perspektive21 - Heft 49

92
BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 49 SEPTEMBER 2011 www.perspektive21.de MATTHIAS PLATZECK: Nur Rückspiegel reicht nicht ALEXANDER GAULAND: Land zwischen Oder und nirgendwo RICHARD SCHRÖDER: Orientierung und Konsens bieten CHRISTOPH KLEßMANN: Die zweite Chance GESINE SCHWAN: Zukunft braucht Vergangenheit NORBERT FREI: 1989 und wir? ANDREAS KUHNERT: Mit Schaum vor dem Mund geht es nicht MARTINA GREGOR-NESS & KLAUS NESS: Nicht das gelebte Leben ausgrenzen WOLFGANG HUBER: Ruhig und bestimmt FRIEDRICH SCHORLEMMER: Frei und unbefangen? MARTIN GORHOLT: Der Glücksfall ROBERT DAMBON: Sachsens Glanz und Brandenburgs Weg? WIE IN BRANDENBURG DIE AUFARBEITUNG GELANG Geschichte, die nicht vergeht

description

Geschichte, die nicht vergeht.

Transcript of perspektive21 - Heft 49

Page 1: perspektive21 - Heft 49

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 49 SEPTEMBER 2011 www.perspektive21.de

MATTHIAS PLATZECK: Nur Rückspiegel reicht nichtALEXANDER GAULAND: Land zwischen Oder und nirgendwoRICHARD SCHRÖDER: Orientierung und Konsens bietenCHRISTOPH KLEßMANN: Die zweite Chance GESINE SCHWAN: Zukunft braucht VergangenheitNORBERT FREI: 1989 und wir?ANDREAS KUHNERT: Mit Schaum vor dem Mund geht es nichtMARTINA GREGOR-NESS & KLAUS NESS: Nicht das gelebte Leben ausgrenzenWOLFGANG HUBER: Ruhig und bestimmtFRIEDRICH SCHORLEMMER: Frei und unbefangen?MARTIN GORHOLT: Der GlücksfallROBERT DAMBON: Sachsens Glanz und Brandenburgs Weg?

WIE IN BRANDENBURG DIE AUFARBEITUNG GELANG

Geschichte, dienicht vergeht

Page 2: perspektive21 - Heft 49

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen

20 Jahre nachder friedlichenRevolution von 1989:

Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutsch-land jetzt?

224 Seiten,gebunden

Eine persönliche Bestandsaufnahme

Page 3: perspektive21 - Heft 49

Geschichte, die nicht vergeht

W as passiert eigentlich seit zwei Jahren in Brandenburg? Ein Klick zu Wikipediaund schon sind wir etwas schlauer: „Geschichtspolitik ist die aus politischen

Gründen gewählte, das heißt, parteiische Interpretation der Geschichte und derVersuch, eine breite Öffentlichkeit von dieser Interpretation zu überzeugen“. Seit Bildung der rot-roten Großen Koalition in Brandenburg erleben wir ein Trommel-feuer dieser Geschichtspolitik, um diese Regierung zu bekämpfen. Mit großempublizistischen Aufwand wird von großen Teilen der Opposition und ihnen nahe-stehenden Publizisten und Wissenschaftlern versucht, die Öffentlichkeit davon zuüberzeugen, dass der von Manfred Stolpe, Regine Hildebrandt und der SPD geprägte„Brandenburger Weg“ in den neunziger Jahren die Aufarbeitung der DDR-Ge-schichte behindert und Brandenburgs Ankommen in der westlichen Welt verhinderthabe. Eine – Achtung Ironie! – interessante Sichtweise, mit der offensichtlich auchdie miesen Wahlergebnisse seit 1990 der sich selbst „bürgerlich“ nennenden Parteienin Brandenburg erklärt werden sollen. Als jemand, der selbst 1991 aus Westdeutsch-land nach Brandenburg gekommen ist, befremdet mich dieser verspätete Versuch,die Brandenburger umzuerziehen, weil damit ein Bild von den Brandenburgern alsostalgische Hinterwäldler kultiviert wird, die einfach nicht die Segnungen der west-lichen Demokratie erkennen wollen.

Diese Art von Geschichtspolitik, die wir gegenwärtig in Brandenburg erleben, be-schädigt eine ernsthafte und notwendige Auseinandersetzung mit unserer Vergan-genheit. Mit diesem Heft der Perspektive 21 wollen wir deshalb einen Beitrag zueiner ernsthaften Auseinandersetzung leisten. Wir klammern dabei natürlich auchnicht die Rolle des Brandenburger Gründungsministerpräsidenten Manfred Stolpeaus. Mit Wolfgang Huber und Friedrich Schorlemmer haben wir zwei Autoren ge-wonnen, die interessante Einsichten zur Rolle Manfred Stolpes beisteuern können.Besonders an Herz legen möchte ich Ihnen aber das Interview mit dem ehemaligenDDR-Oppositionellen und heutigen Landtagsabgeordneten Andreas Kuhnert, dereindrücklich schildert, wie in den Nachwendejahren in Brandenburg Aufarbeitungpraktisch betrieben wurde und was die damals Aktiven umtrieb.

Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und bin auf die Reaktionen aufdieses Heft sehr gespannt.

IHR KLAUS NESS

vorwort

Page 4: perspektive21 - Heft 49
Page 5: perspektive21 - Heft 49

5perspektive21

inhalt

Geschichte, die nicht vergehtWIE IN BRANDENBURG DIE AUFARBEITUNG GELANG

MAGAZINMATTHIAS PLATZECK: Nur Rückspiegel reicht nicht ............................................ 7

Warum die Brandenburger Sozialdemokraten eine große Debatte zur Zukunft unseres Landes vorantreiben wollen

THEMAALEXANDER GAULAND: Land zwischen Oder und nirgendwo .............................. 13

Der „Brandenburger Weg“ ist kein Rückgriff auf die DDR – sondern auf preußische Traditionen

RICHARD SCHRÖDER: Orientierung und Konsens bieten ..................................... 21

Warum die Bezeichnung Brandenburgs als „kleine DDR“ falsch ist

CHRISTOPH KLEßMANN: Die zweite Chance ........................................................ 25

Oder: das Recht auf politischen Irrtum

GESINE SCHWAN: Zukunft braucht Vergangenheit ............................................. 33

Wie wir mit der Vergangenheit ehrlich umgehen können

NORBERT FREI: 1989 und wir? ............................................................................ 39

Der Umgang mit der DDR-Vergangenheit ist geprägt von Erinnerungspolitik im Übermaß – nötig wäre Geschichtsbewusstsein

ANDREAS KUHNERT: Mit Schaum vor dem Mund geht es nicht ........................... 47

Über das flaue Gefühl bei Stasi-Überprüfungen, vermeintliche Spitzel in der SPD-Fraktion, den Rechtsstaat und eine zweite Aufarbeitung sprach Thomas Kralinski mit Andreas Kuhnert

MARTINA GREGOR-NESS & KLAUS NESS: Nicht das gelebte Leben ausgrenzen ..... 55

Sechs Erfahrungen aus 20 Jahren Brandenburg

Page 6: perspektive21 - Heft 49

6 september 2011 – heft 49

WOLFGANG HUBER: Ruhig und bestimmt ........................................................... 63

Wie Manfred Stolpe half, die Eigenständigkeit der DDR-Kirche zu sichern und so einen Betrag zum Sturz des SED-Regimes leistete

FRIEDRICH SCHORLEMMER: Frei und unbefangen? ............................................ 67

Der politische Journalismus als Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln

MARTIN GORHOLT: Der Glücksfall ..................................................................... 75

Eine Einordnung der Diskussion um Manfred Stolpe

ROBERT DAMBON: Sachsens Glanz und Brandenburgs Weg? ............................. 81

Die Unrechtsaufarbeitung in den ostdeutschen Bundesländern

Page 7: perspektive21 - Heft 49

Nur Rückspiegel reicht nicht WARUM DIE BRANDENBURGER SOZIALDEMOKRATEN EINE GROSSE

DEBATTE ZUR ZUKUNFT UNSERES LANDES VORANTREIBEN WOLLEN

VON MATTHIAS PLATZECK

W ir in Brandenburg haben uns in den letzten Jahren viel mit unserer Vergan-genheit beschäftigt. Wir haben 2009 und 2010 bewegende 20. Jahrestage ge-

feiert, und wir haben in jüngerer Zeit engagierte Debatten zu Fragen angemessenerGeschichtsaufarbeitung geführt. Das alles war sinnvoll, und selbstverständlich wirdder Blick zurück auch weiterhin notwendig sein. Die Vergangenheit des eigenenLandes zu kennen – und zwar in ihren problematischen Aspekten genauso wie inihren erbaulichen –, ist völlig unabdingbar, damit alte Fehler nicht erneut began-gen werden. Zukunft braucht Herkunft, dabei bleibt es.

Aber allein mit dem Blick in den Rückspiegel werden wir eine gute Zukunftfür unser Land nicht gewinnen. Wir brauchen auch den aufmerksamen Blicknach vorn, wir brauchen gute Ideen, tragfähige Konzepte und die Bereitschaft zurErneuerung. Denn heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Untergang derDDR haben wir es in Brandenburg weit überwiegend mit Aufgaben und Proble-men zu tun, bei deren Lösung uns selbst genaueste Geschichtskenntnis und ge-wissenhafteste Aufarbeitung nur sehr begrenzt weiterhelfen können. Darum musses der Politik auch in Brandenburg noch intensiver um die Bewältigung von Ge-genwart und Zukunft gehen als um die Bewältigung der Vergangenheit.

Wie die neuen Fragen der Zeit aussehen

Als die DDR zu Ende ging und das Land Brandenburg gegründet wurde, zeichnetensich die großen Fragen, die im 21. Jahrhundert über unsere Lebensqualität undunseren Wohlstand entscheiden werden, noch nicht einmal in Umrissen ab. Vieleder Themen, die heute völlig zu recht ganz weit oben auf der politischen Tages-ordnung stehen, galten bestenfalls als Steckenpferde einiger Experten: „Demografie“,„Globalisierung“, „Digitalisierung“, „Klimawandel“, „Energiewende“ oder „Wissens-gesellschaft“ – alle diese Schlagwörter benennen Entwicklungen, deren enorme

7perspektive21

magazin

Page 8: perspektive21 - Heft 49

Bedeutung wir erst nach und nach begriffen haben. Und sie alle betreffen uns hier inBrandenburg ganz direkt. Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob wir aufder Höhe der Zeit sind.

Um ein für unser Land besonders wichtiges Beispiel zu nennen: Ich wenigs-tens hätte mir 1990 noch nicht sehr viel unter dem Begriff „demografischesEcho“ vorstellen können. Das hat sich geändert. Denn inzwischen bekommenwir in aller Deutlichkeit zu spüren, worum es sich bei diesem Echo handelt: InOstdeutschland halbierten sich – als Folge existenzieller Verunsicherung – nach1990 schlagartig die Geburtenzahlen. Das wiederum hat eine Generation später,also heute und in den nächsten Jahren zur Folge, dass die Zahl der möglichenEltern nochmals drastisch schrumpft – wer nicht geboren wurde, kann auch kei-nen Nachwuchs in die Welt setzen.

Eine Partei für alle Gruppen und Regionen

Während in Brandenburg derzeit noch 18.000 Kinder pro Jahr zur Welt kommen,werden es um das Jahr 2030 herum voraussichtlich nur noch 10.000 sein. Wiewerden wir dieser Entwicklung gerecht? Wie werden wir beispielsweise unser Schul-system umbauen müssen? Wie kriegen wir es hin, dass jedes einzelne Kind die best-mögliche Förderung erhält? Und wenn es immer mehr Ältere gibt als Jüngere, wiewerden wir dann sicherstellen, dass Gesundheitsversorgung und Pflege funktionie-ren? Und mit welchem Personal? Was müssen wir also tun, um Brandenburg zueinem attraktiven „Einwanderungsland“ zu machen, das zunehmend auch jungeLeute und Fachkräfte aus anderen Teilen Deutschlands und Europas anzieht?

Diejenige Partei in unserem Land, die ernsthafter als andere Ideen und Kon-zepte entwickeln muss, mit denen wir die Zukunft bewältigen können, ist dieBrandenburger SPD. Wir stehen in der Pflicht. Auf uns blicken die Leute, vonuns vor allem erwarten sie konkrete Lösungen. Das ist in Ordnung so. Unseremganzen Selbstverständnis nach sind wir seit über 20 Jahren Fortschritts- und Ge-staltungspartei. Und unser Ruf als „Brandenburgpartei“ rührt daher, dass dieBürger wissen: Diese Brandenburger SPD begreift sich als Partei für das gesamteLand, für alle Schichten, für alle Gruppen und alle Regionen, für Einheimischeebenso wie für neu Hinzukommende, für jetzige wie für künftige Generationen.Genau diese Idee von Gemeinsinn, Gerechtigkeit und gleichen Lebenschancenfür alle meinen wir, wenn wir „Ein Brandenburg für alle“ sagen.

Wer das gesamte Brandenburg und seine Zukunft im Blick zu behalten ver-sucht, der darf sich nicht – zu Lasten des Gemeinwohls – vor den Karren irgend-

8 september 2011 – heft 49

magazin

Page 9: perspektive21 - Heft 49

welcher Spezialinteressen spannen lassen. Klientelparteien tun aber genau das. Siesetzen sich rücksichtslos als politische Schutzmächte bestimmter Gruppen in Szene.Deren Wünsche und Interessen sind ihnen wichtiger als die Entwicklungsperspek-tiven des Landes insgesamt.

Dagegen müssen – und wollen – wir Brandenburger Sozialdemokraten immerwieder möglichst kluge Kompromisse erarbeiten, die für möglichst viele Beteiligteverträglich sind. Populär ist solch eine „Politik des Zusammenhalts“ keineswegsimmer, schließlich verlangt sie allen Seiten Zugeständnisse ab. Und leichter wirddas Kompromisseschmieden in den kommenden Jahrzehnten auch nicht werden.Als Bundesland sind wir in der einzigartigen Lage, mit Berlin einen „Großmag-neten“ in unserer Mitte zu haben. Dieser bewirkt, dass sich die berlinnahen unddie berlinfernen Teile unseres Landes demografisch, ökonomisch und sozial sehrunterschiedlich entwickeln. Darum werden wir in Zukunft eher noch mehr in-nerbrandenburgische Disparitäten zu bewältigen haben. Und gerade weil das soist, braucht Brandenburg eine solidarische „Politik des Zusammenhalts“: einePolitik, die das Land zusammenführt und nicht spaltet.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Damit meine ich ausdrücklich keineWohlfühlpolitik der „faulen“ Kompromisse auf kleinstem gemeinsamem Nenner.Zukunftsfestigkeit für Brandenburg werden wir nur mit viel Bereitschaft zu Wandelund Erneuerung erlangen. Alle müssen sich bewegen, aber nicht jeder tut das gerne.Keineswegs nur begeisterte Zustimmung erntet deshalb, wer konkrete Vorschlägedazu vorlegt, welche Schritte nötig sind, damit Brandenburg auch noch in denkommenden zwei, drei oder mehr Jahrzehnten ein lebenswertes und erfolgreichesLand mit Perspektiven für alle sein kann. Wir Brandenburger Sozialdemokratenbekommen das gerade anhand einiger aufgeregter Reaktionen auf unser aktuellesDiskussionspapier „Brandenburg 2030“ (www.brandenburg2030.de) zu spüren.

Einladung zum Dialog

Zum Glück wird dieser erste Entwurf einer langfristigen Richtungsbestimmungbereits überall im Land als das diskutiert, was er ist: als erster Aufschlag einergründlichen Debatte, als Einladung an alle Bürgerinnen und Bürger zum gesell-schaftlichen Dialog. Genau den wollen wir ja bewirken, und viele sagen mir:„Gut, dass ihr diese Diskussion jetzt auf den Weg gebracht habt.“ Aber manchereagieren auch ablehnend. Einige haben konkrete Einwände, andere erwarten vonVeränderungen grundsätzlich vor allem Nachteile. Wo die demografischen Ver-hältnisse komplizierter werden und die öffentlichen Einnahmen schrumpfen,

9perspektive21

matthias platzeck – nur rückspiegel reicht nicht

Page 10: perspektive21 - Heft 49

wollen sie lieber in Deckung bleiben und sich so fest wie nur irgend möglich amBestehenden festklammern.

Das ist menschlich verständlich, aber es ist die falsche Strategie, denn der Wan-del kommt so oder so. Die Frage ist nur, ob wir ihn aktiv, offensiv und vorsorgendgestalten – oder ob er über uns hereinbricht. Unsere Brandenburger Gemeinde-reform aus dem Jahr 2003, von der Bevölkerungsentwicklung schon jetzt wiederüberholt, ist ein Beispiel dafür, dass wir Themen dieser Art besser nicht noch ein-mal zu zögerlich angehen sollten. Wir brauchen zupackende Lösungen, die in ihrerGrößenordnung den vorhersehbaren großen Entwicklungstrends der kommendenJahrzehnte angemessen sind. In diesem – und nur in diesem – Sinne sind übrigensauch die im Diskussionspapier der Brandenburger SPD vorgeschlagenen Mindest-größen für die Kreise und Gemeinden von 200.000 und 12.000 Einwohnern zuverstehen. Die genannten Zahlen bedeuten selbstverständlich keine Vorfestlegung;sehr wohl aber sollen sie die Dimension der Aufgaben verdeutlichen, die vor unsliegen. Die zentrale Botschaft lautet: Für welche Lösungen und Strategien wir unsin Brandenburg am Ende entscheiden – auf keinen Fall dürfen wir zu kurz sprin-gen, auf keinen Fall dürfen wir zu unentschlossen und zu mutlos agieren!

Politik ist für jeden beeinflussbar

In Medienberichten über den Diskussionsprozess „Brandenburg 2030“ war zulesen, ich hätte „eingeräumt“, bei der Umsetzung unserer Vorschläge werde eszu Zielkonflikten kommen. Nein, genau umgekehrt wird ein Schuh daraus:Zielkonflikte gibt es immer, und gerade weil die ganz normale Wirklichkeit des Lebens voll von ihnen ist, brauchen wir die klärende Diskussion! Wünschehaben wir Menschen viele, aber wir können nicht alle unsere Ziele mit dersel-ben Dringlichkeit verfolgen, und teilweise schließen sie sich sogar wechselseitigaus. Alles gleichzeitig geht nicht. Darum müssen wir Prioritäten setzen undEntscheidungen treffen.

Wenn wir beispielsweise wollen, dass bei uns in Brandenburg (wie übrigens inDeutschland insgesamt) weiter verlässlich Strom aus Steckdosen fließt, dann kön-nen wir eben nicht Atomenergie, Kohlekraftwerke, Windräder, Biomasse undStromleitungen zugleich ablehnen – wie also machen wir es? Wenn wir uns fürBrandenburg weiterhin Wohlstand und Arbeitsplätze wünschen, dann dürfen wirnicht zugleich vom Ausstieg aus der industriellen Wertschöpfung träumen – wel-che Industrien wollen wir also? Und wenn wir finden, dass es erreichbare Schulenweiterhin auch in dünn besiedelten Regionen geben soll, dann können wir nicht

10 september 2011 – heft 49

magazin

Page 11: perspektive21 - Heft 49

zugleich der Idee eines vielfältig gegliederten Schulsystems anhängen – aber wiemachen wir es dann? Ich meine, wir müssen ein ebenso einfaches wie durchläs-siges zweigliedriges Schulsystem anpeilen: ein System, in dem allen Schülerinnenund Schülern ein Höchstmaß von individueller Förderung garantiert wird; einSystem, in dem die Hochschulreife sowohl auf dem gymnasialen wie auf demnichtgymnasialen Weg erlangt werden kann; und schließlich: ein System, dasskeinen einzigen jungen Menschen mehr ohne Abschluss und Perspektiven insLeben entlässt.

Es sind konkrete Fragen und Zielkonflikte wie diese, mit denen wir es in Bran-denburg zu tun haben. Unser Diskussionsprozess „Brandenburg 2030“ wird sichdann als nützlich und wegweisend erwiesen haben, wenn er uns hilft, gemeinsameine klare Diagnose der Lage unseres Landes zu gewinnen. Nur auf dieser Grund-lage können wir Lösungen entwickeln, die zum einen in der Sache stimmig sindund zum anderen auch öffentliche Akzeptanz finden. Bequem sind die Debattenmit Sicherheit nicht, die wir in Brandenburg miteinander zu führen haben. Wirhaben uns trotzdem entschieden, sie energisch voranzutreiben – aus demokratischerVerantwortung für unser Land und seine gute Zukunft.

Wir Brandenburger Sozialdemokraten haben jetzt einen ersten Stein ins Wassergeworfen. Aber wir sind ausdrücklich keine geschlossene Gesellschaft: Wir wün-schen uns, dass viele Bürgerinnen und Bürger unsere Einladung zur Debatte auf-greifen. Von ihrer Beteiligung, ihrem Engagement und ihrer Sachkenntnis hängtdie Zukunft unseres Landes ab. Sie alle sollten mitmachen. Olof Palme, der so tra-gisch ums Leben gekommene ehemalige Premierminister Schwedens, schrieb diefolgenden Sätze: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Men-schen zu groß und zu kompliziert seien. Die Politik ist zugänglich, beeinflussbar fürjeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“ In genau diesem Sinne ist dieDiskussion um Brandenburgs Zukunft eröffnet. �

M A T T H I A S P L A T Z E C K

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Vorsitzender der Brandenburger SPD.

11perspektive21

matthias platzeck – nur rückspiegel reicht nicht

Page 12: perspektive21 - Heft 49

12 september 2011 – heft 49

magazin

Page 13: perspektive21 - Heft 49

Von Metternich stammt das böseWort, dass Italien nur ein geogra-

fischer Begriff sei. Von Brandenburg, so der Preußen-Biograph ChristopherClark, lässt sich nicht einmal das be-haupten. Das Kernland jenes Staates,der später unter dem Namen Preußenin die Geschichte eingehen sollte, be-sitzt weder natürliche Grenzen noch einen Zugang zum Meer oder nennt garherausragende landschaftliche Schön-heiten sein eigen. Die Böden sind san-dig und die Bodenschätze vernachlässi-genswert. Deshalb sind hochwertigelandwirtschaftliche Produkte selten,und wo in anderen gesegneterenLandschaften aus dem natürlichenReichtum Schlösser erwuchsen, bauteder märkische Adel seine „Katen“ wieder alte Stechlin alias Theodor Fontanedie bescheidenen Herrenhäuser derMark liebevoll-ironisch nannte.

