhaftet, Erich Honeckerunter Hausarrest gestellt.

4. DEZEMBER +++ WEST-BERLIN +++

Der DDR-Devisenbeschaffer Alexan-der Schalck-Golodkowski stellt sich derPolizei.

6. DEZEMBER +++ OST-BERLIN +++

Egon Krenz tritt auch als Staatsrats-vorsitzender zurück. AmtierendesStaatsoberhaupt der DDR wird derLDPD-Chef Manfred Gerlach – unddamit erstmals ein Nicht-Kommunist.

6. DEZEMBER +++ BONN +++

Das Bundeskabinett beschließt, dieBundeswehr um 75.000 auf 420.000Soldaten zu reduzieren.

7. DEZEMBER +++ OST-BERLIN +++

Erstmals kommt der „Zentrale Runde

Tisch“ der DDR zusammen. Er einigtsich auf freie Wahlen am 6. Mai 1990,die Ausarbeitung einer neuen Verfas-sung und die Abschaffung des Staats-sicherheitsdienstes.

8. DEZEMBER +++ OST-BERLIN +++

Der SED-Sonderparteitag wählt Gre-gor Gysi zum neuen Vorsitzenden.

10. DEZEMBER +++ PRAG +++

Eine neue Regierung unter MariánCalfa, die überwiegend aus Nicht-Kommunisten besteht, wird vereidigt.Außenminister wird Jirı Dienstbier.Danach tritt Präsident Gustav Husákzurück.

11. DEZEMBER +++ SOFIA +++

Die bulgarische KP ist bereit, ihrenFührungsanspruch aus der Verfassungzu tilgen und freie Wahlen stattfindenzu lassen.

12. DEZEMBER +++ LEIPZIG +++

Auf den Montagsdemonstrationenmehren sich die Forderungen nach„Deutschland, einig Vaterland“.

15. DEZEMBER +++ TEMESVAR +++

Zehntausende hindern die Geheim-polizei an der Festnahme eines regi-mekritischen Pfarrers. Demonstra-tionen am nächsten Tag in Temesvarund Arad schießt die Armee zusam-men. Dabei kommt es zu tausendenToten.

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17. DEZEMBER +++ POTSDAM +++

Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist erstmals offiziell in der DDR.

19. DEZEMBER +++ DRESDEN +++

Bundeskanzler Helmut Kohl wird beiseinem ersten offiziellen Besuch in derDDR stürmisch begrüßt. Mit DDR-Ministerpräsident Modrow vereinbarter u. a. die Freilassung aller politischenGefangenen.

20. DEZEMBER +++ WEST-BERLIN +++

Die SPD beschließt ihr neues Grund-satzprogramm. Oskar Lafontaine betont,die Frage der deutschen Einheit sei„zweitrangig“ gegenüber sozialer Ge-rechtigkeit in beiden deutschen Staaten.

22. DEZEMBER +++ BERLIN +++

Das Brandenburger Tor wird wiedergeöffnet.

22. DEZEMBER +++ BUKAREST +++

Hunderttausende demonstrieren vordem Präsidentenpalast. KP-ChefCeausescu kommt nicht mehr dazu,eine Rede zu halten und flieht an-schließend mit dem Hubschrauber.Die Sicherheitspolizei Securitate setztihren Kampf gegen Armee und Be-völkerung allerdings fort.

24. DEZEMBER +++

BRD-Bürger können erstmals ohneVisum in die DDR reisen.

25. DEZEMBER +++ RUMÄNIEN +++

Der gefangengenommene NicolaeCeausescu und seine Frau Elena wer-den hingerichtet.

26. DEZEMBER +++ BUKAREST +++

Eine neue rumänische Regierung mitehemaligen hohen Mitgliedern der KPwird gebildet, die bis zu freien Wahlen1990 amtieren soll.

29. DEZEMBER +++ PRAG +++

Václav Havel wird zum neuen Präsi-denten der CSSR gewählt.

11. JANUAR +++ VILNIUS +++

In Litauen demonstrieren Hundert-tausende für Freiheit und Unabhän-gigkeit.

13. JANUAR +++ OST-BERLIN +++

Auf ihrem ersten Parteitag ändert dieSDP ihren Namen in SPD und be-kennt sich zur deutschen Einheit.

15. JANUAR +++ OST-BERLIN +++

Demonstranten stürmen die Stasi-Zentrale. Zehntausende protestierengegen die zögerliche Auflösung derStasi durch die Modrow-Regierung.

20. JANUAR +++ LEIPZIG +++

Christlich-konservative Oppositions-gruppen gründen die Deutsche Soziale

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Union (DSU). Vorsitzender wirdHans-Wilhelm Ebeling.

21. JANUAR +++ KIEV-LVOW +++

Hundertausend Ukrainer demonstrie-ren in einer Menschenkette für dieUnabhängigkeit der Ukraine von derSowjetunion.

28. JANUAR +++ OST-BERLIN +++

DDR-Ministerpräsident Modroweinigt sich mit Vertretern des RundenTisches auf die Bildung einer „Regie-rung der nationalen Verantwortung“,Volkskammerwahlen am 18. März undKommunalwahlen am 6. Mai 1990.

29. JANUAR +++ WARSCHAU +++

Die polnische Arbeiterpartei PVAP löst sich auf. Neu gegründet wird die„Sozialdemokratie der Polnischen Re-publik“.

4. FEBRUAR +++ OST-BERLIN +++

Die SED-PDS nennt sich fortan nurnoch „Partei des demokratischen So-zialismus“ (PDS).

5. FEBRUAR +++ OST-BERLIN +++

Die Volkskammer wählt acht Ministeraus der Opposition in die Modrow-Regierung. Gleichzeitig beschließt siedie Gewährleistung von Meinungs-,Informations- und Medienfreiheit.

5. FEBRUAR +++ WEST-BERLIN +++

Die „Allianz für Deutschland“, ein

Wahlbündnis von Ost-CDU, Demo-kratischem Aufbruch und DSU zurVolkskammerwahl wird gebildet.

7. FEBRUAR +++ OST-BERLIN +++

Die Bürgerbewegungen „Initiative fürFrieden und Menschenrechte“, „NeuesForum“ und „Demokratie Jetzt“schließen sich für die Volkskammer-wahl zum „Bündnis 90“ zusammen.

10. FEBRUAR +++ MOSKAU +++

Michael Gorbatschow sichert KanzlerKohl bei einem Besuch zu, dass dieFrage der deutschen Einheit von denDeutschen selbst bestimmt werdenkönne.

13. FEBRUAR +++ BONN +++

Die DDR-Regierung verständigt sich beieinem Besuch in Bonn mit der Bundes-regierung auf die Einsetzung einer Kom-mission, die die Voraussetzungen einerWährungsunion prüfen soll.

22. FEBRUAR +++ LEIPZIG +++

Auf dem SPD-Parteitag wird IbrahimBöhme zum Vorsitzenden und Spit-zenkandidat für die Volkskammerwahlgewählt. Willy Brandt wird Ehrenvor-sitzender der DDR-SPD.

26. FEBRUAR +++ MOSKAU +++

UdSSR und CSSR einigen sich auf denAbzug der sowjetischen Truppen ausder Tschechoslowakei bis zum 1. Juli1991.

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5. MÄRZ +++ DDR +++

Die Verlage Springer, Burda, Gruner+Jahr und Bauer beginnen mit derAuslieferung von „Westzeitungen“ indie DDR. Bereits eine Woche zuvorbegann die „taz“ mit einer „deutsch-deutschen Kooperation“.

11. MÄRZ +++ VILNIUS +++

Der Oberste Sowjet Litauens prokla-miert die Unabhängigkeit von derUdSSR. Mit Vitautas Landsbergis wirderstmals ein Nicht-Kommunist Staats-chef. Die Führung in Moskau reagiertmit einem Energieboykott.

13. MÄRZ +++ NEUBRANDENBURG +++

Erstmals wird ein Massengrab des so-wjetischen Geheimdienstes NKWD inder DDR entdeckt. Von 1945 bis 1950wurden in diesen Lagern nicht nurKriegsverbrecher und Nationalsozialistensondern auch Intellektuelle und Sozial-demokraten interniert und umgebracht.

18. MÄRZ +++ DDR +++

Die „Allianz für Deutschland“ gewinntüberraschend die ersten freien Wahlenmit 48 Prozent. Die SPD erhält 22Prozent, die PDS 16 Prozent, dasBündnis 90 erreicht 3 Prozent. DieWahlbeteiligung beträgt 93 Prozent.

19. MÄRZ +++ BONN +++

Oskar Lafontaine wird Kanzlerkandi-dat der SPD für die Bundestagswahlam 2. Dezember 1990.

2. APRIL +++ OST-BERLIN +++

Der Vorsitzende der SPD, IbrahimBöhme, legt nach Überprüfung derStasi-Akten sein Amt nieder. SeinNachfolger als Fraktionschef in derVolkskammer wird Richard Schröder.

5. APRIL +++ OST-BERLIN +++

Auf der konstituierenden Sitzung wähltdie Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl (CDU) zu ihrer Präsidentin. Biszum Ende der DDR ist sie auch amtie-rendes Staatsoberhaupt.

8. APRIL +++ UNGARN +++

Das konservative „DemokratischeForum“ (MDF) gewinnt die erstenfreien Wahlen seit 47 Jahren mit 43Prozent der Stimmen. Ministerpräsi-dent wird Jószef Antall.

12. APRIL +++ OST-BERLIN +++

Lothar de Maizière (CDU) wird zumMinisterpräsidenten der ersten freigewählten DDR-Regierung gewählt. Er steht einer Koalition aus CDU,SPD, Liberalen, DA und DSU vor.

19. APRIL +++ OST-BERLIN +++

Lothar de Maizière bekennt sich in seiner ersten Regierungserklärung zumZiel der deutschen Einheit.

24. APRIL +++ BONN +++

Die Bundes- und DDR-Regierungeinigen sich auf eine Währungs- undWirtschaftsunion zum 1. Juli 1990.

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28. APRIL +++ DUBLIN +++

Die Staats- und Regierungschefs der EGbefürworten die deutsche Vereinigungund die Integration der DDR in dieEG. Ferner einigt sich der Gipfel grund-sätzlich, die EG zu einer Wirtschafts-und Währungsunion auszubauen.

28. MAI +++ BERLIN +++

Die Verteidigungsminister Stoltenbergund Eppelmann einigen sich auf offizi-elle Beziehungen zwischen Bundeswehrund NVA.

5. MAI +++ BONN +++

Die ersten Zwei plus Vier-Gesprächemit den Siegermächten des ZweitenWeltkrieges über die außenpolitischenModalitäten der Wiedervereinigungenbeginnen.

6. MAI +++ DDR +++

Die CDU gewinnt die Kommunalwah-len in der DDR mit 34 Prozent derStimmen. Die SPD erhält 21 Prozent,die PDS 15 Prozent.

13. MAI +++ DÜSSELDORF/HANNOVER +++

Die SPD unter MinisterpräsidentJohannes Rau verteidigt ihre absoluteMehrheit in Nordrhein-Westfalen. InNiedersachsen gewinnt die SPD dieLandtagswahlen. Neuer Ministerpräsi-dent einer Koalition aus SPD und Grü-nen wird Gerhard Schröder. Die SPDerreicht mit dem Regierungswechsel eineMehrheit im Bundesrat.

20. MAI +++ RUMÄNIEN +++

Der bisherige Interims-Präsident IonIlliescu wird im Amt bestätigt. Er er-nennt Petre Roman wieder zum Minis-terpräsidenten.

29. MAI +++ MOSKAU +++

Boris Jelzin wird, als Widersacher vonMichael Gorbatschow, zum Präsiden-ten der Russischen Unionsrepublikgewählt. Am 12. Juni erklärt sich Russ-land für souverän.

1. JUNI +++

DDR-Bürger dürfen erstmals visafreiin die Bundesrepublik, nach Frank-reich, Belgien, Luxemburg und in dieNiederlande fahren.

3. JUNI +++ WASHINGTON +++

Bei einem Gipfeltreffen verabredendie Präsidenten Bush und Gorba-tschow die Verringerung strategischerWaffen.

6. JUNI +++ OST-BERLIN +++

Die RAF-Terroristin Susanne Albrechtwird verhaftet. Albrecht lebte mitDeckung durch die Stasi zehn Jahrelang in der DDR. Später werden nochweitere Terroristen, die in der DDRUnterschlupf fanden, verhaftet.

8. JUNI +++ CSFR +++

Das „Bürgerforum“ gewinnt die erstenfreien Wahlen in der Tschechoslowakeiseit 1946. Marian Calfa bleibt Minis-

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terpräsident, Alexander Dubcek bleibtParlamentspräsident, Václav Havelwird am 5. Juli wiedergewählt.

9. JUNI +++ HALLE/SAALE +++

Wolfgang Thierse wird auf einem Par-teitag zum neuen Vorsitzenden derDDR-SPD gewählt.

12. JUNI +++ BERLIN +++

Auf ihrer ersten gemeinsamen Sitzungseit 1948 sprechen sich der Ost-Ber-liner Berliner Magistrat und der West-Berliner Senat für Berlin als Bundes-hauptstadt aus.

15. JUNI +++ OST-BERLIN +++

Das Oberste Gericht der DDR rehabi-litiert Rudolf Bahro.

16. JUNI +++ BONN +++

10.000 Menschen demonstrieren füreine Streichung des westdeutschen §216, der Schwangerschaftsabbrücheohne ärztliche Indikation unter Strafestellt. Im Einigungsvertrag wird festge-legt, dass die DDR-Fristenlösung nochzwei Jahre weiter gelten darf.

17. JUNI +++ BULGARIEN +++

Die ex-kommunistische „SozialistischePartei Bulgariens“ gewinnt die erstenfreien Wahlen in Bulgarien mit derabsoluten Mehrheit. Andrej Lukanowbleibt Ministerpräsident, muss aber am30. November wegen der Wirtschafts-krise zurücktreten.

18. JUNI +++ OST-BERLIN +++

Die Volkskammer streicht den „So-zialismus“ aus der DDR-Verfassung.

19. JUNI +++ LUXEMBURG +++

In Schengen unterschreiben die BRD,Frankreich und die Benelux-Staatenein Abkommen, nachdem die Grenz-kontrollen zwischen ihren Ländernwegfallen sollen.

21. JUNI +++ BERLIN/BONN +++

Die Volkskammer und der Bundestagratifizieren den Staatsvertrag über dieWährungs-, Wirtschafts- und Sozial-union zwischen der Bundesrepublikund der DDR. Gleichzeitig wird dieOder-Neiße-Linie als endgültigeWestgrenze Polens anerkannt.

1. JULI +++ DDR +++

Die DM wird offizielles Zahlungsmittelin der DDR. Löhne, Gehälter, Rentenund Mieten werden 1:1 umgetauscht,Bankguten ab 4.000 DDR-Mark imVerhältnis 2:1. Die Renten-, Arbeitslo-sen-, Kranken- und Unfallversicherungwird in der DDR eingeführt, ebensoPrivateigentum, freie Preisbildung, Ge-werbefreiheit, Kündigungsschutz, Tarif-autonomie und Mitbestimmungsrechte.

3. JULI +++ WEST-BERLIN +++

Der Senat beschließt den Verkauf eines60.000 qm großen Grundstücks amPotsdamer Platz an den Daimler-Benz-Konzern.

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6. JULI +++ LONDON +++

Die 16 NATO-Länder bieten aufihrem Gipfeltreffen dem WarschauerPakt einen Gewaltverzicht an. Außer-dem soll die KSZE zu einer ständigenEinrichtung werden.

8. JULI +++ ROM +++

Deutschland wird Fußball-Weltmeister.

10. JULI +++ MOSKAU +++

Auf dem 28. KPdSU-Parteitag wirdMichael Gorbatschow als Generalsekre-tär wieder gewählt. Boris Jelzin tritt aufdem Parteitag aus der Partei aus.

13. JULI +++ MOSKAU +++

Erstmals besucht ein NATO-General-sekretär die Sowjetunion.

16. JULI +++ SCHELESNOWODSK +++

Gorbatschow und Kohl verabreden imKaukasus, dass Deutschland nach sei-ner Vereinigung die volle Souveränitäterhalten soll und selbst über seineBündniszugehörigkeit entscheidenkann. Damit ist der Weg zu einerNATO-Mitgliedschaft Deutschlandsfrei. Die Bundesrepublik sagt zu, ihreStreitkräfte auf 370.000 Soldaten zureduzieren.

22. JULI +++ OST-BERLIN +++

Die Volkskammer löst die DDR-Be-zirke auf und beschließt die Wieder-errichtung der fünf Bundesländer inder DDR.

24. JULI +++ OST-BERLIN +++

Die Liberalen verlassen die DDR-Regierungskoalition.

1. AUGUST +++ BONN/BERLIN +++

Union, SPD und Liberale einigen sichdarauf, dass am 2. Dezember 1990 dieersten gesamtdeutschen Bundestags-wahlen stattfinden sollen.

2. AUGUST +++ KUWAIT +++

Irakische Truppen besetzen Kuwait.

4. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Der „Demokratische Aufbruch“ be-schließt den Beitritt zur Ost-CDU.

5. AUGUST +++ BONN +++

Das „Bündnis 90“, die „Grüne Par-tei“ und die westdeutschen „Grünen“einigen sich auf eine Listenverbin-dung für die gesamtdeutsche Bundes-tagswahl.

11. AUGUST +++ HANNOVER +++

Die west- und ostdeutschen Liberalenvereinigen sich. Otto Graf Lambsdorffist Vorsitzender der FDP.

19. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Die SPD verlässt die Regierung deMaizière.

21. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Der SPD-Volkskammer-FraktionschefRichard Schröder tritt zurück. SeinNachfolger wird Wolfgang Thierse.

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22. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Die Stromkonzerne RWE, Preußen-elektra und Bayernwerk steigen in dasDDR-Stromverbundunternehmen einund teilen das DDR-Stromnetz untersich auf.

23. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Die Volkskammer beschließt den Bei-tritt der DDR zur Bundesrepublik zum3. Oktober 1990.

31. AUGUST +++ OST-BERLIN +++

Der Einigungsvertrag wird unterschrie-ben.

9. SEPTEMBER +++ HELSINKI +++

Auf einem Gipfeltreffen verurteilen dersowjetische und amerikanische Präsi-dent Gorbatschow und Bush die iraki-sche Invasion in Kuweit.

12. SEPTEMBER +++ MOSKAU +++

Bundeskanzler Helmut Kohl und dersowjetische Präsident Michael Gorba-tschow einigen sich über die Modali-täten des Abzuges der 380.000 sowjet-ischen Soldaten aus der DDR bis 1994.

12. SEPTEMBER +++ MOSKAU +++

Die Zwei-plus-Vier-Gespräche werdenbeendet. Deutschland ist ab dem 3.Oktober ein voll souveräner Staat.

20. SEPTEMBER +++ BERLIN/ BONN +++

Bundestag und Volkskammer verab-schieden den Einigungsvertrag.

27. SEPTEMBER +++ BERLIN +++

Nach 43-jähriger Trennung schließensich ost- und westdeutsche Sozialde-mokraten wieder zusammen. Hans-Jochen Vogel ist Vorsitzender dergesamtdeutschen SPD, Oskar Lafon-taine Kanzlerkandidat.

29. SEPTEMBER +++ KARLSRUHE +++

Das Bundesverfassungsgericht erhebtEinspruch gegen den Wahlvertrag, derdie gesamtdeutschen Bundestagswahlenregelt. Die 5-Prozent-Hürde wird inden neuen Ländern separat angewen-det.

30. SEPTEMBER +++ OST-BERLIN +++

Der FDGB löst sich auf. Die Einzel-gewerkschaften schließen sich mit ih-ren Partnerorganisationen im Westenzusammen.

1. OKTOBER +++ NEW YORK +++

Die Siegermächte des Zweiten Welt-krieges verzichten in einer Erklärungauf ihre alliierten Vorbehaltsrechte.

1. OKTOBER +++ HAMBURG +++

Die gesamtdeutsche CDU wird gebil-det. Vorsitzender ist Helmut Kohl.

3. OKTOBER +++ BERLIN +++

Die DDR tritt der Bundesrepublikbei. Nach fast 41 Jahren endet dieExistenz der DDR. Das vereinigteDeutschland erhält alle Souveränitäts-rechte zurück.

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thema – 1989 – 2009

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4. OKTOBER +++ BERLIN +++

Der gesamtdeutsche Bundestag kommterstmals mit den zusätzlichen 144 Ab-geordneten aus der ehemaligen DDR inBerlin zusammen. Bundesminister ohneGeschäftsbereich werden Lothar de Mai-zière, Sabine Bergmann-Pohl, GüntherKrause (alle CDU) sowie Rainer Ortleb(FDP) und Hansjoachim Walther (DSU).

14. OKTOBER +++ POTSDAM +++

Die SPD gewinnt die ersten Landtags-wahlen in Brandenburg. Sie bildet eineKoalition mit Bündnis 90 und FDP.

14. OKTOBER +++ DRESDEN +++

Die CDU gewinnt bei den erstenLandtagswahlen in Sachsen die absolu-te Mehrheit. Kurt Biedenkopf wirdMinisterpräsident.

14. OKTOBER +++ SCHWERIN +++

Die CDU gewinnt die ersten Land-tagswahlen in Mecklenburg-Vorpom-mern. Nach dem Übertritt eines SPD-Abgeordneten bildet sie eine Koalitionmit der FDP. Alfred Gomolka wirderster Ministerpräsident.

14. OKTOBER +++ MAGDEBURG +++

Die CDU gewinnt die Landtagswahlenin Sachsen-Anhalt und bildet eineKoalition mit der FDP. Ministerprä-sident wird Gerd Gies.

14. OKTOBER +++ ERFURT +++

Die CDU gewinnt auch die Landtags-

wahlen in Thüringen. Ministerpräsi-dent einer Koalition mit der FDP wirdJosef Duchac.

18. OKTOBER +++ ZWICKAU +++

VW einigt sich mit der Treuhand und der Zwickauer Ifa PKW AG aufden Bau einer VW-Fertigungsstätte inMosel bei Zwickau mit 8.000 Beschäf-tigten.

18. OKTOBER +++ BERLIN +++

Die Staatsanwaltschaft durchsucht dasParteihaus der PDS wegen Unregel-mäßigkeiten bei den Parteifinanzen.Unklarheiten bestehen auch hinsicht-lich des Vermögens der PDS. Die PDSbeschließt am 11. November, 80 Pro-zent ihres Vermögens an die Treuhandabzugeben.

19. OKTOBER +++ MOSKAU +++

Der Oberste Sowjet stimmt für dieEinführung einer Marktwirtschaft.Kern des Programms ist eine Dezen-tralisierung der wirtschaftlichen Zu-ständigkeiten.

23. OKTOBER +++ MOSKAU +++

Die Einheitsgewerkschaft der Sowjet-union beschließt ihre Auflösung unddie Bildung von Einzelgewerkschaften.

1. NOVEMBER +++ POTSDAM +++

Manfred Stolpe wird zum ersten Mi-nisterpräsidenten des neu gegründetenLandes Brandenburg gewählt.

33perspektive21

700 tage, die die welt veränderten

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19. NOVEMBER +++ PARIS +++

Ein Gipfeltreffen der 34 KSZE-Staatenbesiegelt das Ende des Kalten Krieges.Mit der Unterzeichnung eines Vertra-ges über konventionelle Streitkräftekommt es zu umfangreicher Abrüstungin Europa. Die KSZE wird zu einerständigen Einrichtung.

2. DEZEMBER +++ BONN +++

CDU/ CSU gewinnen die ersten ge-samtdeutschen Bundestagswahlen mit44 Prozent. Die SPD erhält 34 Prozent.Helmut Kohl bleibt Kanzler einer Koa-lition aus Union und FDP (11 Prozent).PDS (2 Prozent) und Bündnis 90 (1Prozent) ziehen in den Bundestag ein,weil die 5 Prozent-Sperrklausel separatin Ost und West angewendet wird.