Umso erstaunlicher bleibt es, dassund wie jene Landstriche von etwa40.000 Quadratkilometern rund umBerlin deutsche und europäische Ge-schichte gemacht haben. Wenn man

das größte ostdeutsche Flächenland,das nach seiner Amputation durch die Siegermächte 1945 noch immer30.000 Quadratkilometer umfasst,heute betrachtet, so fallen seine Kon-tinuitäten stärker auf als seine Wand-lungen. Brandenburg ist nach wie vorein dünn besiedeltes, vorwiegend agra-risch geprägtes Land, es ist ein Landohne Mitte, dessen geografische Mitte– Berlin – eben nicht Brandenburg ist.

Von Persönlichkeiten gemacht

Es verblüfft bis heute, dass ein Landam Rande des Heiligen RömischenReiches Deutscher Nation, also weitweg von den römisch geprägten undmit natürlichem Reichtum gesegnetenLandstrichen an Rhein, Main undDonau so wirkungsmächtig wurde.Der Schlüssel zur Lösung dieses Rätselsliegt in der Dynastie der Hohenzollern,jener Burggrafen von Nürnberg, die1415 von Kaiser Sigismund Branden-burg als Dank für ihre Unterstützungseiner Bewerbung um die römische

13perspektive21

thema – geschichte, die nicht vergeht

Land zwischen Oder und nirgendwoDER „BRANDENBURGER WEG“ IST KEIN RÜCKGRIFF

AUF DIE DDR – SONDERN AUF PREUSSISCHE TRADITIONEN

VON ALEXANDER GAULAND

Page 14: perspektive21 - Heft 49

Königskrone erhielten. Es ist in einerZeit, die alles von Strukturen undobjektiven Faktoren erwartet, nichtsehr zeitgemäß festzustellen, dass bran-denburgisch-preußische Geschichte imGuten wie im Schlechten von Persön-lichkeiten gemacht wurde. Denn längstvor den Ikonen einer national-deut-schen Geschichtsschreibung, dem Gro-ßen Kurfürsten, dem Soldatenkönigund dem großen Friedrich gab es indiesem Land kluge Herrscher, die zwi-schen Schweden, Polen und Habsburg,später zwischen Frankreich und Russ-land, aber auch zwischen dem katho-lischen Kaiser und dem neuen pro-testantischen Glauben balancierenmussten, die gezwungen waren, zwi-schen Optionen zu wählen, die sichzwischen den Fronten wiederfandenund daher die Qual der Wahl zwischenBündnis, bewaffneter Neutralität undunabhängigem Handeln hatten.

Am Ende war nur Brandenburg

Jene vorsichtig tastende Politik, dienach 1701 mit der Erhebung der bran-denburgischen Kurfürsten zu preußi-schen Königen von dieser preußischenDimension überschattet wurde, lebtespäter, nach 1989, im sogenanntenBrandenburger Weg einer vorsichtigenSystemumstellung unter Mitnahmemöglichst vieler wieder auf. Was da-mals oft belächelt wurde und Branden-burg im alten Westen den Vorwurf

einer kleinen DDR einbrachte, warnichts weiter als die Rückkehr zu denbrandenburgischen Traditionen vorihrer preußischen Inanspruchnahme.Denn auch diesmal kam es darauf an,sich als Schwacher hindurchzulavierenzwischen sozialer Besitzstandswahrungund wirtschaftlicher Erneuerung. Nurdass jetzt an die Stelle des KurfürstenJoachim, der selbst eher zögerlich pro-testantisch geworden war, im Schmal-kaldischen Krieg zum katholischenKaiser stand und seinen Untertanenkeinen Glauben aufzwingen mochte,der ostdeutsche Kirchenmann Stolpetrat, der diese Tradition – bewusst oderunbewusst – fortsetzte, indem er denBruch mit der DDR möglichst sanftvollzog, auch dort, wo die Falken einerschnellen Verwestlichung Entschieden-heit und Klarheit forderten, bei derAufklärung der Stasi-Vergangenheit –der eigenen wie der kollektiven.

Denn am Ende war nur Branden-burg geblieben, nachdem Preußen erstim Reich aufgegangen und schließlichmit ihm untergegangen war. Es isteines der erstaunlichsten Phänomeneder Entwicklung nach 1945, wie ge-ring die Anziehungskraft Preußens alsdeutscher Sehnsuchtsort und Fokuseiner kollektiven Identität war. Ganzanders als das Habsburger Reich FranzJosephs, das heute in Wien wie in Bu-dapest, in Pressburg wie in Laibachfreundlich erinnert wird, und dessenschwarz-gelbe Traditionen selbst noch

14 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 15: perspektive21 - Heft 49

in gemeinsamen Hotelführern der ehemaligen Kronländer der Monarchiefortleben, tauchte Preußen nicht ein-mal bei den Vertriebenenorganisatio-nen als wiederzugewinnende Heimatauf. Man war Ostpreuße, Schlesier undPommer oder eben vertriebener Bran-denburger, wenn man jenseits derOder zu Hause gewesen war.

Mythos und Identität

Dass Brandenburg überdauerte, alsPreußen unterging, verdankte es einemDichter, der für Brandenburg das schufwas die Hohenzollern – so lange esdauerte – für Preußen geschaffen hat-ten, einen Mythos, eine Identität. Eswar nicht die große Erzählung derpreußisch-deutschen Geschichte, eswaren die kleinen lokalen Geschichten– Kattes Tod, Marwitzens Stolz undPrinz Heinrichs Rheinsberg – die übrigblieben, als die große verschwundenwar. Als ob er geahnt habe, dass dasGroße nicht dauern werde, schufFontane das Kleine zum Großen undDauerhaften um. Hatte doch schonder alte Stechlin sich geweigert, diePreußenfarben durch das neumodischeSchwarz-Weiß-Rot zu ersetzen. „Dasalte Schwarz und Weiß hält geradenoch, aber wenn du was Rotes dran-nähst, dann reißt es gewiss“, beschieder seinen Diener Engelke.

Als nach 1989 das Land zwischenOder und nirgendwo, wie es der Pu-

blizist Wolf Jobst Siedler genannt hat,neu erstand, blickte es nur auf wenigeJahre einer angefochtenen Selbststän-digkeit zwischen 1945 und 1952 zu-rück. In der Weimarer Republik war esbloß preußische Provinz gewesen underst nach 1947, dem Jahr von Preu-ßens amtlichem Tod, selbstständig ge-worden, um danach für fast 40 Jahreerneut in die Bezirke Potsdam, Frank-furt (Oder) und Cottbus zu zerfallen.

Bürgertum gab es nicht

Es hat später viel politischen Streitdarum gegeben, welche Prägungen tie-fer, nachdrücklicher waren, die histo-risch überkommenen oder die aus 40Jahren DDR. Es ist eine ironischeVolte, dass ausgerechnet ein bekennen-der Konservativer wie Jörg Schönbohmdie Prägungen der DDR über die his-torisch tradierten stellte und alle mög-lichen Verwahrlosungserscheinungender Entbürgerlichung im Arbeiter- undBauernstaat anlastete. Doch gerade dasostelbische Brandenburg kannte wohlRittergut-besitzenden Adel, aber kaumBürger. Denn dass sich die Pfahl- undAckerbürgerstädtchen nicht mit bür-gerlichen Zentren wie Dresden, Leip-zig, Erfurt oder selbst Weimar verglei-chen ließen, macht die Kontinuität sooffensichtlich.

Das Bürgertum musste in Branden-burg nicht abgeschafft und vertriebenwerden, es gab es einfach nicht, sieht

15perspektive21

alexander gauland – land zwischen oder und nirgendwo

Page 16: perspektive21 - Heft 49

man einmal vom verbürgerlichten„Etagenadel“ in Potsdam und einigenanderen Garnisonsstädten ab. Aus demadeligen Grundbesitz wurden über dieZwischenstation der Bodenreformlandwirtschaftliche Produktionsgenos-senschaften, und in wenigen indus-triellen Ballungszentren wie Rathenow,Eisenhüttenstadt, Schwedt oderSchwarzheide entstanden neue Indus-triearbeitsplätze. Doch dazwischenblieb das Land was es war, eine leereFläche von Kiefern, Birken und Föh-ren bestanden und von ein paar Acker-bürgern, Kleinbauern und Landarbei-tern dominiert. Damit aber hatte zukeiner Zeit nach 1989 eine bürgerlicheAlternative wie in Sachsen oder Thü-ringen eine Chance – Brandenburghatte keine bürgerliche Geschichte undalso auch keine bürgerliche Tradition.

Rückgriff auf Traditionen

Manfred Stolpe hat das, anders als dievielen ephemeren CDU-Führungenvor Schönbohm erkannt und zusam-men mit seiner Sozialministerin RegineHildebrandt einen sozialpaternalisti-schen Kurs gesteuert: vom Staat initi-ierte und zum Teil auch finanzierteGroßprojekte und ein Netzwerk sozia-ler Wohltaten aus dem Bestand derDDR. Doch das war anders als vielemeinten nicht die Wiederherstellungder DDR im Kleinen, sondern einRückgriff auf alte Brandenburger Tra-

ditionen, eingebettet in ein wenigpreußische Folklore und institutionellabgesichert durch eine Verfassung, diemit ihrem umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte weitgehendenStaatszielbestimmungen und Formender unmittelbaren Demokratie theore-tisch weit über das Grundgesetz hinausweist und zu Beginn von ihren Geg-nern als „Weg in eine andere Repu-blik“ beschrieben wurde.

Die CDU wurde überflüssig

Man hat sich vor allem im Westen derRepublik, besonders nach dem Auf-kommen der Stasi-Vorwürfe und demScheitern fast aller seiner Projekte vomLausitzring über die Chipfabrik biszum Cargolifter immer wieder gefragt,weshalb die SPD Stolpes von der Am-pelkoalition über die absolute Mehr-heit bis zur großen Koalition immerdie dominierende Brandenburger Par-tei geblieben ist und teflongleich allewirtschaftspolitischen Misserfolge desMinisterpräsidenten an ihr abperlten.Die Antwort liegt wieder einmal wieschon so oft in der brandenburgisch-preußischen Geschichte in Personenund nicht in Strukturen. Der ehema-lige Konsistorialpräsident war alles ineinem: konservativ und sozial, preu-ßisch-pflichtbewusst, christlich, boden-ständig mit DDR-Vergangenheit undzugleich offen genug, den zurückkeh-renden Adel in seine Obhut zu neh-

16 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 17: perspektive21 - Heft 49

men. Neben der Figur Stolpe warenCDU und FDP als bürgerliche Grals-hüter überflüssig, und das Ein-Punkt-Thema Stasi, das dem Bündnis 90seine Anfangsberechtigung gab, inte-ressierte immer weniger, je heftiger diesozialen Schmerzen wurden.

Erst mit Jörg Schönbohm fand sichfür die CDU ein ebenso preußisch-kon-servatives Gesicht, mit dem man – ingehörigem Abstand zur SPD – Wählergewinnen und Themen besetzen konn-te. Doch auch ihm gelang es nicht, ausder alten Ost-CDU und den bürgerli-chen Rebellen um Petke, Reiche, Ehlert,Ludwig und Dombrowski einen poli-tischen Kampfverband zu formen. Zuunterschiedlich war die politische Sozia-lisation, zu unterschiedlich waren dieLebensläufe.

Streit wirkt bis heute fort

Denn während einige noch den Sozia-lismus gelobt hatten, waren andereschon mit der verfallenden Staatsmachtder DDR aneinandergeraten. Und soverbarg sich hinter der persönlichenAuseinandersetzung um Illoyalität undangeblich rechtswidrig kontrolliertem E-Mail-Verkehr auch eine kulturelleDifferenz zwischen den Anhängern desBrandenburger Weges und den westlichoder bürgerrechtlich geprägten Christ-demokraten, die tiefer ging, als es derAnlass des Streites ahnen ließ und diebis heute fortwirkt. Und nur der Ge-

neral aus dem Westen mit den Bran-denburger Wurzeln vermochte es we-nigstens eine Zeit lang diese kulturelleDifferenz mit konservativer Kantigkeitzu überdecken.

Wie Brandenburg wirkt

Der heutige Ministerpräsident Mat-thias Platzeck ist eine jüngere, leichtmodernisierte Ausgabe des Erfolgs-modells Stolpe, eine Mischung aussozialem Engagement, Bürgerbewegt-heit und DDR-Erbe. Denn nichtProgramm und Inhalte zählen inBrandenburg, sondern ob jemand dasLebensgefühl der Mark – Beharren,Skepsis und ein bisschen Wunder-glauben – verkörpern kann, und daskann Platzeck wie keiner sonst. Wiehartnäckig das traditionelle Branden-burger Lebensgefühl sein kann, zeigtsich 1990 als die Bezirke abgeschafftund die Länder wiedererrichtet wur-den. Der Kreis Perleberg in der Prig-nitz war seit dem 14. Jahrhundert Teilder Mark Brandenburg gewesen. 1952wurde er in den Bezirk Schwerin einge-gliedert. Als sie schließlich im Jahre1990 gefragt wurden, wohin sie ge-hören wollten, stimmten 80 Prozentder Wähler in Perleberg für die Rück-kehr ins Brandenburgische, währenddrei kleine Dörfer, die erst 1952 Perle-berg zugeschlagen worden waren, demGroßherzogtum Mecklenburg-Schwe-rin die Treue hielten.

17perspektive21

alexander gauland – land zwischen oder und nirgendwo

Page 18: perspektive21 - Heft 49

Was man den Perlebergern gerngewährte, verweigerte man den Ber-linern. Die Volksabstimmung über dieBildung eines gemeinsamen Bundes-landes Berlin-Brandenburg endete1996 mit der Ablehnung des Fusions-vertrages. Zwar votierten 53,4 Prozentder Berliner dafür, aber 62,7 Prozentder Brandenburger waren dagegen.Auch hier war die BrandenburgerIdentität stärker als das gemeinsamepreußische Erbe. Den Ausschlag fürdas Nein gab die Sorge, diese geradeerst wiedergewonnene Identität erneutzu verlieren, die Umbruchsituation bisauf den Sanktnimmerleinstag zu ver-längern und obendrein für die Berlinerzahlen zu müssen. Nicht die alte DDR,die Kurmark hatte triumphiert. In denletzten Jahren ist der BrandenburgerWeg mehr Folklore als Realität.

Nur wenige Abweichungen

Zwar tauchen immer einmal wiederAbweichungen von anderen ostdeut-schen Bundesländern auf, so bei deneher laxen Stasi-Überprüfungen imöffentlichen Dienst und hier besondersbei der Polizei, wozu auch der bisheri-ge Verzicht auf einen Stasi-Beauftrag-ten gehört oder die Art und Weise, wiedie Brandenburger Verwaltung Boden-reformflächen für den Staat reklamier-te, doch sind das letztlich eher Peanuts,die noch keinen deutlich unterscheid-baren Brandenburger Weg konstituie-

ren, wozu, anders als in Bayern oderBaden-Württemberg die wirtschaftlicheKraft nicht ausreicht. Auch die Verfas-sung ist, soweit sie über das Grund-gesetz hinausgeht, mehr ein Erinne-rungsposten als gelebte Realität. DieSchwierigkeiten, die auf das Landzukommen, haben wenig oder nichtsmit der DDR-Vergangenheit, dafürviel mit dem alten Brandenburg zutun; sie liegen in der zunehmendenEntvölkerung der Berlin-fernen Ge-biete.

Zwei Geschwindigkeiten

Doch während der Große Kurfürstnach den Verheerungen des Dreißig-jährigen Krieges das Land mit Huge-notten aus Frankreich „peuplieren“konnte, ist der Trend heute unum-kehrbar und macht es mittel- wie lang-fristig erforderlich, ein Land der zweiGeschwindigkeiten zu erfinden. Staat-liche Vorsorge, aber auch individuelleVersorgung und medizinische Betreu-ung werden künftig in der Prignitzund in der Uckermark anders ausse-hen als im Speckgürtel um Berlin undPotsdam. Das war wohl auch derGrund, weshalb Platzeck die Union inder Koalition durch Die Linke ersetzte.Rot-Rot bewahrt die SPD davor, instürmischer See ihre Stellung als Bran-denburg-Partei an Die Linke zu verlie-ren. Während in Thüringen oderSachsen eher Die Linke als die SPD

18 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 19: perspektive21 - Heft 49

die Repräsentantin der Mühseligenund Beladenen, der im Wiedervereini-gungsprozess zu kurz Gekommenen ist,hat die Partei Stolpes, Hildebrandtsund Platzecks trotz aller linken Wahl-erfolge das Image einer Brandenburg-Partei bewahren können. Der konser-vative Charakter des Landes hilft auch

hier, konservative und soziale Elementezwanglos unter dem Dach einer eherlinken Partei zu vereinen. Mag derBrandenburger Weg auch längst kei-nen realen wirtschaftlichen und sozia-len Hintergrund mehr haben, für dieSPD bleibt er als symbolische Bezugs-größe ihrer Politik unverzichtbar. �

19perspektive21

alexander gauland – land zwischen oder und nirgendwo

A L E X A N D E R G A U L A N D

ist Publizist und ehemaliger Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung.

Page 20: perspektive21 - Heft 49

20 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 21: perspektive21 - Heft 49

In Brandenburg ist ein Streit über dieEntwicklung des Landes seit 1990,

über den „Brandenburger Weg“, ent-brannt. Alexander Gauland, langjährigerHerausgeber der Märkischen AllgemeinenZeitung, hat erklärt, dieser Brandenbur-ger Weg sei eine Fortsetzung der vor-preußisch-brandenburgischen Politikvor 1701. Dagegen haben der ehemaligeCDU-Vorsitzende Jörg Schönbohmund die jetzige CDU-Vorsitzende SaskiaLudwig für diesen Weg vor allem dieDDR-Erbschaft verantwortlich ge-macht. Brandenburg als „kleine DDR“,das ist ja auch geradezu zum geflügeltenWort geworden. Gaulands ansonstenbeobachtungsreicher Artikel scheitertmit seiner Hauptthese schlicht an Geo-grafie und Demografie.

Ein Drittel des heutigen Branden-burgs war bis 1815 sächsisch, nämlichBelzig, Baruth, Lübben, Fürstenberg,Neuzelle, Guben und alles südlichdavon. Zudem ist Brandenburg wahr-scheinlich stärker noch als andere Teileder DDR seit 1945 durch Fluchtbewe-gungen entvölkert und durch Flücht-

linge aus den verlorenen deutschenOstgebieten bevölkert worden. Undüberall in Brandenburger Plattenbau-ten hört man auch Sächsisch. Sachsenwar nun mal der volkreichste Teil derDDR und die beruflich bedingte Mo-bilität war in der DDR sehr hoch.Aber ohne Generationenkontinuitätgibt es auch keine Kontinuität derIdeen, Überzeugungen und Haltungen.

Reine Politrhetorik

Die Floskel von Brandenburg als der„kleinen DDR“ ist ein Produkt West-Berliner Frontstadtnostalgie aus derZeit der Diskussion um die Fusion beider Bundesländer. West-Berlinwerde im „roten Meer versinken“, hießes damals, als wäre man noch in denZeiten der „Insulaner“. Da war nochnicht ganz angekommen, dass seit1990 auch rings um Berlin das Grund-gesetz gilt. Gemeint war mit „rot“ dieSPD, im Osten eine oppositionelleGründung des Herbstes ’89 ohne DDR-Vorgeschichte, wie sie die Blockparteien

21perspektive21

Orientierung undKonsens bietenWARUM DIE BEZEICHNUNG BRANDENBURGS ALS

„KLEINE DDR“ FALSCH IST

VON RICHARD SCHRÖDER

Page 22: perspektive21 - Heft 49

mit sich schleppten. Die „kleine DDR“,das war damals und ist heute Politrhe-torik ohne diagnostischen Wert, auchwenn Manfred Stolpe den Tadel ein-mal zum Lob umgedeutet hat.

Man mag das in Brandenburg vor-herrschende DDR-Bild kritisieren. Esdürfte sich übrigens kaum relevant vondem in anderen östlichen Bundeslän-dern unterscheiden. Weder Branden-burger noch Sachsen fragen bei ihrerLandesregierung nach, was sie von derDDR halten sollen. Es gibt aber jeden-falls keinerlei institutionelle Kontinuitätzwischen dem Land Brandenburg undder DDR. Da bleibt es bei den funda-mentalen Unterschieden zwischen De-mokratie und Diktatur. Selbst diejenigePartei, die in der Rechtsnachfolge derSED steht, und der manche bestreiten,dass sie eine demokratische Partei ist, istjedenfalls eine Partei in der Demokratie,muss nach deren Regeln agieren.

Gauland und Schönbohm streitenum Brandenburgs Bürgertum. Es seinach 1945 vertrieben worden und dieseEntbürgerlichung macht Schönbohmfür Verwahrlosungserscheinungen ver-antwortlich. Gauland hält dagegen, einBürgertum habe es in Brandenburg niegegeben und deshalb hatte in Branden-burg „zu keiner Zeit nach 1989 einebürgerliche Alternative wie in Sachsenoder Thüringen eine Chance“. Auchdiese Diskussion liegt schief. Was solldenn unter Bürgertum verstanden wer-den? Man muss unterscheiden. Der

Bourgeois, der Besitzbürger, ist durchdie verschiedenen Enteignungswellentatsächlich in der DDR verschwunden.Wirtschaftlich selbständig waren amEnde nur noch handwerkliche Kleinbe-triebe. Dagegen hat sich ein Bildungs-bürgertum, das am kulturellen Lebeninteressiert ist und an eigener Urteils-bildung, nämlich Hoch- und Fach-schulberufe, im DDR-Deutsch „Intel-ligenz“ genannt, durchaus erhalten undständig neu gebildet, in den südlichenResidenzstädten (und Leipzig) vielleichtetwas kräftiger als in den Landstädtender nördlicheren Bezirke. Und schließ-lich der Citoyen, der seine Bürgerrechteeinfordert. Er hat massenhaft die DDRverlassen, aber es kamen immer wiederneue auf, wurden mutiger und wagtenschließlich sogar zu demonstrieren.

Der kleine Unterschied

Es gab in der DDR einen anderenregionalen Unterschied. MeineSchwester war Pastorin in zwei Dör-fern, einem ehemaligen Bauerndorfund einem ehemaligen Landarbeiter-dorf eines Ritterguts. Inzwischen hat-ten beide Dörfer ihre LPG. In demeinstigen Bauerndorf sagt der Vorsit-zende des Gemeindekirchenrats: Wirmüssen das Kirchendach reparierenund ich weiß auch schon, wie man dasMaterial beschaffen könnte. In demLandarbeiterdorf sagt die Pastorin: DerKirchturm muss repariert werden –

22 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 23: perspektive21 - Heft 49

und bekommt zur Antwort: Darumhat sich früher immer der Patron ge-kümmert. Mit „Bürgertum“ hat derUnterschied nichts zu tun, aber mitKnechtsgesinnung und der eines freienMenschen, der sich um seine Angele-genheiten selbst kümmert. Im Südender DDR gab es wenig Großgrund-besitz, oder: Da war der Großgrund-besitz viel kleiner als in Brandenburgoder Mecklenburg. Soziale Verwahr-losungserscheinungen gab es in solchenLandarbeitersiedlungen deutlich häufi-ger als in ehemaligen Bauerndörfern.

Die SPD war schneller

Dass die Mehrheitsfähigkeit der SPD inBrandenburg und die Mehrheitsfähig-keit der CDU in Sachsen etwas mit hiermehr und dort weniger „Bürgertum“ zu tun habe, möchte ich bezweifeln.Was wäre aus der CDU Sachsens ohneBiedenkopf geworden? Oder wennStolpe 1990 CDU-Mitglied gewordenwäre? Denn auf die Frage, warum er derSPD beigetreten ist, hat Stolpe einmalgeantwortet: weil die mich zuerst gefragthaben. Dieselbe Antwort hat übrigensein anderer sehr populärer ostdeutscherMinisterpräsident, Wolfgang Böhmer,auf die Frage gegeben, warum er 1990der CDU beigetreten ist.

Wer 1990 in die Politik ging, wolltejedenfalls etwas für die Demokratie tun – fast könnte man sagen: egal inwelcher Partei. Denn selbst in derPDS sind 1990 sehr viele politischaktiv geworden, die bis dahin zwarSED-Mitglieder waren, aber keinepolitischen Funktionen innehatten.Obwohl Stolpe aus dem Osten undBiedenkopf aus dem Westen kam,obwohl sie konkurrierenden Parteienangehören und auch verschiedenepolitische Prioritäten gesetzt haben,beruhte ihr Erfolg wohl auf demselbenPhänomen. Wenn Menschen Orien-tierungsprobleme haben, etwa weil siesich verlaufen haben, sind sie in derRegel weder zu langen Diskussionennoch zu Experimenten bereit, sondernverlassen sich gern auf jemanden, vondem sie glauben, dass er sich auskennt.Wenn Schönbohm den „Brandenbur-ger Weg“ als den des Konsenses undder streitfreien Entscheidung charakte-risiert, dann trifft das für den „sächsi-schen Weg“ zu Biedenkopfs Zeitenfast ebenso zu.

Die allen ostdeutschen Bundeslän-dern gemeinsame post-totalitäre Situ-ation hat diese seit 1990 viel stärkergeprägt als die lokalen Besonderheitenund in die Tiefe der Geschichte rei-chende Unterschiede. �

23perspektive21

richard schröder – orientierung und konsens bieten

P R O F. D R. R I C H A R D S C H R Ö D E R

war 1990 Vorsitzender der SPD-Fraktion in der frei gewählten Volkskammerund lehrte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin.

Page 24: perspektive21 - Heft 49

24 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 25: perspektive21 - Heft 49

25perspektive21

Anfang 1947, als Nachkriegsdeutsch-land noch in Trümmern lag, in

vier Besatzungszonen aufgeteilt war und die Deutschen sich politisch undmental nolens volens mit dem Erbe derNazidiktatur auseinandersetzen muss-ten, schrieb der Buchenwald-Häftlingund renommierte Publizist EugenKogon in den „Frankfurter Heften“ einen bemerkenswerten Artikel: „DasRecht auf politischen Irrtum“. Ange-sichts der wachsenden öffentlichenErregung über die Praktiken der alliier-ten Entnazifizierung war das ein noblesPlädoyer für ein Mindestmaß an Fair-ness im Umgang mit der Lebenswirk-lichkeit der deutschen Bevölkerung inund unter einer fürchterlichen, aber zunächst auch mehrheitlich bejahtenDiktatur. Es war freilich auch ein nach-drücklicher Appell an eben diese Bevöl-kerung, sich die Sache nicht zu einfachzu machen. „Seit uns die demokratischeSonne bescheint, werden wir immerbrauner“ war ein böser Spruch, der damals umging und das Dilemma derEntnazifizierung zynisch auf den Punktbrachte.

Seit dem Herbst 1989, als sich dasEnde der DDR abzuzeichnen begann,

ist der Diktaturvergleich populär ge-worden. Zuvor hatte kaum nochjemand den Begriff Diktatur für dieDDR verwendet, obwohl jeder Be-sucher des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ diesen Charakter erkennenkonnte und die SED schließlich selbereine „Diktatur des Proletariats“ auszu-üben beanspruchte. Was vor allemnach der Erstürmung der regionalenund zentralen Stasi-Zentralen und derVeröffentlichung geheimer Partei-Ma-terialien zu Tage kam, war in der Taterschreckend und revidierte schnell dasverbreitete Bild eines moderaten Re-gimes. Dennoch erschien vielen DDR-Bürgern jeder Vergleich von NS- undSED-Diktatur, der ja keineswegs eineGleichsetzung bedeutete, zunächst wieeine Beleidigung, gehörte doch derAntifaschismus zum Markenzeichendes zweiten deutschen Staates. Dassdieser offiziöse Antifaschismus nunschnell und gründlich als Legitima-tionsideologie entzaubert wurde undauch entzaubert werden musste – nichtnur wegen der zynisch-grotesken Eti-kettierung der Berliner Mauer als anti-faschistischer Schutzwall – gehörte(und gehört vielleicht immer noch?) zu

Die zweite Chance ODER: DAS RECHT AUF POLITISCHEN IRRTUM

VON CHRISTOPH KLEßMANN

Page 26: perspektive21 - Heft 49

den Startproblemen der ostdeutschenGesellschaft ins überraschend wieder-vereinigte Deutschland.

Übers Ziel hinaus

Ohne Frage schossen damals etlicheKommentatoren in West und Ostübers Ziel hinaus. Denn die Unter-schiede zwischen den beiden deut-schen Diktaturen waren nicht nur inden Verbrechensdimensionen so ekla-tant, dass ein Vergleich an sich schonwie eine Trivialisierung der Nazidik-tatur erscheinen konnte. Insofernhielt die linke Wochenzeitung „Frei-tag“ provokant dagegen, wenn es dortam 22. November 1991 hieß: „DieStasi war, verglichen mit der Gestapo,harmlos; die DDR unter Honecker,verglichen mit Nazideutschland, eineOperettendiktatur.“ Eine solche For-mulierung würde heute wohl nie-mand mehr wählen, weil sie eineBeleidigung für die Opfer ist, sieunterstreicht aber pointiert die be-trächtliche Differenz zwischen beidenDiktaturen. Gleichwohl ist der innereZusammenhang der beiden Aufar-beitungsphasen in Ost und West nach 1945 und im Osten nach 1989von zentraler Bedeutung für das Ver-ständnis der Chancen und Schwie-rigkeiten der Ost- und Westdeut-schen, sich gemeinsam im neuenGesamtdeutschland zurechtzufinden:Ohne 1945 ist der Umgang mit 1989

nicht zu verstehen. Es sollte sichnicht wiederholen, was in den fünfzi-ger Jahren in der Bundesrepublik, aufandere Weise aber auch in der DDRversäumt worden war – darüber gab es Konsens in der politischen Klasse.Das ist ohne Frage auch gelungen.

Wer heute die angeblich unzurei-chende Aufarbeitung der SED-Dikta-tur kritisiert, sollte sich die frühenneunziger Jahre in Erinnerung rufen,als die Enquete-Kommission desBundestages entstand, die Zeitungs-spalten mit Stasi-Enthüllungen gefülltwaren, etliche neue Forschungsinstitu-tionen und Gedenkstätten gegründetund Lehrstühle mit dem SchwerpunktDDR-Geschichte geschaffen wurden.Man mag der Meinung sein, dass vielesschief lief – eine ähnliche „gewisseStille“, wie sie Hermann Lübbe 1983in einem Aufsehen erregenden, weilapologetisch argumentierenden Aufsatzfür die Bundesrepublik der fünfzigerJahre konstatierte, gab es jedoch mit-nichten.

Die fünfziger Jahre waren anders

Auch nicht im viel kritisierten LandBrandenburg. Jeder Vergleich in dieserHinsicht mit den fünfziger Jahren imWesten verbietet sich. Denn damalsbegann eine umfassende kritische Aus-einandersetzung in Politik und Gesell-schaft erst fast 20 Jahre nach HitlersEnde. Zugleich aber hatten Millionen

26 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 27: perspektive21 - Heft 49

eine „zweite Chance“ bekommen undauch genutzt, ohne dass zuvor einegroße politisch-moralische Säuberungstattgefunden hätte. In der SBZ/DDRwar die Konstellation anders, der Eli-tenaustausch rigider, aber im Ergebnisdurch die Ausrichtung an der marxis-tisch-leninistischen Faschismustheorieauch einseitig und unzureichend: Die Mitläufer blieben weitgehend verschont, wenn sie sich den neuenHerren anpassten.

Die Skandale der Bonner Republik

Der mit Skandalen gepflasterte Wegder Bonner Republik in die Demo-kratie ist bekannt. Wieweit es unterden erschwerten Bedingungen desKalten Krieges auch anders hätte lau-fen können, ist hier nicht zu erörtern.Das Thema verliert vermutlich nieseine Aktualität, solange es diktatori-sche Regime gibt, die gestürzt werden.Wie soll man nach deren Ende mit denTätern von gestern, den großen, aberauch den kleinen Fischen, umgehen?Ist ein politisches und gesellschaftlichesPendant zur Resozialisierung imStrafrecht im demokratischen Staatnicht selbstverständlich und damitauch eine zweite Chance für jeden?Wie weit aber soll sie reichen undwovon sollte sie abhängig gemachtwerden? Die Parallele zum Strafrechtsetzt eine Bestrafung voraus, wie auchimmer diese aussehen mag. Das for-

derte auch Egon Kogon unzweideutig.Der Althistoriker Christian Maier hatdarauf hingewiesen, dass seit den altenGriechen Amnestie und Vergessen inder Regel die häufigsten Formen wa-ren, in der nach verheerenden Kriegenund nach dem Ende brutaler Regimeein Neuanfang versucht wurde. Dasmag ein richtiger historischer Befundsein, er kann jedoch keine Norm fürgegenwärtiges politisches Verhaltensein. Aufdecken unbequemer Wahr-heiten muss vor Amnestie und Versöh-nung stehen.

Der tiefe Bruch von 1990

Als Schüler und Student habe ich michwie viele meiner Generation überAdenauers Kaltschnäuzigkeit entsetzt,mit der er Leute wie Hans Globke(Staatssekretär im Bundeskanzleramt)oder Theodor Oberländer (Vertriebe-nenminister) in hohe politische Ämtereinsetzte und dort auch gegen massiveöffentliche Kritik hielt. Dass dies nurdie Spitze eines Eisbergs war, ist langebekannt. So ist beispielsweise erst sehrspät, nämlich auf dem Frankfurter His-torikertag 1998, die fatale politischeBelastung führender westdeutscherHistoriker überhaupt diskutiert wor-den. Bonn wurde jedoch anders alsWeimar schnell eine gut funktionieren-de parlamentarische Demokratie mitbreiter gesellschaftlicher Akzeptanz.Die Integrationsstrategie auf nahezu

27perspektive21

christoph kleßmann – die zweite chance

Page 28: perspektive21 - Heft 49

allen Ebenen war offenkundig erfolg-reich. Auch in der DDR finden sichBeispiele. So war etwa Ulbrichts Pres-sesprecher Kurt Blecha 1941 in dieNSDAP eingetreten und ein nichtunbelasteter „Ostforscher“ engagiertesich ausgerechnet im OstberlinerSchau-Prozess gegen Oberländer. Abersolche Fälle blieben vereinzelt.

Die Kritik an der Kontinuität vielerFunktionseliten verstummte auch nachdem Ende der DDR 1990 nicht. Wieberechtigt sie ist, darüber wird nun 20Jahre danach in Potsdam wieder heftiggestritten. Ein genauer Blick zeigtjedoch, dass die Kontinuität deutlichgeringer als in der alten Bundesrepu-blik war und der Bruch von 1990 indieser Hinsicht viel tiefer ging als dervon 1945/49. Zudem war die Konstel-lation gravierend anders: Die DDRwar in ihren Entstehungsjahren keingenuin deutsches Gewächs, sondernein sowjetisches Implantat mit gerin-gem gesellschaftlichen Rückhalt; siehatte 40 Jahre existiert, war seit densiebziger Jahren international aner-kannt, vielfältig vernetzt, hatte keineKriege angezettelt oder Massenmordeverübt – und war dennoch eine schlim-me Diktatur, die in ihrer letzten Phaseim Westen oft als solche gar nichtmehr wahrgenommen wurde. West-deutsche Politiker und Wirtschafts-bosse hatten sich in den achtzigerJahren bei Honecker die Klinke in dieHand gegeben und dass dieser bald in

Moabit einsitzen und sein Leben imExil beenden würde, konnte sich nie-mand vorstellen. Diese relative „Nor-malisierung“ im Verhältnis beiderdeutscher Staaten machte nach derVereinigung den Neubeginn und dasohnehin schwierige Problem des Um-gangs mit einer „Teilvergangenheit“noch schwerer.

Welche geglückten Übergänge?

Gibt es historische Beispiele für einengelungenen Übergang von einem dik-tatorischen in ein demokratisches Sys-tem, der verbunden ist mit intensiverpolitisch-moralischer Aufarbeitungder Lasten der Vergangenheit? Lässtman den verordneten Antifaschismusder kommunistischen Staaten beisei-te, weil dieser allzu einäugig undinsofern unglaubwürdig blieb, istwohl überwiegend Fehlanzeige zu vermelden. Japans Nachkriegsdemo-kratie hat sich sehr wenig um dieAufhellung der verbrecherischenjapanische Kriegsführung in Chinaund Korea gekümmert, ohne dassdarunter das politische und kulturelleLeben sonderlich gelitten zu habenscheint. In Portugal und Spanien gibtes verspätete Ansätze, aber kaummehr. Zu den wenigen überzeugen-den Beispielen gehört am ehestenSüdafrika, das mit seiner Wahrheits-und Versöhnungskommission einModell für künftige Aufarbeitungs-

28 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 29: perspektive21 - Heft 49

konstellationen sein könnte. Aberselbst hier gab es aus politisch-prag-matischen Gründen Defizite undGrenzen.

Nicht Schwarz und Weiß

Die Schwierigkeiten des Umgangs mitder jüngsten Vergangenheit, der dieGemüter in Brandenburg wieder starkerhitzt, liegen nicht zuletzt in der Vor-stellung von „Aufarbeitung.“ Mankann Vergangenheit nicht wie einenAktenstapel auf- und abarbeiten. Derenglische Ausdruck „coming to termswith the past“ ist zumindest insoferntreffender, als er zu Begriffen und zum„Begreifen“ auffordert. Denn die Pro-bleme liegen zu einem erheblichen Teilin der bemerkenswerten Unfähigkeitvieler Zeitgenossen, nicht auflösbareWidersprüche im gesellschaftlichenLeben und politischen Verhalten zuakzeptieren und auszuhalten. Wenndiese „konstitutive Widersprüchlichkeitder DDR“ (Detlef Pollack), die auchdas Verhaltensdilemma in einer Dikta-tur spiegelt, als solche akzeptiert wird,lässt sich besser mit einer kompliziertenund nicht auf schwarz oder weiß zureduzierenden Situation umgehen.Das bringt keine Schlagzeilen, wirdaber vielleicht eher einer Konstellationgerecht, die nur von wenigen Heldenund Schurken bestimmt wird, aber vonvielen „Normalverbrauchern“, die zuRecht eine zweite Chance erwartet

haben, sie aber oftmals aufgrund desTempos und der Besonderheiten derWiedervereinigung nicht bekamen.Daraus resultiert viel Überdruss an plakativer Aufarbeitung. Die dreistenRechtfertigungsversuche hoher Stasi-offiziere sind nicht dazu zu rechnen.Man kann sie kaum verbieten. Aberman muss sich dezidiert mit ihnen auseinandersetzten. Und das geschiehtauch. Generell sollte Richard SchrödersDiktum „Wir gehen anders mit euchum als ihr mit uns“ ein wichtigerOrientierungsmaßstab bleiben, ohnedass damit politische Kriminalität ein-fach entsorgt wird.

Eine Frage der Distanz

Dieses Plädoyer für Differenzierungund Vorsicht statt medialer Pauken-schläge, aber auch für Nüchternheitgegenüber menschlichen Verhaltens-weisen unter repressiven Bedingungenist kein „Weichspülen“ der SED-Dik-tatur, wie uns manche wackeren altlin-ken Kämpfer nach ihrem politischenPauluserlebnis seit langem weismachenwollen. Es geht hier primär um eineFrage, die sich im Grunde nur als ge-naue Einzelfallprüfung beantwortenlässt und die wohl auch in Grenzfällenvielfach umstritten bleiben wird. Wienah durfte man in der DDR demRegime stehen, um nach 1990 trotz-dem für hohe politische Funktionennoch akzeptabel zu sein? Welche For-

29perspektive21

christoph kleßmann – die zweite chance

Page 30: perspektive21 - Heft 49

30 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

men der individuellen Distanzierungund politischer „Umkehr“ warenglaubwürdig? Wer dem Regime nahe-stand, kannte nicht zwingend dasganze Ausmaß des Unrechts. Vielfachwollte man es auch nicht sehen oderbefand sich im Irrtum darüber. ImWesten war das kaum anders. Schlägthier das von Kogon angeführte Rechtauf politischen Irrtum zu Buche?

Die christliche Ethik hat das Bildvom reuigen Sünder formuliert, das imKern auch weithin in die säkularenDiskussionen um Aufarbeitung derVergangenheit eingegangen ist. Indi-viduelle und kollektive politische Sün-denbekenntnisse und Bußrituale lassensich jedoch nicht „von oben“ verordnen.Wer nach selbstkritischer Prüfung zurEinsicht in seine Verfehlungen gekom-men ist, seine Irrtümer öffentlich be-kennt und vielleicht auch noch bereitist, in materieller Form Buße zu tunund Opfern zu helfen – dem sollen die Türen zur Reintegration und zumWiederaufstieg weit offenstehen. Dasist sicher eine richtige Maxime.

Eines der markantesten Beispiele ausder Frühgeschichte der Bundesrepublikfür eine „zweite Chance“ war HerbertWehner. Als führendes Mitglied derKPD in der Weimarer Republik und imMoskauer Exil, stellvertretender Partei-vorsitzender der SPD in Bonn und ihrlegendärer Fraktionschef im Bundestagist er wohl der bekannteste, aber zeitge-nössisch und bis heute auch umstritten-

ste Fall eines radikalen Positionswechselsin einer besonders herausgehobenenFunktion. Klare Distanzierungen gegen-über seiner kommunistischen Vergan-genheit haben Wehner jedoch nie voroffenen oder verdeckten Verdächtigun-gen geschützt. Diese Prognose hat ersich ohne Illusionen selber früh gestellt.Gibt es zu dieser Rolle Parallelen nach1990? Aus dem politischen Führungs-personal fällt mir kein treffendes Beispielein. Lassen sich Stolpe oder der für dieHäftlingsfreikäufe unentbehrlicheRechtsanwalt Wolfgang Vogel in die-sem Kontext anführen?

Mit dem langen Löffel beim Teufel

Im „Fall Stolpe“ argumentieren seinepublizistischen Widersacher, er hättesein Amt niederlegen müssen, nachdemseine engen Stasi-Kontakte – die er im Übrigen als erster selber offengelegthat – bekannt wurden. Niemand hatStolpe, dessen große Verdienste für dieMenschen in der DDR nicht ernsthaftbestritten werden, eine weitere Berufs-ausübung als Jurist oder Kirchenfunk-tionär verweigern wollen, aber an derSpitze einer Landesregierung schien ervielen Bürgerrechtlern und anderenKritikern nicht mehr tragbar. Dass lässtsich als Argument sehr gut nachvollzie-hen. Das Gegenteil aber eben auch.

Wer unter den Bedingungen einerDiktatur etwas erreichen will, muss sichein Stück weit auch auf ihre Bedingun-

Page 31: perspektive21 - Heft 49

31perspektive21

gen einlassen und macht sich die Fingerschmutzig. Sogar jede Widerstandsbe-wegung benötigt ein gewisses Maß an„Kollaboration“. „Wer mit dem Teufelam Tische saß, musste einen langenLöffel haben“, hat Günter Gaus formu-liert. Vermutlich hat sich Stolpe über-schätzt und der Löffel war zu kurz.Zumindest hätte man eine deutlichereSelbstkritik post festum erwarten kön-nen. Und Wolfgang Vogel? Er machtein der DDR als Jurist einen rasantenAufstieg, wurde zeitweilig von der Stasials Informant geführt. Er war HoneckersBeauftragter für humanitäre Fragen unddie (berechtigte) Hoffnung für zahllosepolitische Häftlinge in der DDR. Er ver-zichtete 1991 freiwillig auf eine Zulas-sung als Anwalt und wurde mehrfachverhaftet und angeklagt. Hätte er, wäreer jünger gewesen, eine „zweite Chance“verdient? Die Antworten werden unter-schiedlich ausfallen.