2. DEZEMBER +++ BERLIN +++

Die CDU gewinnt die erste Gesamt-berliner Abgeordnetenhauswahl. Sie bil-det eine Koalition mit der SPD. Regie-render Bürgermeister wird EberhardDiepgen.

9. DEZEMBER +++ POLEN +++

Bei der zweiten Runde der Präsident-schaftswahlen siegt Lech Walesa mit 74Prozent.

15. DEZEMBER +++ ROM +++

Der EG-Gipfel eröffnet zwei Regie-rungskonferenzen, die die Schaffungeiner Wirtschafts- und Währungs-union sowie einer politischen Unionvorbereiten sollen. Ziel ist eine ge-meinsame Währung sowie eine ge-meinsame Sicherheits- und Außen-politik.

17. DEZEMBER +++ BONN +++

Aufgrund von Stasi-Vorwürfen trittLothar de Maizière als Bundesministerzurück.

20. DEZEMBER +++ MOSKAU +++

Der sowjetische Außenminister EduardSchewardnadse erklärt seinen Rücktrittund warnt vor dem Einfluss der Mili-tärs und dem Vormarsch der Partei-konservativen. ¢

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thema – 1989 – 2009

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H eute an die Gründung der Sozial-demokratischen Partei in der DDR

zu erinnern, bedeutet – 20 Jahre später –sich nicht nur die damalige Situation vorAugen zu führen, sondern ebenso auchdie Gedenktradition über die FriedlicheRevolution und die Deutsche Einheitinsgesamt zu thematisieren. War dochdie Gründung der SDP selbst bereitsvon Beginn an politisches Handeln, indem es um Verantwortung für unserLand, um unser Volk und um Europaging. Die Rolle der SPD zu beschreiben,heißt, sie im Rahmen des schwierigenWeges auf dem Weg zu Freiheit undDemokratie in der DDR und zur deut-schen Einheit darzustellen. Ich werdedies hier insbesondere aus ostdeutscherPerspektive tun. Bis heute werden in deröffentlichen Debatte solche ostdeutschenPerspektiven auf den deutschen Vereini-gungsprozess zu wenig wahrgenommen.

I. Die selbstbestimmte Revolution

Nach fast einem halben Jahrhundertder Teilung wurde uns vor 20 Jahren

die deutsche Einheit geschenkt. Ichkann es bis heute nicht anders sehen:Sie war ein Geschenk, so sehr sie auchdas Ergebnis vielfachen Handelns war!Um dieses Handeln aber geht es mir.Und hier erlebe ich immer noch, dasswir Deutschen noch weit davon ent-fernt sind, eine gemeinsame Perspekti-ve auf diese Ereignisse der deutschenEinheit zu finden – oder uns auch nurdie legitimen verschiedenen Perspekti-ven bewusst zu machen. Die offiziellenVeranstaltungen zu den zehnten Jahres-tagen 1999/2000 haben das sehr deut-lich gezeigt. Für die meisten (West-)Deutschen prägt Helmut Kohl das Bildder deutschen Einheit. So, als wäre siesein Werk. Genau das aber ist meinesErachtens eine zu enge Sicht, ohneseine wichtige Rolle zu verkennen.

Für die Mehrzahl der Deutschensind die 15 Monate vom Sommer1989 bis zum 3. Oktober 1990 zueinem Ereignis geworden, das dann zu-meist mit dem Begriff „Wende“ be-zeichnet wird (so wie früher der Regie-rungswechsel 1982!). Dabei ist es für

35perspektive21

Die Ost-SPD und der Wegzur Deutschen EinheitDIE OSTDEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATEN WOLLTEN FREIHEIT UND EINE

SELBSTBESTIMMTE EINHEIT

VON MARKUS MECKEL

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ein angemessenes Verständnis dieserZeit wichtig, vier Phasen zu unter-scheiden:n die Zeit der Zuspitzung der Krise im

gesamten Ostblock durch denRunden Tisch und die halbfreienWahlen in Polen, die Öffnung derungarisch-österreichischen Grenzeund die Fluchtwelle zigtausenderDDR-Bürger im Sommer und Früh-herbst 1989 über Ungarn, Prag undWarschau

n der Sturz der Diktatur in der Fried-lichen Revolution des Herbstes 1989und der Fall der Mauer. Hier warenzwei Dimensionen gleichermaßenwichtig: das politische Handeln unddie Führung der neuen oppositionel-len Parteien und Bewegungen sowieder machtvolle Druck durch die Mas-sen auf der Straße

n der Übergang zur freien Wahl – derRunde Tisch in der DDR, die Regie-rungszeit Modrows und gleichzeitigdas internationale Sich-Einstellen aufdie Ermöglichung der deutschenEinheit

n die konkrete Gestaltung der deut-schen Einheit nach der freien Wahlin der DDR, die Verträge zur Wäh-rungsunion und der Einigungsver-trag sowie der 2+4-Vertrag.

Der Weg in die deutsche Einheitwar wesentlich – jedenfalls was deninstitutionellen Ablauf und den eigent-lichen Motor betrifft – durch das

Handeln Ostdeutscher bestimmt. DieDiktatur wurde in der DDR gestürzt,nicht von außen. Hier wurde die freieWahl erkämpft, die zur Abstimmungfür die Einheit wurde. Die frei gewähl-te Volkskammer beschloss den Beitrittnach Artikel 23 des Grundgesetzes undvollzog damit rechtlich die deutscheEinheit. So wie es gelaufen ist, kannich sagen: Hier wurden alle Träumewahr. Der Sieg von Freiheit und De-mokratie stieß das Tor zur deutschenEinheit auf. Die deutsche Vereinigungwar aus dieser Perspektive der selbst-bestimmte Weg der Ostdeutschen, diediesen erhobenen Hauptes gegangensind.

Kein Sieg des Westens

Deshalb lässt sich beim Ende des Kal-ten Krieges auch nicht von einem Siegdes Westens über den Osten sprechen.Es war ein Sieg von Freiheit und De-mokratie über die kommunistischeDiktatur, die den Osten Europas be-herrschte. Ihn als Sieg über den Ostenzu bezeichnen, ist verfehlt, denn dortleben Menschen, die sich nicht besiegtfühlen und nicht besiegt wurden, son-dern ans Ziel ihrer Träume kamen.Nicht nur in der DDR, im ganzenOsten Europas wurde die Diktatur von innen abgelöst. Es war ein Siegder Menschen, die sich in der MitteEuropas für Freiheit und Demokratieeinsetzten.

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Natürlich waren die Rahmenbedin-gungen, die der Westen geschaffenhatte, eine wichtige Voraussetzung: das Erfolgsmodell der EuropäischenUnion, die Wohlstand und den fried-lichen Austrag verschiedener nationalerInteressen genauso gewährleistete wiesie Freiheit und Demokratie sicherte.Ebenso wichtig war die klare Positionder NATO, die gleichzeitig auf Ab-schreckung und politische Gesprächesetzte. Vieles andere wäre noch zu nen-nen. Der Westen war nicht tatenlos,doch er konnte das Sowjetsystem nichtstürzen, ohne den Frieden zu gefähr-den! Das stellte ja über Jahrzehnte dasProblem dar. Man musste 1953 genau-so hilflos zuschauen wie 1956, 1961,1968 und 1981. Der Durchbruch, dieBefreiung von der Diktatur, musste imOsten selbst geschehen. Und das ge-schah dann eben 1989.

Der Schlüssel lag in der DDR

In der Bundesrepublik konnte maneigentlich nur reagieren und versuchen,durch Kontakt und Beeinflussung derostdeutschen Akteure den Ablauf mitzu gestalten. Der Schlüssel lag in derDDR. Vom Westen aus galt es zu hel-fen, das Schiff möglichst ohne zu großeErschütterungen in den Hafen zu brin-gen – denn dazu waren die Ostdeut-schen allein nicht in der Lage. Hierzugehörte die internationale Einbettungmit den 2+4-Gesprächen, die Einbet-

tung in die EG und die Absprachenmit den europäischen Nachbarn.

Und dann war es natürlich dasselbstverständliche Interesse der Bun-desregierung, die inhaltliche Gestal-tung der deutschen Einheit maßgeblichzu beeinflussen. Das wurde durch dieVerhandlungen zur deutschen Einheitdann auch möglich. Dass es wiederumdiese Verhandlungen gab, dass diedeutsche Einheit eine verhandelte undsomit vertraglich vereinbarte sein sollte,war auch das Interesse der Ostdeut-schen.

Einheit ohne zu fragen?

Denn wir lernten auch erst Anfang1990: Wir Ostdeutschen hätten denBeitritt nach Artikel 23 des Grundge-setzes rechtswirksam beschließen kön-nen – ohne den Westen oder irgendjemanden zu fragen. Das wäre dannauch beinahe passiert, am 17. Juni1990. Damals ist der vertraglich geord-nete Weg in die Einheit beinahe ausdem Tritt gekommen. Einige Abgeord-nete aus der DSU und von Bündnis 90hatten in der Volkskammer Anträgegestellt, über den sofortigen Beitrittabzustimmen. Nur mit Mühe gelanges, die Abstimmung zu verhindern, dieAnträge wurden in die Ausschüsseüberwiesen. Was aber wäre geschehen,wenn der Beitritt an diesem Tag vonder Volkskammer beschlossen wordenwäre – vor dem Abschluss des 2+4-

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markus meckel – die ost-spd und der weg zur deutschen einheit

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Vertrages, ohne Einigungsvertrag? Wiehätte die Sowjetunion reagiert, wiePolen? Welche Folgen hätte es für dieinnere, rechtliche Gestaltung der Ein-heit gegeben? Das Beispiel zeigt: Dervon beiden Regierungen und Parla-menten beschrittene Weg eines verhan-delten und vertraglich geordneten Ein-heitsprozesses hätte auch schief gehenund manches aus dem Gleichgewichtgeraten können.

Ohne Vertrag geht es nicht

Die gewählte Regierung der DDRhatte ein zentrales Interesse an einemvertraglich gestalteten Weg in die deut-sche Einheit. Allein schon aus demInteresse, die politische Stabilität inEuropa nicht zu gefährden. Dieseswichtige Interesse teilten wir mit derBundesrepublik. Darüber hinaus aberwar es unser Anliegen, in den Rege-lungen zur Einheit vieles so zu gestal-ten, dass es den berechtigten Interessender Ostdeutschen entspricht. Einigesist dabei gelungen, wie der Erhalt derBodenreform. Vieles ist jedoch nichtgelungen. Nicht nur, weil bei denwestlichen Partnern die Bereitschaftdazu fehlte, sondern insbesondereauch, weil damals die Unterstützungaus der eigenen Bevölkerung ausblieb.Denn allzu viele in der DDR erkann-ten die Notwendigkeit solcher Ver-handlungen nicht gleich – und wolltennichts mehr als die sofortige Einheit.

Als im Januar 1990 die Vereinigungnach Artikel 23 als rechtlicher Weg indie Diskussion kam, gab es auch imVorstand der Ost-SPD eine harte Aus-einandersetzung über den Weg zurdeutschen Einheit. Einige (unter ihnenIbrahim Böhme und Harald Ringstorff,der spätere Ministerpräsident Mecklen-burg Vorpommerns) wollten – wie derGroßteil der Bevölkerung – die soforti-ge und unmittelbare Vereinigung perBeitrittsbeschluss. Ihnen waren sowohlder internationale Zusammenhang alsauch die konkreten Bedingungen, dienach unserer Meinung geregelt werdenmussten, eher zweitrangig. Ich erinneremich an eine Sitzung des SPD-Vor-standes (Ost) am 14. Februar 1990, inder wir anhand erster Überlegungendarzustellen versuchten, was alles zuregeln wäre, wenn zwei so unterschied-liche Gesellschaften zusammengeführtwerden. Das Fazit: Wenn es eine Eini-gung ohne Vertrag gibt, wird das allesallein im Westen entschieden und wirsind als politisch Mitgestaltende drau-ßen. Daran konnten wir kein Interessehaben! Deshalb musste es unser Zielsein, einen vertraglich abgesichertenProzess der Vereinigung zu erreichen.

Im aufrechten Gang

Willy Brandt war es damals, der unswenige Tage später in einer gemeinsa-men Sitzung mit dem SPD-Präsidiumin Bonn half, diese Linie durchzuset-

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zen. Unser Ziel musste es damals sein,gerade um einer gut organisierten Ver-einigung willen, handlungsfähige de-mokratische Strukturen zu schaffen,also ein frei gewähltes Parlament undeine Regierung mit einem Mandat.Nur so konnten wir im Prozess derdeutschen Einheit die ostdeutschenInteressen vertreten. Nur so würde sichdie Einheit Deutschlands im aufrech-ten Gang vollziehen lassen.

Und so geschah es dann auch – ineinem ständigen Hin und Her zwi-schen den beiden Seiten in Deut-schland, und mit viel Streit innerhalbjeder der beiden Seiten. Dieses viel-schichtige Beziehungsgeflecht derEntscheidungsprozesse ist bis heuteweder angemessen wissenschaftlicherforscht noch im öffentlichen Be-wusstsein. Eine differenzierte Sicht die-ser Geschichte aber ist wichtig, weil siemit unserem Selbstverständnis heuteverbunden ist.

Die Freiheit war kein Geschenk

Dazu eine kleine Episode: Oskar La-fontaine sprach 1993 in seinem verspä-teten Bekenntnis zur deutschen Einheitim Bundestag davon, dass er sich freue,dass 16 Millionen Ostdeutsche durchdie Einheit die Freiheit erhalten hätten.Ich war verblüfft zu sehen, dass offen-sichtlich kaum jemand merkte, was dagesagt wurde – denn historisch war esja genau andersherum: Die Vereini-

gung war möglich, weil wir in derDDR – gemeinsam mit Polen, Un-garn, Tschechen und Slowaken – dieFreiheit erkämpft hatten. Wir brachteneine erfolgreiche deutsche Freiheitsre-volution in die gemeinsame deutscheGeschichte ein – Freiheit war für unskein Geschenk, das wir durch andereerhalten hatten, und sie ermöglichteden Weg zur Einheit. Sollte das für eindemokratisches deutsches Selbstbe-wusstsein und Erbe nicht wichtig sein?

II. Die Gründung der SPD

Anfang 1989 entschieden Martin Gut-zeit und ich, eine SozialdemokratischePartei in der DDR zu gründen. Diedamit verbundene Konzeption zurGründung der Ost-SPD ist später mitRecht als das entschiedenste Konzeptzur Überwindung des SED-Systemsgewürdigt worden. Schon der Aufrufzur Parteigründung – fertig gestellt imJuli 1989 und am 26. August, dem 200.Jahrestag der Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte der FranzösischenRevolution öffentlich vorgetragen –antizipierte die notwendige Überwin-dung des Systems und war zugleich einSchritt in diese Richtung. Wir definier-ten uns als Teil der Gesellschaft, dernicht nur zum Umsturz rief, sonderneine neue Perspektive, eine konkreteAlternative anbot. Gleichzeitig forder-ten wir andere auf, sich uns entwederanzuschließen oder eine andere, eigene

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markus meckel – die ost-spd und der weg zur deutschen einheit

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demokratische Perspektive anzubieten,so dass dann gemeinsam für neue Ver-hältnisse gestritten werden konnte.

Wir waren nicht entschiedenere, lei-denschaftlichere oder engagiertereGegner der SED als andere, aber wirhatten im Herbst 1989 die klarsteKonzeption zur Überwindung dieserDiktatur und zur Konstituierung vonFreiheit, Recht und Demokratie. ImSommer 1989 waren wir von dem,wenn man so will, unverschämtenSelbstbewusstsein getragen, gewisser-maßen eine – wie andere es ausdrückenwürden – „historische Mission“ zuerfüllen. Wir waren sicher, dass diesder Anfang vom Ende der SED-Herr-schaft sein würde, weshalb die Nacht,in der Martin Gutzeit und ich amMorgen des 24. Juli 1989 den Aufruffertig stellten, voll roten Weins unddiebischer Freude war.

Axt an die Wurzel der SED

Mit der Gründung einer sozialdemo-kratischen Partei stellten wir uns be-wusst programmatisch in den inter-nationalen Zusammenhang derSozialistischen Internationale. Dabeidachten wir an den „Nord-Süd-Be-richt“ Willy Brandts, das Konzept fürgemeinsame Sicherheit von OlofPalme und den Bericht zur nachhal-tigen Entwicklung der norwegischenMinisterpräsidentin Gro HarlemBrundtland. Gleichzeitig stellten wir

uns in die Tradition der ältesten de-mokratischen deutschen Partei undsetzten zugleich – durchaus gezielt –die Axt an die Wurzeln des Selbst-verständnisses der SED. Wie dieQuellen ausweisen, hat die SED dasauch so verstanden!

Entgegen mancher Äußerungenhalte ich die Gründung der Ost-SPDnoch heute für eine erstaunliche Er-folgsstory. Über ihre Bedeutung sindsich auch in der SPD heute viele nichtim Klaren. Man stelle sich doch ein-mal folgendes Szenario des Herbstesvor: Honecker und Krenz treten ab,die SED benennt sich um. Die CDUeinverleibt sich – wie getan – dieBlockpartei CDU, die Blockpartei-Liberalen. Und die SPD? Sie hättewohl geglaubt, die sogenannten Refor-mer in der SED seien die richtigenPartner. Es gab jedenfalls nicht wenigein der SPD, die diesen Weg hätten ge-hen wollen. Ich behaupte jedoch, einZusammengehen mit den SED-Nach-folgern hätte wegen der fehlenden Ak-zeptanz in der Bevölkerung zur struk-turellen Mehrheitsunfähigkeit derSPD im vereinten Deutschland übereine Generation geführt. Davor habenwir die SPD bewahrt…

Die Mauer wäre absurd

Oft wird heute sehr verallgemeinerndgesagt, dass die neuen Bürgerbewegun-gen und Parteien des Herbstes 1989

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thema – 1989 – 2009

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nur Freiheit und Demokratie in derDDR, nicht aber die deutsche Einheitwollten. Auch hier ist Differenzierungnötig. Ich möchte hier nur auf die Ziel-stellungen der SDP eingehen.

Martin Gutzeit und ich formulier-ten im Juli 1989 als Eckpunkte für diesozialdemokratische Programmatikneben der Forderung nach Demokratiewestlichen Musters zur Deutschland-politik folgende Zeilen:n „Anerkennung der Zweistaatlichkeit

Deutschlands als Folge der schuld-haften Vergangenheit.

n Besondere Beziehungen zur Bun-desrepublik Deutschland aufgrundder gemeinsamen Nation, Geschich-te und der sich daraus ergebendenVerantwortung.“

Wir hielten eine operative Einheits-politik damals nicht für möglich undtraten für eine parlamentarische De-mokratie in der DDR ein. Klar waruns, dass eine Mauer zwischen zweidemokratischen deutschen Staatenabsurd wäre, doch hielten wir das füreine spätere Aufgabe. Dagegen konnteoffen davon gesprochen werden, dasses galt, die besonderen Beziehungenzur Bundesrepublik gezielt, aber imeuropäischen Kontext auch sensibel,auszubauen.

Die Zweistaatlichkeit sollte also kei-nesfalls festgeschrieben werden, etwaals Buße für die deutschen Verbrechenim Nationalsozialismus. So argumen-

tierten Teile der westdeutschen Lin-ken, nicht wir. Für uns war gerade diesich aus der gemeinsamen (Schuld-)Geschichte ergebende Verantwortungeine Dimension der Gemeinsamkeitmit der Bundesrepublik. Was wir ab-lehnten, war eine deutsche Einheit mitder Brechstange, welche den europä-ischen Frieden gefährden konnte.

Verantwortung statt Buße

Nach der Fluchtbewegung im Laufedes Sommers 1989 sahen wir ersteChancen von Veränderungen und wirergänzten auf Anregung von ArndtNoack den ersten Anstrich vorsichtig:„Mögliche Veränderungen im Rahmeneiner europäischen Friedensordnungsollen damit nicht ausgeschlossensein.“ So wollten wir Bewegung in derdeutschen Frage andeuten und demMissverständnis einer Festschreibungder Zweistaatlichkeit wehren – wasoffensichtlich wegen der zurückhalten-den Formulierung nicht gelang. Aner-kennung bedeutete für uns nicht eindauerhaftes Festschreiben der Zwei-staatlichkeit. Sie war jedoch als Folgedes deutschen Angriffskrieges anzuer-kennen und nur so zu überwinden,dass dadurch nicht wieder eine Gefahrfür Europa erwächst. Hier ging es unsmitnichten um Buße, sondern umVerantwortung, und in dieser sahenwir uns gemeinsam mit allen Deut-schen. Es war zuerst die Verantwor-

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tung für Frieden, Freiheit und Sicher-heit in Europa, der wir uns geradeangesichts unserer Geschichte ver-pflichtet fühlten.

Was möglich ist, soll geschehen

Erst mit dem Fall der Mauer am 9.November änderte sich diese Perspek-tive. Nun wurde eine operative Ein-heitspolitik möglich. Die SDP hatdiese Möglichkeit dann auch ent-schlossen in Angriff genommen, nichterst getrieben von den Menschen,sondern aus tiefster Überzeugung. Am3. Dezember 1989 bekannte sich derVorstand in einer Erklärung zur deut-schen Frage zur Einheit der deutschenNation. Sie sollte von den beidendeutschen Staaten gestaltet werden.Voraussetzung dafür waren baldigeWahlen, damit eine legitimierte Re-gierung diese Aufgabe wahrnehmenkann.

Im Januar 1990 verabschiedete dieDelegiertenkonferenz der SDP dannfolgenden Beschluss: „ Ziel unsererPolitik ist ein geeintes Deutschland.Eine sozialdemokratisch geführte Re-gierung der DDR wird die notwendi-gen Schritte auf dem Weg zur deut-schen Einheit in Abstimmung mit derBundesregierung gehen. Was sofortmöglich ist, soll sofort geschehen. Einesozialdemokratische Regierung wirdeinen Wirtschafts- und Währungsver-bund als vorrangige Aufgabe in Angriff

nehmen. Alle Schritte des deutschenEinigungsprozesses müssen in dengesamteuropäischen Einigungsprozesseingeordnet sein. Denn wir wollen diedeutsche Einheit nur mit der Zustim-mung all unserer Nachbarn. Ihre Gren-zen sind für uns unantastbar. Wir er-streben eine europäische Sicherheits-und Friedensordnung. Wir sehen dabeifür uns die besondere Verantwortung,den Demokratisierungsprozess und diewirtschaftliche Erneuerung in Ost-Eu-ropa zu fördern.“

Willy Brandt reagierte schnell

Wir hatten die Gründung der SDPweder mit der SPD abgesprochennoch jemanden gefragt. Nach derVeröffentlichung des Aufrufs EndeAugust 1989 hörte man von EgonBahr, Karsten Voigt und WalterMomper öffentlich skeptische bis ab-lehnende Signale. Das kam uns jedocherst einmal gar nicht so unwillkom-men, da es deutlich machte, dass wirkeine Ferngründung aus dem Westenwaren. Am Gründungstag der SDP,dem 7. Oktober, beschlossen wirauch, einen Aufnahmeantrag in dieSozialistische Internationale (SI) zusenden und schickten ihn an WillyBrandt, der schnell und positiv reagier-te. Er schickte schwedische Sozial-demokraten, die uns besuchten undEnde November 1989 erhielten wirbereits den Beobachterstatus der SI.