Der hohe Grenzoffizier als Gärtner –das ist die „zweite Chance“ auf niedri-gem Niveau in der harmlosen Variante.Ein hübsches Beispiel findet sich in derBerliner Ausstellung „Glienicke. VomSchweizer Dorf zum Sperrgebiet“.Major Pateley diente dort bis 1975 alsGrenzoffizier und danach als Zivilbe-schäftigter im WehrkreiskommandoPotsdam.1990 wurde er aus der Armeeentlassen. Er erzählt, wie er sich beieinem Westberliner Millionär als Gärt-ner bewarb. Nach dem Vorstellungs-gespräch, in dem er wie gefordert aus

seinem Leben berichtete, hieß es: „Tja,40 Jahre SED, 40 Jahre Armee, dasinteressiert mich nicht, wichtig ist:Trauen Sie sich zu, meinen Garten zupflegen?“ Ich sagte nur ‚jawoll!‘. Und er hat mich eingestellt. Das hat mirimponiert.“

Offener Diskussionsprozess

In Brandenburg hat man sich stärkerals in anderen Ländern um hohe So-zialverträglichkeit und Kontinuitätbeim Übergang in die „neue Zeit“bemüht. Dies sollten Kritiker anerken-nen, bevor sie die Keule gegen die„kleine DDR“ schwingen, die Stolpe1999 in einer zweifellos höchst un-glücklichen und peinlichen Formulie-rung beschwor. Dass jedoch die not-wendige und auch mögliche, halbwegskonsequente Überprüfung des gesam-ten öffentlichen Dienstes auf MfS-Kontakte unterblieb bzw. sehr selektivausfiel, hat sich bitter gerächt. Zwar istauch im Umgang mit IM’s Differen-zierung und Einzelfallprüfung vonnö-ten, wie Ulrike Poppe zu Recht festge-stellt hat. Dazu gehört aber die Fragenach den Grenzen der Zumutbarkeiteiner Weiterarbeit hoher ehemaligerPartei- und MfS-Funktionäre in öffent-lichen Ämtern. Wer oben war, sollte in der Regel nicht wieder oben sein.Was noch vertretbar ist und was nichtmehr, muss letztlich in einem offenenund kontroversen politischen Diskus-

christoph kleßmann – die zweite chance

Page 32: perspektive21 - Heft 49

sionsprozess entschieden werden. Undhier gibt es leider keine eindeutigenNormen.

Eine Frage der Ehre

SED-Parteimitgliedschaft allein hat sel-ten den Weg zur Fortsetzung des frü-heren Berufsweges verstellt. Das giltzumindest für Lehrer und andere Mit-arbeiter des öffentlichen Dienstes. Inden Geistes- und Kulturwissenschaftender Akademien und der Universitätender DDR haben dagegen nur wenigein den früheren Positionen weiterarbei-ten können, weil entweder die ideolo-gische Ausrichtung der Fächer daskaum erlaubte oder die Qualifikationin der Konkurrenz mit westdeutschenWissenschaftlern in Frage stand. Hierhätte ohne Frage eine phantasievollereOrganisation der Vereinigung zu bes-seren Chancen für Ostdeutsche, sofernsie nicht offenkundig politisch belastetwaren, führen können. Das damalsvom Wissenschaftsrat vorgelegte undvon den ostdeutschen Ländern über-nommene „WIP“ (Wissenschaftlerin-tegrationsprogramm) war letztlich einSchlag ins Wasser und brachte vieleFälle von menschlich demütigendenArbeitsverhältnissen mit sich, die

keine wirkliche Chance zum Neuan-fang darstellten.

Es kann letztlich keine befriedigendegenerelle Antwort auf die Frage nachder zweiten Chance geben. Das Pro-blem ist moralisch diffus und struktu-rell nicht lösbar, es ist nur graduell zuentschärfen, weil es in jeder Diktatureinen „strukturellen Opportunismus“(Hans Buchheim) gibt, der sich nachihrem Ende nicht wegdiskutieren lässt.Gerichte haben in NS-Prozessen seitden sechziger Jahren Recht zu findenversucht – allzu oft mit höchst unbe-friedigendem Erfolg, aber nie nachdem Modell des „kurzen Prozesses“. Nach 1990 wiederholte sich in andererForm dasselbe. Das auf diese Situationgemünzte Diktum der BürgerrechtlerinBärbel Bohley „Wir wollten Gerech-tigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ist oft zitiert worden. Dieses Dilemmaist bitter, aber es ehrt ein demokrati-sches System mit einer entwickeltenpolitischen Kultur. Aus historischerPerspektive ist es illusorisch, auf denErfolg einer konsequenten „Säuberung“zu setzen, weil das nicht funktioniert.Wer für das Recht auf politischenIrrtum plädiert, plädiert auch für Inte-gration. Die sorgfältige Einzelfallprü-fung schließt das jedoch nicht aus. �

32 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

P R O F. D R. C H R I S T O P H K L E ß M A N N

ist Historiker und war von 1996 bis 2004 Direktor des Zentrums für Zeitgenössische Forschung in Potsdam.

Page 33: perspektive21 - Heft 49

W enn wir als private Individuenoder als politische Bürger in die

Zukunft schauen, können wir von unse-rer Vergangenheit nicht absehen. Werimmer sich mit dem vielfach themati-sierten „Umgang mit der Vergangen-heit“ beschäftigt hat, weiß das. Undwenn wir uns persönlich erinnern, läuftimmer ein „Film“ mit, in dem wir unsfragen, wie wir in dieser Vergangenheitdastehen: Haben wir eine gute Figur gemacht? Sind wir hinter unserem Anspruch zurückgeblieben? Leistungs-mäßig? Moralisch?

Denn das zentrale Problem beimUmgang mit der Vergangenheit liegtdarin, dass wir vermeiden möchten –bewusst oder unbewusst – unserSelbstwertgefühl durch die Erinne-rung an Fehler oder Versagen zubeeinträchtigen. Andererseits werdenwir eine nicht geklärte Vergangenheitnicht los, sie beeinträchtigt unsereFähigkeit, unsere Zukunft frei undgut zu gestalten.

Deshalb ist es um einer guten – in-dividuellen wie gesellschaftlich-politi-schen – Zukunft willen wichtig, die

individuellen wie die sozialen Voraus-setzungen für einen ehrlichen Umgangmit der Vergangenheit zu schaffen.

Wie sieht Ehrlichkeit aus?

Was gehört zu einem ehrlichen Um-gang mit der Vergangenheit? DasThema ist schwierig, weil eben nichtabstrakt theoretisch, sondern existenzi-ell und emotional engagierend. Des-halb brauchen wir sowohl Klarheit undOffenheit, als auch Einfühlungsvermö-gen und die Bereitschaft, Uneindeutig-keit, manche sagen Ambivalenz, beiuns wie bei anderen einzuräumen undzu ertragen. Anknüpfen können wirdabei an der zweiten Maxime, die Kantin seiner „Kritik der Urteilskraft“ fürden Gemeinsinn formuliert: „Sichjederzeit an die Stelle des anderen setzen“ (die anderen beiden Maximenheißen: „Selbst denken“ und „Jederzeitmit sich einstimmig denken“, alsonicht nach dem Motto zu verfahren:„Was geht mich mein Geschwätz vongestern an“). Die Philosophin HannahArendt hat darüber ausführlich ge-

33perspektive21

Zukunft brauchtVergangenheitWIE WIR MIT DER VERGANGENHEIT EHRLICH UMGEHEN KÖNNEN

VON GESINE SCHWAN

Page 34: perspektive21 - Heft 49

schrieben, dabei aber allerdings vorallem die Einbildungskraft – imUnterschied zum Gefühl – gepriesen.Der für ein freiheitliches Gemeinwe-sen erforderliche Gemeinsinn brauchtjedenfalls die Bereitschaft der Bürger,von sich aus die Brücke zum anderenzu schlagen, sich nicht ängstlich oderüberheblich zu isolieren. Ich bin imZweifel darüber, ob wir gegenwärtig in Brandenburg, in Deutschland undin Europa genügend Gemeinsinn prak-tizieren.

Was nun ist ein angemessener Um-gang mit der Vergangenheit? Wenn esum einen nicht verdrängenden, mög-lichst angemessenen Umgang mit derVergangenheit, auch mit der in denletzten öffentlichen Debatten immerwieder im Vordergrund stehenden IM-Hypothek geht, müssen wir uns fragen:Woran misst man diese „Angemessen-heit“, wo legt man die Elle an?

Wer ist Täter, wer Opfer?

Mein Vorschlag lautet: Erstens, an derWahrhaftigkeit der Täter und Opfer(manche waren beides zugleich odernacheinander); zweitens, an der hei-lenden Hilfe für die Opfer; drittens an der heilenden Hilfe für die Täter,sofern sie zugänglich sind; und vier-tens, an der Chance, in der neuen de-mokratischen Gesellschaft Vertrauenaufzubauen und eine demokratischepolitische Kultur zu entwickeln.

Hier geht es um das, was Karl Jaspersnach dem Zweiten Weltkrieg in Bezugauf die Verbrechen des nationalsozia-listischen Deutschlands die moralischeSchuld genannt hat. Daneben gibt esihm zufolge die juristische, die politi-sche und die methaphysische. Die ju-ristische Aufarbeitung von systemischbedingter schuldhafter Vergangenheitist unverzichtbar, bleibt aber notwen-dig Stückwerk, weil sie nicht flächen-deckend erfolgen kann und daher demGleichheitsgrundsatz notwendig zuwi-der läuft – um nur eines der Defizitezu nennen. Ihr folgt auch nicht not-wendig innere, vertrauensbildendeUmkehr.

Ein Dreischritt

Jaspers’ Kategorie der politischen Schuldhat in der gegenwärtigen Diskussionum systemische Schuld in der DDRinsofern keine Rolle gespielt, als dieDDR nicht mit Waffen besiegt wurde,wie Deutschland im Zweiten Welt-krieg. Deshalb ist auch der manchmalauf das Verhalten Westdeutschlandsangewendete Begriff der „Siegerjustiz“irreführend – wie immer sich mancheWestdeutschen aufgeführt haben mö-gen. Als metaphysische Schuld bezeich-net Jaspers eine innere Verpflichtungzur Solidarität mit verfolgten Mit-menschen. Ohne sie gäbe es keinenGrund sich um verfolgte Opfer zukümmern.

34 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 35: perspektive21 - Heft 49

Die beiden bekanntesten Wege desöffentlichen Umgangs mit Schuld sindRechtsprozesse und Wahrheitskommis-sionen. Sie haben beide klare Mängel,die sie jedoch zum Teil komplementärangehen können. Ohne die Drohungvon Rechtsprozessen finden sich dieMenschen nicht zureichend bereit,ihren Opfern in Wahrheitskommis-sionen gegenüberzutreten. OhneWahrheitskommissionen kommt esnicht zu einer öffentlich wahrnehmba-ren Tiefe des Schuldeingeständnissesund der Umkehr. Die Gegenüber-stellung mit dem Opfer löst häufigeine unersetzbare Katharsis aus.

Welcher Umgang mit moralischerSchuld bietet die Chance, mit ihr ohneVerdrängung ins Reine zu kommen?Ich bin nach wie vor aus philosophi-schen, psychologischen und theologi-schen Gründen Anhängerin desDreischritts:

� reuevoll In-sich Gehen (contritio cordis)

� Bekennen in der 1. Person singularis(confessio oris)

� Wiedergutmachen (satisfactio operis).

Ob das immer möglich ist, welcheDefizite trotzdem bleiben, kann ichhier nicht näher erörtern. Im Übrigenkann es Jahre dauern, bis man in derLage ist, die eigene Schuld klar zu be-greifen und sich einzugestehen. Und:

Letztlich kann nur jeder für sich seineSchuld (als moralische Schuld) feststel-len, weil es um die Klärung des Wil-lens und der Motive zur Zeit der Tatgeht. Freilich kann ein vertrauter Ge-sprächspartner dabei wertvolle Hilfeleisten. Dieses „contritio cordis“ istschwierig und braucht Zeit.

In die Enge treiben hilft nicht

Ein erfolgreicher Umgang mit der eige-nen moralischen Schuld ist im Übrigenauf Freiwilligkeit angewiesen. Man kannMenschen nicht dazu zwingen, und jemehr man sie unter Druck setzt oder indie Ecke treibt, desto geringer ist dieChance zur aufrichtigen freiwilligenKlärung. Deshalb muss eine Gesell-schaft, wenn sie an einer wahrhaftigenAufarbeitung der Schuld zum Wohl derindividuellen Person wie des demokra-tischen Gemeinwesens interessiert ist,ihren eigenen Beitrag dazu leisten, dasssich Schuldige öffnen können und nichtan die Wand gedrückt fühlen. Rechtha-berei oder pharisäerhafte Selbstgerech-tigkeit vergeht sich an diesem Ziel undmacht sich selbst an Demokratie undMenschen schuldig. Der aus Berlingeflohene israelische PsychoanalytikerDan Bar On, der sich sein Leben langmit dieser Problematik befasst hat, be-tonte immer wieder, dass man sich selbstals potenziell ebenso Schuldigen begrei-fen muss, um wirklich bei der ehrlichenSelbstprüfung von Tätern zu helfen.

35perspektive21

gesine schwan – zukunft braucht vergangenheit

Page 36: perspektive21 - Heft 49

Hermann Lübbe hat 1983 imReichstag die berühmt gewordeneThese vertreten, dass das kommunika-tive Beschweigen der so genanntenbraunen Biographie-Anteile der Deut-schen nach 1945 in Westdeutschlanddie Bedingung dafür war, dass dieMehrheit der Deutschen, die Anhängeroder Mitläufer Hitlers gewesen waren,zu Demokraten wurden. Er hat zuRecht darauf hingewiesen, dass In-dieEnge-Treiben einer Umkehr nichtzugutekommt. Ihm schien darüberhinaus aber eine innere Umkehr fürdie Stabilität der Nachkriegsdemo-kratie nicht erforderlich (auf die„Binnenbefindlichkeiten“ der Bürgerkäme es dafür nicht an), weil dieDemokratie im Wesentlichen vonguten Institutionen lebt. Diese Thesehalbiert die „Demokraten“ auf ihräußeres Verhalten. Indem sie die inne-re Befindlichkeit bewusst ausblendet,begünstigt sie Scheinheiligkeit als„politische Korrektheit“, die Demo-kratien nicht zu tragen vermag.

Ossis unter Generalverdacht

Ein wichtiges Problem bei der Behand-lung von IM-Vergangenheiten vonDDR-Bürgern ist die Asymmetrie vonWest- und Ostdeutschland. UnterGeneralverdacht stehen nur die Ost-deutschen, Westdeutsche mit IM-Ver-gangenheit sind Ausnahmen. Hier gibtes zwei Arten von Fallen: Überheblich-

keit von Westdeutschen und Abwehr-strategien von Ostdeutschen, die we-gen dieser Asymmetrie jede Frage undAntwort verweigern. Auch hier ist gro-ßes Einfühlungsvermögen erforderlich.

Instrumentalisierung der Schuld

Ein weiteres wichtiges und zugleichbesonders heikles Problem ist der auchvon Hannah Arendt unterstricheneUnterschied zwischen den Motiven,die dem Nationalsozialismus einerseitsund dem Stalinismus andererseitszugrunde lagen (vgl. „Elemente undUrsprünge totaler Herrschaft“): DerKommunismus steht theoretisch in derTradition des europäischen Humanis-mus, der Nationalsozialismus nicht,weil er die fundamental gleiche Würdeder Menschen prinzipiell nicht aner-kennt. Zu den schwierigsten Folgendieses Umstands gehört, dass einerseitsim Stalinismus im Namen des europä-ischen Humanismus gemordet undverraten worden ist, dass andererseitseine schematisch auf die Analogie derStrukturen verkürzte Totalitarismus-Theorie zu erheblich verzerrendenSchlussfolgerungen führen kann. Ent-weder man versucht wegen dieses Un-terschieds pauschal den Stalinismus seiner „guten Absichten“ wegen zu salvieren oder man ebnet diesen Un-terschied aus Gründen aktueller poli-tischer Präferenzen oder Instrumenta-lisierungen ein.

36 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 37: perspektive21 - Heft 49

Die größte Versuchung besteht inder politischen (oder auch individuell-persönlichen) Instrumentalisierung vonSchuld. Wer ihr erliegt, macht sichselbst schuldig, denn er verhindert denaufrichtigen Umgang mit ihr. EinenIndikator in dieser Hinsicht ergibt diePrüfung, ob, wer anschuldigt, den„Balken im eigenen Auge“ sieht. Kon-kret politisch heißt das: Jede Partei hatdie gleiche Aufgabe, die Verstrickungihrer Mitglieder in schuldhafte Vergan-genheiten aufrichtig zu prüfen. Erst

danach kann man in ein ehrliches,nicht politisch instrumentalisierendesGespräch kommen.

Für die Zukunft stellt sich geradein der neuen deutschen Demokratiedie Frage: Wie gehen wir mit deralten Maxime „Der Zweck heiligt dieMittel“ um? Sie hat im Kommunis-mus oft zur Rechtfertigung schuldhaf-ten Verhaltens gedient, aber sie wirdauch in Demokratien oft zur Recht-fertigung dubioser Handlungen her-angezogen. �

37perspektive21

gesine schwan – zukunft braucht vergangenheit

P R O F. D R. G E S I N E S C H W A N

ist Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin und war von 1999 bis 2009 Präsidentin

der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Page 38: perspektive21 - Heft 49

38 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 39: perspektive21 - Heft 49

E in Gedankenspiel, nichts weiter.Aber es kann vielleicht die Kon-

kurrenzgefühle ein wenig drosseln, mitdenen wir in Deutschland seit Jahrenüber den vermeintlich so ungleichenUmgang mit „zweierlei Vergangenhei-ten“ streiten: Blendete man die beidenVerläufe auf einer imaginären Zeitachseübereinander, so wäre unser heutigerStand der gesellschaftlichen Auseinan-dersetzung mit der Geschichte derDDR am bundesrepublikanischen NS-Diskurs des Jahres 1965 zu messen. DieVorstellung trägt aus vielen Gründennicht sehr weit, aber eines macht siedoch schlagartig klar: Mehr als zweiJahrzehnte Jahre nach dem Fall derMauer eignet der immer wieder geführ-ten Klage über ein zu geringes Interessean der Geschichte der DDR auch einealarmistische Note.1

Im Gegensatz zu dem, was heutevielfach suggeriert wird, begann die his-torisch-kritische Auseinandersetzung

mit der DDR nicht erst, als diese auf-gehört hatte zu existieren. In ihrenMöglichkeiten zwar ungleich einge-schränkter als die Zeitgeschichtsschrei-bung über die Bundesrepublik, hatte es im Westen doch stets auch eineernstzunehmende DDR-Forschunggegeben. Und trotzdem änderte sichim Winter 1989/90 alles. Nur ein paarTage nach dem „Sturm“ auf die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin am 15. Januar1990 überschlugen sich vor allem diewestdeutschen Medien mit Berichtenüber das bis dahin unbekannte Aus-maß der Bespitzelung, die menschen-verachtenden Praktiken und dieAllgegenwart der sogenannten Sicher-heitsorgane, und schon in den frühenneunziger Jahren füllte die Literatur zudiesem Thema eine kleine Bibliothek.Mag auch der Gestus des Sensationel-len und des Skandals, in dem damalsüber Täter und Opfer (und über derengar nicht so seltenen Rollentausch) verhandelt wurde, im Rückblick einwenig an das halb aufklärerische, halbapologetische Sprechen über Gestapound SS in der Bundesrepublik der

39perspektive21

1989 und wir?DER UMGANG MIT DER DDR-VERGANGENHEIT IST GEPRÄGT

VON ERINNERUNGSPOLITIK IM ÜBERMASS – NÖTIG WÄRE

GESCHICHTSBEWUSSTSEIN

VON NORBERT FREI

1 Aktualisierter Nachdruck aus: Die Zeit vom 26.3.2009;eine längere Fassung in Norbert Frei: 1945 und wir. DasDritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München2009, S. 7-21, 200ff.

Page 40: perspektive21 - Heft 49

frühen fünfziger Jahre erinnern: DieTatsache, dass eine intensive öffent-liche Debatte über die DDR-Vergan-genheit entstand und sich schnellüber den Kreis der Bürgerrechtlerhinaus entfaltete, muss nicht zuletztals ein kritischer Reflex auf die Ge-schichte des bundesdeutschen Um-gangs mit der NS-Vergangenheit verstanden werden.

Kein Schlussstrich nach 1989

Vier Jahrzehnte nach dem Neubeginn in Bonn waren die Westdeutschen wohlmehrheitlich der Auffassung, dass dieRealität des „Dritten Reiches“ in derBundesrepublik lange Zeit „verdrängt“worden war; die im Zeichen des eisernenAntifaschismus erzogenen Ostdeutschenhatten ohnehin nie anderes vermutet.Dieses Bewusstsein von der skandalösenSchonung der nationalsozialistischenTäter und der Ignoranz gegenüber ihrenOpfern, das seit den sechziger Jahren –nicht allein in den Achtundsechzigern,aber gleichsam mit ihnen – herange-wachsen war, kam jetzt mit Blick auf dieDDR-Vergangenheit zum Tragen: Wasnach dem Ende der „ersten Diktatur“irreparabel falsch gelaufen war, nament-lich bei der strafrechtlichen Ahndungvon NS-Verbrechen, das sollte sich beider „zweiten Diktaturbewältigung“ nichtwiederholen.

Ein deutliches Indiz dafür, dassnicht nur Westdeutsche so dachten,

waren die noch in der Endphase derDDR eröffneten Verfahren vor allemwegen Wahlfälschung und Amtsmiss-brauch, die oft auf Anzeigen aus derBevölkerung basierten. Die meistenErmittlungen kamen allerdings erstnach der Vereinigung in Gang, und siezielten keineswegs nur auf die Spitzendes verflossenen Regimes. In Berlinging eine eigens eingerichtete Staats-anwaltschaft II in etwa 21.000 Fällen(Stand Ende 1997) dem Verdacht auf„Regierungskriminalität“ und Justiz-unrecht nach (sie war außerdem zu-ständig für „vereinigungsbedingteWirtschaftskriminalität“); alles in allemkam es in den neuen Bundesländern zu rund 62.000 Ermittlungsverfahrengegen schätzungsweise 100.000 Perso-nen. Zwar standen im Laufe dieserAnstrengungen insgesamt weniger als1.000 Personen vor Gericht, und ledig-lich etwa die Hälfte davon wurde(meist zu Bewährungsstrafen) verur-teilt. Dennoch machten die Prozessegegen Honecker, Krenz und weitereMitglieder des Politbüros, gegen einenTeil der militärischen Führung undgegen etliche mutmaßliche „Mauer-schützen“ unmissverständlich klar, dassder Rechtsstaat Bundesrepublik dieschweren Menschenrechtsverletzungenin der DDR nach deren Ende nichteinfach auf sich beruhen lassen wollte.

Mehr noch als die mühseligen Ge-richtsverfahren, in denen erlittenes Un-recht vielleicht nicht angemessen ge-

40 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 41: perspektive21 - Heft 49

sühnt, wohl aber deutlich benannt undöffentlich anerkannt werden konnte, signalisierte die Gründung der rasch sogenannten Gauck-Behörde, dass ein„Schlussstrich“ nicht in Frage kam.Denn im Tauziehen um die Akten setz-ten sich die Bürgerrechtler durch, jeden-falls in Bezug auf jenen Teil des gewalti-gen Datenbestandes der Staatssicherheit,der nicht schon in den ersten Tagen undWochen nach der Maueröffnung gezieltvernichtet oder beiseite geschafft wordenwar: Nachdem die Regierung Kohl beiden Verhandlungen zum Einigungs-vertrag einem Gesetz der Volkskammernicht hatte folgen wollen, das eine de-zentrale Lagerung und Verwaltung dergeretteten Stasi-Akten gewährleisten soll-te, war im September 1990 im ehemali-gen Mielke-Ministerium eine Gruppevon Archivbesetzern in Hungerstreikgetreten. Als Ergebnis hektischer Ver-handlungen wurde der Rostocker Pfarrerund Bürgerrechtler Joachim Gauck amTag der Deutschen Einheit zum Sonder-beauftragten der Bundesregierung fürdie Stasi-Unterlagen ernannt. Damitbegann der Aufbau einer Behörde, derenDimensionen und Aufgaben auf Jahrehinaus nirgendwo in Osteuropa eineParallele fanden.

Die Präsenz der Vergangenheit

Schon wenig später lief die Überprü-fung Hunderttausender auf eine frühe-re Stasi-Tätigkeit an. Sie betraf vor

allem Ostdeutsche, die im Staatsdienstwaren oder in diesen aufgenommenwerden wollten – und addierte sich biszur Einschränkung des Verfahrens imDezember 2006 auf etwa 1,75 Millio-nen Anfragen. Hinzu kamen die per-sönlichen Anträge auf Akteneinsicht,die seit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vom 20. Dezem-ber 1991 rund 1,6 Millionen Men-schen stellten. Insgesamt führte diesePraxis in den ersten Jahren nach demEnde der DDR zu einer politischen undgesellschaftlichen Präsenz der Vergan-genheit, die durchaus mit jener währendder Entnazifizierung nach dem ZweitenWeltkrieg zu vergleichen ist.

Opfer der Verhältnisse?

Anders als damals spielten Mitglied-schaft und Rang in der SED für sichgenommen zwar keine Rolle – und daswar, wie sich bald zeigen sollte, ein folgenreicher Unterschied. Aber dieDimensionen des Durchleuchtungs-verfahrens produzierten historisch be-kannte Reaktionen: Denn von denen,die aus diesen Überprüfungen als ent-tarnte Zuträger oder Mitarbeiter derGeheimdienste hervorgingen, betrach-teten sich bald etliche als Opfer derneuen politischen Verhältnisse. Dabeiwaren jene, die zwar wichtige Partei-funktionen bekleidet, sich aber nichtder Stasi verpflichtet hatten, vielfachohnehin völlig unbehelligt geblieben.

41perspektive21

norbert frei – 1989 und wir?

Page 42: perspektive21 - Heft 49

Ähnliches galt anfangs auch für diezahlreichen Inoffiziellen Mitarbeiterder Stasi im Westen.

Einer breiten Entfaltung nachträg-licher Beschönigungen und vernied-lichender Erinnerungen, wie sie nach1945 zu beobachten war und wohlnach jedem politischen Umsturz zugewärtigen ist, standen allerdings be-reits kurz nach der friedlichen Revo-lution vielerorts aufblühende zeitge-schichtliche Initiativen entgegen. Dazutrug sehr bei, dass ostdeutsche, west-deutsche und auch ausländische His-toriker praktisch schon im Momentdes Untergangs der DDR Zugang zuderen Nachlass suchten und erhielten.Denn anders als nach dem Ende desNS-Regimes, als die Siegermächte,nicht zuletzt zur Vorbereitung desNürnberger Prozesses, die deutschenAkten erst einmal beschlagnahmten,waren viele Bestände des SED-Staatesund seiner sogenannten Massenorga-nisationen sofort offen.

Umfangreiche Aufarbeitung

Hinzu kam, und auch das reflektiertevor allem die westdeutschen Erfahrun-gen im Umgang mit der NS-Vergan-genheit: Die politische Klasse dergrößer gewordenen Bundesrepublikwar bereit, die materiellen Rahmen-bedingungen für eine eingehende wis-senschaftliche Erforschung der DDR-Geschichte zu gewährleisten. Ja mehr

noch, mit Einsetzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Ge-schichte und Folgen der SED-Diktaturin Deutschland“ begab sich der Bun-destag im Frühjahr 1992 unter demBeifall aller Fraktionen, wenn auchgegen den Willen der PDS/LinkenListe, selbst in die Rolle des histori-schen Erkenntnisstifters.

Eine Aufgabe der Gesellschaft

Drei Jahre später lag ein buchdickerAbschlussbericht vor, dazu Anlagen in17 weiteren Teilbänden auf mehr als15.000 Druckseiten. Ungeachtet etli-cher Sondervoten vor allem von Seitender oppositionellen SPD, die das Werkdurchzogen und den Eindruck ver-stärkten, dass hier Geschichte offiziellfixiert worden war, hatte der Bundes-tag im Sommer 1995 bereits eine wei-tere Enquete-Kommission beschlossen.„Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Ein-heit“ lautete, grammatikalisch etwasrätselhaft, ihr Titel.

Auch wer die (selbst-)aufkläreri-schen Intentionen der beiden Groß-projekte und die damit wohl erhofftenedukatorischen Wirkungen anzuerken-nen bereit ist, kommt nicht umhin,einige Fragezeichen hinter die fastsechsjährigen Anstrengungen derLegislative zu machen: Ist es wirklichAufgabe des Parlaments, Geschichte zuschreiben oder auch nur zu dokumen-

42 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 43: perspektive21 - Heft 49

tieren? Was genau war dabei das Er-kenntnisziel? Und hatte man mit denraumgreifenden Erkundungen bis hin-ein in das „Alltagsleben in der DDR“nicht einen Weg eröffnet, der seitdemimmer weiter in die Sackgasse staatlicheingehegter „Erinnerungskultur“ ge-führt hat?

Die Zweifel an der Berechtigungeiner Geschichtsdeutung von Amtswegen sind prinzipieller Natur; dochauch in einer so besonderen Situationwie in den ersten Jahren nach 1989hätte es Möglichkeiten gegeben, dasöffentliche Gespräch über die DDR-Vergangenheit anders als durch denBundestag zu organisieren. Demo-kratiepolitisch spricht jedenfalls allesdafür, die Auseinandersetzung mit derGeschichte als Aufgabe der Gesell-schaft, nicht des Staates, zu betrachten.Und Skepsis gegenüber einer forschen-den Legislative drängt sich auch des-halb auf, weil weder damals Anlassbestand – noch heute besteht –, dieLeistungsfähigkeit der Wissenschafternsthaft in Frage zu stellen.

Gesamtdeutscher Blick fehlt

Tatsächlich erlebte die historisch-em-pirische SBZ- und DDR-ForschungMitte der neunziger Jahre einen Boom,wie es ihn in Bezug auf die Geschichteder westlichen Besatzungszonen undder frühen Bundesrepublik niemalsgegeben hatte. Auf dem Höhepunkt

dieser Konjunktur, die durch Sonder-förderprogramme und durch die Ein-richtung völlig neuer Forschungszentren(sogar innerhalb der Gauck-Behörde)angeheizt wurde, machte die Zahl vonetwa 1.000 laufenden Projekten zurDDR-Geschichte die Runde. Nichtjede dieser Arbeiten suchte Antwortenauf die Fragen eines lesenden Arbeitersrespektive Bürgers, manches kam argkleinteilig daher, und bis heute ist der„gesamtdeutsche“ Blick auf die Jahr-zehnte gemeinsamer Getrenntheit dieseltene Ausnahme. Aber im Ganzenhandelte es sich um einen einsamenRekord: Soviel an wissenschaftlicherDurchdringung ihres Gegenstands,jedenfalls in so kurzer Zeit, hatte inden Jahrzehnten zuvor nicht einmal die zeitgeschichtliche NS-Forschungzustande gebracht, die nun auf denHistorikertagen entsprechend deutlichins Hintertreffen geriet.

Konkurrenz mit den Medien?

Doch unbeeindruckt von allem Er-reichten fühlte sich die Politik imVorfeld der Feiern zum 20. Jahrestagdes Mauerfalls zu neuen Anstrengun-gen berufen. Nicht nur glaubte man,via Bundeszentrale für politische Bil-dung und „Stiftung Aufarbeitung“, die1998 aus der zweiten Enquete-Kom-mission hervorgegangen war, mit denMedien konkurrieren zu müssen. Spä-testens seitdem die „Fortschreibung der

43perspektive21

norbert frei – 1989 und wir?

Page 44: perspektive21 - Heft 49

Gedenkstättenkonzeption des Bundes“Ende 2008 im Bundestag mit großerMehrheit verabschiedet wurde, wareine neue Runde staatlicher Geschichts-bemächtigung eröffnet.

Im Kanzleramt, aber nicht nur dort,war man der Meinung, „Erinnerungs-politik“ machen zu sollen, ja machenzu müssen. Im Zentrum stand – undsteht – dabei der Glaube, auf adminis-trativem Wege Interesse für die„Aufarbeitung im Bereich des SED-Unrechts“ herstellen zu können, das„wegen des Zeitablaufs noch nichtangemessen im öffentlichen Bewusst-sein verankert“ sei. Demgegenüberbegreift die „Gedenkstättenkonzeption“das Feld der NS-Erinnerung nicht nurals im Grunde arrondiert, sondern esschwingt in ihr nach wie vor derKonkurrenzgedanke mit: die Vorstel-lung, die Auseinandersetzung mit dernationalsozialistischen Vergangenheitstehe einer stärkeren Beachtung derDDR-Geschichte irgendwie im Wege.

Ein „Geschichtsverbund“ soll diesespostulierte Ungleichgewicht beheben.Neben der Birthler-Behörde und der„Stiftung Aufarbeitung“, die seit ihrerGründung schon mehr als 23 Millio-nen Euro für Ausstellungen und Publi-kationen, Konferenzen und Stipendieneinsetzen konnte, sollen die Gedenk-stätten, Erinnerungsorte und Museenzur DDR-Geschichte stärker gefördertwerden. Erklärtes Ziel der „Gedenk-stättenkonzeption“ ist es, die „histori-

sche Aufarbeitung der kommunistischenDiktatur“ als „gesamtdeutsche Aufgabe“auch auf die „westdeutschen Länder“auszudehnen. Solche Formulierungensuchen den längst vielfach enttäuschtenErwartungen von Teilen der Bürger-rechtsbewegung zu entsprechen – undüberdehnen damit zugleich doch wohlalle vernünftigen Möglichkeiten.

Erfahrungen von ’89 sind wichtig

Unter dem Tugendgebot der Erinne-rung scheint weiten Teilen der poli-tischen Klasse, freilich nicht allein inder Bundesrepublik, jeder Begriff vonden Vorzügen einer Geschichtsschrei-bung, die sich unabhängig von poli-tischen Identitätsstiftungsversuchenund Nützlichkeitserwägungen entfal-tet, abhanden gekommen zu sein.Wem als Politiker oder als Bürgerjedoch daran liegt, dass nicht nur„gedacht und erinnert“, sondern ge-wusst und verstanden wird, der kannsich nicht, wie dies gegenwärtig nurallzu oft geschieht, auf die Frage be-schränken, wie viele seiner Zeitge-nossen ein historisch gewordenes Er-eignis noch erlebt oder nicht mehrerlebt haben. Und dem muss es amEnde nicht bloß darum gehen, Ver-gangenheit irgendwie „lebendig zuhalten“ – wohl aber um Chancen, sie sich begreifend anzueignen.

Eine Politik, die dafür realistischePerspektiven eröffnen will, wird das

44 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 45: perspektive21 - Heft 49

Faktum nicht ignorieren, dass die Be-reitschaft zur Auseinandersetzung mit„jüngster Vergangenheit“ in hohemMaße an persönliche Erfahrung oderzumindest familiär tradierte Erinne-rung gebunden ist. Aber sie wird sichnicht alleine davon leiten lassen. Fürdie überwiegende Mehrheit der heutelebenden Deutschen ist die DDR keinTeil ihrer „eigenen“ Vergangenheit –und sie wird es auch nicht mehr wer-

den. Das heißt nicht, einer immerwieder irritierenden Ignoranz dasWort zu reden und den oftmals bekla-genswerten Mangel an Empathie zurechtfertigen. Aber es heißt vielleicht,stärker als bisher auf die Reflexion derErfahrungen von „1989“ und der Zeitdanach zu setzen: Auch deshalb, weildas „Wir“ seitdem in sein Recht ge-setzt, mithin eine reale Möglichkeitgeworden ist. �

45perspektive21

norbert frei – 1989 und wir?

P R O F. D R. N O R B E R T F R E I

lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das

Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Page 46: perspektive21 - Heft 49

46 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 47: perspektive21 - Heft 49

PERSPEKTIVE 21: Sie waren in DDR-Zei-ten als Pfarrer tätig, kamen zur Umwelt-und Bürgerrechtsbewegung. Haben Sie geahnt, dass Sie von der Stasi überwachtwurden? ANDREAS KUHNERT: Wir sind immerdavon ausgegangen. Das macht dieStasi nicht besser. Aber uns war immerklar, wir leben in einem Überwachungs-staat – und haben uns darauf einge-stellt. Wenn wir als Gruppe zusam-mensaßen, war immer klar, hier bleibtnichts unter uns. Ich war in der Schü-lerarbeit aktiv. Wir wollten älterenSchülern, heute würde man sagenGymnasiasten, Horizonte öffnen – imPhilosophischen, Ethischen, Politi-schen, in Themen, die in der DDR-Schule oder -Uni nicht vorkamen. Wir wussten, das sind spätere Verant-wortungsträger und deshalb sollten sieeinen weiteren Horizont haben, als esder Staat normalerweise zugelassen hat.Zweimal im Jahr hatten wir unsereTreffen im evangelischen Jugendheimbei Storkow. Uns war immer klar, dassirgendeiner mitschreiben würde, dass

da Wanzen wären. Niemand der An-wesenden hat irgendwas gesagt, vondem er nicht wollte, dass es die Ver-antwortlichen im Staat wissen.

Die Stasi war immer dabei

Die Stasi war immer dabei? KUHNERT: Wir haben uns immerbewusst gemacht, dass wir überwachtwurden. Wenn wir was ganz Heim-liches hatten, sind wir in den Waldgegangen – und dann musste mannatürlich sicher sein, dass derjenige mitdem man redete, „sauber“ war. Daswar nicht die eigentliche Bedrohung.Wir haben ja auch unsere Meinungwie zum Jugendweihezwang oderWehrunterricht in Positionspapieregefasst und an die staatlichen Stellengesandt.

Was war denn die Bedrohung? KUHNERT: Die grundsätzliche Bedro-hung war, dass man als Oppositionellermehr oder minder mit einem Bein imKnast stand. Weil Opposition im

47perspektive21

Mit Schaum vor demMund geht es nichtÜBER DAS FLAUE GEFÜHL BEI STASI-ÜBERPRÜFUNGEN, VERMEINTLICHE

SPITZEL IN DER SPD-FRAKTION, DEN RECHTSSTAAT UND EINE ZWEITE

AUFARBEITUNG SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT ANDREAS KUHNERT

Page 48: perspektive21 - Heft 49

DDR-System nicht vorgesehen war!Die Partei hatte ja immer recht. Ichbin regelmäßig zum Rat des Kreiseseinbestellt worden. Dort hat mir derRatsvorsitzende in rauem Ton oft klargesagt, dass das, was ich machte, staats-feindliche Tätigkeit sei. Und ich wuss-te ja, das ist ein Straftatbestand. Daswar eine offene Drohung. Jede unbe-dachte Äußerung konnte eine harteStrafe nach sich ziehen.

Hat Sie das vorsichtiger werden lassen? KUHNERT: Man hat mehr taktiert, sodass wir gesagt haben, über das Themareden wir jetzt besser nicht mehr, son-dern besprechen das auf einem Wald-spaziergang. Bedrohlich fand ich dieGefahr, wenn ich mich frei äußere,kann mir das berufliche Nachteilebringen, im schlimmsten Fall auchGefängnis.

Das hat Sie nicht eingeschüchtert? KUHNERT: Ich hatte ja erst eine Berufs-ausbildung mit Abitur beim damaligenVEB Carl Zeiss Jena gemacht und bindann durch „Ulbrichts Studienplatz-lenkung“ wegen „gesellschaftspoliti-scher Unreife“ nicht zum Mathematik-Studium zugelassen worden und in derTheologie gelandet. Damit war man ineinem geschützten Raum, niemandkonnte einem mehr die Karriere ver-bauen, nur weil man seine Meinungoffen sagte oder an Demos teilnahmoder „Schwerter zu Pflugscharen“ ans

Kirchenfenster gehängt hat. Das warein großer Unterschied zu Leuten, diein der Wirtschaft, in Schulen oderUnis gearbeitet haben und bei kriti-schen Äußerungen auch Gefahr liefen,nicht nur gemaßregelt sondern auchentlassen zu werden.

In den achtziger Jahren wurde man auchvorsichtiger, Kirchenleute einzusperren. KUHNERT: Ja. Bei mir stand zwei mal inden Stasi-Akten, dass von einer Verhaf-tung abgesehen worden sei, weil zumBeispiel der 11. Parteitag der SED be-vorstand und man keine Negativschlag-zeilen gebrauchen konnte. Das war jadie Zeit, als die West-Medien von Ost-Berlin aus darüber berichteten. Dawurde zum Beispiel Rainer Eppelmannverhaftet, der am nächsten Tag wiederfrei kam, weil in der Tagesschau darü-ber berichtet worden war. Schließlichwar die DDR-Führung auch zuneh-mend von Krediten und vom Wohl-wollen des Westens abhängig.

Freudenfeuer oder Öffnung?

Nach der Wende war sehr umstritten,wie mit den Stasi-Akten umzugehen ist.Friedrich Schorlemmer wollte sie amliebsten verbrennen. Fanden Sie in Ord-nung, die Akten zu öffnen? KUHNERT: Friedrich SchorlemmersGrundidee war: Lasst uns jetzt einFreudenfeuer machen, wir haben ge-siegt und verbrennen alles aus lauter

48 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 49: perspektive21 - Heft 49

Freude. Diesen Gedanken konnte ichzuerst gut nachvollziehen. Aber dannwurde mir, wie vielen anderen auch,klar: Das öffnet Spekulationen Türund Tor. Man kann behaupten, je-mand sei ein Spitzel gewesen, aber mankann es weder beweisen noch widerle-gen. Deshalb finde ich den eingeschla-genen Weg der staatlichen Regulierungund geordneten Einsichtnahme dasSinnvollste. Ich war öfters in Litauen.Dort passierte es regelmäßig, dass poli-tische Gegner denunziert wurden. Dadie Akten aber in Moskau liegen,kommt keiner ran, niemand kannetwas beweisen oder widerlegen. Des-halb war ich auch einer der ersten, derAkteneinsicht genommen hat, weil ichdas wirklich gut und richtig fand.

Wie stark war die Akte denn? KUHNERT: Mehrere hundert Seiten,auch mit viel Redundanz. Ich hatteden Eindruck, die hatten wie immer in der DDR ein Soll zu erfüllen. Daswirkte manchmal, als ob jede Wochezehn Seiten geliefert werden mussten.Da wurden auch Zustand oder Ein-richtung der Wohnung beschrieben, obder Teppich gesaugt oder die Fenstergeputzt waren.

Gab es Überraschungen in den Akten? KUHNERT: Das einzige, was mich wirk-lich überrascht hat, waren die dreiKGB-Spitzel. Das mag naiv gewesensein, aber man wollte ja nicht so einge-

sperrt leben, wie man wirklich gelebthat und leben musste. Wir hatten einesowjetische Offiziersfamilie kennenge-lernt. Eigentlich hätte uns das stutzigmachen müssen, denn die durften zuDDR-Bürgern nur Kontakte über dieGesellschaft für Deutsch-SowjetischeFreundschaft haben. In den Aktenfand ich dann den Grund für die„Freundschaft“. Die waren auf uns an-gesetzt und sollten uns bespitzeln. Sowurde unsere ganze Wohnung aus-spioniert, während wir zum Kinder-geburtstag von deren Tochter eingela-den waren.