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Gut eine Woche nach der Gründunglud der damalige SPD-Chef Hans-Jochen Vogel Steffen Reiche, der zueinem Verwandtenbesuch in den Wes-ten gereist war, in die Präsidiumssitzungder SPD ein. Obwohl es in der SPDnoch viel Diskussion über dasVerhältnis zur DDR und zur SED gab,bei der sich insbesondere NorbertGansel für uns einsetzte, war dieserBesuch der Beginn regelmäßiger Kon-takte, sowohl an der Spitze der Parteienals auch an der Parteibasis. WenigeTage nach dem Mauerfall besuchtenuns Willy Brandt, Johannes Rau, Hans-Jochen Vogel. Es wurde eine strukturel-le Zusammenarbeit verabredet. BeimSonderparteitag der SPD in (West-)Berlin im Dezember 1989 sprach ich alsVertreter der Partnerpartei in der DDRein Grußwort, am gleichen Tag hieltWilly Brandt auf dem MagdeburgerDomplatz vor Zehntausenden einebewegende Rede. Ich hatte ihn in dieStadt Ernst Reuters, er war dort von1931 bis 1933 Oberbürgermeister, ein-geladen – einen Tag vor dem BesuchHelmut Kohls in Dresden. Zur Jahres-wende half uns die SPD bei der Mobi-lität der Vorstandsmitglieder und auchspäter im Wahlkampf zur Volkskammer– und war oft entsetzt über unser Orga-nisationschaos, mussten wir doch alleStrukturen erst entwickeln und warenmaßlos überfordert.

Dabei bestanden wir auf unsererEigenständigkeit – und das Beson-

dere war: Es wurde akzeptiert und insbesondere von Hans-Jochen Vogeltrotz mancher Kritik in der eigenenPartei voll anerkannt! Das war völliganders, als wir es bei der CDU beob-achten konnten, wo die sogenannte„Allianz für Deutschland“ von derWest-CDU mit großem Druck undgoldenen Nägeln zusammengeschmie-det wurde.

Entschieden wurde hier

In vielfältiger und ständig zunehmen-der Weise wurde die Kooperation aus-gebaut. Eine gemeinsame Kommissionsollte die Positionen koordinieren. Be-rater halfen beim Organisationsaufbau– und auch bei der Formulierung voninhaltlichen Positionen. Da wurde esdann nicht selten spannend. Doch dieEntscheidungen blieben letztendlichbei uns. Als wir beispielsweise nachder Volkskammerwahl im März 1990die Koalitionsverhandlungen führten,hielten Richard Schröder und ich esfür gut, dass ein sozialdemokratischerFinanzminister aus dem Westen imDDR-Kabinett säße – und arrangier-ten durch die Vermittlung Hans-Jochen Vogels ein Gespräch mitManfred Schüler. Wir hielten dieseVariante für durchsetzbar, wennLothar de Maizière ebenfalls einenwestlichen Wirtschaftsminister nomi-nierte, was dann jedoch nicht ge-schah.

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III. In der Regierung

Das wichtigste Ziel der neu gewähltenVolkskammer und der frei gewähltenRegierung war es, die deutsche Einheitvorzubereiten, sie außenpolitisch abzu-sichern und so zu organisieren, dass diekonkreten Bedingungen im Einheits-prozess die Interessen der DDR-Be-völkerung angemessen berücksichtigen– und sich mit Erreichen dieser Ziele,mit der deutschen Einheit selbst abzu-schaffen. Darüber herrschte Einigkeitin der großen Koalition, doch in vielenFragen gab es unterschiedliche Positio-nen.

Für uns als Ost-SPD gab es dannnoch eine weitere, sehr grundsätzlicheSchwierigkeit. Als Koalitionspartnerder CDU in der DDR waren wir anden Verhandlungen direkt beteiligt,hatten unsere eigenen, spezifisch ost-deutschen Interessen, welche uns mitden Koalitionspartnern verbanden undso fühlten wir uns dann natürlich auchan die Ergebnisse der Verhandlungengebunden. Gleichzeitig waren wirSchwesterpartei der SPD, die sich imWesten in der Opposition befand undsich auf die Bundestagswahl vorbereite-te. Es war völlig klar, dass wir uns mitihr mit Erreichen der staatlichen Ein-heit vereinigen würden. Das war ansich schon eine schwierige Lage. Dazukam jedoch der programmatische undstrategische Streit innerhalb der West-SPD. Sie war in der Frage der deut-

schen Einheit innerlich tief gespalten.Die Hauptantipoden waren WillyBrandt und der Kanzlerkandidat OskarLafontaine. Die Differenzen warenschon Ende 1989 deutlich gewordenund wurden im ostdeutschen Wahl-kampf schon fast unüberbrückbar.Hans-Jochen Vogel versuchte, diePartei zusammenzuhalten und gleich-zeitig so weit wie möglich die Ab-sprachen mit uns in fairer Weise zugestalten. Weil er selbst in seinenPositionen nahe bei Willy Brandt war,nötigte ihm der Versuch, Brücken zuOskar Lafontaine zu bauen, ein hohesMaß an Selbstbeherrschung ab.

Spannungen in der SPD

Obwohl es mit Ingrid Matthäus-Meiereine Sozialdemokratin war, die um dieJahreswende 1989/90 als erste die Wäh-rungs- und Wirtschaftsunion vorschlugund die CDU erst davon überzeugtwerden musste, hat sich Oskar Lafon-taine monatelang gegen die Zustim-mung gewehrt – mit schlimmen Fol-gen für den Ruf der SPD in der DDR.Dabei hatten wir die Wirtschafts- undWährungsunion – ergänzt um dieSozialunion! – schon in unser Wahl-programm geschrieben und auf demLeipziger Parteitag als Ziel der Ost-SPD herausgestellt. Während WillyBrandt und Hans-Jochen Vogel uns inder Bildung einer Großen Koalitionunterstützten, weil wir gemeinsam der

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Meinung waren, dass die SPD in dieserhistorischen Situation eine Gestaltungs-aufgabe übernehmen müsste, schriebenuns 40 SPD-Bundestagsabgeordneteeinen Brief, die vor einer solchen Koa-lition warnten. Oskar Lafontaine woll-te sie ebenfalls verhindern. Er hatteden Wahlkampf im Blick und wollteeinen Frontalangriff auf Helmut Kohl– was so nicht möglich war, wenn wirim Osten notwendigerweise mit derBundesregierung, also mit HelmutKohl, die Einheit verhandelten unddann zu den Ergebnissen standen.

Ende im August

Ähnlich war es dann in der Frage desEinigungsvertrages. Obwohl auch wirvieles im Einigungsvertrag kritisiertenund deshalb ja auch im August 1990die Regierung de Maizière verlassenhatten, war doch die breite Mehrheitin der Ost-SPD für eine Zustimmungzum Einigungsvertrag. Die Alternative,ein Überleitungsgesetz des Bundes-tages, hätte mit Sicherheit nicht besserausgesehen (sondern viel schlechter,weil wohl manches, das wir hineinver-handelt hatten, nicht mehr enthaltengewesen wäre). Wieder unterstütztenuns Willy Brandt und Hans-JochenVogel. Doch Oskar Lafontaine wollte,dass wir den Einigungsvertrag ableh-nen. Angesichts dieser inneren Zer-rissenheit und bei diesem Kanzlerkan-didaten war es nicht verwunderlich,

dass die SPD nach der Volkskammer-wahl im März dann nach der deut-schen Vereinigung auch die Bundes-tagswahl im Dezember 1990 verlor.

IV. Der Weg zur Deutschen Einheit

Die Wahl am 18. März hatte denWillen der Bevölkerung zur schnellenVereinigung nach Artikel 23 offen-sichtlich gemacht. Wir Sozialdemo-kraten hatten vorher eine Vereinigungnach Artikel 146 vorgezogen, hätte diesdoch deutlicher gemacht, dass das ver-einte Deutschland nicht nur einfacheine durch Anschluss vergrößerte Bun-desrepublik ist. Doch waren wir unsdann in den anschließenden Koali-tionsverhandlungen mit Lothar deMaizière schnell einig, dass der Bei-trittsbeschluss nach Artikel 23 desGrundgesetzes erst mit einem ausge-handelten Vertrag vollzogen werdenkönne. Das wiederum war in der da-maligen Geisteslage keineswegs selbst-verständlich, und auch im Verlauf derfolgenden Monate tauchte aus den ver-schiedensten politischen Richtungenund Motivationen immer wieder derGedanke auf, ein unmittelbarer Beitrittmit einem dann notwendig werdendenÜberleitungsgesetz wäre besser.

Die Fülle von Problemen, die durchRegierung und Parlament in kürzesterZeit angegangen und zu denen Ent-scheidungen getroffen werden mussten,ist heute schwer nachvollziehbar. Dabei

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markus meckel – die ost-spd und der weg zur deutschen einheit

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ist es nicht verwunderlich, dass vielewichtige Einzelentscheidungen ohne dieeigentlich notwendigen Diskussions-prozesse und Abstimmungen gefälltwurden. Der Raum für eigenmächtigeEntscheidungen der Verhandlungs-führer, deren Folgen vielfach nicht vollüberblickt wurden, die sich andererseitsaber auch in der Fülle der Problemfel-der gut verstecken ließen, war jedenfallsauf DDR-Seite auf ungute Weise groß.

Der Zeitdruck war enorm

Ein großes Problem für die deutsch-deutschen Verhandlungen war derZeitdruck. Anders als oft dargestelltwird, entstand dieser Zeitdruck nichtdurch die internationale Konstellation.Natürlich musste man den 2+4-Ver-trag so schnell als möglich abschließenund keine Zeit verstreichen lassen.Doch wer sagt denn, dass kurz nachAbschluss des 2+4-Vertrages der Bei-tritt erfolgen musste? Meine Positionwar damals, dass einige Wochen länge-re Verhandlungen zum Erreichen bes-serer Ergebnisse geführt hätten. Dochwar das natürlich zuallererst eine Fragedes politischen Willens. Wer damalsdie nötige Zeit für die Verhandlungenzum Einigungsvertrag forderte, wurdeschnell diffamiert, er wolle die deut-sche Einheit nicht oder hänge an sei-nem Ministersessel – was bis in diehistorische Forschung hinein späternachgeplappert wurde.

Ein anderes Problem des Einigungs-prozesses war, dass die Bundestagswahlbevorstand. Helmut Kohl, der nach denUmfragen im Herbst 1989 keine Chan-ce hatte, wieder gewählt zu werden, sah– und wie sich zeigte mit Recht – in derEinheitsperspektive seine große Wahl-chance. Und so wurde der Einigungs-prozess für ihn auch zu einer großenwahlstrategischen Veranstaltung. Wäredas Jahr 1990 nicht auch das Jahr derBundestagswahl gewesen, hätte HelmutKohl vermutlich das Angebot Hans-Jochen Vogels angenommen, den Eini-gungsprozess jenseits parteipolitischerErwägungen als gemeinsame nationaleAufgabe anzugehen. Vieles wäre dannanders – und wie ich denke, besser –gelaufen.

Die Musik spielte in Bonn

Der Wahlkampf im Einigungsprozesswirkte deshalb auch auf die Koalitions-regierung in der DDR und bestimmteden Verhandlungsprozess wesentlich.So habe ich beispielsweise erste Ent-würfe für den Einigungsvertrag nichtvom DDR-Unterhändler GüntherKrause oder dem Ministerpräsidentenerhalten, sondern durch Indiskretionaus dem Bundeskanzleramt in Bonn.So sah die Verhandlungspraxis aus. Aufdiese Weise wurde wichtiges Vertrauenzerstört, das Grundlage für die Hand-lungsfähigkeit der DDR-Koalition ent-sprechend den gemeinsam vereinbarten

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Zielstellungen war. Die Konstellationdes Wahljahres führte letztlich dazu,dass wichtige Entscheidungen im Eini-gungsvertrag mehr zwischen der Koali-tion und dem Bundesrat in Bonn aus-gehandelt wurden als zwischen derRegierung der DDR und der Bundes-regierung. Viele Entscheidungen blie-ben (im Osten) umstritten, seien es dieFinanzierungsfragen oder die Stimm-verhältnisse im Bundesrat. Ein gelun-genes Beispiel war die Regelungen zumSchwangerschaftsabbruch (§ 218). Sieist eines der ganz wenigen Beispiele,wo im Gefolge der Vereinigung fürganz Deutschland eine auch von vielenMenschen im Westen gewünschte Re-form möglich wurde, die vorher nichtdurchsetzbar war.

Dass die Volkskammer dann am 23.August 1990 einen Beitrittstermin fest-legte, bevor der Einigungsvertrag fertigausgehandelt war – was natürlich fürjeden Verhandlungsführer, der nochetwas durchsetzen will, eine völlig un-mögliche Situation ist –, machte nurnoch die Unfähigkeit der DDR-Regie-rung offenkundig, eigenständige Posi-tionen auch umzusetzen. Die Musikspielte schon in Bonn. In Berlin hatteman das Zepter im Grunde schon ausder Hand gelegt.

Mit welchem Ansatz sind wir damalsin die Verhandlungen gegangen? Wirwollten ein geeintes Deutschland, das inder Kontinuität der BundesrepublikDeutschland und doch nicht einfach

eine vergrößerte Bundesrepublik ist, son-dern ein neues Gemeinwesen, ohne inOstdeutschland einfach alles überneh-men zu müssen, was in Westdeutschlandgewachsen ist. Wir glaubten, dass dieVereinigung Deutschlands und gesamt-deutsche Reformen verbunden werdenkönnten. Das erwies sich als großerTrugschluss, was bei vielen erst einmalzu großen Enttäuschungen führte. Man-che in der SPD im Westen hatten dieseHoffnung geteilt. Sie überschütteten unsmit Reformvorschlägen, die wir in dieVerhandlungen einbringen sollten, ob-wohl sie im Westen immer wieder ge-scheitert waren. Wir waren in diesenWochen gar nicht in der Lage, alles zulesen, was uns da auf den Tisch kam!

Möglichst ohne Schmerzen

Wolfgang Schäuble hat sich später zudem Grundsatz bekannt, „es gehe jetztum die Einheit und nicht darum, beidieser Gelegenheit etwas für die Bun-desrepublik zu ändern.“1 Er bezog dasauf entsprechende Diskussionen inner-halb der westdeutschen Delegation. Esgalt aber auch für die Positionen gegen-über der DDR-Regierung. So wurdeder Einigungsvertrag zu einer Meister-leistung der Administration der Bun-desrepublik. Er war der großangelegteVersuch, die völlig anderen gesellschaft-

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markus meckel – die ost-spd und der weg zur deutschen einheit

1 Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandel-te, Stuttgart 1991, S. 156

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lichen Verhältnisse der DDR in dasbundesdeutsche Rechtsgefüge einzu-passen. Und zwar so, dass es möglichstwenig Schmerzen im Osten verursacht– aber auch eigene Veränderungen mög-lichst nicht notwendig macht. Anschlusswar angesagt! Dieses Gefühl, nicht wirk-lich ernst genommen zu werden, hatspäter bei großen Teilen der DDR-Be-völkerung zu negativen Bewertungendes Einheitsprozesses geführt, worausdann PDS bzw. LINKE maßgeblichprofitierten. Im Nachhinein kann manzwar immer noch über jeweils konkreteRegelungen streiten. Dass damals Fehlergemacht wurden, wird heute von nie-mandem bestritten. Wieweit damals dis-kutierte Alternativen die Probleme aberwirklich besser gelöst hätten, wird auchheute noch vermutlich unterschiedlichbewertet.

Keine neue Verfassung

Ein wichtiges Beispiel dabei ist dieVerfassungsfrage. Schon in der Ver-fassungskommission des RundenTisches als auch in der Volkskammergab es viel Streit. Umstritten war schonder Status des Verfassungsentwurfs desRunden Tisches, der von ihm nie be-schlossen, sondern in der letzten Sit-zung nur diskutiert wurde. Entgegenunseren Vorstellungen im Spätherbst1989 war die Gestaltungsaufgabe derdeutschen Einheit nach der Wahl imMärz 1990 so weit fortgeschritten, dass

es der Mehrheit in der Volkskammernicht mehr sinnvoll erschien, eine eige-ne DDR-Verfassung zu erarbeiten undzu verabschieden. Lothar de Maizièrehat dann zwar noch den Versuch un-ternommen, die DDR-Verfassung von1949 mit Änderungen einzubringen,das aber dann wieder fallen gelassen.So wurden wir uns dann schnell einig,dass es nur ein Verfassungsgrundsätze-gesetz geben soll, um die Rechtslageder sich dynamisch entwickelnden po-litischen Entwicklung anzupassen.

Aufbau ohne Beispiel

Gemeinsames Ziel war jedoch, dass dasgeeinte Deutschland auf der Grundlagedes Grundgesetzes sich eine neue Ver-fassung gibt. Die West-SPD unter-stützte dies ausdrücklich. Im März1990 habe ich in einem Spiegel-Ge-spräch mit Wolfgang Schäuble daraufhingewiesen, dass es uns nicht darumgeht, viel am Grundgesetz zu ändern,sondern darum, dass alle Deutschensich selbst eine Verfassung geben. Ichglaube noch heute, dass dies die Iden-tifikation auch der Ostdeutschen mitdem geeinten Deutschland als ihremStaat und Gemeinwesen verstärkthätte. Aber auch das wurde abgelehnt.Übrig blieb dann die gemeinsame Ver-fassungskommission von Bundestagund Bundesrat von 1991 bis 1994 –mit dürrem Ergebnis, weil die CDUkaum zu Änderungen bereit war.

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Inzwischen sind 20 Jahre vergangen.Im Osten Deutschlands ist ein Aufbaugeleistet worden, der seinesgleichensucht. Bei allen noch vorhandenenUnterschieden in Ost und West stehenwir angesichts der globalen Entwick-lungen vor gemeinsamen Herausfor-derungen, die wir auch nur gemeinsambewältigen können. Das gilt für uns in

Deutschland wie auch in dem inzwi-schen vereinten Europa, das noch hand-lungsfähiger werden muss. Der Rück-blick auf die damalige Zeit macht unsdeutlich, dass es auch heute wichtig ist,Verantwortung für die eigene Wirklich-keit zu übernehmen und dass es manch-mal möglich ist, etwas zu erreichen, wasvorher jenseits des Denkbaren schien. ¢

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markus meckel – die ost-spd und der weg zur deutschen einheit

M A R K U S M E C K E L

war 1989 Mitbegründer der SDP sowie 1990 letzter Außenminister der DDR und ist heute

Bundestagsabgeordneter der SPD.

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GÜNTHER JAUCH

Berlin statt Wien

Am 9. November saß ich mit mei-ner Frau und meiner erst wenige

Monate alten Tochter in München vordem Fernseher. Ich hatte für das anste-hende Wochenende eine Reise nachWien gewonnen und begann geradeden Koffer zu packen. Nie war Wienweiter entfernt als an diesem Abend.Ich wollte mich sofort ins Auto setzen,um nach Berlin zu fahren, aber Frauund Kind war das dann auf die Schnel-le doch zu beschwerlich. Wegen desNachtflugverbots ging kein Flugzeugmehr raus. So schaute ich bis weit nachMitternacht fern und fuhr danachdurch München. Ich wähnte dieMenschen tanzend auf den Straßen –mindestens wie beim Gewinn einerFußball-WM. Aber es war gar nichts.Und auch die Lichter hinter den Fens-tern waren gelöscht. München schliefwie jeden anderen Abend auch.

Ich machte kein Auge zu und standam Morgen des 10. November um 4

Uhr früh als erster am Flughafen undhatte Sorge, kein Ticket der Pan Ame-rican mehr nach Berlin zu bekommen.Auch da schauten mich verwunderteGesichter an. Die Flüge bis 10 Uhrmorgens waren keineswegs ausge-bucht. Die meisten hatten das Wun-der gar nicht begriffen. Um 8 Uhrmorgens landete ich in Berlin undpendelte mit S- und U-Bahn ständigzwischen Ost und West. Ich habe eineFrau in Ost-Berlin angesprochen,doch mit mir – zum ersten Mal inihrem Leben – in den Westen zu fah-ren und sie stieg im letzten Momentzu mir in die S-Bahn zum BahnhofZoo. Dort bestellte sie in der nächstenKneipe erst mal einen „Kleinen Brau-nen“ und die Bedienung lachte nur.Die hatte acht Wochen vorher überUngarn „rüber gemacht“ und wusste,was sie bringen musste.

Ich bin in Berlin in der Nähe derMauer aufgewachsen und erlebte jetztmit die glücklichsten Tage meinesLebens. Mir war sofort klar, dass ichdie längste Zeit in München gewohnthatte. In der Nacht des 9. November

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Mein 1989NOTIZEN VON GÜNTHER JAUCH, PEER STEINBRÜCK,

MANFRED STOLPE, HANS-OTTO BRÄUTIGAM, RAINER SPEER,

MARTINA MÜNCH, JÖRG SCHÖNBOHM UND HEINZ VIETZE

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hatte ich mich praktisch von Bayernverabschiedet und wollte so schnell wiemöglich in den Osten. Jetzt lebe ichschon lange fast in Sichtweite derGlienicker Brücke.

Ach so: Die schöne Wien-Reise ha-ben wir verfallen lassen. Nie war einVerlust schmerzloser. ¢

GÜNTHER JAUCH ist Fernsehmoderatorund lebt in Potsdam.

PEER STEINBRÜCK

Mit Rau in Leipzig

A m 9. November 1989 war ichgemeinsam mit Johannes Rau,

Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, unterwegs in der DDR. Ichwar damals sein Büroleiter und beglei-tete ihn. Diese Reise war lange verabre-det und doch ein unglaublicher Zufall.Nach einem Termin in Ost-Berlinfuhren wir weiter nach Leipzig, wo wiram frühen Abend eintrafen. Natürlichstanden wir alle unter einer gewissenAnspannung angesichts der zurücklie-genden Monate und der Montagsde-monstrationen, die von dieser Stadtausgegangen waren und immer stärke-ren Zulauf hatten.

Kaum in Leipzig angekommen,nahm Johannes Rau wie selbstverständ-lich am Friedensgebet in der Nikolai-kirche teil, nicht „nur“ als Christ, son-dern als westdeutscher Spitzenpolitikerund prominenter Sozialdemokrat. Ihmwar das ein Herzensanliegen. Die poli-tische Wirkung dieser Solidaritätsde-monstration war ihm natürlich sehrbewusst.

Am Abend hielt er dann eine Redeüber den Kunstaustausch zwischenNordrhein-Westfalen und der DDR.Während er sprach, wurde ihm einZettel gereicht. Darauf standen jene

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vier elektrisierenden Worte, die baldum die Welt gingen: „Die Mauer istauf.“ Die folgenden Stunden schilderteRau sehr viel später – als Bundesprä-sident – ziemlich nüchtern und be-scheiden. Er habe seine Rede schnellst-möglich zu Ende gebracht, um amFernseher die Ereignisse in Berlin zuverfolgen. In Wirklichkeit, jedenfallsnach meiner Wahrnehmung, hielt er inLeipzig spontan eine der besten Redenseines politischen Lebens. Er teilte sei-nem Publikum das Unglaubliche mitund verfiel dabei weder in falschesPathos noch erzeugte er falsche Hoff-nungen. Dennoch schaffte er dasKunststück, jedem die historische Di-mension der Maueröffnung deutlich zu machen. Natürlich konnte auch ernicht ahnen, was sich in den Tagen,Wochen und Monaten danach abspie-len würde. Aber uns war bewusst, wel-che soziale und politische Dynamiksich nun endlich würde entfalten kön-nen.