Keiner hat sich entschuldigt

Haben Sie sich später mal mit Leutengetroffen, die Sie überwacht haben? KUHNERT: Nachdem ich meine Akten1992 gesehen hatte, habe ich darüberin mehreren Zeitungen berichtet. Ichhabe keine Namen zitiert, aber schongehofft, dass sich einige vielleicht mel-den würden. Nicht mal der CDU-Pfarrer, der mich bespitzelt hat, hatsich gemeldet. Der Einzige, der nochvor der Einsichtnahme zu mir gekom-men ist, war ein Klassenkamerad. Ersagte: Wundere dich nicht, wenn duwas von mir in den Akten findest. Erhatte 1968 in Telefonzellen Zettel inTelefonbücher gelegt, mit dem Hin-weis, dass man bei dem anstehendenVerfassungsreferendum auch mit Neinstimmen könne. Dabei ist er erwischt

49perspektive21

andreas kuhnert – mit schaum vor dem mund geht es nicht

Page 50: perspektive21 - Heft 49

worden, woraufhin die Stasi ihn vordie Wahl gestellt hat, entweder wegenstaatsfeindlicher Hetze vor Gericht zulanden oder mit ihr zusammenzuarbei-ten. Und da hat er sich für die „Zu-sammenarbeit“ entschieden, sich aberzwei Jahre später dekonspiriert. DieIronie war, dass in meinen Akten vonihm nichts zu finden war, denn vielesist ja auch vernichtet worden.

Kein Hardliner

Sind Sie denn auf die Spitzel zugegangen? KUHNERT: Nicht alle waren aus denAkten heraus zu identifizieren. EinPfarrer und ein Arzt waren dabei, diesich aber leider bei mir nicht gemeldethaben obwohl ich es erwartet hatte. Ichbin von mir aus auf niemanden zuge-gangen, weil ich nicht abrechnen woll-te. Daran hatte ich kein Interesse.

Sie haben dann mehrere Stasi-Überprü-fungskommissionen geleitet. Welche Kri-terien gab es dabei? KUHNERT: Erstens eine Unterschrift zurZusammenarbeit, zweitens Berichte –handgeschrieben oder mit Unterschrift.Drittens Geschenke oder Geld. Vier-tens die Frage, ob jemandem geschadetwurde, diese Frage war immer dieSchwierigste. Fünftens ging es um dieFrage, in welchem Alter derjenige warund wie lange es gedauert hat. Undschließlich die Frage, ob man sichselbst dekonspiriert hat. Ich fand, das

war ein sehr wichtiges Kriterium, denndazu hat sehr viel Mut gehört.

Wie oft gab es eine Differenz zwischender Aktenlage und dem, was die Betrof-fenen erzählten? KUHNERT: Ich habe bei den Überprü-fungen immer nur mit Leuten zu tungehabt, die offen reden wollten undauch froh waren, sich endlich malerklären zu können. Häufig gab es Er-pressungssituationen. Eine Frau, der ichab und an begegne, hat heute nochTränen in den Augen, weil sie mit demThema nicht fertig wird. Und dass,obwohl die Überprüfungskommissionsie „frei gesprochen“ hatte. Ihr Bruderwar wegen versuchter Republikfluchtverhaftet worden. Die Stasi kam zu ihr mit der Alternative, dass er amnächsten Tag freikommen könnte,wenn sie unterschreibt – oder dass ereben drei Jahre Haft bekommt. Sie hatunterschrieben, merkte aber bald, dasssie mit der Idee, nur harmlose Berichtezu schreiben, nicht durchkommt. Siehat sich dann ihrem Pfarrer anvertrautund sich mit dessen Hilfe auch dekon-spiriert. Aber ihr hängt das bis heute an.Das war ein Fall, der durchaus typischwar und mich in der Einstellung be-stärkt hat, sehr vorsichtig in der Beur-teilung zu sein. Ich war kein Hardliner.

Und war das immer richtig? KUHNERT: Ja. Ein Fall hat mich beson-ders nachdenklich gemacht. Und er hat

50 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 51: perspektive21 - Heft 49

mich in meiner Einstellung, sehr be-hutsam zu sein, bestärkt. Da war einerin der Überprüfungskommission, dersich ganz sicher war, dass man eineUnterschrift und Verpflichtung als IMnicht vergisst. Der junge Mann, überden wir zu beraten hatten, hatte keineChance. Genau dieser „Hardliner“ kamein Dreivierteljahr später zu mir. Er saßganz kleinlaut auf meinem Sofa und er-zählte: ‚Du wirst es nicht glauben, jetztist meine Akte aufgetaucht und ich habeauch unterschrieben. Und habe es nichtmehr gewusst!‘ Der, der am lautestengetönt hatte, so was vergesse man nicht,hatte es selbst verdrängt. FriedrichNietzsche hat es gesagt und die Tie-fenpsychologie hat ihn längst bestätigt:Vergesslichkeit ist die „Aufrechterhal-terin der seelischen Ordnung“.

Gab es bei den Überprüfungen auchEnttäuschungen? KUHNERT: Es bleibt immer das flaueGefühl, dass man denkt, wie soll manherausfinden, ob hier nicht jemandem,der namentlich genannt wurde, amEnde doch ein Schaden erwachsen ist.Wenn das nicht rauszukriegen war,galt immer das Prinzip: Im Zweifel fürden Angeklagten. Auch mit flauemGefühl. Aber für mich ist das auch einStück Rechtsstaat.

Haben sich denn heute, 20 Jahre später,die Maßstäbe verschoben? KUHNERT: Die Kriterien haben sich

nicht verschoben. Aber einige, meistLeute die damals nicht dabei waren,haben das Gefühl, wir wären damals zu locker und zu leichtfertig mit demThema Stasi umgegangen und manmüsse heute nochmal viel schärfer ran-gehen.

Zum Beispiel bei den Richtern. KUHNERT: Bei der Richterin, deren Fallvor kurzem durch die Presse ging, ist esso, dass sie sich mehrmals geweigerthat zu berichten, laut Akten nieman-dem geschadet hat, sehr jung war undsich selbst dekonspiriert hat. Ich hättesie als Überprüfer auch entlastet. Aberbei manchen Kritikern drängt sichwohl die Parallele zu 1945 auf.

Eine Frage des Menschenbildes

Ist die denn falsch? KUHNERT: Ja, und zwar völlig. Hier galtdas Prinzip „Übernahme nach Über-prüfung“. Das war im Einigungsvertragfestgeschrieben und von Volkskammerund Bundestag mit über 80 ProzentZustimmung beschlossen. Nach 1945im Westen lief das als „Übernahmeohne Überprüfung“.

Sie haben nie Zweifel gehabt, dass mandamals zu nachsichtig war? KUHNERT: Nein, gar nicht. Ich habe dieErfahrung gemacht, dass Leute ehererleichtert waren, endlich reden zukönnen. Es ist für mich eine Frage des

51perspektive21

andreas kuhnert – mit schaum vor dem mund geht es nicht

Page 52: perspektive21 - Heft 49

Menschenbildes. Gehe ich davon aus,dass mir jemand immer nur das sagt,was die Aktenlage gerade hergibt? Oderhabe ich das Vertrauen, dass Menschenaus Fehlern zu lernen bereit sind? Ge-zielte Täuschungen habe ich jedenfallsnie erlebt. Ich habe den Leuten immergesagt: Sagen Sie lieber alles, damit esnicht später noch viel schwierigere Si-tuationen gibt.

Warum die SPD irrte

Die SPD-Fraktion hatte 1991 ja bereitseinen Abgeordneten wegen IM-Tätigkeitausgeschlossen und den Beschluss dannwieder zurückgenommen. Warum? KUHNERT: Wir hatten – wie anderedamals auch – den Grundsatz: Jederder belastet ist, wird ausgeschlossen.Wir haben keine Einzelfallprüfunggemacht, haben uns weder Umständenoch Schwere der Mitarbeit ange-schaut. Wer einem System wie derStasi gedient hat, hat schon mal Dreckam Stecken. Und dann gab es einenKollegen, bei dem sind Berichte vonDienstreisen für seinen Betrieb von derStasi gesammelt worden – ohne dass eres wusste, von dem es auch keine Ver-pflichtungserklärung gibt. Der sich lautAktenlage sogar zweimal geweigerthatte, als IM mit der Stasi zusammen-zuarbeiten. Ein zweiter Kollege hatteunterschrieben und Berichte geliefert,also musste er ausscheiden. So dachtenwir damals jedenfalls.

Ohne dass darüber in der Fraktion ge-sprochen wurde? KUHNERT: Erst nach dem Ausschlusshat er uns die ganze Situation geschil-dert, wie er im Knast erpresst wurde.Von der Stasi gab es dann einenSchlussbericht, den er uns gezeigt hat,wonach sie die Zusammenarbeit mitihm aufgibt, weil er partout keinebrauchbaren Berichte schreiben wollteund zu keiner wirklichen Zusammen-arbeit bereit war. Der Ausschluss wur-de daraufhin wieder zurückgenommen.Das war für uns ein Lernprozess.

Welche Folgen hatte diese Diskussion? KUHNERT: Wir haben gelernt, dass manLeute nicht über einen Kamm scherenkann, sondern den Einzelfall und dieUmstände prüfen muss, gerade wegendieser hinterhältigen Erpressungssitua-tionen. Daraus wurde dann das Prinzip„Mit menschlichem Maß“, das wir miteinem Landtagsbeschluss aller Fraktio-nen dokumentiert haben. Bei allem, wasich bei Überprüfungen gemacht habe,hat sich die Einzelfallprüfung bewährt.Deshalb verstehe ich auch nicht, warumvon der Opposition in der Enquete-Kommission diese Fälle jetzt noch malvom „grünen Tisch“ aus bewertet wer-den und den Betroffenen vorgeworfenwird, sie hätten damals ihr Mandatzurückgeben müssen. Das Problem istdoch, dass die reine Aktenlage nochlange nichts erklärt. Es war eben manch-mal ganz schön kompliziert, weil biswei-

52 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 53: perspektive21 - Heft 49

len Täter auch Opfer waren. Weil wirnicht genau wussten, wie es zu Unter-schriften gekommen war.

Aber warum wurde 1994 die Überprü-fung der Landtagsabgeordneten einge-stellt? KUHNERT: Der wichtigste Grund füruns war ein berechtigtes ostdeutschesSelbstbewusstsein: entweder alle Parla-mentarier zwischen München undKiel, Düsseldorf und Potsdam. Oderkeiner. Wir wollten keine Abgeord-neten zweiter Klasse sein. Dazu steheich auch heute noch. Und erst recht,nachdem deutlich geworden ist, wieviele in Westdeutschland freiwillig derStasi zugearbeitet haben. Das war nichtnur Dieter Dehm, der jetzt für dieLinke im Bundestag sitzt. Der Fehlerwar sicher, dass wir das nicht mit denanderen ostdeutschen Parlamentariernabgesprochen haben.

Der Rechtsstaat gilt für alle

Nun ist aber auch die Justiz in den Fokusgekommen. Ist es nicht nötig, Richter undStaatsanwälte nochmal zu überprüfen? KUHNERT: Zunächst einmal hat die freigewählte Volkskammer 1990 mit gro-ßer Mehrheit ein Richtergesetz be-schlossen. Das Gesetz sieht ein ordent-liches Verfahren vor, nachdem jedereinzelne Richter durch von der Volks-kammer eingesetzte Richterwahlaus-schüsse überprüft werden sollte. Über-

nahme nach Überprüfung und Wahldurch ein demokratisch legitimiertesGremium mit Zwei-Drittel-Mehrheit –das war das Prinzip und das finde ichnoch heute in Ordnung.

Aber hat das Brandenburg nicht zu laschangewendet? KUHNERT: Nein. Brandenburg war imVergleich zu anderen neuen Länderneher vorbildlich! Nur hier gab es einenklaren Kriterienkatalog für die Befra-gung, Beurteilung und Entscheidungs-findung im Wahlausschuss. Die Richtermussten einen detaillierten Fragebogenmit 28 Fragen beantworten, während esin Thüringen acht und in Sachsen sie-ben Fragen waren. Nur in Brandenburgwurde nach SED-, PDS-Mitgliedschaftund -Austritt gefragt, nach Bemühun-gen, die Diktatur zu liberalisieren, undnach dem Engagement während desHerbstes 1989. Und dann wurde mitZwei-Drittel-Mehrheit in den Richter-wahlausschüssen entschieden, in denenzum Beispiel drei Richter und fünfAbgeordnete saßen – übrigens natürlichviele von CDU, FDP und Bündnis 90,die heute so gerne die Saubermännerspielen. Daran sieht man: Wir brau-chen eine sachliche Debatte. MitSchaum vorm Mund läuft gar nichts…

Ist die Stasi nicht eher das kleinere Pro-blem bei Richtern und Staatsanwälten? KUHNERT: So ist es. Wir haben unterden 846 Richtern noch 13 Stasi-belas-

53perspektive21

andreas kuhnert – mit schaum vor dem mund geht es nicht

Page 54: perspektive21 - Heft 49

tete, von denen neun lediglich ihrenWehrdienst beim Wachregiment FeliksDzierzynski abgeleistet haben. Dasgrößere Problem sind diejenigen, dieLeute verurteilt haben wegen Repu-blikflucht, wegen politischer Witzeoder Marschieren mit einem Plakat,das nicht erlaubt war. Und da hattendie Richterwahlausschüsse zu entschei-den, wer weniger belastet war undwem man den Neuanfang zutraute.

Nun ist das politische Klima in den ver-gangenen zwei Jahren deutlich rauergeworden. Ist in so einem Klima Ver-söhnung überhaupt möglich? KUHNERT: Wir haben bisweilen einJagd-Klima und das ist für Aufarbei-tung von Geschichte wenig hilfreich.Versöhnung setzt zweifellos Reue undSchuldbekenntnis des „Täters“ voraus,der mit der Diktatur kollaboriert hat.Es setzt aber auch voraus, dass mandem „Täter“ gegenüber bereit ist, ihnanzuhören, Entschuldigungen anzu-nehmen und ihm die Reumütigkeitauch zu glauben. Es ist schade, dassdas Klima dies derzeit kaum zulässt.Denn so war das nach der Wendeeigentlich angedacht als wir vom„Freudenfeuer mit den Stasi-Akten“zum Prinzip „Übernahme nach Über-prüfung“ übergegangen sind: aufein-

ander zugehen und einander besserverstehen können.

Waren wir schon mal weiter? KUHNERT: Ja. In den Gemeindevertre-tungen waren und sind ja viele Leute,die schon in einer Blockpartei Mitgliedwaren. Mit denen haben wir uns aus-gesprochen. Die CDU-Leute bei mirvor Ort verstehen nicht, was die CDUauf Landesebene mit der Hau-drauf-Aufarbeitung erreichen will.

Ist denn in den anderen neuen Bundes-ländern anders aufgearbeitet worden? KUHNERT: Soweit ich erkennen kannnicht. Es gab selbstverständlich Un-terschiede, aber eher gradueller Natur.In Sachsen regieren doch die Block-partei CDU und Bauernpartei vonAnfang an. Die haben jetzt einenMinisterpräsidenten, der war Stellver-tretender Vorsitzender des Rates desKreises. Matthias Platzeck als Minister-präsident unseres Landes war immer-hin Bürgerrechtler! Ich billige HerrnTillich einen Lernprozess zu, und ermacht seine Arbeit für Sachsen sichergut. Es gibt keinen Grund für die ehe-maligen Blockparteien anderen diesenLernprozess nicht zuzugestehen! Siehaben keinen Grund, mit Fingern aufandere zu zeigen. �

54 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

A N D R E A S K U H N E R T

war Jugendpfarrer in der DDR und sitzt seit 1990 für die SPD im Brandenburger Landtag.

Page 55: perspektive21 - Heft 49

M it diesem Text möchten wir einigeeigene Erfahrungen aus den ver-

gangenen 20 Jahren reflektieren, diehelfen können zu verstehen, warummanche bisherigen Debatten in derEnquete-Kommission des Landtageszur Geschichtsaufarbeitung von vielenBrandenburgern nur mit Kopfschüttelnoder mit völligem Desinteresse wahrge-nommen werden. Wir sind ein Ost-West-Paar, die eine in der Lausitz gebo-ren und groß geworden, der andere inWestdeutschland aufgewachsen und imSommer 1990 zunächst nach Thürin-gen und im Herbst 1991 nach Branden-burg gegangen. Wir haben beide also als„teilnehmende Beobachter“ die Nach-wendezeit und die unmittelbaren Re-aktionen der Menschen auf die Ver-änderungen der ökonomischen undgesellschaftlichen Transformationenmiterlebt. Auch durch diese Erfahrun-gen ist das wiedererstandene LandBrandenburg unsere Heimat geworden.Unser Eindruck ist, dass in der gegen-wärtigen Debatte um die Enquete-Kommission einigen Diskutanten,„Experten“ und Wissenschaftlern diese

Erfahrungen fehlen. Oder sie dieseErfahrungen – ob bewusst oder unbe-wusst – ausblenden.

ERFAHRUNG NR. 1: Die Wendezeit warfür viele Ostdeutsche ein Wechselbad derGefühle. Die friedliche Revolution imHerbst 1989 löste für viele Ostdeut-sche in den Folgemonaten, wenn nichtsogar Jahren ein ständiges Wechselbadder Gefühle aus. Freude, ja sogar Eu-phorie, aber auch neue Ängste undVerunsicherungen lösten sich pausen-los ab. Aufstiegshoffnungen, aber auchAbstiegsängste lagen dicht beieinander.Der Begriff der Freiheit hatte in dereinen Minute etwas Hoffnungsvolles,konnte in der nächsten aber auch etwasBeängstigendes auslösen. Neben demGefühl, erstmals in seinem Leben ohneAngst seine eigene Meinung sagen zukönnen, stand innerhalb kürzester Zeitdie Erfahrung, dass der Arbeitsplatz,der soziale Sicherheit gewährleistet, inGefahr war. Der Hoffnung, erstmalsseine eigenen Fähigkeiten richtig ein-bringen zu können, stand innerhalbkürzester Zeit die Erfahrung gegenü-

55perspektive21

Nicht das gelebte Leben ausgrenzenSECHS ERFAHRUNGEN AUS 20 JAHREN BRANDENBURG

VON MARTINA GREGOR-NESS UND KLAUS NESS

Page 56: perspektive21 - Heft 49

ber, dass sicher geglaubtes Wissenunter veränderten Bedingungen nichtsmehr wert ist. Dem Versprechen auf„blühende Landschaften“ stand dieErfahrung der Abwicklung des eigenenBetriebes gegenüber. In den Nachwen-dejahren waren Hunderttausende Ost-deutsche im ABM damit beschäftigt,ihre eigenen – teilweise Jahrzehnte langvertrauten – Arbeitsstätten im wahrstenSinnes des Wortes dem Erdbodengleichzumachen, ohne dabei eine eigeneneue berufliche Perspektive in ihrerHeimat erkennen zu können.

Fast alle in neuen Berufen

Millionen erwachsene Ostdeutschemussten erleben, dass ihre alten beruf-lichen Qualifikationen unter markt-wirtschaftlichen Bedingungen keinensicheren Arbeitsplatz mehr garantiertenund sie – teilweise mehrjährig – einenneuen Beruf erlernen mussten. Um dieDimension der – in den seltensten Fäl-len freiwilligen – Anpassungsnotwen-digkeiten zu verstehen, muss zurKenntnis genommen werden, dassheute etwa 80 Prozent der Ostdeut-schen einem anderen Beruf nachgehenals zu DDR-Zeiten. Die Transforma-tion ist von vielen Ostdeutschen dabeials ein sehr ambivalenter Prozess der –teilweise als zwangsweise empfunden –Individualisierung wahrgenommenworden. Der neuen Freiheit, ohnestaatliche Gängelung seinen eigenen

Weg finden zu können, stand das Ge-fühl gegenüber, jetzt in vielen Fragenauf sich selbst zurückgeworfen zu sein.

Die Zwischenzeit

Dem Aufbruch des Wendeherbstes, derviele Menschen zum gesellschaftlichenEngagement führte, folgte im Augen-blick der Gefährdung des eigenen so-zialen Status deshalb vielfach der Rück-zug ins Private, die Konzentration aufdie eigenen Belange und des engstenprivaten Umfeldes. In dieser Phasenahm bei vielen Ostdeutschen auchdas Interesse an gesellschaftlichen undpolitischen Debatten ab. Ablesen lässtsich das etwa an den dramatisch sin-kenden Auflagen der Tageszeitungen,dem im Vergleich zu Westdeutschlandgrößeren Erfolg der – fast völlig poli-tikfreien – Privatfernsehsender, denstagnierenden bzw. rückläufigen Mit-gliederzahlen der politischen Parteienund auch der sinkenden Beteiligung an Wahlen.

ERFAHRUNG NR. 2: Nicht mehr DDR,noch nicht BRD: Warum die LänderHeimat wurden. Der 3. Oktober ist derFeiertag, mit dem wir heute den for-malen Vollzug der Deutschen Einheitbegehen. Dieser Tag löst bis heute beiden meisten Deutschen nicht die Emo-tionalität aus wie der 9. November, derTag der Maueröffnung. Im Kern istdas nachvollziehbar, denn er war Tag

56 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 57: perspektive21 - Heft 49

eines letztlich fast nur noch bürokrati-schen Vorganges: Des Endes der DDR,der Wiedergründung der neuen Bun-desländer und ihres Beitritts zumGeltungsgebiet des Grundgesetzes derBundesrepublik Deutschland. VieleOstdeutsche haben die Nachwende-jahre als eine „Zwischenzeit“ empfun-den. Die DDR existierte nicht mehr,in der Bundesrepublik fühlten sichviele aber noch nicht angekommen.Und das hatte bei weitem nicht nuremotionale und kulturelle Gründe,sondern durchaus auch materielle.Einige von ihnen sind teilweise biszum heutigen Tage nicht vollständigausgeräumt: Angefangen von Renten-recht bis zum Lohnniveau in vielenBerufsgruppen.

Menschen brauchen Heimat

Menschen sind aber emotional auf„Heimat“ angewiesen. In der „Zwi-schenzeit“ haben deshalb die Bundes-länder diese Repräsentationslücke aus-gefüllt. In Sachsen und Thüringen, dieauch zu DDR-Zeiten ihre landsmann-schaftliche Besonderheit gepflegt hat-ten, war das nicht überraschend. InBrandenburg, dessen Traditionen undHistorie als verschüttet galten, war esaber fast ein kleines Wunder, dass sichhier sehr schnell ein gleich starker Re-gionalpatriotismus herausbildete. Er-klären lässt sich das nur durch einBedürfnis nach Halt in einer unruhi-

gen Zeit. Die Politiker in Sachsen,Thüringen, aber auch in Brandenburgwaren gut beraten, dieses Bedürfnis auf-zugreifen und zu pflegen. Es hat denMenschen geholfen, besser durch dieschwierigen Jahre der Transformationzu kommen. In Brandenburg ist das dasgroße Verdienst von Manfred Stolpe.