Es wurde ein langer und bewegen-der Abend. Johannes Rau hatte damalsschon lange engen Kontakt zu Man-fred Stolpe und war – abseits der offizi-ellen Berichterstattung in der DDRund der Berichte unserer Medien –bestens im Bilde darüber, was in derDDR und in der Kirche vor sich ging.Und es war Johannes Rau, der bei sei-nen Besuchen in der DDR regelmäßigund meist vor laufenden Kameras die

Stasi-Spitzel zur Seite drängte, wennihm eine Bürgerin oder ein Bürger derDDR seine Lage schildern oder ihmeinfach „nur“ einen Zettel zusteckenwollte. Davon erzählte er am Abenddes 9. November. Manches kam mirbekannt vor – nicht nur, weil ich man-che dieser Geschichten bereits kannte,sondern weil ich zwischen 1980 und1981 Mitarbeiter in der StändigenVertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin gewesen bin und mir oft dieFrage gestellt hatte, wie ich denn mitden Verhältnissen in der DDR klar-kommen würde, wenn ich eben nichtnur so etwas wie ein „DDR-Bürger aufZeit“ wäre. Hätte ich mich angepasst?Wäre ich in die „innere Opposition“gegangen? Oder hätte ich denselbenMut gehabt wie die Bürgerrechtler, die kirchlichen und politischen Oppo-sitionellen, die Nichtangepassten? Eineehrliche Antwort fällt da schwer. DieHelden aus Leipzig haben sie für sichgefunden. Am 9. November 1989 habeich viele von ihnen kennen lernen dür-fen. ¢

PEER STEINBRÜCK war 1989 Bürolei-ter des nordrhein-westfälischen Minis-terpräsidenten Johannes Rau und istheute Bundesfinanzminister sowie stell-vertretender SPD-Vorsitzender.

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MANFRED STOLPE

Der Anfang vom Ende

F ür mich war die „Friedliche Revo-lution“ ein Prozess, der sich lang-

sam anbahnte – und zwar spätestensmit Gorbatschows Machtantritt. Ausdem spöttischen „Von der Sowjetunionlernen, heißt siegen lernen“ wurde einSatz, den immer mehr Menschen mitheißen Herzen wiederholten. Damitstieg der Druck auf die DDR-Führung– und zwar sowohl von außen, vonGorbatschow aus, als auch von innendurch die wachsende Reformerwartungim eigenen Land. Diese Hoffnungenwurden zunehmend lauter artikuliertund 1987 gab es auch ein paar An-zeichen der Veränderungen. Damalsreiste Honecker nach Bonn, die SED-Führung fraß Kreide, genehmigte zumBeispiel den nicht-staatlich organisier-ten Olof-Palme-Friedensmarsch. Injener Zeit wurden dann auch dieKernforderungen der Oppositionimmer klarer formuliert: Es ging umReisefreiheit. Um Meinungsfreiheit.Und die Freiheit, sich in die eigenenAngelegenheiten einmischen zu kön-nen. Begriffe wie Demokratie tauchtennicht auf, es ging eher um wenigerBevormundung, zunehmend auch umeine effektivere Wirtschaft. Doch 1988tauchte die DDR-Führung fast kom-plett ab und wurde im Ostblockimmer stärker isoliert. Nichts wurde

mehr entschieden und so entstandimmer mehr eine Ruhe vor demSturm, fast eine Friedhofsruhe.

Mein persönliches „Wende-Erleb-nis“ hatte ich dann schon im Januardes Jahres 1989. Zwischen Weihnach-ten und Neujahr gab ich in der Sprin-ger-Zeitung Die Welt ein Interviewüber die Reiseregelungen der DDR.Dabei habe ich das Regime mit einerkleinen Nebenbemerkung kritisiert,dass die Regelungen nicht ausreichenwürden. Das Interview hat Honeckerwohl sehr verbittert. Und zwar so sehr,dass ich von nun an als „Klassenfeind“abgestempelt wurde. Honecker hat diesdann über den ZK-Sekretär für Propa-ganda in allen Zeitungen, über Fern-sehen und Rundfunk verbreiten lassen.

Solche Kampagnen hatte es in denJahren zuvor schon öfter gegeben. Zielwar meist, jemanden mundtot zu ma-chen oder ihn gar zur Ausreise zu drän-gen. Wenn eine solche Kampagne ein-setzte, war man in der DDR eigentlichein „toter Mann“, als Unterhändlerwäre man jedenfalls erledigt gewesen.

Doch dann, im Januar 1989, pas-sierte etwas Ungewöhnliches. Noch amselben Tag, als ich die Meldungen übermich in der Zeitung las – und durch-aus etwas geschockt war, meldete sichder Magistrat von Berlin bei mir. Auchdas Außenwirtschaftsministerium und

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der Rat des Bezirkes Potsdam riefenan. Es ging dabei um verschiedenekirchliche und humanitäre Anliegen,die von mir dort lagen. Keiner derAnrufer nahm Bezug auf die Zeitung.Man teilte mir jedoch mit, dass meineAnträge alle in Ordnung gingen. Nor-malerweise hätten die das nicht ma-chen können, die hätten einfach denKopf einziehen müssen. Doch jetztgenehmigten sie verschiedene Sachenund teilten es mir offenbar nach Lek-türe der Angriffe gegen mich mit.Insgesamt ein sehr außergewöhnlicherVorgang. Damals dachte ich zum ers-ten Mal: Das ist der Anfang vom Ende– wenn jetzt schon die Unterführergegen den offiziellen Strom schwam-men.

Dann ging alles Schlag auf Schlag.Es kam zu den Wahlbeobachtungen imMai 1989 durch Oppositionsgruppen,es gab die Proteste gegen die offen-sichtlichen Wahlfälschungen. Es kamdie Angst vom Platz des HimmlischenFriedens in Peking, im Sommer danndie immer größer werdende Zahl derAusreisenden. Es folgte der 40. Jahres-tag der DDR, die Montagsdemonstra-tionen, die Absetzung Honeckers.

Am Tag nach Honeckers Sturz trafsich der neugewählte SED-Chef EgonKrenz mit der Evangelischen Kirche.Er wollte uns mitteilen, was er vorhat-te. Er sprach davon, das Wahlrecht zu

ändern. Er wollte Oppositionsgruppenzulassen und andere Meinungen dul-den. Er wollte die Wirtschaft effektivermachen. Und er kündigte uns an, dassbis Weihnachten alle Leute reisen dürf-ten.

Am Abend des 9. Novembers gab esdann ein Treffen von Vertretern derEvangelischen Kirche, der SED, derCDU, der LDPD und Oppositions-gruppen, einschließlich der neu ge-gründeten SDP. Es ging um die Vor-bereitung des Runden Tisches. Ich saßim Podium, als mir ein Zettel herein-gereicht wurde, dass Schabowski dieReisefreiheit verkündet habe. Ich habedas nicht dramatisch genommen, ichkannte ja die Ankündigung, dass daspassieren solle. Ein paar Tage zuvorhatte uns der Ost-Berliner OB dasnochmal zugesichert, wenn auch ohneDatum. So war dies für mich eher ein„normaler Vorgang“. Bis ich dannerfuhr, dass in der Zwischenzeit dieMenschen im Osten der Stadt denSchabowski Ernst nahmen und auf dieGrenze zuliefen. Ich bekam Angst, dassdie Situation eskalieren könnte – im-merhin waren die Grenztruppen soeine Art Eliteeinheit. Und mir warklar, dass die an diesem Abend keineBefehle hatten, die Grenze zu öffnen.Und so war es ja auch. Das Politbürohatte beschlossen, fuhr nach Wandlitzund war nicht mehr erreichbar. Unddie Kommandeure an der Grenze wuss-

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ten nicht, was los war. In jenen Stun-den befürchtete ich, dass geschossenwürde und die Friedliche Revolutionmöglicherweise auf einen Schlag verlo-ren wäre. Später am Abend kriegte ichdann mit, dass der Kommandeur ander Bornholmer Straße den Schlag-baum geöffnet hatte und auch dieanderen Grenzübergänge offen waren.Tief in der Nacht war ich dann in mei-ner Ost-Berliner Wohnung, im 21.Stock: Unter mir war alles fröhlich underleuchtet. Und ich habe tief undglücklich geschlafen. Denn die Unter-drückungsmacht hatte kapituliert unddas Volk sich selbst befreit. Das warder offenkundige Sieg der Kerzenrevo-lution. ¢

MANFRED STOLPE war Konsistorial-präsident der Evangelischen Kirche inder DDR und Ministerpräsident desLandes Brandenburg.

HANS OTTO BRÄUTIGAM

Einfach durchgehen

N ach knapp sieben Jahren alsStändiger Vertreter der BRD in

Ost-Berlin trat ich im Januar 1989mein neues Amt als Botschafter beiden Vereinten Nationen in New Yorkan. Schon wenige Monate später über-stürzten sich in der DDR die Ereignis-se. Mit gespannter Aufmerksamkeitverfolgte ich von Amerika aus dasGeschehen. Jeden Abend saß ich umMitternacht gespannt vor dem Radiound verfolgte die Berichte der Deut-schen Welle.

Am 9. November hörte ich abendsin den amerikanischen Nachrichten,Günter Schabowski habe nach einerSitzung des Zentralkomitees völligüberraschend ein neues Gesetz fürWestreisen angekündigt und daraufhingewiesen, dass die Grenzübergängein die Bundesrepublik und nach West-Berlin für den Reiseverkehr geöffnetwürden. Auf eine Frage nach demInkrafttreten habe er geantwortet:„Sofort, unverzüglich.“ In Berlin ver-breitete sich die Meldung wie einLauffeuer. Noch in der Nacht ström-ten Tausende DDR-Bürger über dieoffenen Sektorenübergänge nach West-Berlin. Das war der Fall der Mauer.Ich konnte es erst gar nicht glauben.Mein erster Gedanke war, wie lange

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wird das dauern? Wann kommt derRückschlag? Doch wie sich bald zeigte,unternahmen die DDR und die So-wjetunion keinen Versuch mehr, dieMauer wieder zu schließen. Sie fürch-teten wohl den Volkszorn, der dannausbrechen würde.

Anfang Januar 1990 fuhren meineFrau und ich von Bayern aus, wo wirUrlaub machten, nach Berlin. Wir hat-ten ein unwiderstehliches Bedürfnis,die Stadt nach dem Fall der Mauerschnell wiederzusehen. Es war spät amAbend, als wir in Ost-Berlin ankamen,und wir gingen gleich noch um Mitter-nacht zum Brandenburger Tor. Es gabkeine Absperrung mehr und auchkeine Kontrollen. Wir gingen einfachdurch das Tor. Ein unbeschreiblichesGefühl der Freude überkam uns. Wirfühlten uns von einer drückenden Lastbefreit, unter der so viele Menschen inOst und West gelitten haben. Dannerreichten wir die Mauer, wir berühr-ten sie mit den Händen, als wolltenwir sie wegräumen, und überall sahenwir kleine Öffnungen, wo die „Mauer-spechte“ schon tätig gewesen waren. ¢

HANS OTTO BRÄUTIGAM war von1982 bis 1989 Ständiger Vertreter derBRD in der DDR und von 1990 bis1999 Justiz- und Europaminister desLandes Brandenburg.

RAINER SPEER

Machtfragen

Z ur Sozialdemokratie kam ich EndeOktober 1989. Ich hatte davon

gehört, dass es bei der evangelischenKirchengemeinde in Babelsberg einKontaktbüro der Bürgerbewegungengeben sollte. Dort traf ich tatsächlichauch auf jemanden von der SDP: JesMöller, heute Verfassungsrichter inBrandenburg. Vorher kannten wir unsnicht. Er sagte mir: „Das ist ja wirklichgut, dass Du da bist! Ich kann nämlichmorgen nicht hier sein. Dann kannstDu ja hier sitzen.“ So wurde ich für dieSDP kurzerhand „rekrutiert“ – undhatte auch gleich eine Aufgabe. Seit-dem bin ich dabei.

Dass der SDP überhaupt Erfolgbeschieden sein würde, ist für michnoch einige Wochen zuvor keine aus-gemachte Sache gewesen. Von derGründung der neuen Partei erfuhr ichnoch am 7. Oktober, dem 40. Jahres-tag der DDR. Ich saß in Falkensee beimeiner Mutter im Garten, als der SFBdie Meldung brachte, in Schwante hät-te sich eine Sozialdemokratische Parteigegründet. Ich habe spontan laut losge-lacht. Ich hielt das damals eher für eingelungenes Polithappening, eine ziem-lich coole Idee, die einigen Charmehatte. Juristisch müsste das in Ord-nung gehen, dachte ich mir. Denn

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selbst die Verfassung der DDR billigteden Bürgern ja das „Recht auf Vereini-gung“ zu – auch in Parteien. Allerdingszweifelte ich daran, dass die Neugrün-dung Bestand haben würde.

Mir war im Sommer und Herbst1989 klar, dass man etwas tun müsste.Die Situation in der DDR wurde immerunhaltbarer. Natürlich habe ich dieDynamik, die die Ereignisse dann imHerbst bekommen sollten und die letzt-lich zum Ende der DDR führen sollten,nicht vorhergesehen. Ich war schonimmer politisch interessiert und hattemich auch vor 1989 hier und da enga-giert. Das war aber eher sporadisch undunorganisiert – mal ging es um Frie-densfeste und Kulturveranstaltungen,mal um den Denkmalschutz, als diePotsdamer Stadtoberen Ende der achtzi-ger Jahre beschlossen hatten, die zweitebarocke Stadterweiterung platt zumachen. Noch heute ist das eine ziem-lich gruselige Vorstellung. Im Grundehatte ich wie viele andere auch immerdas Ziel, aus der DDR etwas Besseres zumachen, als sie war. Das war nun aller-dings ein Anliegen, dass die damalsVerantwortlichen in Staat und Parteiüberhaupt nicht verstanden. Ihr dauern-des Misstrauen war uns gewiss; meist lie-fen wir gegen die Wand.

Aber 1989 war anders. Da war zu-nächst die Fluchtwelle in den Westen.Es gingen so viele vernünftige Leute,

auch gute Freunde. Im August gingauch mein Kompagnon, mit dem ichzusammen eine Werkstatt in Potsdambetrieb, über die grüne Grenze in Un-garn. Die Ausreisewelle bestärkte michin der Überzeugung, dass man jetztwirklich etwas tun muss, damit dieDDR sich ändert. Sonst bleibt hierwirklich nur noch „der dumme Rest“,wie manche damals spotteten. Die DDRblutete aus und der SED-Führung fieldazu nur ein, man solle den Flüchtlin-gen „keine Träne nachweinen“. Mir warklar, dass es so nicht weitergehen konn-te. Das war für mich eine wesentlicheMotivation, mich einzumischen.

Das Neue Forum hatte sich damalsschon gegründet. Auch andere Grup-pierungen waren aktiv. Also habe ichmich ein bisschen umgeschaut. Wasmich am Neuen Forum störte, war einaus meiner Sicht eigenartiges Verständ-nis von Macht. Macht erschien dort alsetwas irgendwie „Unanständiges“, manwollte sie eigentlich gar nicht. DiesesVerständnis war damals nicht unty-pisch für viele Bürgerbewegte. Bei derSDP war das anders: Sie wollte Parteisein, sie hatte ziemlich klare program-matische Ziele und sie ließ keinenZweifel daran, dass sie die Macht tat-sächlich wollte, um die Dinge zu ver-ändern. Das entsprach ganz meinemPolitikverständnis. So war der Weg indas Babelsberger Kontaktbüro vorge-zeichnet.

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Ich habe mich gleich, nachdem ichzur SDP gefunden hatte, um organisa-torische Fragen gekümmert. Das lagmir. Vor allem ging es darum, diejunge Partei zu verbreitern, ihr aucheine Basis vor Ort zu geben. So fuhrich zu Demonstrationen und hielt dortReden. Hinterher meldeten sich immerLeute, die mitmachen wollten. Ich habedann irgendjemandem den Hut aufge-setzt und ihm gesagt: „So, Du bist jetzthier der Vorsitzende.“ Und die anderenwaren dann die Mitglieder. So wuchsdie Partei. Es ging Schlag auf Schlag.Ähnlich lief es bei der Gründung desSDP-Bezirksverbands und der SDPPotsdam. Diese Gründung fand ineinem Raum statt. Die einen stelltensich auf die eine Seite – die waren dann„der Bezirk“. Und die anderen warenauf der anderen Seite – das war danndie Potsdamer SDP. So lief das damals.Aber es ging voran.

Mittlerweile war die Mauer geöffnetworden. Ich bin mit meiner Frau nochspät am 9. November nach West-Berlingefahren. Mit unserem Trabi fuhrenwir über die GrenzübergangsstelleStaaken zum Ku‘damm. Irgendwannmorgens gab es eine Sonderausgabeeiner Berliner Zeitung mit der Schlag-zeile „Die Mauer ist weg!“. Ich dachtemir gleich: Wieso das? Die Mauer istdoch noch da! Und im Zweifelsfallwird sie wieder zugemacht. Mir war dasdamals noch nicht so klar wie anderen,

dass die Entwicklung wirklich unum-kehrbar war. Das war für mich einzusätzliches Motiv, mich politisch zuengagieren. Es ging ganz grundsätzlichdarum, die demokratische Entwicklungin der DDR wirklich irreversibel zumachen. Am nächsten Tag waren wirwieder in West-Berlin. Nachmittagshörten wir, dass die Glienicker Brückegeöffnet werden sollte. So kam es, dasswir als DDR-Bürger die GlienickerBrücke eigenartigerweise zuerst vonWest-Berlin aus in Richtung Potsdamüberfuhren. Das war ein ganz beson-deres Erlebnis. Offiziell hieß sie ja„Brücke der Einheit“ – aber für michwar sie immer ein Symbol der Teilung.Ich freue mich heute noch immer jedesMal, wenn ich über diese Brücke fahre.Das wird wohl immer so bleiben. Dasvergisst man nicht.

Der Aufbau der SDP ging unterdes-sen voran. Wir bekamen sogar Unter-stützung vom Rat des Bezirkes. Er sorgte dafür, dass ich zum Beispiel einTelefon erhielt. In den Westen konnteman damit aber nicht telefonieren. Umdas zu ändern, bekam ich irgendwanneinen Riesenkasten, ein C-Netz-Mobil-telefon. Das war damals der neuesteSchrei und uns in der DDR natürlichganz unbekannt. Das Koaxialkabelführten wir durch den Schornstein aufsDach. Wenn der Wind falsch stand,funktionierte es aber immer nochnicht. Deshalb fuhr ich jeden Tag mit

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dem Fahrrad über die GlienickerBrücke nach West-Berlin. Dort hattedie Bundespost ein paar Telefonzellenaufgestellt. Was für die SDP telefo-nisch zu organisieren und zu verabre-den war, erledigte ich dann dort. Auchden Tagesspiegel holte ich mir täglichvon einer Polizeidienststelle ab. Weilman noch bei jeder Ein- und Ausreiseeinen Stempel bekam, hatte ich baldeine Art Leporello in meinem Ausweis.

Der Umgang mit der „Machtfrage“sollte den weiteren Aufbau der SDP, diesich im Januar in SPD umbenannte,weiter begleiten. Die Frage stellte sichnach der für die SPD enttäuschend ver-laufenen Volkskammerwahl im März1990. Sollte man in eine Koalition ein-treten? Auch regional war zu entschei-den, ob man sich in die Bezirksverwal-tungen einklinkte oder nicht. Das wardamals sehr umstritten. Ich war immerdafür, mitzumachen. Ich meinte, diemachen da ja immer noch was. Undwenn es nicht das ist, was wir wollen,müssen wir Einfluss nehmen. Wir kön-nen nicht abseits stehen. Diese Liniesetzte sich letztlich durch.

Dass der Zug unaufhaltsam in Rich-tung schnelle Einheit rollte, habe icherst spät wahrgenommen. Die SPD warbei dieser Frage zögerlich. Wir warenzwar nicht gegen die Einheit, aber wirstellten uns damals eher angepassteSchritte vor, eine Konföderation, die

Anpassung von Eigentums- und Rechts-verhältnissen, einen geordneten Eini-gungsprozess ohne abrupten Bruch. Dahaben wir uns gründlich verschätzt. DieLeute wollten klare Verhältnisse. DieVolkskammerwahl wurde praktisch zumPlebiszit über die schnelle Einheit.Noch eine Woche zuvor lag die SPDnach einer Infratest-Umfrage bei 44Prozent, am Wahltag erreichte die Par-tei gerade mal die Hälfte davon. Daswar deutlich. Die Leute wollten nichtmehr warten. Je stärker die Regionen inder DDR industriell geprägt waren,umso schlechter war das Ergebnis fürdie SPD.

Zu dieser Zeit war ich schon voll inden Aufbau und die Arbeit für die SPDeinbezogen. Ich hatte mich entschieden.Im Herbst 1989 hatte ich mir noch vor-genommen, meine Werkstatt für vierMonate zuzumachen und dann wiedermit der Arbeit dort anzufangen. Darauswurde nichts. Die Wende in der DDRsollte auch mein persönliches Leben ineinem Ausmaß auf den Kopf stellen, dasich mir damals nicht habe vorstellenkönnen. Aber es ist gut, dass es so ge-kommen ist. ¢

RAINER SPEER war Mitbegründer derSDP in Potsdam und ist heute Finanz-minister des Landes Brandenburg.

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MARTINA MÜNCH

Wahnsinn!

I ch bin im Südwesten der Republikaufgewachsen, in Mannheim. Wir

hatten keine Verwandte in der DDR,und ich erinnere mich nur in meinerfrühen Kindheit daran, dass wir zuWeihnachten Zutaten für DresdnerStollen mit Kaffee und Nylonstrümp-fen nach Dresden schickten und einigeZeit später von einer mir völlig unbe-kannten Frau Dresdner Stollen undauch eine Puppe oder einen Teddybä-ren geschickt bekamen. Später gab esdie Klassenfahrten nach West-Berlin,die staatlich unterstützt wurden, unddie legendär unter Schülern waren,weil man viel Aufregendes erleben unddie Nächte in dieser ungewöhnlichenStadt durchmachen konnte. Meineersten bewussten Bilder von der DDRsind wohl bei diesen Zugfahrten vonund nach West-Berlin entstanden. Icherinnere mich an endlos graue, irgend-wie leblose Städte und an jenen eigen-tümlichen Geruch in den Zügen undauf Bahnhöfen, der allgegenwärtig warund den man heute kaum noch origi-nal wahrnehmen kann. Das letzte Malhabe ich ihn in der Stasi-Gefängnis-Gedenkstätte in Hohenschönhausengerochen.

Politisch haben wir linken Jusos dieDDR durchaus mit Wohlwollen be-

trachtet: Wenigstens den Versuch desSozialismus auf deutschem Boden gabes, wenn auch unvollkommen. DieKonservativen, die immer auf Wieder-vereinigung pochten, taten wir leicht-fertig als Revanchisten ab, die zentraleStelle zur Dokumentation des DDR-Unrechts in Salzgitter hielten wir fürüberflüssig. Als ich später politischeHäftlinge und ihr Schicksal kennenge-lernt habe, habe ich mich für dieseleichtfertige und ignorante Haltunggeschämt.

Mein späterer Mann kam aus West-Berlin, und da lebten wir ab 1985 mitUnterbrechungen – auf Tuchfühlungmit Berlin, Hauptstadt der DDR.Dennoch betraf der Osten uns nichtwirklich. Wohl sahen und rochen wiran kalten Tagen die Smogglocke, diesich infolge der Braunkohlefeuerungüber die ganze Stadt verbreitete, abermit der Teilung und der Mauer hattenwir uns abgefunden, die Wiederver-einigung hatte mit unseren Lebens-perspektiven wenig zu tun.

Matthias Platzeck schreibt, dass esihm um sein Land, die DDR ging,dass ihm die BRD fremd war, ein un-bekanntes Land. Gerade so erging esuns, die wir nach dem Mauerbau gebo-ren waren, mit der DDR. Wohl nah-men wir schon vor dem Sommer 1989die Unruhe im Ostblock wahr, Gor-batschow war für uns fast so etwas wie

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ein Popstar, Lech Walesa ein Held.Die Vorgänge in Ungarn fasziniertenuns sehr, täglich verfolgten wir dieMeldungen im Fernsehen, sahen diewachsenden Menschenmassen in derdeutschen Botschaft, Genschers Ver-mittlungsbemühungen und schließlichden Jubel über die Ausreise. Aber Ost-Berlin? Die DDR?

Prägend für die Altmännerriege umHonecker waren für uns die endlosenAufmärsche mit organisiertem Jubel unddas Bild vom Bruderkuss Honeckers mitBreschnew. Wir konnten uns mit diesenFührungspersönlichkeiten keine Revo-lution vorstellen. Wer zu spät kommt,...Spannend und faszinierend waren dage-gen die Berichte von den Montagsde-monstrationen in Leipzig, den Umwelt-gruppen, dem zunehmenden Protest.Wir ahnten, dass da einiges geschehenwürde, aber mit dem baldigen Fall derMauer hatte niemand gerechnet.

Am 9. November 1989 hatte ichNachtdienst im Krankenhaus. Wirstaunten ungläubig über die Meldun-gen, sahen die Bilder im Fernsehenund konnten nicht glauben, was wir dasahen. Einige Menschen aus Ost-Berlinlandeten bei uns in der Notaufnahme,weil sie völlig überwältigt waren vonden Erlebnissen. Wir waren alle begeis-tert und hatten das Gefühl, mitten inder Geschichte zu stehen und für einekurze Zeit das Drehen des Rades der

Zeit mitzuerleben. Das Wort, dasdamals in allen Gesichtern zu lesenwar, war „Wahnsinn!“ Und ungläubi-ges Staunen und Freude und Tränendes Glücks. Es war, als hätten wireinen verloren geglaubten Teil unseresSelbst zurückbekommen, den wirschon fast vergessen hatten.

Am Tag danach waren wir auf demKu’damm. Die unzähligen Trabis undWartburgs auf der westberliner Flanier-meile, die vielen Menschen, die so an-ders gekleidet waren, schienen Szenenaus einem surrealen Film zu sein. We-nige Tage nach der Maueröffnung fuhrich mit meinem Mann zur GlienickerBrücke. Wir hatten sie oft von derWestseite aus gesehen, manchmaldüster im Novembernebel, manchmalim Sonnenlicht, aber immer unerreich-bar, Symbol des Aufeinandertreffenszweier unvereinbarer Systeme. An die-sem Novembernachmittag wollten wireinen ersten Ausflug in das wieder ge-wonnene „Bruderland“ über die Glie-nicker Brücke nach Potsdam machen.Gemeinsam mit uns hatten Hundertedas Gleiche vor. Wir passierten imMenschenstrom die Grenzanlagen,zeigten unsere Pässe, erhielten irgendeinen sinnlosen Passierschein, der nurverteilt wurde, damit die „VoPos“ nocheine Existenzberechtigung hatten – unddann waren wir „drüben“. Dieser ersteAusflug sollte der Anfang sein einerlangen Reihe von Besuchen, Erleb-

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nissen, Begegnungen, neuen Freund-schaften, die schließlich auch unserLeben einschneidend veränderten. Einpaar Wochen später verbrachten wirdas erste Silvesterfest gemeinsam mitalten und neuen Freunden in Ost-Berlinim Prenzlauer Berg. Als die Raketenkrachten und wir auf die Zukunftanstießen, fühlten wir, mittendrin zusein in einem wirklich historischenMoment, und wir wussten auch, dassdiese Momente unwiederbringlich seinwürden. Wir waren noch immersprachlos vor Staunen und Freude undspürten unendliche Kraft in uns, dieseneue Zeit, gemeinsam zu gestalten.Und genau deshalb ist es gut, sich anjene aufregende Zeit zu erinnern: DieFreude, die Dankbarkeit und denWillen und die Kraft, etwas Gutes wer-den zu lassen aus diesem Geschenk derWiedervereinigung. ¢

DR. MARTINA MÜNCH ist Ärztin, stellvertretende Landesvorsitzende derSPD sowie Landtagsabgeordnete ausCottbus.

JÖRG SCHÖNBOHM

Ein Lebenstraum erfüllt sich

A n die denkwürdigen Stunden amAbend des 9. Novembers 1989

erinnere ich mich noch sehr gut: Ge-meinsam mit meiner Frau verfolgte ich die Ereignisse vor dem Fernseher in unserem Haus in Bonn. Als sich dieNachricht verbreitete, dass die DDR-Führung ab sofort eine „ständige Aus-reise“ erlaubt, konnten wir zuerst garnicht glauben, was wir hörten – unddann auch sahen. Unser jüngster Sohnsetzte sich sofort in sein Auto und fuhrnach Berlin, um dort an den sponta-nen Feiern teilzunehmen.

Es breitete sich ein Freudentaumelaus – erst in Berlin, dann im ganzenLand. Die Menschen tanzten ausgelas-sen auf der Mauer. Fremde fielen sichin die Arme, weil sie wussten, dass sieendlich wieder Landsleute waren.Atemlos und staunend sahen wir amFernseher zu, wie die Bürger der DDReine der am stärksten befestigtenGrenzanlagen der Welt friedlich zu Fallbrachten. Die Menschen in der DDRhatten die Fesseln der SED-Zwangs-herrschaft gesprengt. Sie gaben demHonecker/Krenz-Regime den Todes-stoß, das längst wirtschaftlich bankrottwar – und dieses auch wusste.

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Für mich selber ging damals einLebenstraum in Erfüllung. Auf diesenTag hatte ich gewartet, seit ich alsSiebenjähriger mit meiner Mutterund meinen Geschwistern aus derbrandenburgischen Heimat flüchtenmusste. An diesem Abend wurde mirklar: Meine Frau und ich würdenwieder in unsere Heimat zurück kön-nen. Ich ahnte damals nicht, dass ichschon bald vor die wohl größte He-rausforderung meines Lebens gestelltwurde: die Integration der damaligenNationalen Volksarmee in die Bundes-wehr.

Dass unser Vaterland knapp einJahr später – am 3. Oktober 1990 –wieder vereint sein würde, war anjenem 9. November vor 20 Jahrenallerdings nur eine vage Hoffnung.Sicher war das nicht. Auch in derwestdeutschen Bundesrepublik gab es Kräfte in der Opposition, die dage-gen arbeiteten. Das Bekenntnis zurdeutschen Einheit und der Satz WillyBrandts, dass jetzt „zusammenwächst,was zusammengehört“, waren durch-aus nicht Allgemeingut. Das zeigtesich im Jahr 1990 bei der Abstimmungüber den Einigungsvertrag, den diebeiden damaligen MinisterpräsidentenLafontaine und Schröder ablehnten.Auch bei unseren Partnern Frankreichund Großbritannien sorgte der Gedan-ke an ein vereintes Deutschland an-fangs für Unbehagen.

Dass schließlich der Ruf der De-monstranten „Deutschland einig Vater-land“ mit Zustimmung aller unsererNachbarn Wirklichkeit wurde, ist vorallem drei Männern zu verdanken: Eswar die beherzte Initiative von Bundes-kanzler Helmut Kohl, der im Gegensatzzu anderen die Vision der deutschenWiedervereinigung nie aufgegeben hatte, die starke Unterstützung von US-Präsident George Bush sen. für einedeutsche Einheit in Freiheit – und dieEinsicht des sowjetischen Staatspräsi-denten Michail Gorbatschow, dass manein Volk nicht dauerhaft gegen seinenWillen teilen kann.

Zum 1. April 1996 zogen wir vonBonn nach Kleinmachnow um. AmEnde unseres Gartens, wo heute derGartenzaun verläuft, stand die Mauer.Heute gibt es dort nur noch den Busch-grabenrundweg und eine Benjeshecke,die an die Mauer erinnern. Wenn ichunseren Besuchern Fotos aus der„Mauerzeit“ zeige, können sie sich nichtvorstellen, dass unsere Vorbewohnerhier im Schatten der Mauer wohntenund die Kinder hier auch spielten – soschnell vergeht die Zeit. Darum ist esgut, wenn man die Erinnerung an dieseZeit wach hält.

Ich wünschte mir manchmal, dieDeutschen würden sich heute – 20Jahre nach dem Fall der Mauer – häu-figer daran erinnern, was für ein großes

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und einmaliges Glück der 9. Novem-ber 1989 für unsere Nation bedeutet.Auch wenn noch viel zu tun bleibt; aufdas, was wir bisher erreicht haben,kann unser wiedervereintes Volk stolzsein.

Leider aber erlebe ich immer wiederLeute, die diese Erfolge mies machenund vor allem den Nachgeborenenweismachen wollen, der SED-Staathabe doch auch viele gute Seiten ge-habt. Sie verschleiern, dass die DDRein Unrechtssystem von Anfang anwar, das sein Trachten und Tun daraufausgerichtet war, die Menschen inUnterdrückung und Unfreiheit zu hal-ten – natürlich weiß ich, dass sich vieleMenschen im ganz persönlichen Be-reich an ein glückliches Leben erin-nern.

Ich bin heute unendlich dankbardafür, dass ich meinen Beitrag zur Ver-einigung unseres Vaterlandes leistendurfte – mit der Eingliederung derdamaligen Nationalen Volksarmee indie Bundeswehr, später als Innensena-tor des vereinten Berlins und danach alsInnenminister meiner Heimat Bran-denburg. ¢

JÖRG SCHÖNBOHM war von 1999 bis2009 Innenminister des Landes Bran-denburg.

HEINZ VIETZE

Herbststurm

D ie Zeit der Herbststürme beginnt.Sie erinnern mich in jedem Jahr

an die stürmischen Wochen im Herbst1989. 20 Jahre ist es jetzt her – als ausdem anfänglich leichten Ostwind einOrkan wurde, der zuerst das Politbüro,dann die alte SED und letztendlich dassozialistische Experiment auf deut-schem Boden hinweg fegte. Als inLeipzig und Berlin bereits im Oktoberhunderttausend Menschen demon-strierten, blieb es in Potsdam zunächstruhig. Am 19. Oktober meldete einWest-Berliner Radiosender, dass dieSED-Kreisleitung in Potsdam Mitglie-der des damals noch verbotenen„Neuen Forums“ zum Gespräch emp-fangen und eine Mitarbeit in der„Nationalen Front“ angeboten hatte.Wenig später gab es die ersten „Pots-damer Gespräche“. Die Säle warenständig überfüllt. Das Interesse an Po-litik und Diskussion war riesengroß,Tabus gab es nicht. Es ging um De-monstrationsrecht, Wahlbetrug, dieführende Rolle der Partei, das Wirkender Staatssicherheit, Privilegien, Rechts-staatlichkeit, Bildung und Erziehung.

Am 4. November kam es zur erstengroßen Demonstration in Potsdam.Am 9. November, dem Tag desMauerfalls, gedachten wir der jüdi-

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schen Opfer der Pogromnacht miteinem Schweigemarsch. Anschließendstritt ich mit dem BürgerrechtlerKonrad Weiß über Möglichkeiten derErneuerung. Mitten im Disput platztedie Nachricht von der Grenzöffnung.Die Menschen stürmten zur GlienickerBrücke. Der Wind hat Sturmstärkeerreicht. Jeden Tag gab es neue Auf-rufe, Demonstrationen, Streitgesprä-che, Sitzungen zur Aufrechterhaltungdes öffentlichen Lebens und zur Ge-währleistung von Ordnung und Si-cherheit. Der Ansturm zu einer Par-teiaktivtagung am 11. November warso groß, dass dieser kurzerhand insFreie verlegt wurde.

Vier Tage später – als bereits vieledie Partei verließen, wurde ich neuerSED-Bezirkschef. Ich wollte eine Er-neuerung der SED. Ich wollte einendemokratischen Sozialismus. KeinePartei sollte Wahrheit, Recht und Fort-schritt gepachtet haben. VerspieltesVertrauen wollte ich zurückgewinnen.Doch der Sturm fegte nicht nur überuns hinweg, wir wollten nicht längerzusehen, wie die Parteiführung unterKrenz durch Fehlentscheidungen,Halbherzigkeiten und offensichtlicheLügen über das wahre Ausmaß vonAmts- und Machtmissbrauch einenNeubeginn verhinderte. Und so gingam 30. November, um 23:30 Uhr, ausPotsdam ein Fernschreiben mit derRücktrittsforderung an Krenz und das

Politbüro auf den Weg. Am 3. Dezem-ber trat das Politbüro und das ZKzurück. Ein Arbeitsausschuss konsti-tuierte sich, der den Sonderparteitagvorbereitete. Ich war Leiter der Arbeits-gruppe zur Erarbeitung des Referats zuden Ursachen der Krise in der Deut-schen Demokratischen Republik. MeinFreund Prof. Dr. Michael Schumannhielt auf diesem Parteitag dieses Refe-rat, mit dem wir unwiderruflich mitdem Stalinismus gebrochen und unsbei den Bürgerinnen und Bürgern derDDR für geschehenes Unrecht ent-schuldigt haben.

Zwanzig Jahre sind eine lange, his-torisch gesehen, aber eine kurze Zeit.Seit dieser Zeit verbindet sich derHerbst mit Hoffnung und Aufbruch.Auch wenn sich in diesem Herbstinfolge der Wirtschafts- und Finanz-krise zunehmend Angst und Resigna-tion breitmachen, Politik kaum jeman-den hinterm Ofen hervorholt. Zuviel –nicht nur die blühenden Landschaften– war versprochen und nicht gehaltenworden. Der Wind hat sich gedreht –einstige Bürgerrechtler haben in eta-blierten Parteien eine neue Heimstattgefunden. Arroganz und mangelnderRealitätssinn sind erneut ein Haupt-problem der Regierenden. Niemandsoll die gewonnenen Freiheiten undChancen gering schätzen, aber zu vieleFehler wurden im Prozess der deut-schen Einheit gemacht. Zehntausende

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haben Brandenburg verlassen, über160.000 Menschen haben keine Ar-beit, Hartz IV schafft neue Armut,Protest formiert sich. Menschen for-dern auf der Straße die Angleichungder Lebensverhältnisse, Arbeit undeinen Mindestlohn ein, von dem manleben kann. Regierende geraten unterDruck, gewinnen Wahlen nur nochknapp. Ich bin voller Hoffnung, dasses uns gemeinsam gelingt, nicht nurein friedliches, sondern auch ein sozialgerechtes Deutschland zu schaffen. ¢

HEINZ VIETZE war 1989 Erster Sekre-tär der SED-Bezirksleitung Potsdamund von 1990-2009 Landtagsabgeord-neter der PDS bzw. Linkspartei.

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PERSPEKTIVE 21: Sie sind tief im Westender alten Bundesrepublik aufgewachsen.Ziemlich weit weg vom Osten, oder? JULI ZEH: Oh ja, absolut. Bonn warwahrscheinlich einer der Kondensa-tionspunkte Westdeutschlands, im-merhin mal die Hauptstadt.

Waren Sie denn vor der Wende mal inder DDR? ZEH: Nein. Ich war zur Wende erst15, meine Familie hatte keine Ver-wandtschaft in der DDR. Und dieDDR stand nicht auf meinem Reise-plan. Auch als Schüler hat uns dasPhänomen DDR weder politischnoch historisch interessiert. Uns warklar: Da hing der Eiserne Vorhang.Aber die DDR gab es für uns nichtrichtig.

Wie haben Sie dann den Mauerfall unddie Friedliche Revolution erlebt? ZEH: Erstaunlich unspektakulär. Beiuns und in meinem Freundeskreis wur-de das zur Kenntnis genommen. Eswar wichtig, aber ohne jede Emotion.Wir dachten alle: Naja, das mit derWiedervereinigung müssen wir ja in derEuphorie nicht gleich übers Knie bre-

chen. Irgendwie hat uns das alles nichtwirklich interessiert.

Der Mauerfall gehört also nicht zu denEreignissen, wo man heute noch weiß,was man damals gemacht hat? ZEH: Überhaupt nicht. Viel wichtigerfür uns war der Golf-Krieg. Der hatzur politischen Identitätsbildung beige-tragen. Da sind wir zu Demos gegan-gen, haben diskutiert und protestiert.Im Rückblick glaube ich, dass man unsim Westen beigebracht hat, sich mög-lichst wenig für deutsche Geschichte zuinteressieren – weil sie so negativ belas-tet war. Man hat uns beigebracht, dassDeutschland nicht zu groß und nicht zustark werden dürfe, sondern besserschön ruhig und bescheiden. Wo tauch-te schon mal eine deutsche Fahne auf?Da war es nicht einfach zum Wieder-vereinigungspatrioten zu werden.

Mitte der neunziger Jahre sind Sie dannnach Leipzig gegangen. Liebe auf denersten Blick? ZEH: Nein, das wäre gelogen. Ich bindorthin wegen des Literaturinstituts,um dort studieren zu können. Die Lie-be setzte dann ein, als ich dort war.

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juli zeh – hier jammert niemand

„Hier jammert niemand“ ÜBER OST, WEST, NORD UND SÜD, WENDEERFAHRUNGEN UND DAS

LEBEN IN BRANDENBURG SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT JULI ZEH

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Und die war dann auch infektiös. Ichhabe viele Freunde und Bekannte mit-gezogen. In meinem Umfeld setzte einerichtige Bewegung von West nach Ostein.

Und was hat Ihnen so gefallen? ZEH: Auch wenn es nach Klischeeklingt: Diese Aufbruchstimmung warfür uns übersättigte Westler faszinie-rend. Es herrschte eine fast anarchische„anything goes“-Stimmung. Die Stadtwar halbleer, überall gab es leere Häu-ser, leeren Raum, in die dann Kunstund Party einzogen. Das war nichtorganisiert von Institutionen, sondernwurde von den Leuten selber auf dieBeine gestellt. So etwas kannten wiraus dem Westen nicht. Ich bin in Leip-zig auf Leute gestoßen, die ein völliganderes Verständnis vom Politisch-seinhatten.

Inwiefern? ZEH: Uns wurde vorgeworfen, dass wirverantwortungslos seien, dass wir un-politische Kunst machten. Uns „West-Schriftstellern“ fehlte einfach die Wider-standserfahrung oder die romantischeIdentifizierung von Widerstand undKunst. Nun machten sich in den neun-ziger Jahren auch diese ganzen Pop-Strömungen breit – und die prallten inLeipziger auf dieses völlig andere Lite-raturverständnis. Das war eine interes-sante Erfahrung: Ich habe mich bisdato immer für einen politisch denken-

den Menschen gehalten – und wurdehier nun der totalen politischen Absti-nenz bezichtigt.

Ist das heute immer noch so? ZEH: Nein, das hat sich abgeschliffen.Wie überhaupt der Ost-West-Konflikteher ein virtuelles Phänomen ist, dersich im Alltag überhaupt nicht wider-spiegelt.

Die Wessis würden jammern

Gibt es keinen Unterschied mehr zwi-schen Ossis und Wessis? ZEH: Nein, ich habe den schon in den neunziger Jahren kaum gespürt.Sehr viel offensichtlicher finde ich in Deutschland den Unterschied zwischen „Nordis“ und „Südis“. DieNorddeutschen – einschließlich derNordostdeutschen – sind eher zurück-haltend, etwas distanziert, haben einensehr kühlen Humor, den man oft garnicht als Humor erkennt. Und imSüden sind sie lauter, extrovertierter.Diese Unterschiede finde ich viel viru-lenter.

Also keine „Jammer-Ossis“? ZEH: Eher umgekehrt. In Ostdeutsch-land habe ich festgestellt, dass hier nie-mand jammert. Ich fand die Stim-mung schon in den ersten Jahren ehergut. Medial wird zwar bis heute dasBild vom unzufriedenen, larmoyantenOssi geprägt. Aber das ist ein Klischee.

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Wenn Westdeutsche unter den Bedin-gungen leben müssten, unter denen dieLeute im Osten zum Teil leben undlebten, die würden aber jammern!

Vor fünf Jahren sind Sie mit IhremFreund in ein kleines Dorf im westlichenHavelland gezogen. Wie sind Sie dortaufgenommen worden?ZEH: Mit weit geöffneten Armen. Einpaar Sorgen hatten wir uns schon ge-macht. Denn im Grunde entsprachenwir hier allen Klischees, die es überWessis gibt: Die kommen da hin, kau-fen irgendwas auf, nisten sich ein undsanieren sich ein hübsches Haus. Aberinnerhalb weniger Wochen lösten sichalle Ängste in absolutes Wohlgefallenauf, sämtliche Bedenken waren wieweggewischt. Wir zogen ja aus Leipzignach Brandenburg, hatten also nochdas „L“ im Auto-Kennzeichen. Undwir hofften, dass das vielleicht hilft –und die Leute nicht gleich merken,dass wir Wessis sind. Doch innerhalbweniger Wochen war klar, dass wirRheinländer sind. Eine Nachbarinoffenbarte mir später ihren erstenGedanken, als sie unser Auto sah:„Schickt mir die Russen, aber bloßkeine Sachsen.“ Die war richtig froh,als sie mitkriegte, dass wir aus Bonnkamen.

Gibt es noch mehr Zugereiste dort? ZEH: Vier oder fünf Haushalte viel-leicht. Das ist ja ein sehr kleines Dorf,

vielleicht 300 Einwohner, sehr rudi-mentär.

Und gibt es eine Gemeinschaft zwischendenen? ZEH: Das ist ein richtig interessantesPhänomen, das mir erst mit der Zeitklar geworden ist. Es gibt hier Gemein-schaften – die sind aber rein minimalgeografischer Natur. Die eine Straßefeiert zusammen, das ist der Clan, dersich gegenseitig besucht, wo man sichhilft. Die Leute in der nächsten Straße,100 Meter weiter, grüßt man zwar,kennt man aber schon kaum.

Unkompliziert auf dem Land

Und wie ist das Leben auf dem Land? ZEH: Sehr unkompliziert. Wenn ichirgendetwas von einem Amt brauche,rufe ich an und muss mich nicht aus-weisen. Die Leute wissen, wer ich binund wo ich wohne. Niemand ist daraninteressiert, einem Schwierigkeiten zumachen. Ich mag normalerweise keineBehördengänge, habe mich immerdavor gedrückt. Aber hier ist das ganzanders. In der Verwaltung herrschteine andere Atmosphäre. Man hältzusammen und regelt die Sachen ein-fach irgendwie.

Wie ist denn Ihr Beruf als Schriftstellerinangekommen? ZEH: Es hat recht lange gedauert, bisdie Leute verstanden haben, was ich

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mache. Bücher schreiben wird nicht alsBeruf betrachtet, mit dem man Geldverdienen kann. Um Irritationen zuvermeiden, habe ich am Anfang immergesagt, dass ich auch für Zeitungenschreibe. Journalist ließ sich einfachervermitteln. Es ist ja so: Hier wird ganzwenig Fernsehen geschaut und Zeitunggelesen. Viele öffentliche und kulturel-le Ereignisse kriegen die Leute garnicht mit. Die sogenannte Kulturpro-minenz kennt hier keiner. Das ist fürmich ganz schön, weil es einfach keineRolle spielt.

Das Gefühl zu schenken

Und jetzt guckt auch keiner mehr schräg? ZEH: Hier guckt sowieso nie irgend-einer schräg. Ich habe selten so vor-urteilsfreie Menschen erlebt. Es gehtnicht darum, wie man lebt, welchenBeruf man hat oder wie man sein Pri-vatleben gestaltet. Man braucht hierHumor, man denunziert andere nicht,man gängelt andere nicht und unter-stützt sich gegenseitig. Das passt sehrgut zu meinen Vorstellungen an eineGemeinschaft.

Wie sieht denn die Gemeinschaft aus? ZEH: Hier gibt es gefühlt keine Ob-rigkeit. Es gibt zwar den Bürger-meister, aber der ist auch einer vonuns. Es gibt kein Autoritätsgefühl.Man guckt nicht nach oben, wennman ein Problem hat. Sondern man

versucht das, untereinander zu regeln.Obrigkeit braucht man eigentlich nur,wenn wirklich was schief läuft. Und solange das nicht der Fall ist, ist es dochwunderbar, wenn die Leute mit sichselbst klar kommen. Das ganze Geredevon den aggressiven Halbstarken, diean Bushaltestellen rumhängen, oderden Nazis überall – das ist totalerQuatsch. Das habe ich bisher nochnicht erlebt.