ERFAHRUNG NR. 3: Die Wiedervereini-gung war nicht der ständige Wunschtraumaller Ostdeutschen. Die einzigen freienVolkskammerwahlen am 18. März 1990haben ein Ergebnis gebracht, das denWunsch einer schnellen Vereinigungder Mehrheit der Bürger der DDR mitder Bundesrepublik dokumentierte.Dieses Ergebnis darf aber nicht dazuverführen, zu glauben, dass die über-große Mehrheit der Ostdeutschen, diein der DDR gelebt haben und großgeworden sind, zu jedem Zeitpunktimmer nur die Vereinigung mit derBundesrepublik angestrebt haben.

Es gab einen relevanten Teil derBevölkerung, die sich zur DDR loyalverhalten haben, sich aber in denWendemonaten von der DDR ab-wandten und auf die neuen gesell-schaftlichen Verhältnisse einlassenwollten. Dieser Teil der Bevölkerung,der zum Teil SED-und Blockpartei-Mitglieder umfasste, aber auch partei-lose Menschen, die sich nun in denBürgerbewegungen engagierten, woll-ten zunächst eine – wie auch immer –reformierte DDR, strebten zunächst

57perspektive21

martina gregor-ness und klaus ness – nicht das gelebte leben ausgrenzen

Page 58: perspektive21 - Heft 49

aber keine Vereinigung mit der Bun-desrepublik an. Erst als zum Jahres-wechsel 1989/1990 immer deutlicherwurde, dass eine eigenständige DDRökonomisch keine Perspektive hatte,orientierte auch dieser Teil der DDR-Bevölkerung aus rationalen Überlegun-gen auf eine schnelle Vereinigung.Viele von diesen Menschen standenaber der gesellschaftlichen Realität derBundesrepublik (Massenarbeitslosigkeit,Umgang mit der Nazivergangenheit,Reichtumsverteilung etc.) nach wie vorkritisch gegenüber. Wer dieses ausblen-det, kann bei der folgenden viertenErfahrung nicht erfolgreich sein.

ERFAHRUNG NR. 4: Die Stärke einerDemokratie misst sich an ihrer Integra-tionsfähigkeit. Nach der friedlichenRevolution wollte die Mehrheit derOstdeutschen die Vereinigung derDDR mit der Bundesrepublik. Einrelevanter Anteil der ostdeutschenBevölkerung stand diesem Vereini-gungsprozess aber mit einer gewissenReserviertheit gegenüber. Viele Men-schen hatten Angst, dass ihre Erfah-rungen und Lebensleistungen missach-tet werden, dass sie „Kohlonialisiert“werden sollten. Die Aufgabe der Ver-einigung wird heute viel zu oft auf ihreökonomischen Notwendigkeiten redu-ziert. Es ging nach 1990 aber auch da-rum, Menschen für Rechtsstaat undDemokratie zu begeistern und sie dabeimit ihren Erfahrungen mitzunehmen.

Die Überlegenheit einer Demokratiegegenüber einer Diktatur zeigt sicheben darin, dass sie auch Menschen,die ihr zunächst kritisch gegenüberste-hen, die Hand reicht und ein Angebotzur Integration macht. Vor dieser Auf-gabe standen die Alliierten beim Auf-bau der westdeutschen Demokratienach 1945, vor dieser Aufgabe standendie westdeutschen Demokraten auchnach der 68er Revolte der Studenten.Und vor dieser Aufgabe stand auch dasvereinigte Deutschland nach 1990.Eine wichtige Erfahrung des Unter-gangs der Weimarer Republik lautet,dass sie nicht an zu vielen Nazis, son-dern an zu wenigen Demokraten ge-scheitert ist. Diesen Fehler darf einedeutsche Demokratie nie wieder ma-chen. Deshalb ist sie gut beraten, einePolitik der Integration zu betreiben.Von dieser Maxime hat sich die Bran-denburger Landespolitik nach 1990leiten lassen. Wer guten Willens war,beim Aufbau der Demokratie mitzu-wirken, der sollte seine Chance erhal-ten. Die Alternative zu dieser Politikhätte Ausgrenzung bedeutet. EineDemokratie aber, die Menschen aus-grenzt, schafft sich dauerhaft ihre eige-nen Feinde und destabilisiert sichdamit selbst.

ERFAHRUNG NR. 5: Die Dominanz derwestdeutschen Interpretationshoheit löstAbwehrreflexe aus. Mit der Vereinigungist eine Minderheit, die 40 Jahre lang

58 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 59: perspektive21 - Heft 49

in einem anderen Staat lebte, einerselbstbewussten westdeutschen Mehr-heitsgesellschaft beigetreten. Die Mehr-heitsgesellschaft hat ihre eingeübtenpolitischen, kulturellen, medialenMuster nach 1990 beibehalten unddurchgesetzt. Diese westdeutscheInterpretationshoheit stößt in der ost-deutschen Gesellschaft an der einenoder anderen Stelle noch auf leichtenWiderspruch. Ein Beispiel ist die histo-rische Chiffre „68“. Ein Westdeutscherdenkt sofort an Rudi Dutschke, einOstdeutscher eher an den Einmarschsowjetischer Truppen in Prag.

Richtiges Leben …

Auf hinhaltenden Widerstand stößt diewestdeutsche Interpretationshoheitaber, wenn sie sich auch anmaßt, dasgelebte Leben in der DDR zu interpre-tieren. Im Herbst 1989 beendeten dieMenschen in der DDR aktiv die Exis-tenz ihres Staates und des diktatori-schen Systems. Sie beendeten abernicht ihr gelebtes Leben. Sie warfenauch nicht ihre individuellen Wert-haltungen komplett über Bord. Wa-rum denn auch? Menschen, die in derDDR gelebt haben, haben nicht 40Jahre lang ein falsches Leben gelebt.Sie haben nur unter anderen Bedin-gungen gelebt. Sie haben Erfahrungengesammelt, die auch am 3. Oktober1990 nicht vollständig auf den Müll-haufen der Geschichte gehörten. Viel

zu viele Westdeutsche haben nach derVereinigung eine Dankbarkeit der Ost-deutschen ihnen gegenüber erwartet,jetzt endlich das richtige Leben imrichtigen System leben zu dürfen. Siehaben erwartet, dass die Ostdeutschenwerden wie sie selbst und ihre Interpre-tationen teilen. Das ist wahrscheinlichder Grundfehler in der bisherigen De-batte, der eine simple Grunderkenntnisnegiert: Wer sich vereinigt, der bleibtnicht alleine. Wir Deutschen müssenlernen, dass wir jetzt gemeinsam ineinem Land leben, in dem beide Seitenihre Erfahrungen gleichberechtigt ein-bringen können. Die Ostdeutschenhaben 1989 nicht verloren, die West-deutschen nicht gewonnen.

… im falschen System

Dass viele Ost- und Westdeutschebeim Thema Vergangenheit aneinan-der vorbeireden, hat auch damit zutun, dass sehr viele Westdeutsche sichzu wenig für alle Facetten des gelebtenLebens in der DDR interessieren. Undes hat damit zu tun, dass versuchtwird, ein von vielen Ostdeutschen alseinseitig empfundenes Deutungsmono-pol des Lebens in der DDR durchzu-setzen. In Brandenburg haben wir dasin der ersten Hälfte der neunzigerJahre im Zusammenhang mit der Dis-kussion um Manfred Stolpe erlebenmüssen. Mit einer breiten Kampagnewurde damals versucht, einen beliebten

59perspektive21

martina gregor-ness und klaus ness – nicht das gelebte leben ausgrenzen

Page 60: perspektive21 - Heft 49

Ministerpräsidenten wegen seiner Rollein der DDR aus dem Amt zu drängen.Die Brandenburger spürten, dass dieseSichtweise nichts mit ihren Erfahrun-gen mit und ihrem Bild von diesemMenschen zu tun hatte. Deshalb schei-terte diese Kampagne am Eigensinnder Brandenburger. Die Diskussion,die heute einige Akteure im Umfeldder Enquetekommission – teilweise dieGleichen wie in der ersten Hälfte derneunziger Jahre – inszenieren, löst beivielen Brandenburgern ein deja vu-Erlebnis aus. Und erntet verständnislo-ses Kopfschütteln. Und erzeugt Ab-wehrreflexe, sich überhaupt noch mitdem Thema Vergangenheitsbewälti-gung auseinanderzusetzen.

ERFAHRUNG NR. 6: Eine ehrlich undernsthaft gemeinte Vergangenheitsdebatte,die die Köpfe und Herzen der Menschenerreichen will, darf nicht ihr gelebtesLeben ausgrenzen. Manche holzschnitt-artigen Diskussionen in der Branden-burger Enquete-Kommission, die zumSchluss immer wieder die Auseinan-dersetzung um die DDR nur auf denFocus Stasi orientieren, werden dabeiden Erfahrungen vieler Menschennicht gerecht. Das gelebte Leben in derDDR und in der Nachwendezeit unddie dabei gemachten Erfahrungen sindvielfältig. Es gibt bei vielen Branden-burgern die Überzeugung, in der DDRtrotz aller Widrigkeiten der Diktaturein anständiges Leben geführt zu ha-

ben. Die friedliche Revolution desHerbstes 1989 hat diese große Mehr-heit der Brandenburger als Selbst-befreiung erlebt, trotzdem wollen sieihr individuell gelebtes Leben in derDDR heute nicht als Mitläufertum dis-kreditiert sehen. Die Überheblichkeit,die einige „Experten“ bei der Beurtei-lung von Lebensläufen unter Bedin-gungen der Diktatur an den Tag legen,grenzt die große Mehrheit der Men-schen aus, die unter jeglichen gesell-schaftlichen Bedingungen in ersterLinie das Ziel verfolgen, ihr kleines pri-vates Glück zu finden. Das ist nichtnur überheblich, sondern wird alsArroganz wahrgenommen. Eine Ver-gangenheitsdebatte, die aber von derMehrheit der Menschen als losgelöstvon ihren Lebenserfahrungen wahrge-nommen wird, muss scheitern.

Das Ansehen leidet

Erst recht wird sie scheitern, wenn sieso offensichtlich – wie derzeit – in dertagespolitischen Auseinandersetzunggegen eine mit großer Mehrheit ge-wählte Landesregierung instrumenta-lisiert wird. Die Diskussion um dieBrandenburger Enquete-Kommissionzur Aufarbeitung der ersten Jahre unse-res Bundeslandes ist auch eine Ausein-andersetzung um die politische undkulturelle Hegemonie in Brandenburg.Mit Bildung der rot-roten großenKoalition nach der Landtagswahl 2009

60 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 61: perspektive21 - Heft 49

haben sich große Teile der Opposi-tionsparteien auf den Weg gemacht,die im Land Brandenburg strukturelleMehrheit für SPD und Linke anzugrei-fen. Als Kampfthema haben sie sich fürdie De-Legitimierung der unter derÜberschrift „Brandenburger Weg“erfolgreichen Aufbauarbeit der Bran-denburger SPD entschieden. Grund-überlegung dieser Strategie ist es offen-sichtlich, dass SPD und Linke erst vonder Regierung verdrängt werden kön-nen, wenn ihre kulturelle und gesell-schaftliche Basis im Lande destabilisiertwird. Dazu muss auch das Ansehenwichtiger Repräsentanten der Branden-burger Landespolitik der Nachwende-jahre – etwa Manfred Stolpe undRegine Hildebrandt – systematisch her-abgewürdigt und die Arbeit der letzten

20 Jahre jenseits aller Erfolge einseitigauf das Thema Stasi verengt werden.

Bei dieser Vorgehensweise wirdzumindest billigend in Kauf genom-men, dass das Ansehen des LandesBrandenburg jenseits seiner Landes-grenzen dauerhaft beschädigt wird. InBrandenburg wird dieser Versuch dernachträglichen Geschichtsumschrei-bung aber scheitern, weil er an denLebenserfahrungen und -realitäten derMenschen vorbeigeht. In den vergan-genen 20 Jahren in Brandenburg ha-ben wir eins gelernt: Brandenburgersind hochsensibel, wenn sie das Gefühlhaben, dass ihnen eine Meinung vonoben quasi übergeholfen werden soll.Oder anders ausgedrückt: Belehrungkommt gegen den BrandenburgerEigensinn nicht an! �

61perspektive21

martina gregor-ness und klaus ness – nicht das gelebte leben ausgrenzen

M A R T I N A G R E G O R-N E S S

ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion im Brandenburger Landtag.

K L A U S N E S S

ist Generalsekretär der Brandenburger SPD.

Page 62: perspektive21 - Heft 49

62 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 63: perspektive21 - Heft 49

Am 1. August 1975 war die Schluss-akte der Konferenz für Sicherheit

und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)unterzeichnet worden. Sie hatte dieGrenzen bestätigt, die in Europa infolgedes Zweiten Weltkriegs gezogen wor-den waren. Im Gegenzug hatten die ost-europäischen Staaten in aller Form dieMenschenrechte und Grundfreiheiten,einschließlich der Gedanken-, Gewis-sens-, Religions- und Überzeugungsfrei-heit anerkannt. Genau ein Jahr später,im August 1976, am Tag nach derSelbstverbrennung von Oskar Brü-sewitz, haben Manfred Stolpe und ichuns persönlich kennengelernt.

Das waren dramatische Tage in derNähe von Genf. Auf der einen Seitewar Stolpe ganz konzentriert auf denRat, den er aus der Ferne den kirchlichVerantwortlichen dazu gab, wie dieKirche auf die Selbsttötung des evange-lischen Pfarrers Brüsewitz reagierensoll. Keine Mahlzeit vergeht ohne dieDurchsage: „Ein Telefonat für HerrnStolpe.“ Welche Folgen diese „Repu-blikflucht in den Tod“ (Wolf Bier-mann) haben würde, können wir indiesen Tagen allenfalls ahnen. Doch

die Notwendigkeit, dass die Kirchen anjedem Ort für die Menschenrechte ein-treten, wird uns auch durch diesesGeschehen ins Gewissen gebrannt. Aufder anderen Seite nahm ManfredStolpe mit ungeteilter Aufmerksamkeitan den Überlegungen Anteil, wie derGedanke der Menschenrechte, der indie Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa Eingang gefunden hatte, imOsten Deutschlands und Europas ge-nauso verbreitet werden könne wie imWesten. Das eine war ihm so wichtigwie das andere.

Ein Leben vor der Politik

Das war 1976. Die verlässliche Ver-bundenheit über 35 Jahre bewegt michnoch heute; und ich bin froh darüber,dafür öffentlich Dank sagen zu kön-nen. Und deshalb möchte ich etwas zuManfred Stolpes Wirken in der evan-gelischen Kirche und für diese Kirchesagen. Es gibt ein Leben von ManfredStolpe vor der Politik und über sie hin-aus. Freilich trägt auch dieses Lebeneinen durchaus politischen Charakter.

63perspektive21

Ruhig und bestimmtWIE MANFRED STOLPE HALF, DIE EIGENSTÄNDIGKEIT DER DDR-KIRCHE ZU

SICHERN UND SO EINEN BETRAG ZUM STURZ DES SED-REGIMES LEISTETE

VON WOLFGANG HUBER

Page 64: perspektive21 - Heft 49

Drei Jahrzehnte, nämlich von 1959bis 1989, stand er im unmittelbarenDienst der Evangelischen Kirche. Vorzehn Jahren habe ich es für einiger-maßen kühn erklärt, sich vorzustellen,dass er als Ministerpräsident eine ver-gleichbar lange Amtszeit erreichenwerde. Dass er schon 2002 das Amtdes Ministerpräsidenten an MatthiasPlatzeck weitergeben würde, habe ichdamals natürlich nicht geahnt – undauch nicht, dass er noch im selben Jahr Bundesminister im Kabinett vonGerhard Schröder würde.

Heute stellen wir mit großer Dank-barkeit fest: Manfred Stolpe ist auchdanach eine wichtige öffentliche Per-son in unserem Land geblieben, einverlässlicher Ratgeber und Brücken-bauer, ein Anreger und Mahner. Er hatauch in den anderthalb Jahrzehnten,die ganz durch politische Ämter be-stimmt waren, die Verbindung zukirchlichen Aufgaben aufrechterhalten.Und ich freue mich darüber, dass ergegenwärtig solche Aufgaben mit ver-stärkter Intensität wahrnehmen kann.Für zwei derartige Zusammenhängekann ich in persönlicher Verantwor-tung sprechen: Für das Domkapitel desDomstifts Brandenburg gratuliere ichheute dem aktiven und hilfreichenDomherrn. Und für das Kuratoriumder Stiftung Garnisonkirche Potsdamsage ich dem Kurator von HerzenDank und füge hinzu: Wir brauchenSie auch weiterhin; die Wiedererrich-

tung der Garnisonkirche hier in Pots-dam wird nicht nur eine Lücke imStadtbild schließen, sondern sie wirdein Stück DDR-Unrecht wiedergut-machen. Sie wird nicht nur zum kri-tischen Umgang mit der Geschichteanleiten; sie kann auch Glaubensmutund Dialogbereitschaft fördern.

Nicht der einfache Weg

1959, also mit 23 Jahren, hat ManfredStolpe seine Tätigkeit für die Evange-lische Kirche Berlin-Brandenburg be-gonnen. In dieser Zeit hatte die SEDdie ersten Angriffe auf die evangelischeKirche und ihre Eigenständigkeit schonunternommen. Der Religionsunterrichtwar aus den Schulen verbannt worden,Engagierte aus den Jungen Gemeindenhatten schon Erfahrungen im Gefäng-nis hinter sich. Wer sich als Jugend-licher zur Kirche hielt, musste schondamals mit erheblichen Nachteilen inSchule, Ausbildung und Beruf rechnen.Die Protagonisten der SED warendavon überzeugt, dass der christlicheGlaube unter kommunistischer Herr-schaft innerhalb einer Generation ver-schwinden werde; und sie taten dasIhre dazu, dass es so kommen sollte.

Wer in einer solchen Situation alsJurist in den kirchlichen Dienst ging,wählte nicht den einfachen Weg. Werihn trotzdem ging, dem lag daran, derKirche trotz allen Gegenwinds eineneigenständigen Ort zu erhalten. Dass

64 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 65: perspektive21 - Heft 49

dies gelungen ist, betrachte ich als denwichtigsten Erfolg derer, die in derDDR-Zeit kirchliche Verantwortungtrugen, allen voran Manfred Stolpe.Nur weil die Kirchen in der Zeit derDDR ein beachtliches Maß an Eigen-ständigkeit bewahrten und unter ihremDach kritischen Gruppen Raum ga-ben, konnten sie ihren Beitrag zumEnde der SED-Herrschaft und zurEinheit in Freiheit leisten.

Zu dieser Rolle gerade der evangeli-schen Kirche hat Manfred Stolpe maß-geblich beigetragen. Dazu halfen ihmEigenschaften, die 1961, in der erstendienstlichen Beurteilung des damalsFünfundzwanzigjährigen folgenderma-ßen eingeschätzt wurden: „Nach unserenBeobachtungen fühlt sich Herr Stolpeseiner Evangelischen Kirche innerlichverbunden. Mit seinem bescheidenen,stets taktvollen Auftreten verbindet sicheine ständige Arbeitsbereitschaft, die ihnauch größere, umfangreiche Arbeitsauf-gaben pünktlich und zuverlässig erle-digen hilft.“ Besonders hervorgehobenwurde aber seine Fähigkeit, „auchschwierige Verhandlungen in ruhiger,bestimmter Weise zu führen.“

Gesamtsituation im Blick

Schon seit 1963 war er für die „Ostkir-chenkonferenz“ verantwortlich, diesich nach dem Bau der Mauer bildenmusste. Aus ihr entstand der Bund derevangelischen Kirchen in der DDR,

dessen Sekretariat er von 1969 an drei-zehn Jahre lang leitete. Von hier ausbereitete er das legendäre Gesprächzwischen Staat und Kirche vor, das am6. März 1978 stattfand. Mit diesem Ge-spräch anerkannte der SED-Staat, dassaus dem Absterben der Religion in einerGeneration nichts geworden war – wiestark auch immer die Kirchenmitglied-schaft zurück gegangen und der christli-che Glaube aus der Öffentlichkeit ver-drängt worden war. Manfred Stolpebehielt die Gesamtsituation der evan-gelischen Kirchen in der DDR auch in den folgenden Jahren im Blick, indenen er seit 1982 die Kirchenverwal-tung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg als Konsistorialpräsidentleitete.

Ein Mann der Kirche

In all diesen Phasen hat man sich aufseine schon 1961 anerkannte Fähigkeitverlassen, „schwierige Verhandlungenin ruhiger, bestimmter Art zu führen“.Wenn es heikel wurde, hieß es nun:„Das lassen wir Bruder Stolpe machen“.Ob es um Ausreisewillige ging, die sichan die Kirche wandten, oder um An-gehörige kritischer Gruppen, die aufstaatliche Repression stießen – sehr oftwar es Stolpes Aufgabe, die Kohlen ausdem Feuer zu holen. Dabei muss manbedenken: Gerade er hatte sich dafüreingesetzt, dass Bürger der DDR dieSchlussakte von Helsinki von 1975

65perspektive21

wolfgang huber – ruhig und bestimmt

Page 66: perspektive21 - Heft 49

kennen und etwas über Reise- undMeinungsfreiheit als Menschenrechtewissen konnten. Aber er sah es zugleichals seine Aufgabe an, Menschen vorpersönlichen Risiken zu bewahren undsie aus gefährlichen Sackgassen zu be-freien. Man brauchte damals Bürger-rechtler, für deren Mut wir auch heutegar nicht dankbar genug sein können.Aber man brauchte auch einen, der dieLeute wieder aus dem Knast holte.Und auch Manfred Stolpe kann mannicht dankbar genug sein. Der einewar nämlich genauso notwendig wiedie anderen.