Das heißt, es gibt auch keine Hoffnungbezogen auf Politik oder Staat.ZEH: Politik ist überhaupt kein Ge-sprächsthema. Höchstens, wenn es malum Agrarthemen geht und irgendwel-che EU-Subventionen gestrichen wer-den. Man hat keine Erwartung an diePolitik. Das ist anders, als ich es ausdem Westen kenne. Hier sitzt mannicht zu Hause und jammert, weil ir-gendeine Pendlerpauschale nicht mehrstimmt oder der Staat irgendetwas füreinen nicht getan hat. Hier fühlt mansich nicht permanent ungerecht behan-delt aufgrund irgendwelcher politischenEntscheidungen. Man sieht zu, wieman selber durchkommt, hilft sichgegenseitig. Es gibt ein sehr komplexesSystem von Austauschbeziehungen.Und das wird nicht auf dem Papieraufgerechnet, sondern hält sich einfachin der Balance. Die Leute sind eherpolitische Atheisten. Man beschäftigtsich nicht mit Fragen, die kaum eineRelevanz fürs eigene Leben haben.

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thema – 1989 – 2009

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Aber ein paar Sachen sind schon relevant. ZEH: Ja, aber man kann sich auch nichthinstellen und den Leuten vorrechnen,was sie im Monat verdienen und dasses ihnen eigentlich so schlecht wie inRumänien geht. Ich glaube, hier würdesich kein Mensch als arm bezeichnen.Und zwar, obwohl es manche wirklichsind. Ich habe hier gelernt, dass Durch-wursteln und Zufriedensein etwas mit-einander zu tun haben. Und zwar, weilDurchwursteln Zusammenhalt bedeu-tet, denn durchwursteln kann man sichnicht allein. Das geht nur in der Grup-pe. Wenn jemand einen Überschuss hat– und sei es Zeit – kann er etwas davonabgeben und kriegt auch wieder etwasdafür. Das sorgt für das Gefühl, perma-nent beschenkt zu werden – ein sehrschönes Gefühl. Und es führt dazu, sel-ber permanent zu schenken. Und dasist ja bekanntlich ein noch viel schöne-res Gefühl. Insgesamt gibt es kaum Zu-kunftsangst oder Verzweiflung. Man

hat das Gefühl, wir schaffen das hierschon irgendwie.

Sie fühlen sich also wohl auf dem Bran-denburger Land? ZEH: Total. Und ich finde, wir könn-ten in Deutschland endlich mal auf-hören so zu tun, als wäre Ostdeutsch-land ein gescheitertes Projekt.

Ist denn Brandenburg Ihre Heimat? ZEH: Jeden Monat ein bisschen mehr.Man denkt ohnehin ein bisschen an-ders, wenn man ein Haus nicht nurbewohnt, sondern auch kauft. Mandenkt in anderen Zeiträumen undfängt an, seine Wurzeln tief in den Bo-den einzuschlagen.

Planen Sie denn schon ein Werk überIhre neue Heimat? ZEH: Nein. Das wird sich vielleicht er-geben, aber im Moment habe ich dasnicht im Kopf. ¢

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juli zeh – hier jammert niemand

J U L I Z E H

ist mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin und lebt heute im westlichen Havelland.

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Zur Zeit der Revolution von 1989unterschied sich Ostdeutschland

auf grundlegende Weise von der west-deutschen Bundesrepublik – die DDRist nun einmal vierzig Jahre lang eineigener, grundlegend anderer Staat ge-wesen. Seither hat sich in Ostdeutsch-land unendlich viel verändert – abervom Westen der Republik unterschei-det sich der Osten noch immer. DasLand, das einmal die DDR war, hatsich nicht so entwickelt, wie es in denMonaten der Revolution und Vereini-gung vor zwei Jahrzehnten erwartetwurde. Die Bürgerbewegungen vomHerbst 1989, zu denen ich mich da-mals zählte, hofften auf eine runder-neuerte, wahrhaft demokratische undfreiheitliche DDR, die sich aber zu-gleich von der westdeutschen Bundes-republik unterscheiden sollte. Dazukam es nicht. Mit dem Beitritt derDDR zur Bundesrepublik im Herbst1990 wurde dann umgekehrt das offi-zielle Ziel ausgerufen, die ostdeutschenLebensverhältnisse so schnell wie mög-lich an diejenigen der alten Bundesre-publik anzugleichen. Auch das ist sonicht eingetreten. Stattdessen hat sichin Ostdeutschland während der ver-

gangenen zwei Jahrzehnte eine gesell-schaftliche Ordnung herausgebildet,die sich deutlich von jener der west-deutschen Bundesländer unterscheidet:politisch und wirtschaftlich, sozial undmental. An dieser „Eigen-Artigkeit“Ostdeutschlands wird sich auf absehba-re Zeit nichts ändern. Manches sprichtdafür, dass die Unübersichtlichkeit derost-westdeutschen Verhältnisse sogarnoch weiter zunehmen wird. Das eineeinheitliche Ostdeutschland gab esschon früher nicht – heute existiert esweniger denn je.

DDR war nicht reformierbar

Es hat nichts mit Jammern und „Ostal-gie“ zu tun, wenn man heute feststellt,dass etwas von dem zivilgesellschaftli-chen Geist, der die ostdeutsche Gesell-schaft in den Monaten ihres Aufbruchserfasste, unserem Land heute nichtschlecht zu Gesicht stehen würde.Wirkliche Veränderung beginnt im-mer damit, dass sich ganz normaleMenschen zusammentun, über ge-meinsame Ziele verständigen und an-fangen, sie in die Praxis umzusetzen.Dass in der DDR eine Revolution

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1989 – 2009 – 2029 10 THESEN ÜBER DAS NEUE OSTDEUTSCHLAND

VON MATTHIAS PLATZECK

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dabei herauskam, lag allein daran, dassdas erstarrte System der SED nichtreformierbar war. Aus Untertanen wurden Bürger. Heute wird niemanddaran gehindert, als selbstbewussterBürger gemeinsam mit Gleichgesinn-ten die Dinge in die eigenen Hände zunehmen – wir sollten es einfach tun.Gerade weil wir heute in Deutschlandvor erheblichen Problemen stehen,werden wir ohne die Bereitschaft zum aktiven Miteinander für unser Gemeinwesen schlicht nicht über dieRunden kommen. Dabei können wiran die Tradition des Herbstes vorzwanzig Jahren anknüpfen.

I.Manche Aspekte der DDR findennach und nach auch im Westen

unseres Landes Zustimmung. Das giltzum Beispiel für die Themen Polikli-niken, Kinderbetreuung und Ganz-tagsschule. Insofern hat der Satz „Eswar nicht alles schlecht“ seine Berech-tigung. Bei diesen Fragen hat sich inWestdeutschland in den vergangenenJahren ein bemerkenswerter Paradig-menwechsel vollzogen. Was in derDDR – aus anderen politischen Moti-ven – als völlig selbstverständlich galt,führen nun auch westdeutsche Bundes-länder ein. Angesichts veränderterHerausforderungen herrscht im Wes-ten auch auf anderen Gebieten einegrößere Aufgeschlossenheit bei derSuche nach neuen Lösungen. Das istein Fortschritt. Nach dem Ende des

Kalten Krieges waren die „Sieger“ zu-nächst meist nicht sehr empfänglichfür vorlaute Vorschläge aus dem Mundder „Verlierer“. Heute wird eine Ideenicht mehr schon deshalb abgelehnt,weil sie aus dem Osten stammt. Auchdas ist ein Fortschritt. Und häufig ge-nug sind es tatsächlich Ostdeutsche,die vor dem Hintergrund ihrer beson-deren Umbrucherfahrung der vergan-genen zwei Jahrzehnte den Mut zumExperiment und zu ungewohnten Lö-sungen aufbringen. „Lasst es uns ein-fach ausprobieren“ – so lautet das in-offizielle Leitmotiv derjenigen, die inOstdeutschland in den letzten zwanzigJahren den Aufbau angepackt haben.Ein solches Herangehen wird in denkommenden schwierigen Jahren le-benswichtig sein – und zwar in ganzDeutschland.

Es kann auch anders kommen

Ostdeutsche Veränderungsbereitschaftund gewachsene westdeutsche Neugier:Vielleicht kann in Deutschland mit derZeit gerade aus der Mischung dieserbeiden Haltungen ein neues, besseresMiteinander entstehen, das durch we-niger Angst vor Wandel und Experi-menten geprägt ist. Die Ostdeutschenjedenfalls haben in den vergangenenzwei Jahrzehnten Beispiel um Beispieldafür geliefert, dass es möglich ist,sogar tiefgreifende Umbrüche zu ge-stalten – und letztlich zu überleben. Zu

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häufig reduziert man diese ostdeutsche„Umbruchkompetenz“ auf bloße Flexi-bilität auf dem Arbeitsmarkt: die Be-reitschaft sehr vieler Menschen, weiteWege zurückzulegen, früher mit derArbeit anzufangen, später Feierabendzu machen, nachts und am Wochen-ende zu arbeiten oder mehrere Jobsmiteinander zu kombinieren. Auchdies hat – notgedrungen – die ostdeut-sche Wirklichkeit der vergangenenzwei Jahrzehnte gekennzeichnet. Aberdarum allein geht es nicht. Mit demWort „Umbruchkompetenz“ meine ichvielmehr die ganz grundlegende Fähig-keit zum Leben und Arbeiten unterBedingungen der Ungewissheit undder Instabilität, die Fähigkeit zurImprovisation, zur Netzwerkbildungund, wenn nötig, zum abermaligenNeuanfang. Denn aufgrund ihrer Er-fahrungen haben Ostdeutsche einesverinnerlicht: Es kann auch ganzanders kommen.

II.Erst ein knappes Jahrzehnt nachdem Ende der DDR wuchs nach

und nach die Einsicht, dass das deut-sche Modell insgesamt einer General-überholung bedurfte. Das Wort „Re-formstau“ war plötzlich in aller Munde,Bundespräsident Roman Herzog for-derte, dass ein „Ruck“ durch Deutsch-land gehen müsse. Aus der Perspektivevieler Ostdeutscher wirkten diese De-batten merkwürdig – sie erlebten ihrganzes Leben seit 1989 als einen einzi-

gen ständigen Ruck. Heute endlichbeginnen sich bei Gesundheitsrefor-men und Schulgesetzen Einsichtendurchzusetzen, mit denen der Ostenauch schon früher hätte aufwarten kön-nen. Manchmal ist es ernüchternd zuerleben, wie spät der eine oder andereGroschen fällt. Mit der Erneuerungunserer Gesellschaft könnten wir deut-lich weiter sein, wäre von Beginn aneine gleichberechtigte Beziehung zwi-schen Ost und West möglich gewesen.

Neues Selbstbewusstsein

Dennoch dürfte sich langfristig erwei-sen, dass die Ostdeutschen in den ver-gangenen zwei Jahrzehnten als Stoß-trupp in eine neue Zeit fungiert haben– zum Nutzen unseres ganzen Landes.Schon heute ist Ostdeutschland insge-samt in mancher Hinsicht eine Pio-nierregion – nicht unbedingt deshalb,weil sich hier nur Vorbildliches ereig-net hätte, sondern weil bestimmteProzesse hier ganz einfach früher statt-gefunden haben. Auf die schwerenUmbrüche, mit denen die neuen Bun-desländer nach 1989 konfrontiert wur-den, hätten wir Ostdeutschen vielfachgern verzichtet. Aber diese Umbrüchewaren teilweise unvermeidlich, und siekönnen jedenfalls nicht mehr rückgän-gig gemacht werden. Viele dieser Ver-änderungen betreffen zunehmend auchWestdeutschland. Manches, was diealte Bundesrepublik prägte, wird sich

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im 21. Jahrhundert wandeln. EtlicheAnnahmen werden so nicht mehr stimmen, weil nach und nach dieVoraussetzungen für das Bestehendezerbröseln, in ökonomischer wie in demographischer, in sozialer wie inkultureller Hinsicht. Im Laufe vonzwei Jahrzehnten sind in Ostdeutsch-land Erfahrungsgemeinschaften ent-standen, die den Charakter einer gesell-schaftlichen Avantgarde aufweisen –eine „Avantgarde wider Willen“, diesich selbst keineswegs als solche be-greift und ihre eigenen Fähigkeitenund Vorteile meist noch gar nichtwahrnimmt. Dennoch ist in den ver-gangenen Jahren vielerorts ein neuesostdeutsches Selbstbewusstsein heran-gewachsen, dessen Ursachen in exaktdieser Konstellation liegen.

III.Wie sehr sich der Osten vomWesten unterscheidet und wie

unterschiedlich zugleich Ostdeutsch-land in sich geworden ist, lässt sichanhand verschiedener Aspekte demon-strieren. Politik und Parteiensystementwickeln sich im Osten anders – abermit Bedeutung auch für den Westen.Die politische Stimmung in Ost-deutschland ist „stabil instabil“. Seitvielen Jahren liegen die drei großenParteien CDU, SPD und PDS/Links-partei innerhalb eines Korridors von 20bis 30 Prozent beieinander. Die Lagefür uns ostdeutsche Sozialdemokratenbleibt eine Herausforderung. Im Ge-

gensatz zu den alten Ländern, wo dieSPD innerhalb des politischen Spek-trums gewöhnlich links der Mitte ver-ortet wird, ist die Sozialdemokratie inOstdeutschland zwischen CDU undLinkspartei die „Partei der Mitte“schlechthin. Damit eröffnen sich fürsie zwar größere Koalitionsmöglich-keiten, aber zugleich fällt Profilierungbisweilen etwas schwerer.

Die Schere geht auseinander

Auch in sozialer und ökonomischerHinsicht wird es zunehmend schwierig,von einem einheitlichen Ostdeutsch-land zu sprechen. Städte, Regionen,gesellschaftliche Gruppen entwickelnsich unterschiedlich – und damit auchauseinander. Das zeigt sich beispiels-weise in der Frage der Arbeitslosigkeit.Heute weisen Thüringen und Bran-denburg als erste Bundesländer imOsten eine niedrigere Erwerbslosen-quote auf als das westdeutsche Schluss-licht Bremen. Zugleich aber klafft dieSchere innerhalb der einzelnen ostdeut-schen Bundesländer immer weiter aus-einander. Auf dem Höhepunkt desjüngsten Aufschwungs im Jahr 2008herrschte in einigen wenigen Regionenwie etwa dem westlichen Umland vonBerlin nahezu Vollbeschäftigung – dieArbeitslosenquoten lagen hier bei 4 bis5 Prozent. Zugleich gibt es Regionen,in denen die Erwerbslosigkeit seitJahren kontinuierlich bei 20 Prozent

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liegt, etwa im sachsen-anhaltischenSangerhausen oder in der brandenbur-gischen Uckermark.

Mit der Ausdifferenzierung der Ar-beitslosigkeit korrespondiert die wirt-schaftliche Entwicklung. Auch sie voll-zieht sich in den Regionen immerunterschiedlicher. Im BrandenburgerKreis Teltow-Fläming südlich vonBerlin hat sich die Wirtschaftsleistungzwischen 1995 und 2005 fast verdop-pelt; im nur wenige Kilometer entfern-ten Kreis Oberspreewald-Lausitz ist sieim selben Zeitraum um ganze 6 Pro-zent gewachsen. Ähnlich gegenläufigeEntwicklungen sind innerhalb aller ost-deutschen Länder zu verzeichnen. Soklafft etwa das Bruttoinlandsproduktpro Einwohner zwischen Schwerin inMecklenburg-Vorpommern (31.000Euro) und dem sächsischen ZwickauerLand (13.000 Euro) erheblich ausein-ander.

Der Abstand zum Westen bleibt

Das Gleiche gilt für die Einkommender Beschäftigten in den neuen Bun-desländern. Geblieben ist dagegen derniedrige Organisationsgrad der Ge-werkschaften und die geringe Tarif-bindung. Auch deshalb gibt es in derFrage der Angleichung der ostdeut-schen Löhne an das westdeutscheNiveau kaum Fortschritte. Zwar werdenin einigen tarifgebundenen Bereichen –im öffentlichen Dienst und in der

Chemieindustrie – mittlerweile diesel-ben Gehälter gezahlt wie im Westen.In anderen Bereichen, vor allem in denkleinen und mittleren Betrieben, istder Abstand zum Westen aber weiter-hin beträchtlich. Für viele Unterneh-men bedeutet dies einen wichtigenWettbewerbsvorteil, auf den sie des-halb auch nur schwer verzichten kön-nen. Zugleich aber werden auf dieseWeise die notwendige Vermögensbil-dung und private Altersvorsorge ver-hindert, die regionale Kaufkraft ge-schwächt und die Abwanderung vonFachkräften beschleunigt.

Die obere Mitte wächst

Parallel zu den ökonomischen Verän-derungen differenziert sich die ostdeut-sche Gesellschaft aus. Dies belegen bei-spielhaft langfristig angelegte Umfragenaus Brandenburg. Die Befragten wurdengebeten, ihren jeweiligen Ort in dergesellschaftlichen Hierarchie anzugeben.Die Ergebnisse zeigen, dass in den ver-gangenen fünfzehn Jahren die Ober-schicht und die obere Mitte der Gesell-schaft gewachsen sind (von 13 Prozent1993 auf 25 Prozent 2009). Zugleichaber ist der Anteil der Menschen, diesich selbst in der unteren Mitte undUnterschicht verorten, stabil geblieben(24 Prozent 1993 und 22 Prozent2009). Das bedeutet, dass die gesell-schaftliche Mitte geschrumpft ist (von64 Prozent 1993 auf 53 Prozent 2008).

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IV.Die Schockwellen der weltwei-ten Finanzkrise trafen in

Deutschland zuerst im Osten ein. Be-reits 2007 geriet die Sächsische Landes-bank wegen ihres Engagements aufüberhitzten ausländischen Immobilien-märkten in eine gefährliche Schieflage,die am Ende nur durch den Verkaufder Bank behoben werden konnte.Noch sind die Auswirkungen der mas-siven Wirtschafts- und Finanzkrise aufdie neuen Bundesländer allerdingsschwer abzuschätzen. Klar ist leider,dass der wirtschaftliche Aufholprozessder ostdeutschen Länder gegenüberden westdeutschen nahezu zum Still-stand gekommen ist. Nach wie vorsind die ökonomischen Rahmenbedin-gungen in Ost und West sehr verschie-den, aber unterschiedlich entwickelthaben sich auch die verschiedenenRegionen innerhalb der ostdeutschenLänder. Von der schweren Automobil-krise betroffen sind vor allem Sachsenund Thüringen, wo in den vergange-nen Jahren eine umfangreiche Auto-mobilindustrie einschließlich vielerZulieferer entstanden ist. Auch dieChipindustrie steckt in einer weltwei-ten Strukturkrise, die durch Überkapa-zitäten gekennzeichnet ist. Von dieserKrise ist vor allem die Region Dresdenschwer getroffen. Der dortige Innova-tionsvorsprung wurde durch staatlicheZuschüsse in dreistelliger Millionen-höhe gestützt; offen ist, wie nachhaltigsolch eine Subventionierung wirkt.

Den ostdeutschen Unternehmen istes in den vergangenen Jahren gelun-gen, auf ausländischen Märkten Fuß zufassen. Gleichwohl liegt die Export-quote im verarbeitenden Gewerbe derneuen Länder noch deutlich niedrigerals in Westdeutschland. Sie beträgtzwischen 25 Prozent in Brandenburgund 40 Prozent in Sachsen und Thü-ringen, während sie sich im Westen auf45 Prozent beläuft. Angesichts desgegenwärtigen Einbruchs der Welt-wirtschaft ist die geringe EinbindungOstdeutschlands in den Welthandelderzeit sogar eher von Vorteil. Insge-samt ist die Struktur der Wirtschaft imOsten mittlerweile stabiler und ausge-wogener als noch vor fünf oder zehnJahren. Die vorwiegend kleinen undmittleren Unternehmen haben anSubstanz zugelegt, die Bedeutung derBauwirtschaft ist erheblich gesunken.Damit ist die ostdeutsche Wirtschaftim Vergleich zum letzten konjunktu-rellen Abschwung am Anfang desJahrzehnts deutlich widerstandsfähigergeworden.

Keine zentrale Lösung

Zugleich aber ist Ostdeutschland in-tensiv mit der westdeutschen Wirt-schaft verwoben und damit von derenKraft abhängig. Einem scharfen Ab-schwung in den alten Bundesländernkann sich die ostdeutsche Ökonomienicht entziehen. Der Nachfragerück-

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gang aus dem Ausland, der die west-deutsche Exportwirtschaft am härtestentrifft, wird sozusagen in den Osten„durchgeleitet“. Dagegen könnte es die Krise entschärfen, dass die derzeitbesonders stark gebeutelten großenPrivatbanken in Ostdeutschland nurunterdurchschnittlich aktiv sind. Einewesentlich größere Rolle spielen hiererfreulicherweise die Sparkassen undGenossenschaftsbanken, die sich auchin der Krise bislang als besonders ro-bust erwiesen haben.

V. Insgesamt ist das Bild der ostdeut-schen Wirtschaft also zwiespältig.

Solange wir die Dimension der gegen-wärtigen Weltwirtschaftskrise nochnicht kennen, lässt sich kaum seriös vor-aussagen, wie gut oder schlecht dieneuen Bundesländer davonkommenwerden. Nur eines wissen wir: Im Jahr2009 wird Ostdeutschland zum erstenMal nach dem Beitritt der DDR zurBundesrepublik einen Rückgang desBruttoinlandsprodukts erleben. Auchdass dieser Rückgang ein erheblichesAusmaß von minus zwei Prozent odermehr haben wird, ist bereits klar. Diesist von besonderer psychologischerBedeutung. In den vergangenen Jahrenhaben die Menschen in Ostdeutschlanddie wirtschaftliche Lage in ihrem Lan-desteil zwar mehrheitlich als „schwierig“wahrgenommen, dennoch hat es immereine – wenn auch geringe – Aufwärtsbe-wegung gegeben.

In dieser schwierigen Situation mussPolitik für Ostdeutschland also ganzunterschiedliche Rahmenbedingungenzugleich bewältigen. Irgendeinen gran-diosen „Masterplan“ mit der einen zen-tralen Lösung für das eine Ostdeutsch-land, wie er in den vergangenen zweiJahrzehnten immer wieder gefordertwurde, kann es unter diesen Umstän-den vernünftigerweise nicht geben.Wir müssen, sehr geduldig und sehrnüchtern, mehrere strategische Ansätzezugleich verfolgen und dabei vor allemauf zwei Dinge achten: auf die ent-scheidenden Engpässe und die wichtig-sten Stärken Ostdeutschlands. Viel zuhäufig hat sich die Politik in den ver-gangenen Jahren bei dem Versuch auf-gerieben, bestehende Schwächen wett-zumachen. Auch das ist wichtig. Erfolgversprechender ist es jedoch, die spezi-fischen Stärken Ostdeutschlands zuidentifizieren und zu Vorbildern zuentwickeln, um auf diese Weise Posi-tivkreisläufe in Gang zu setzen: Wasfunktioniert, macht Mut und schafftSelbstbewusstsein – und wo Mut undSelbstbewusstsein wachsen, da funktio-nieren manche Dinge bald besser. Einbisschen ostdeutsches „Yes, we can“brauchen wir also durchaus, naiveSelbsthypnose dürfen wir jedoch aufkeinen Fall betreiben. Fest im Augebehalten müssen wir in Ostdeutsch-land jederzeit die zentralen Engpässe,mit denen wir es zu tun haben, dennsie vor allem könnten letztlich verhin-

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dern, dass sich positive Leitbilder ver-wirklichen lassen.

VI.Der erste Engpass betrifft dieBevölkerungsentwicklung und,

damit verbunden, die Frage der Fach-kräfte. Allein zwischen 1990 und 2004schrumpfte die Bevölkerung in Ost-deutschland um 7 Prozent. Hinter die-ser Zahl verbergen sich allerdings star-ke regionale Unterschiede: Sachsen-Anhalt verlor in dieser Zeit 14 Prozent,Thüringen 10 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen büßten je11 Prozent ihrer Einwohner ein. InBerlin und Brandenburg blieb dieEinwohnerzahl in der Summe gleich,jedoch bei starken internen Verschie-bungen im Falle Brandenburgs. Bis2020 wird die Bevölkerung in allenostdeutschen Ländern noch einmalzwischen 10 und 15 Prozent abneh-men. Sachsen-Anhalt wird dann einvolles Drittel seiner Einwohnerzahl von1990 verloren haben. Eine Ursachedieser Entwicklung ist die enormeAbwanderung, die alle ostdeutschenLänder betrifft. Seit 2001 ist sie zwarzurückgegangen, aber nicht ganz zumStillstand gekommen. Ein weiterer –zunehmend wichtigerer – Grund derBevölkerungsabnahme ist der scharfeGeburtenrückgang nach der Wende.

Die Abwanderung, die nicht gebo-renen Kinder und die längere Lebens-erwartung führen zu einer beschleu-nigten Alterung der ostdeutschen

Bevölkerung. Dies wird in den kom-menden Jahren derjenige Engpass sein,der die Entwicklung in Ostdeutschlandam meisten beschränkt. Aus ihm erge-ben sich erhebliche Konsequenzen fürdie soziale Infrastruktur, die Wirt-schaftsentwicklung und den Arbeits-markt unseres Landesteils. Vor allemführt die Alterung des Ostens zu einererheblichen Abnahme der erwerbsfähi-gen Bevölkerung, in Brandenburg etwaum fast ein Drittel bis 2030. Auch hiergibt es erhebliche regionale Unterschie-de. In einigen Regionen Brandenburgswird sich die Zahl der Erwerbsperso-nen sogar halbieren! Unter diesen Um-ständen könnte Ostdeutschland in dieLage geraten, zugleich unter hoher Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangelzu leiden. Weil sich die Wirtschaftimmer weiter ausdifferenziert undwissensintensiver wird, droht einMissverhältnis zwischen den vorhan-denen Arbeitssuchenden, die häufigüber die „falschen“ Qualifikationenverfügen, und dem Anforderungsprofilder benötigten Fachkräfte.

Vorsorgender Sozialstaat nötig

Eine weitere Besonderheit hat erheb-lichen Einfluss auf die demografischeZukunft der neuen Länder: Abgewan-dert sind vor allem junge und gut aus-gebildete Menschen. Gleichzeitig ent-wickelte sich bis 2005 eine hohestrukturelle Arbeitslosigkeit. Das führte

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dazu, dass heute jedes vierte ostdeut-sche Kind in einer Familie lebt, die auf staatliche Unterstützung angewie-sen ist. In manchen Regionen stammtsogar fast die Hälfte der Kinder aus„Hartz-IV-Familien“. Das hat be-trächtliche Konsequenzen auf dieEntwicklung der Kinder – wenn manan ihr Lebensumfeld, ihre Bildungs-chancen sowie das Fehlen positiverVorbilder und Rollenmodelle denkt.Hier ganz besonders ist auf den Ge-bieten der Familien-, Sozial- undBildungspolitik sowie bei der Gesund-heitsprävention ein wirklich vorsorgen-der Sozialstaat gefragt.

Jeder wird gebraucht

Ostdeutschland muss deshalb familien-freundlicher werden. Vor allem jungeFrauen haben in den vergangenenJahren den Osten verlassen – unddamit exakt diejenige Bevölkerungs-gruppe, die in den neuen Ländern amstärksten gebraucht wird. Alle Bereichedes öffentlichen Lebens müssen des-halb auf ihre Familienfreundlichkeitüberprüft werden. In den ostdeutschenLändern wird jede und jeder Einzelnegebraucht – schlicht weil immer weni-ger Menschen vorhanden sind. Mehrals je zuvor muss deshalb Bildung imMittelpunkt aller Politik stehen. Dastraditionell quantitativ gute System derKinderbetreuung muss systematischqualitativ zu einem System der Kin-

derbildung ausgebaut werden. Auf-grund der schwierigen sozialkulturellenLage vieler Familien muss die aktivie-rende und aufsuchende Familienbe-ratung und -unterstützung ausgebautwerden. Ein herausragendes Beispieldafür sind die „Netzwerke GesundeKinder“ in Brandenburg. Schulen insozialen Brennpunkten brauchen be-sondere Unterstützung beispielsweisedurch hochwertige Ganztagsprogram-me oder Schulpsychologen.

Als biografische Klippen erweisensich – nicht nur in Ostdeutschland –immer häufiger die Übergänge zwi-schen den einzelnen Lebensphasen derMenschen. Das betrifft vor allem dieSchwelle zwischen der Schule bezie-hungsweise der Hochschule und demArbeitsplatz. Wir müssen Barrierenbeim Zugang zum Hochschulstudiumabbauen und Vorbilder sichtbar ma-chen: Schüler, Lehrer und Eltern wis-sen oft ganz einfach zu wenig über dietatsächlich vorhandenen, aber oft nichtvermuteten ökonomischen Erfolgsge-schichten in ihrer Nachbarschaft unddie neuen Berufsbilder, die damit zu-sammenhängen.

Mehr Gewerkschaften

Seit Jahr und Tag wiederhole ich ausÜberzeugung den Satz: Ich kann undich will mir unsere Gesellschaft ohnestarke Gewerkschaften nicht vorstellen.Manchmal ist mir diese Aussage als

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bloße Verbeugung vor einer Traditionausgelegt worden. Zwar kann ich mitdiesem Vorwurf gut leben, tatsächlichaber geht es mir um etwas anderes.Verhandlungsstarke, fest verankerteund erneuerungsfreudige Gewerk-schaften sind – wiederum: nicht nur –in Ostdeutschland eine entscheidendeBedingung positiver Gesellschaftsent-wicklung. Nur so wird es in den neuenLändern langfristig möglich sein, dieInteressen von Arbeitnehmern – unterBerücksichtigung regionaler Besonder-heiten – wirkungsvoll zu vertreten,angemessene Lohnabschlüsse zu errei-chen und damit langfristig attraktiv fürFachkräfte zu bleiben. Davon abgese-hen sind Lohnangleichung und höhereLöhne der sicherste Weg, um Alters-armut zu verhindern.

VII.Ein zweiter Engpass ist dieniedrige Eigenkapitalquote

der ostdeutschen Unternehmen. Dasmacht sie in der Wirtschaftskrise anfälli-ger, weil es ihnen schwerer fällt, Durst-strecken zu überstehen. Die geringeKapitaldecke führt auch dazu, dass dieostdeutschen Betriebe noch immerstrukturelle Defizite bei der Innova-tionsfähigkeit aufweisen. So entfallenbeispielsweise nur fünf Prozent derindustriellen Forschung in Deutschlandauf die neuen Länder. Das führt zueiner geringeren Fertigungstiefe derIndustrie in diesem Teil Deutschlands.Es fehlt an industrienaher Forschung

und Entwicklung sowie an industriena-hen Dienstleistungen. Auch für diesenEngpass gibt es keine einfachen Lösun-gen. Schon heute listet der Bericht zumStand der Deutschen Einheit siebenProgramme auf, die allesamt die Inno-vationskraft von Unternehmen stärkensollen. Sieben weitere Bundesprogram-me sind darauf ausgerichtet, die dünneEigenkapitaldecke von Unternehmenauszugleichen, indem sie zum BeispielVermarktungshilfen oder günstigeKredite bereitstellen. Flankiert werdendiese Programme durch zusätzlicheAnstrengungen der Länder. Man wirdauf solche Maßnahmen in den kom-menden Jahren nicht verzichten kön-nen. Ihre Vielzahl mag erstaunen, sieerklärt sich aber aus den spezifischenBedürfnissen unterschiedlicher Unter-nehmen und Branchen. Insgesamt eig-net sich dieses Thema kaum für partei-politische Auseinandersetzungen, da diePositionen hier nahe beieinanderliegen.Ein Handlungsfeld von zentraler strate-gischer Bedeutung bleibt es dennoch.Das Problem abzumildern wird ganzentscheidend für den Erfolg der ost-deutschen Wirtschaft in den kommen-den Jahrzehnten sein.

Neue Potenziale

Damit Ostdeutschland die genanntenEngpässe hinter sich lassen kann, ist esumso wichtiger, dass wir uns unsererStärken und Potenziale bewusst wer-

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den, um diese energisch auszubauen.Entscheidende, bislang aber unterbe-wertete Vorteile bestehen vor allem inder ostdeutschen Energiekompetenzsowie in der geografischen Lage Ost-deutschlands in der Mitte des neuenEuropas.

VIII.Öffentlich viel zu wenigbeachtet, haben sich die

ostdeutschen Länder in den vergange-nen Jahren zu einem einzigen großenKompetenzzentrum auf dem Gebietder Energie entwickelt. Lange schienendie großen Ansiedlungsanstrengungender Automobil- und Mikroelektronik-industrie für den Osten bedeutsamer.Ob das so bleiben wird, ist mindestensfraglich. Jedenfalls stehen in Ostdeutsch-land heute nicht nur die effizientestenBraunkohlekraftwerke. Hier wird auchan Technologien gearbeitet, die einenDurchbruch bei der klimafreundlichenVerbrennung fossiler Energieträgerbedeuten könnten. Sollte es großtech-nisch gelingen, Kohlendioxid bei derVerbrennung von Braunkohle abzu-spalten und zu speichern, könnte Ost-deutschland zu einem international füh-renden „Innovationslabor“ in SachenEnergie werden.

Auch bei den erneuerbaren Energienhat sich Ostdeutschland an die Spitzegesetzt. Jede sechste Solarzelle der Weltkommt aus Ostdeutschland, das damitein international herausragender Stand-ort für Solarindustrie und Fotovoltaik

geworden ist. In Sachsen und Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburgsind wichtige Forschungs- und Pro-duktionsstätten der Solarindustrie ent-standen. Bei der Produktion und In-stallation von Windkraftanlagen liegenBrandenburg und Sachsen-Anhaltdeutschlandweit an der Spitze. 40 Pro-zent der in Deutschland installiertenWindkraftleistung entfallen auf die ost-deutschen Länder. Zudem sind zweiDrittel der Biokraftstoffproduktion inOstdeutschland angesiedelt.

Energieland Ost

Angesichts der globalen Klimakrisewerden diese „Standortvorteile“ Ost-deutschlands bisher vollkommen un-terschätzt. Ihre langfristige strategischeBedeutung für Wirtschaftskraft, Inno-vationsfähigkeit und Beschäftigungwerden noch nicht in ausreichendemMaße erkannt und kommuniziert. DieEnergieversorgung, einschließlich derProduktion von Anlagen, ist ein wich-tiger Wirtschaftszweig der Zukunft,der sich langfristig selbst tragen wird.In Ostdeutschland knüpft dieseBranche außerdem an langjährige in-dustrielle Traditionen an. Elementestrategischer Energiepolitik für Ost-deutschland umfassen also die Unter-stützung sowie den Ausbau von For-schung und Entwicklung auf denFeldern Energieversorgung und Klima-schutz, die Vernetzung von Wissen-

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schaft und Energiewirtschaft. Fort-schritte, Potenziale und vorhandeneKapazitäten müssen in ihrer Zukunfts-trächtigkeit begriffen und positiv in dieÖffentlichkeit vermittelt werden.

IX.Ostdeutschland liegt nicht nurgeografisch, sondern auch mit

Blick auf seine historischen Erfahrungenim Zentrum Europas. Mit der Osterwei-terung der EU in den Jahren 2004 und2007 ist Ostdeutschland aus seinerRandlage innerhalb der EU ins Zentrumdes Binnenmarktes gerückt. In der ost-deutschen Selbstwahrnehmung gibt esallerdings zuweilen noch eine gewisse„Randlagenmentalität“. Das muss sichändern, denn wie sehr Ostdeutschlandvon seiner Lage profitiert, zeigen bereitsheute die außerordentlich hohen Wachs-tumsraten beim Export nach Osteuropa.Auch wenn der absolute Umfang nochvergleichsweise gering ist, sind die Po-tenziale angesichts der wirtschaftlichenDynamik in Ostmitteleuropa groß –jedenfalls unter der Voraussetzung, dassdie derzeitige Wirtschaftskrise dort keinedauerhaften Schäden anrichtet.

Mitten in Europa

Ostdeutschland kann in den kommen-den Jahren eine echte Brücke nach Osteuropa werden – und zwar in politi-scher, geografischer und wirtschaftlicherHinsicht. Deutschland insgesamt, aberdie ostdeutschen Länder im Beson-

deren, können ein guter Anwalt und„Übersetzer“ ost- und ostmitteleuropä-ischer Interessen in der EU sein. IhreTransformationserfahrungen machendie neuen Länder in Ost und West aufdiesem Gebiet außerordentlich glaub-würdig. Die strategische Position Ost-deutschlands innerhalb Europas ist derbreiten Öffentlichkeit, aber auch vielenEntscheidungsträgern noch gar nichtrichtig bewusst. Ostdeutschland kannein regelrechtes Sprungbrett für dieErschließung der Märkte in Osteuropasein. Um die Chancen zu nutzen, diesich durch engere Kooperation bieten,müssen wichtige InfrastrukturvorhabenRichtung Osteuropa weiter ausgebautwerden. Auf die „VerkehrsprojekteDeutsche Einheit“ sollten dringend„Verkehrsprojekte Europäische Einheit“folgen. Weil die außenwirtschaftlichenKontakte intensiviert werden müssen,brauchen die ostdeutschen Unterneh-men verstärkte Unterstützung bei derMarkterschließung in Osteuropa.

X.Zwanzig Jahre nach der Revo-lution von 1989 steht Ost-

deutschland also vor schwierigen He-rausforderungen. Der demografischeUmbruch geht weiter, die finanziellenZuweisungen aus dem Solidarpakt wer-den planmäßig zurückgefahren, dielangfristigen sozialen und kulturellenAuswirkungen der hohen Arbeitslo-sigkeit lassen sich noch gar nicht er-messen. Und alle diese Strukturpro-

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bleme werden nun auch noch überla-gert und verschärft durch eine beispiel-lose Weltwirtschaftskrise, deren weitereEntwicklung und langfristige Folgenim Sommer 2009 niemand voraus-sagen kann. Kurz, es bleibt in Ost-deutschland in den kommenden Jah-ren nicht nur schwierig – es wird sogarwieder schwieriger werden. Und trotz-dem: Die Zukunft ist offen für politi-schen Gestaltungswillen, gerade inOstdeutschland, gerade in der Mitteunseres neuen Europas. Weder dieVerbreiter des Geredes von der perma-nenten Benachteiligung aller Ostdeut-schen haben die Wirklichkeit auf ihrerSeite, noch die Gesundbeter, die nochimmer an irgendwie vom Himmel fal-lende „blühende Landschaften“ glau-ben. Tatsächlich ist Ostdeutschlandnicht zu ewiger Benachteiligung verur-teilt, aber wir sollten auch nicht daraufhoffen, dass sich Retter von außen fin-den werden, die für uns die ostdeut-schen Kohlen aus dem Feuer holen.Was uns in Ostdeutschland gelingensoll, das müssen wir schon selbst voll-bringen. Insofern gleicht unsere Lagederjenigen im Herbst 1989: Wiederkommt es auf uns selbst an, wiedermüssen wir die Dinge selbst in dieHand nehmen.

Vor allem müssen wir uns zweiJahrzehnte nach der Revolution von1989 endgültig davon verabschieden,die ostdeutsche Gegenwart und Zu-kunft immer nur an den Verhältnissen

in der DDR zu messen. „Man sollteaufhören, Ostdeutschland weiter als ineiner historischen Ausnahmesituationbefindlich zu beschreiben, in der dieBrucherfahrung von 1989 im Zentrumsteht“, schrieb vor einiger Zeit diejunge ostdeutsche Autorin Jana Hensel.„Man muss beginnen, über diesenBruch hinweg zu erzählen und endlichdie Kontinuitäten aufzuzeigen.“ JanaHensel hat recht. Ostdeutschland istkein Traditionskabinett der DDR. Wirbegehen heute nicht den 60. Jahrestagder DDR sondern den 20. Jahrestagunserer Friedlichen Revolution.

Die Zukunft ist offen

„Zukunft braucht Herkunft“ – dieserZusammenhang bleibt mir wichtig.Wir sollten wissen, wo wir herkommen.Wo allerdings die Orientierung amGewesenen zum Selbstzweck wird stattzur Ressource der Erneuerung, da ver-bauen wir uns die Zukunft. So gesehengibt es Bestandteile ostdeutscher Ge-schichte, über die im Grunde viel mehrgeredet werden müsste, als wir diesüblicherweise tun. Ostdeutschland warin den vergangenen zwei Jahrzehntenunendlich viel mehr als eine „Nicht-mehr-DDR“! Wenn wir uns im Jahr2009 an die Revolution von 1989 undihre Folgen erinnern, dann vor allemdeshalb, weil hier seitdem etwas wirk-lich Neues entstanden ist, geschaffendurch die Arbeit und das Engagement

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der Menschen in Ostdeutschland. Des-halb sollten wir uns vielmehr mit ebendiesen zwanzig Jahren selbst beschäfti-gen, die zwischen dem Aufbruch von1989 und heute vergangen sind. Zwan-zig ereignisreiche, teilweise dramatischeund ganz sicher auch schwierige Jahrewaren das. Und vor allem: unsere zwan-zig Jahre. Zwei Jahrzehnte, in denenwir Ostdeutschen unseren Weg ganzneu suchen mussten – und millionen-fach gefunden haben. Zwei Jahrzehnte,in denen wir Rückschläge erlitten ha-ben, manchmal zu Boden gegangenund in den meisten Fällen wieder auf-gestanden sind. Solche Erfahrungenmachen nicht immer Freude, abereines machen sie auf jeden Fall: lebens-tüchtig und unerschrocken.

Wir sind vorbereitet

In der DDR war immer viel von „Auf-bau“ die Rede – viel zu viel sogar. DerAufbau hingegen, der uns seit 1989 inOstdeutschland unter enorm schwieri-gen Bedingungen gelungen ist, wirdgemessen daran deutlich weniger the-matisiert – zu wenig. Ich finde, dass sich

das ändern sollte, und zwar schon des-halb, weil wir in ganz Deutschland inden kommenden Jahren noch eineganze Menge von der unverzagten undunerschrockenen Grundhaltung brau-chen werden, die Millionen von Ost-deutschen seit dem Herbst 1989 an denTag gelegt haben. Rückschläge erleiden,wieder aufstehen, sich neu orientierenund unbeeindruckt weitermachen –genau das haben die Ostdeutschen inden vergangenen zwei Jahrzehnten sehrgründlich erlernt. Das sind nicht dieschlechtesten Fertigkeiten, um im 21.Jahrhundert zurechtzukommen. Ob unsdiese im Umbruch erworbenen Kompe-tenzen bereits zu einer „Avantgarde“machen, an der sich in Zeiten andau-ernder Veränderung andere orientierenkönnen, weiß ich nicht. Was ich da-gegen weiß, ist dies: Die Welt im Jahr2029 wird grundlegend anders aussehenund funktionieren als die Welt im Jahr2009. Wir in Ostdeutschland werdenvorbereitet sein. ¢

Der Beitrag beruht auf einem Kapitelseines Buches „Zukunft braucht Herkunft.Deutsche Fragen. Ostdeutsche Antworten“.

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M A T T H I A S P L A T Z E C K

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.

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W as kommt eigentlich nach derÜbergangszeit des Post-Sozialis-

mus, möchte man als neugierigerMensch und Wissenschaftler fragen.Kapitalismus? Neuer Sozialismus? Derviel beschworene „Dritte Weg“? Sinddas überhaupt noch die richtigen Kate-gorien, an denen wir uns zeitlich aus-richten, uns zukünftig verorten?

Die Erfahrungen der Nach-Wende-zeit deuten in keine klare Richtung.Echten Kapitalismus spürt man zwaran allen Ecken in seinen harschensozio-ökonomischen Auswirkungen.Doch bei so wenig Eigenkapital einervormals nach westlichen Standards ega-litären Gesellschaft ist es auch keinWunder, dass die Marktspielregeln nurwenig und meist zugunsten ortsfrem-der Kapitalgeber funktionieren. Abseitsvom Markt werden wirtschaftliche undsoziale Strukturen im Osten Deutsch-lands nur mühsam durch staatlicheZuschüsse am Leben erhalten. So man-cher Akteur wähnt sich vor Ort schonin einer neuen Planwirtschaft: Anstattstaatlicher Planvorstellungen diktierenweitgehend öffentliche Förderprogram-me Form und Inhalt ostdeutscher

Wirtschafts- und Sozialentscheidungen,besonders im Alltag. Dazu verschärftder beispiellose Verlust an Fachkräftendas gesellschaftliche Gefüge. Fast möch-te man zynisch behaupten, dass für dasbisschen Solidarzuschlag die fast 2 Mil-lionen Menschen, die nun fernab derostdeutschen Heimat die Ballungszen-tren West mit Arbeitskraft, neuen Ideenund hierzulande ausbleibendem Nach-wuchs stärken, recht billig erkauft sind.

Neue Probleme

Die Folge ist ein demografischer undsozialer Wandel ungekannter Art. Fort-schritt und Prosperität sind das nicht.Nichtsdestotrotz erscheint das VorbildWest in vielen Ebenen grundsätzlichideologisch unkritisch, nur eben prak-tisch fehlbar. So richtig passen will esnicht, kann es vielleicht auch gar nicht.Es stellt sich also folgende Frage: Sinddie neuen Probleme, welche die gesam-te Welt nach dem Kalten Kriege erfas-sten, denn überhaupt noch mit altenIdeen, Formen und Ansätzen – egal obAlt-West oder Alt-Ost – zu lösen?Müssten nicht ganz neue Konzepte

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Willkommen in Hoytopia ÜBER DIE SCHRUMPFUNG EINER EINSTIGEN SOZIALISTISCHEN

MODELLSTADT UND DIE NEUE OSTDEUTSCHE AVANTGARDE

VON FELIX RINGEL

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her? Vielleicht gerade für den Osten,vielleicht aber auch für die gesamteBundesrepublik, die sich den neuenEntwicklungen auch nicht verschließenkann. Für neue Herausforderungen istdie alte Zukunft des historischen Sie-gers nicht zwangsläufig die einzig rich-tige Antwort. Die Übergangsphase istlangsam vorbei. Ein neuer Wandel hatlängst begonnen. Zeit, ein Resümee zuziehen. Zeit, voran zu gehen.

Zurück in die Zukunft

Der Weg zur neu erkämpften Freiheitblieb für viele Ostdeutsche steinig.Einige Male ging er auf immer neuenUmwegen geradewegs an blühendenLandschaften vorbei. Man mag derhistorischen Chance der Wendejahre1989/90 nachtrauern, vor allem ob derunausgeschöpften Möglichkeiten.Doch bleibt auch in der Gegenwartnur eine Frage: Was können, was müs-sen wir jetzt tun, um die anstehendenProbleme zu lösen? Die Vergangenheitkann dafür eine gewinnbringende Res-source sein. Zurzeit wird sie jedochmeist zum Verhindern neuer Ideen insnoch immer heiß umkämpfte mora-lisch-politische Feld der alten kaltenKrieger geführt. Im Ringen um dieZukunft wird die Vergangenheit zurschwerwiegenden Waffe. Sich seinerhistorischen Verantwortung zu stellen,sieht anders aus. Was hilft eine Diskus-sion um Zwangsproletarisierung, wenn

für viele kluge Köpfe in den zurücklie-genden zwei Jahrzehnten keine ent-sprechend attraktiven Arbeits- undLebensbedingungen geschaffen wur-den, so dass sie wirtschaftlich gezwun-gen sind, ihrer Heimat den Rückenzuzukehren? Müsste man da nichteher von einer gegenwärtigen Zwangs-prekarisierung der ostdeutschen Ge-sellschaft sprechen? Und andererseitsvon einer Zwangsbourgoisierung imZuge einer Zwangsglobalisierung und-mobilisierung? Wie man sieht: Der-artige Debatten führen zu nichts. Injedwede Richtung ist eine übertriebe-ne Vergangenheitsfixierung, wie sie anvielen Orten noch inbrünstig betrie-ben wird, kontraproduktiv.

Auch im Westen

Der Osten hat den Wandel schon seit20 Jahren gelebt, sich in ihm mal bes-ser, mal schlechter eingerichtet. ImVergleich kommen dazu ganz klareökonomische Unterschiede, die sich inArbeitsplatzverlusten und Struktur-schwäche ausdrücken und zu einer Be-schleunigung weiterer Prozesse führen,vor allem des Wegzugs und des demo-grafischen Wandels. Natürlich findetman das in Ansätzen auch im Westender Republik, aber eben nicht in diesentypisch ostdeutschen und vor allem imländlichen und kleinstädtischen Be-reich beispiellosen Dimensionen. Wa-rum muss man sich denn da auf ver-

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gangenheitsbezogene Mentalitätenstürzen, liegen doch die Probleme inder Gegenwart?!

Willkommen im Wandel

Was man für den Osten im Großendurchspielen kann, wird umso klarer,richtet man seinen Blick auf eine mitt-lere Kleinstadt wie Hoyerswerda. Dieeinstige sozialistische Modellstadt istmittlerweile zum Osten des Ostensgeworden. Nehmen Sie irgendeinProblem, das typisch für die neuenBundesländer scheint und Sie könnensich sicher sein, es auch in Hoyers-werda zu finden – glaubt man demmedialen Diskurs. Von Schrumpfungund De-Industrialisierung, von Überal-terung und demografischen Wandel,von sozialer Verwerfung und hoherArbeitslosigkeit, auch von Problemenmit rechtsextremen Jugendlichen kön-nen bedauernswerterweise viele ost-deutsche Städte und Kommunen eintrauriges Lied singen. Trotzdem lohntes, einen genaueren Blick auf das Le-ben in dieser schrumpfenden Stadt zuwerfen.

Die Dimension der Veränderungenin Hoyerswerda ist enorm. Von ehemalsüber 70.000 Bewohnern sind 20 Jahrenach der Wende gerade mal 35.000,also die Hälfte, übrig. Statistisch gese-hen sind ca. 48.000 Menschen aus derStadt weggezogen, um vor allem in denalten Bundesländern nach Arbeit zu

suchen. Die heute durchautomatisierteSchwarze Pumpe, ein ehemaliges Gas-kombinat und Hauptstromerzeuger derDDR, pumpt nicht mehr genügendJobs für ihre ehemalige Wohnstadt –und ohne wirtschaftliche Grundlage findet sich die seit Mitte der fünfzigerJahre aufgebaute Neustadt ohne Funk-tion. Wer soll denn ohne Arbeit hierwohnen? Besonders die jungen, klugenKöpfe gehen weg. Sind erst einmal diebesten Freunde verzogen, lohnt dasBleiben noch viel weniger. Wer lebtheutzutage denn noch in einer Klein-stadt, gar im Plattenbau?

Die Schrumpfung ist überall

Die Schrumpfung ist allgegenwärtigund ragt in jedes Leben hinein. Sei es,wenn der Nachbar, die Tochter oderder beste Freund wegziehen, der Super-markt um die Ecke oder die vertrauteArztpraxis schließen, der eigene Verein,das eigene Unternehmen mit Nach-wuchssorgen kämpfen. All das istSchrumpfung. Mit dem Wegriss derHäuser, also dem euphemistisch ge-priesenem „Rückbau“ der einstigenVorzeige-Wohnstadt, haben sich dieMenschen nach anfänglichen Schwie-rigkeiten arrangiert. Doch die Lückenim sozialen Netzwerk kann so schnellkeiner schließen. Umso wichtiger istjeder, der bleibt bzw. hinzukommt.

Was das für politische, ökonomi-sche, soziale und kulturelle Entschei-

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dungsträger heißt, ist klar: Die Instru-mente und Denkmuster, mit denenuns die Moderne seit einigen Jahr-zehnten fit gemacht hat für stetesWachstum und die Planung von Fort-schritt, greifen hier nicht mehr. NeueKonzepte müssen her. Ansonsten wirdman mit den falschen Vorstellungenim Kopf schnell untergehen in den sichzuspitzenden Verteilungskämpfen umdie garantiert weniger werdenden Mit-tel. Doch wohin geht die Moderne,wenn es nicht mehr fröhlich ums „Bauauf, bau auf!“ geht? Wie plant man füreine Zukunft, die ungewisser scheintals je zuvor? Welchen Bezugspunktstellt man in den Mittelpunkt der Pla-nungsaktivitäten einer anteilig de-öko-nomisierten Gesellschaft?

Standortfaktor Mensch

Die Planer von Hoyerswerda hattenganz im modernen Sinne, Einflüssendes Bauhaus folgend, nicht nur Woh-nen und Arbeiten räumlich getrennt,sondern auch versucht, das Wohn-umfeld so anspruchsvoll wie möglichzu gestalten. Besonders die Wohn-komplexe der ersten Planungsphase –also die ersten 7 der fertig gestellten 10Wohnkomplexe (WK) der Hoyers-werdaer Neustadt – zeugen von fachli-cher Exzellenz und planerischer Weit-sicht. Mit viel Kunst geschmückteGrünachsen durchziehen die verkehrs-beruhigten Wohngebiete, verbinden

den jeweiligen Nahversorger mit derunabdingbaren WK-Kneipe oder derdie Größe des WKs bestimmenden Bil-dungseinrichtung. Die sozialistischeFrau sollte problemlos Arbeit und Fa-milie verbinden können.

Wie die Zukunft schmeckte

Dazu sollte noch viel mehr kommen –eben alles, was städtisches Leben aus-macht. Tatsächlich kam auch das Kli-nikum, der erste Kaufhausneubau dernoch jungen DDR, Sportanlagen, ineigener Aufbauleistung ein nagelneuerZoo, später auch eine Schwimmhalleund das städtische Kulturhaus, dasHaus der Berg- und Energiearbeiter.Wie von der Schriftstellerin BrigitteReimann gefordert, sollte Hoyerswerdaeine im wahren Sinne lebenswerteStadt werden, in der man, wie sie pro-vokativ Mitte der sechziger Jahre for-mulierte, küssen können sollte.

Ironischerweise wurde das Zentrumder zweiten sozialistischen Planstadtder DDR nach Eisenhüttenstadt auf-grund von ökonomischen Zwängen,politischen Streitereien und materiellenMissständen nie fertig gestellt. Entge-gen der allgemeinen Behauptung,Hoyerswerda sei zur Schlafstadt gewor-den und sperre seine Einwohner insogenannte ‚Arbeiterschließfächer‘, pul-sierte das Leben in der ehemals jüng-sten und kinderreichsten Stadt derDDR. Alles schmeckte nach Zukunft.

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Gerade wegen der schönen neuenWohnungen waren fast 70.000 Men-schen hierher gezogen, hatten die alte,beschauliche, typisch mitteleuropäischeKleinstadt Hoyerswerda, die heutigeAltstadt mit Schloss, Marktplatz undKirche, um ein zehnfaches vergrößert.Noch heute betonen viele, sie lebengerne in der Neustadt, im Plattenbau.Leben ist hier sehr funktional – kurzeWege, angenehmes Wohnen, alle Stadt-funktionen arbeiten. Noch.

Kann man noch küssen?

Doch was ist, wenn Hoyerswerda seineStärke als Sport-, Bildungs- und Ein-kaufsstadt, als medizinisches und touris-tisches Zentrum mit hohem Wohn-komfort und guter Lebensqualitätverliert, weil die Stadt sich nicht mehrselbst tragen kann? Wie plant man denProzess der Schrumpfung, der die Mo-derne in ihr Gegenteil verkehrt unduns zwingt, die alten Instrumente undIdeen über Bord zu werfen? Wie agiertman richtig als Oberbürgermeisteroder Stadtrat, als Unternehmer oderSchulleiter, als behandelnder Arzt oderauch nur als ganz normaler EinwohnerHoyerswerdas? Kurzum, wie gestaltetman Leben in einer Stadt im Wandel?Und: Wird man in Hoyerswerda inZukunft noch küssen können?

Die Probleme der Stadt sind allenbewusst. Doch wer jetzt Geschichtender Ostalgie, des typischen Jammer-

ossis, des Kopf-in-den-Sand-Steckenserwartet, den muss ich leider enttäu-schen. „Ostdeutschsein“ heißt dasschon lang nicht mehr – wenn enga-gierte und leidenschaftliche Kritik ander Gegenwart mit beliebigen Bezugzur Vergangenheit überhaupt einmal so interpretiert hätte werden können.In 16 Monaten Feldforschung habe ich niemanden getroffen, der sich dieDDR zurückwünschte – aber vieleMenschen, die aufgrund der Erfah-rungen zweier Systeme kritisch undunbefangen an die Probleme der Ge-genwart herangehen. Meist waren dieseauch schon zu DDR-Zeiten kritisch,müssen sich aber heutzutage Vorwürfeob ihrer Kritik anhören – sie seiennoch immer die Ewiggestrigen, dienoch nicht in der Gegenwart ange-kommen sind. Dabei weiß doch keinermehr, wohin genau es gehen soll. ImGegenteil, nur eins lässt sich unum-wunden behaupten: Das, was derOsten Deutschlands gerade durch-macht, wird bald Alltag des gesamteneuropäischen Kontinents werden. DerOsten geht also voran, nicht hinterher.Unsere Entwicklungsschemata undDefinition von Normalität müssenvielleicht noch einmal auf den Prüf-stein gestellt werden.

Auch wenn das Eingeständnis, dassdie Stadt schrumpft und das man siegroßflächig zurückbauen muss, ersthart abgerungen werden musste, so zie-hen gegenwärtig alle wenigstens am

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gleichen Strang, wenn auch oft noch inunterschiedliche Richtungen. Nochimmer schmerzt jedes abgerisseneHaus, erzählt jede der über 7.000schon verschwundenen Wohneinheiteneine meist traurige Geschichte des un-freiwilligen Gehens und der verlorenenHeimat. Doch man gewöhnt sichschnell an die neuen Freiräume, indenen wieder Bäume und Wiesen derNatur ein neues, altes Zuhause geben.Die Menschen in Hoyerswerda wieauch im ganzen Osten haben mehr zutun, als nur den lieben langen Tag dereinst frohgemuteren Vergangenheitnachzutrauern. Das Leben will gelebt,das Miteinander genossen und die Zu-kunft gestaltet werden.

Selbst in die Hand genommen

So bestimmt also ein stetes Ringen mitder eigenen Stadt, die wie ihre Zukunftzum Problem geworden ist, das Han-deln und die Gedanken derer, die hiergeblieben sind. Mehr als anderswo wirdman in solch einem Kontext gezwun-gen, stets neue Wege zu gehen. AlteMuster greifen nicht mehr. Was gesternnoch ging, kann heute längst passé sein.Wer Kontinuität braucht, ist in Hoyers-werda an der falschen Adresse.

Doch das heißt nicht, dass die Stadtihre alten Potentiale nicht mehr nutzensollte. In fast 40 Jahren DDR und in20 Jahren Wendewirren hat sich vielUnerwartetes in der durch und durch

geplanten Stadt ergeben. Ob in Partei-oder Marktzwängen, die Menschen inHoyerswerda haben es in bemerkens-wertem bürgerlichen Engagement ver-standen, ihr Leben selbst in die Handzu nehmen – und trotz politisch-ideo-logischer oder ideologisch-ökonomi-scher Zwänge ihre Freiräume zu er-trotzen. Das sieht man in den vielenKleingartenanlagen genauso wie in denüberdurchschnittlich frequentiertenSportvereinen, im musikalischen Ta-lent der Stadt und vor allem in derSoziokultur. Dieses einzigartige bürger-schaftliche Engagement entbindetjedoch in keiner Weise Verantwort-liche auf Bundes- oder Landesebeneund der lokalen Wirtschaft von ihrerPflicht, den Prozess der Schrumpfungmehr als wohlwollend zu begleiten.Genau auf diesen Ebenen wurden ent-sprechend schicksalsträchtige Entschei-dungen für die Zukunft der Lausitzgetroffen.

Vom Osten lernen

Wolfgang Kil, renommierter Architek-turkritiker, sagte einmal, es sei docherstaunlich, dass Hoyerswerda als Plan-stadt bisher zweimal in seiner Ge-schichte eine unheimlich aktive, selbst-organisierte Kulturszene abseits desstaatlich Verordneten hervorgebrachthatte. Zum einem den Freundeskreisfür Kunst und Literatur derer, die inden fünfziger und sechziger Jahren

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nach Hoyerswerda gezogen sind. Bri-gitte Reimann, die mit ihrem Roman„Franziska Linkerhand“ eindrucksvollden Aufbau der Neustadt dokumen-tierte, ist wohl prominenteste, wennauch nur zeitweilige Vertreterin diesesZirkels. Busladungsweise wurden dieKumpel ins Theater nach Berlin oderSenftenberg gekarrt, kamen geistigeGrößen wie Maxie Wander, DieterMann oder Christa und Gerhard Wolfin die Lausitz zu Gesprächen, Lesun-gen, geistigem Austausch. Wenig späterdann die Singe- und Jugendclubbewe-gung mit der Brigade Feuerstein, ausder dann der leider wie Brigitte Rei-mann viel zu früh verstorbene Lieder-macher Gerhard Gundermann hervor-ging. Noch heute wird dieses Erbe mitAnspruch, Kreativität und dem Mut zuNeuem in der KuFa, dem soziokultu-rellem Zentrum der Stadt unter Lei-tung des Vereins Kulturfabrik, ge-pflegt. Generationenübergreifendesoziokulturelle Arbeit setzt da täglichneue Anreize in einer schrumpfendenund älter werdenden Stadt. Doch auchdie nächstfolgende Generation, also die Kindergeneration der in HoywoyAufgewachsenen und die Enkel derAufbauer, überzeugt durch Taten-drang, Talent und kritischen Geist.

Alle zusammen reiben sich an ihrerStadt und versuchen trotz geringerMittel, fehlender staatlicher oder be-trieblicher Protektion (Schwarze Pumpeliegt jetzt für Hoyerswerda tragischer-

weise auf der anderen Seite der Lan-desgrenze zwischen Brandenburg undSachsen – verschenkte Potentiale, willman doch beiderseits für den wachsen-den Industriepark durch überzeugendeAngebote im Bereich Lebensqualität,Wohnen, Freizeit Fachkräfte gewin-nen!) und einer allgemein sehr ernstenLage, Leben in der Stadt aufrecht zuhalten – und das nicht nur auf mäßi-gem Niveau. Von Reimann und Gun-dermann inspiriert, vielleicht auch vonComputer-Vater Konrad Zuse, dessenNamen die Stadt ganz offiziell trägt,wird Leben hier komplex und ganzheit-lich definiert, im Spannungsfeld mitArchitektur, Industrie, Urbanität undmenschlichem Zusammenleben, Kulturund Lebenslust. Besonders die Zukunftder Stadt als Stadt selbst und somit alsLebensraum für die jetzigen, aber auchdie künftigen Generationen steht immerwieder im Blickfeld der zahlreichenAktivitäten.

Neue Vorzüge

So veranstaltete die Kulturfabrik z. B.vor kurzem das Großprojekt „Die 3.Stadt“. In sieben verschiedenen Bau-steinen wurde sich inhaltlich mit deneinzelnen Dekaden der Neustadt-Jahreauseinandergesetzt, vor und nach derWende. Alles mündete in einer mittler-weile mehrfach ausgezeichneten Zu-kunftswerkstatt unter der Leitung derlokalen Architektin Dorit Baumeister,

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die mit 26 Jugendlichen ein schlüssigesund fundiertes Leitbild für Hoyers-werda kreierte – wieder als die Wohn-,nein Lebensstadt der Region mit alleninfrastrukturellen Vorzügen als Schul-,Gesundheits- und Einkaufsstadt, alsSport-, Erholungs- und Kulturstadt,in der man sich dazu noch traut in denBereichen Wohnen, Leben, Kultur undBildung mit allen zusammen und krea-tiv, mitunter schräg und ausgefallenneue Wege zu gehen. Man sieht auchhier: Der Umgang mit der eigenen,spezifischen Vergangenheit und Ge-genwart muss weder unkritisch nochlähmend sein. Ferner hilft gerade derselbstvergewissernde Blick zurück überdie eigene (!) Schulter, Probleme derGegenwart verstehen und lösen zukönnen. Ohne jegliche Rückwärtsge-wandheit, ohne das so oft beschrieeneEwig-Gestrige wird hier wider Erwar-ten leidenschaftlich an gegenwärtigenProblemen gearbeitet und um eineneue Zukunft gerungen.

Neue ostdeutsche Avantgarde?

In solch einem Milieu und untersolch eigentlich widrigen Umständenfindet man eine wenn auch sehr spe-zifische, doch typisch ostdeutscheSituation, die den gegenwärtigenMeinungen klar widerspricht. DieMenschen in Hoyerswerda gehen wie-der voran, sind Avantgarde im eigent-lichen Sinne des Wortes. Der Vorreiter

im Prozess der Schrumpfung zu sein,ist wahrlich keine schöne Aufgabe.Doch hilft jene Entwicklung, denMenschen wieder ins Blickfeld zurücken, dem einzigen Standortfaktornebst der für diesen gebauten Infra-struktur, den Hoyerswerda vorzuwei-sen hat: Eine Stadt reduziert auf dieMenschen, die in ihr leben. Es ist indem Sinne auch nicht verwunderlich,dass gerade in so einem Kontext ganzernsthafte visionäre Ansätze aufgegrif-fen werden. Zwangsläufig kommtman in solch einer schwierigen Situa-tion schnell zu ganz elementaren Fra-gen des Lebens – was die Güte diesesLebens, des Menschen ausmacht. Reinanthropologische Fragestellungen.

Ein guter Freund, den ich währendmeiner Forschungen in Hoyerswerdakennenlernte, hat eine ziemlich zu-kunftsweisende Idee. Er greift das Kon-zept des Bürgergeldes auf und versuchtes konsequent als neues Modell einerzukünftigen Gesellschaft in der Praxiszu erproben. Wovon die Rede ist? VonHoytopia! Um etwas genauer zu wer-den – und mein HoyerswerdaerFreund hat das schon alles bis ins De-tail durchgerechnet – reden wir hiervon einem ziemlich großen, auf EU-Ebene angelegten, potentiellen Projekt.Die Fragestellung lautet: Wie gestaltenMenschen Leben und Gemeinwesen,wenn sie nicht mehr Teil des Systemsder Lohnarbeit sind? Wie WolfgangEngler, Rektor der Schauspielschule

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Ernst Busch, schon in seinem Buch„Bürger, ohne Arbeit“ andachte, be-steht vor allem im Osten Deutschlandsdas Potential (zugegebenermaßen un-freiwillig), eine Gesellschaftsordnungauszuprobieren, die nicht auf der Ideeder Lohnarbeit basiert, also auf derVorstellung, dass meine Arbeit gegenLohn verkauft werden muss – sonstaber keinen Wert hat.

Am Ende der Lohnarbeit

Was Engler und meinem Ideengeberaus Hoyerswerda vorschwebt, ist, dassArbeit herausgelöst wird vom Vergü-tungsprozedere und so den Menschenanders definiert – nicht mehr über dieHöhe seines Lohnes, sondern über an-dere, ganz bürgerliche Werte. Arbeitheißt dann auch ehrenamtliche Arbeit,das Engagement für gemeinnützigeProjekte, eben aktiver und integralerBestandteil der so oft gefordertenZivilgesellschaft zu sein. Bürger sein,im wahrsten Sinne des Wortes. Dasalles, und nun sind wir bei der Kruxangelangt, basiert darauf, dass derBürger einer solchen Gesellschaft nichtmehr von der Lohnarbeit abhängt.Stattdessen bekommt man als vollwer-tiger Bürger monatlich sein Bürgergeldausgezahlt. Dieses sichert alle Grund-bedürfnisse. Hinzuverdienste sindgestattet, aber nicht nötig. Dies allesmuss jedoch erstmal erprobt werden.Warum denn nicht in Hoyerswerda?

2.000 bis 3.000 EU-weit gefundeneTeilnehmer sollen in einem der funktio-nal hervorragend ausgestatteten Wohn-komplexe genau das versuchen: Lebenmit dem Bürgergeld. Über zwei, dreiJahre müsste die EU ungefähr 15 Mil-lionen. Euro investieren. Das ganzewürde wissenschaftlich begleitet (An-thropologen bieten sich hier geradezuideal an!) und das erarbeitete Wissendann in die politischen und mei-nungsbildnerischen Prozesse wiedereingespeist. Wie organisieren dieseExperimentalgesellschafter ihr Zusam-menleben? Was probieren sie in denBereich Architektur und Städtebau,Soziales und Kultur, Bildung und Wis-senschaft, Infrastruktur und gesundheit-liche Versorgung, Pflege und Gemein-sinn, Wirtschaft und Politik aus? Wieändert sich ihr eigenes Selbstverstän-dnis? Welche neue Spezies Bürger reiftin einem solchen Umfeld heran?

...und der Zukunft zugewandt

Alles Spinnerei? Gerade strukturschwa-che Regionen müssen sich jedoch fragen,wie sie aus dieser primär wirtschaftlichenProblemlage wieder herauskommen. Istes, so wird clever gefragt, nicht eine he-rausragende zivilisatorische Leistung,ähnlich der altgriechischen, jedochsklavengestützten Demokratie, Men-schen aus dem Lohnarbeitsprozess her-auszulösen, sie aus diesem frei zu set-zen?! Die Zeit der arbeitsintensiven

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Industrien ist für unsere Regionen vor-bei. Der Traum der Vollbeschäftigungausgeträumt. Auch Tourismus undandere Dienstleistungen werden nurbegrenzt für kleine Aufschwünge sor-gen. Eine ganzheitliche Lösung istnoch lange nicht in Sicht. Was tun,lieber Bürger? Und warum sollteOstdeutschland mit seinen verände-rungserprobten Bürgern erster Gütenicht der Ort sein, an dem Lösungenfür Probleme wie hohe Arbeitslosigkeitund sozialen Verfall entwickelt undausprobiert werden?

Doch das hängt auch davon ab, wiewir weiterhin mit den gegenwärtigenProblemen der gesamten Republik

umgehen, Kritik an dem bestehendenSystem formulieren, anerkennen undbewerten und wie viel Mut wir auf-bringen, ganz neue Wege zu gehen.Anstatt sich stets mit der Vergangen-heit in moralisch überbewertetenSchlammschlachten auseinanderzuset-zen, müssen wir zurück in die Zu-kunft, zurück zum Menschen. DieMenschen mit ihren gegenwärtigenProblemen müssen wieder ins Zentrumunserer Bemühungen – jenseits vonundifferenzierten, düsteren Statistiken,jenseits von trennenden, moralisch auf-geladenen Kategorien. Der 20. Jahres-tag der Friedlichen Revolution von1989 ist dafür ein idealer Moment. ¢

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F E L I X R I N G E L

ist Anthropologe und schreibt seine Doktorarbeit an der UniversitätCambridge. Für Feldstudien lebte er 16 Monate in Hoyerswerda.

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Das Debattenmagazin

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Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen

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Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wirHeft 40 Bildung für alleHeft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?