Wie Manfred Stolpe das tat, wolltenmanche der damals Verantwortlichennicht allzu genau wissen. Rückfragenhätten sie nicht gestellt, bekennen man-che von ihnen bis zum heutigen Tagfreimütig. Manfred Stolpe blieb – wiespäter auch – mit seiner Verantwortungso manches Mal allein. Genau deshalbzolle ich ihm meinen uneingeschränktenRespekt und sage ohne Wenn und Aber:Was er tat, das tat er als Mann der Kir-che. Ich danke ihm für einen kirchlichenDienst, der, wie wir heute deutlich se-hen, zugleich ein Dienst an unseremLand im Ganzen war und bleibt. �

66 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

P R O F. D R. W O L F G A N G H U B E R

war Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sowie Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Page 67: perspektive21 - Heft 49

1992 war ich beim ORB zu einerFernsehdiskussion mit Gerhard

Löwenthal und Marlies Menge überKarl-Eduard von Schnitzler eingeladen.Ich meinte damals, dass Schnitzler keinGegner sei, der es lohnt, und fuhr fort:„Einer meiner großen Lehrer, KarlBarth, ein Sozialdemokrat und Theolo-ge hat gesagt: Gott, gib mir gute Feinde.Das ist kein guter Feind. Das ist einganz gefährlicher Demagoge für einekleine Minderheit, die uns beherrschthat. Diese Minderheit hat ihm auch ge-glaubt mit seinen furchtbaren Verein-fachungen, die er rhetorisch geschicktpräsentiert hat. In meinen Augen ist ereine pervertierte Persönlichkeit, wirk-lich eine verdrehte Persönlichkeit, dieihre eigenen Lügen auch noch heuteglaubt. Man könnte also sagen: Der hatdas geglaubt, er glaubt das immer noch.Ich sehe bei ihm ein Gemisch aus Über-zeugung, Verblendung und Zynismus.Ich möchte Ihnen folgende absurdeVorstellung vortragen: Ich halte es fürdenkbar, dass Karl Eduard von Schnitz-ler einer der Topagenten der CIA-Zeitwar, eingeschleust im Kalten Krieg zurpublizistischen Zerrüttung des sozialis-

tischen Systems, zur intellektuellen undmoralischen Zersetzung eines Mensch-heitstraums. Er ist dabei erfolgreichergewesen als Sie, Herr Löwenthal. Er hatso abstoßend für den Sozialismus argu-mentiert, dass er einer der glänzendstenAntikommunisten ist. Mein Problem istheute, dass im Kalten Krieg Formenvon Gehässigkeiten aufkamen, wobeisich manche Medien in Ost und Westdurchaus glichen. Die Tonart, die ichbisweilen erlebt habe, (ich vergleichejetzt nicht die Position, sondern dieTonart!), auch im ZDF-Magazin erlebthabe, hatte, was die Gehässigkeit gegen-einander anlangte, durchaus etwas Ver-gleichbares. Journalismus hat aber diePflicht zu differenzieren, auch in Zeitenäußerster Konfrontation. Von solcherDifferenzierung hat Herr von Schnitzlerkeinen Deut gehabt. Ich will Sie nichtvollständig mit Schnitzler vergleichen,meine nur, dass die Gehässigkeit Teil eines furchtbaren Medienkrieges war,seinerseits ein Teil des Kalten Krieges.“

Gerhard Löwenthal antwortete, ohneirgendwie beleidigt oder empört zu sein:„Also zunächst mal, Herr Schorlemmer,ich bin ein Journalist gewesen, der alles,

67perspektive21

Frei und unbefangen?DER POLITISCHE JOURNALISMUS ALS FORTSETZUNG DES KALTEN

KRIEGES MIT ANDEREN MITTELN

VON FRIEDRICH SCHORLEMMER

Page 68: perspektive21 - Heft 49

aus Überzeugung und aus eigener Ein-sicht und geleitet von einem einzigenGrundgedanken, nämlich dem Gedan-ken der Freiheit für alle Deutschen, getanhat. Im Grunde muss ich sagen, verbitteich mir im Grunde jede Art von Ver-gleich, weil wir von zwei völlig verschie-denen Positionen dabei gewesen sind.Ich habe das vorhin schon gesagt: Erwar der bezahlte Agitator eines krimi-nellen Regimes, und ich war ein freierJournalist in einem freien Lande undhabe das gesagt, was ich wollte und wasich für richtig hielt. Der Kalte Krieg istja nun nicht von uns ausgegangen, son-dern ist uns ja von den Herren drübenaufgezwungen worden. Darum, gebeich gerne zu, habe ich kräftig mitge-mischt, gar keine Frage, weil ich denSturz dieses Systems wollte im Interesseder Menschen, auch von Ihnen. Zwei-tens: Ob der Schnitzler wirklich einÜberzeugter war… Ich meine, ich habeSie bewundert. Ich habe nicht geglaubt,dass ein Pfarrer zu einer so fabelhaftenSatire fähig ist, wie Sie sie hier mit demCIA-Agenten vorgetragen haben. Dasist schon Spitze. Nur, ob er wirklich einÜberzeugter war oder nur ein Zynikeroder was auch immer. Wissen Sie, einüberzeugter Kommunist, der in denWesten fährt, sich unentwegt auf demKurfürstendamm mit Delikatessen versorgt, einen Porsche fährt und eineWestberliner Absteige besessen hat usw.,ist das eigentlich ein überzeugter Kom-munist, in einer Zeit, in der er auf dem

Bildschirm versucht hat, dieses Bild desüberzeugten Kommunisten-Sozialistenden Menschen vorzuspielen? Ich weißes nicht. Also ich finde, wir sollten unsauch nicht mehr länger mit diesemFossil beschäftigen. Ich meine, der ist ja nun da, wo er hingehört. Er ist imMülleimer der Geschichte gelandet. Da sollten wir ihn auch wirklich lassen.Viel faszinierender ist ja die Frage nachdem Journalisten in der Diktatur. Ausder Geschichte wissen wir ja, wenn einVolk überleben will in einer Diktatur,dann passt sich die Mehrheit an. Dieübergroße Mehrheit passt sich an. Hel-den hat es immer nur sehr wenige ge-geben. Das haben wir schon alles ein-mal erlebt. Das war in dieser Diktaturauch nicht anders. Deshalb habe ichmich immer bemüht zu differenzieren.So sollte man das auch bei den Journa-listen tun.“

Kalter Krieg in neuer Auflage

Ich hätte nicht geglaubt, dass nach derwunderbaren Selbstbefreiung der KalteKrieg in neuer Auflage wieder beginnenwürde. Am hässlichsten fand ich dabeiKlaus Mertes in einer „Report Mün-chen“-Sendung gegen Manfred Stolpe.Zuvor gab es einen aufwühlenden Bei-trag über das Abschlachten von Walenin einer norwegischen Bucht als blut-triefendes Ritual und dann einen ten-denziösen, um nicht zu sagen verurtei-lenden Beitrag gegen Manfred Stolpe

68 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 69: perspektive21 - Heft 49

und ein geradezu inquisitorisches Ge-spräch mit ihm, in dem Klaus Mertesihm dringend riet, er könne viel zurAufklärung beitragen, wenn er zurück-treten würde.

Tribunal über den Osten

Im SFB-Rundfunk hatte ich kurz daraufeinen äußerst heftigen Disput mit HerrnMertes. Ich warf ihm vor, dies sei einTribunal eines Westlers über einenOstler gewesen. Er aber fand, dass maneine Sendung zu einem so schwierigenKomplex gar nicht machen könne undStolpe sei doch sehr mediengewandt undwirklich „ein Kaliber“. Ich befand – im-mer noch sehr erregt –, dass der „Amts-sessel“ für Herrn Stolpe Schwerstarbeitsei und dass es wenige gebe, die so kom-petent sind und so viel Kraft haben wieer. Und er habe zu den wenigen Leutengehört, die in den letzten zwanzig Jahrendie „Politik des Wandel durch Annähe-rung“ im innen- und außenpolitischenBesuch auf eine diplomatische Weise ge-fördert hätten. Er habe geschickt alsVermittler zwischen Basisgruppen undStaatsführung, auch zwischen bedräng-ten Menschen und den Sicherheitsorga-nen gewirkt, immer zugunsten ersterer,manchmal nur kleine Erleichterungenermöglichend. Er sei auch wichtigerGesprächspartner für westliche Poli-tiker gewesen.

Mertes entgegnete, er wolle doch nurerörtern und besser verstehen, welchen

Anpassungszwängen und Notwendig-keiten Verantwortungsträger in einertotalitären Diktatur unterliegen, ummöglicherweise Schlimmeres zu verhü-ten. Er fragte mich, ob ich denn bei denVerhandlungen mit der Stasi dabeige-wesen sei. Blöde Frage, dachte ich undverwies darauf, daß ich Stolpe 17 Jahrekenne und oft erlebt habe, wie er sich inKrisensituationen immer für hilfesu-chende Bürger eingesetzt und dabei sei-ne Kanäle genutzt hat, die keinem an-dern zugänglich gewesen waren. Dieshabe Mertes nicht bestreiten wollenund sich nicht zum Richter aufge-schwungen und die Forderung vomRücktritt vom Amt des Ministerprä-sidenten habe er doch mit der Frageversehen „was ist wichtiger: hier denAmtssessel zu verteidigen oder denwirklich notwendigen zeitgeschicht-lichen Informationsbeitrag zu leistenfür etwas, was uns Deutschen ganz not-tut?“ Er fände, das Ministerpräsiden-tenamt ist da nicht so wichtig! Ich ver-suchte zu würdigen, wie Stolpe sich invielen kleinen Schritten um eine Erwei-terung der Menschenrechte bemüht habe und so ein konsequenter Anwaltinnerer Öffnungen wurde, der nicht be-schwichtigen, aber innenpolitisch Ruhehaben wollte, damit sich überhaupt et-was bewegt – nicht beruhigen, besänf-tigen, alles runterdrücken, aber Eskala-tionen zu vermeiden trachtete.

Diese Strategie könne Stolpe nachMertes’ „Journalistenmeinung“ unbe-

69perspektive21

friedrich schorlemmer – frei und unbefangen?

Page 70: perspektive21 - Heft 49

fangener und freier ausbreiten, wenn ernicht in den Zwängen des Ministerprä-sidentenamtes säße, das ihn automa-tisch in die machtpolitische Polarisie-rung brächte. Wir bräuchten „denStolpe als Führungsfigur, als Identifi-kationsfigur und als Aufklärungsfigur so dringend, mit seiner persönlichenBiographie“. Heuchlerischer kann mangar nicht argumentieren, dachte ich, zumal wir nicht so viele Leute aus demOsten hätten, die so einen Posten aus-füllen könnten!

Ohne Aussicht auf Ende

Ich dürfe, meinte Mertes „jetzt nichteiner neuen Harmonisierung das Wortreden. Die Dinge sind tragisch, dieDinge sind schrecklich… Da mussman doch offen miteinander reden.Wir sind keine Sensibelchen, aber wirwürden doch gerne etwas fairer beur-teilt, gerade auch von den Deutschenin den neuen Ländern. Und was ichnicht für gut halte, ist, dass sich jetztein ostdeutsches Sonderbewusstseinentwickelt, in dem man sagt: ‚Da dür-fen Westdeutsche nicht drüber re-den!’“Er verstünde überhaupt nichtden politischen Zusammenhang, indem Stolpe damals handeln musste,und ich wünschte Herrn Mertes per-sönlich 40 Jahre Leben in der DDRohne die Aussicht, dass sie bald einmalzu Ende geht. Und dann könnten wirmiteinander noch mal reden.

Ich selber habe Manfred Stolpe als ei-nen hochbegabten Kirchendiplomatenerlebt, der in der Lage war, auf ganz un-terschiedlichen Parkettböden zu beste-hen. Obwohl wir öfter in der Einschät-zung der DDR und ihrer politischenMaßnahmen Differenzen hatten, so hater mich niemals bedrängt oder geschu-rigelt oder ermahnt. Er hat um Ver-ständnis geworben, zum Beispiel beiVerzicht auf meine Mitwirkung bei derSternfahrt der Ökologiegruppen nachPotsdam-Hermannswerder 1984.Manfred Stolpe wirkte als Prellbock fürbeide Seiten, damit es nicht zum Zu-sammenstoß kommt oder damit nichteine Sackgasse ins Bodenlose, ins Ab-gründige führt. Ich habe zum Beispieldie Diskussion zwischen den Basisgrup-pen bzw. der „Kirche von unten“ wäh-rend des Kirchentages 1987 in einemBerliner Gemeindehaus (zusammen mitBischof Gottfried Forck) erlebt, wo eszu erheblichen Konfrontationen kamund Stolpe gewissermaßen der „Brief-träger“ war zwischen diesen Basisgrup-pen und den nervös gewordenen Staats-und Staatssicherheitsorganen. DieVertreter der Basisgruppen spartennicht mit Kritik, und Stolpe wollte klar-machen, dass man den Bogen auchnicht überspannen dürfe, weil die Situa-tion dann unkalkulierbar werden kön-ne. Aber er ließ doch klar erkennen, aufwelcher Seite seine Sympathien sindund wessen Vertreter er ist. Immerwollte er „vermitteln“, immer konflikt-

70 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 71: perspektive21 - Heft 49

minimierend wirken, Verhärtungenaufbrechen, festgefahrene, aufeinanderfixierte Konfliktpartner miteinander insGespräch bringen, grenzüberschreiten-de Kontakte ermöglichen.

Druck im Kessel

Wer die Stasi-Akten über Stolpes Ein-lassungen angemessen bewerten will,muss den Zusammenhang berücksichti-gen, indem er den Sicherheitsleuten sag-te, dass man toleranter und zurückhal-tender sein müsse, weil sonst die jungenLeute und einige Pfarrer „nicht mehr zubändigen“ seien, und den „jungen Pfar-rern“ sagte er, sie mögen zurückhalten-der sein, weil sonst die Sicherheitsorganeunkontrollierbar reagieren könnten.Wer nicht beides sieht, sieht nichts.

Unvergesslich sind mir Konflikt-lagen, wo Stolpe bei festgefahrenen Positionen im Berichtsausschuss derBundessynode (der sich mit gesell-schaftspolitischen Fragen beschäftigte)mit seinen Vermittlungsvorschlägen soklärend einzugreifen wusste, dass beideSeiten relativ zufrieden sein konntenund somit der Friede untereinander bewahrt blieb.

Einzig den Kompromiss zwischen derKonferenz der Kirchenleitung und denStaatsorganen im Blick auf das öffentli-che Zeigen des Symbols „Schwerter zuPflugscharen“, habe ich nicht verstan-den und nicht geteilt. Es war verbotenworden, das Symbol weiter an der Jacke

zu tragen, aber es konnte gewissermaßenfür den „innerkirchlichen Dienstge-brauch“ in unseren internen Papierengedruckt und genutzt werden – imKleinformat in geschlossenen Räumen.Ich habe auch im September 1982 öffentlich in Halle dagegen gesprochen,ja auch polemisiert.1

Dass Manfred Stolpe Gespräche mitden Stasi-Offizieren Wiegand undRoßberg geführt hat, darüber bestehtkein Zweifel. Die Frage ist nur, auf wel-cher Seite er zu jener Zeit gestanden hatund ob er irgendjemand verraten hat.Ich bin da ziemlich sicher, auch nachmeinen menschlichen Erfahrungen mitihm. Und ich vergesse auch nicht, wieStolpe auf der Herbstsynode 1989 – dieso spannungsgeladen war, dass man esknistern hörte – an meinem Synoden-tisch vorbeikam, mit den Fingerkuppenein wenig auf den Tisch klopfte undmir zuraunte: „Machen Sie mal. Ichbrauche Druck im Kessel.“ Ich ver-stand. Und er hatte gerade die Grün-dungspapiere von „Demokratie jetzt“persönlich in der Synode verteilt.

Immer noch gibt es unterschiedlicheVersionen bezüglich der inhaftiertenOppositionellen im Zusammenhangmit der Rosa-Luxemburg-Demonstra-tion vom Januar 1988. Die Inhaftiertenhaben – soweit ich sehen kann – dem

71perspektive21

friedrich schorlemmer – frei und unbefangen?

1 Vergleiche dazu: Friedrich Schorlemmer, Träume und Alp-träume. Texte und Reden von 1982-1990 aus der DDR,Berlin 1990, ausschnittsweise von Peter Merseburger inPanorama am 10.10.1982 in der ARD gesendet, weshalbmich Erich Mielke von jenem Tag an „persönlich“ kannte.

Page 72: perspektive21 - Heft 49

Kompromissvorschlag zugestimmt, fürein halbes Jahr in den Westen zu gehen,mit der Versicherung, sie könnten dannwieder zurückkommen. Damit wurdeverhindert, dass es zu Prozessen und einer Verurteilung mit langjährigenHaftstrafen in Bautzen kam. Auch hierhat Stolpe mitgewirkt. Und keiner vondenen, die damals im Gefängnis saßen,soll mir weismachen, er sei gezwungenworden, in den Westen zu gehen. Siehaben diesen gewiss nicht unproblema-tischen Kompromiss „Auswandern inden Westen statt DDR-Knast“ gewählt.Es gab überall – auch in Wittenberg –Veranstaltungen und Mahnwachen, diemöglicherweise damals schon zu größe-ren Demonstrationen hätten anschwel-len können. Und wir, die wir „an derBasis“ nichts wussten, waren auch ent-täuscht, dass Bärbel Bohley und die an-dern in den Westen gegangen waren.Die DDR-Behörden hatten geglaubt,dass es den Bürgerrechtlern, die in denWesten gingen, dort so gut gefallenwürde, dass sie ohnehin nicht zurückkä-men. Manfred Stolpe aber beharrte aufdie Verabredung, dass sie nach einemhalben Jahr zurückkommen könnten.

Die DDR-Behörden wollten genaudavon aber nichts mehr wissen. UndBärbel Bohley wollte zurückkommen.Manfred Stolpe fuhr mit seinem Autonach Prag und holte sie persönlich vomFlughafen ab. Sie wurden stundenlangam Grenzübergang zwischen der CSSRund der DDR aufgehalten. Hier konnte

Stolpe mit einem Eklat drohen. Und soist Bärbel Bohley (und wenige andere)wieder in die DDR zurückgekehrt undist wieder oppositionell aktiv geworden.Das fand ich ganz großartig.

Ein Dank fehlt

Was ich jedoch nicht großartig fandund finde, ist, dass Stolpe sich in allenSituationen, in denen ihm schwereVorwürfe gemacht wurden, nicht offen-siv gewehrt hat. Warum hat er nicht ge-sagt, wie er sich für Bärbel Bohley ein-gesetzt hat? Und dies ganz persönlich.Warum wird nicht erwähnt, dass BärbelBohley nach ihrer Rückkehr in dieDDR aus der „Schusslinie“ neuer sofor-tiger Konflikte durch ein besonderesWestmedien-Interesse genommen wur-de und sie durch Vermittlung und aufKosten der Kirche ihre „Akklimatisie-rung“ in der DDR in einem kirchlichenFreizeitheim auf der Insel Hiddenseeetwas abgeschirmt gestalten konnte?Kein Wort von denen, denen Stolpespürbar geholfen hat. Kein Wort derKlärung. Kein Wort des Dankes. Ichfand und finde das einfach schäbig.

Manfred Stolpe hat mehrere Jahrelang ein öffentliches Sperrfeuer gegenseine Person erlebt, aber in der Bevöl-kerung des Ostens mehrheitlich Sym-pathie und großen Respekt geerntet.Die Untersuchungen der Kirche hattenergeben, dass für ein Disziplinarverfah-ren kein Anlass besteht.

72 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

ˇ

Page 73: perspektive21 - Heft 49

2011 ging die Hatz nun noch einmallos. Auf einer Hochzeit im Juni 2011traf ich das Ehepaar Stolpe, beide ge-zeichnet durch Krebserkrankungen.Insbesondere Frau Stolpe geht diese er-neute Verdächtigung und eine wieder-beginnende Hatz an den Lebensnerv.Da schien es mir gut, richtig und wich-tig, dass ihn aus Anlass seines 75. Ge-burtstages am 16. Mai 2011 Egon Bahrwürdigte. Bahr – ein so weitsichtigerund welterfahrener Politiker, der fürseine erfolgreichen Verhandlungen mitder UdSSR und der DDR einen Black-Channel genutzt hat, um komplizierteVerhandlungen auch im Verborgenenvoranzubringen – stellte sich öffentlichhinter ihn und mahnte innere Einheitdurch Versöhnung an. Auch HelmutSchmidt hat sich ebenso wieder undwieder hinter Manfred Stolpe gestellt.Ebenso auch der segensreich im Stillenund in großer Beharrung wirkende„Ständige Vertreter der Bundesreplik in der DDR“ Hans Otto Bräutigam.

Die Kunst des Möglichen

Ich selber bin froh, dass es in der DDR-Zeit einen Manfred Stolpe gab, der ganzim Sinne einer schrittweisen Erweite-rung der Menschenrechte, der Ent-spannung im KSZE-Prozess und derSchlussakte von Helsinki seit 1975 öffnend mitgewirkt hat und beharrlichdafür gearbeitet hat, dass die Mauerniedriger wurde, dass Wege der Men-

schen im geteilten Deutschland zuei-nander mehr und mehr möglich wur-den. Und so konnte Stolpe sich für vieleeinzelne, besonders bedrängte DDR-Bürger – auch in Abstimmung mit demAnwalt für besondere AngelegenheitenWolfgang Vogel – einsetzen. Dafür warer bereit und fähig, mit denen zu reden,die eine demokratisch nicht legitimier-te, aber tatsächliche Macht im SED-Staat innehatten. Was ist praktischePolitik denn anderes als die Kunst desMöglichen, die das im AugenblickUnmögliche nicht aus dem Blick ver-liert, also Prinzipien verpflichtet bleibt?

Die DDR existiert nicht mehr

Der Kalte Krieg ist zu Ende. Mancheführen ihn weiter, als ob sie eine Ver-lustangst (einschließlich eines Feind-verlustschmerzes) antriebe – ohne dasssie sich heutigen Herausforderungenauch nur entfernt mit vergleichbarerIntensität zuwenden würden. Rück-wärtige Aktivitäten schlagen sie ganz inihren Bann. Es gilt freilich nichts zuverschweigen, was war, wie es war, wa-rum es so war, wer was zu verantwortenhat, aber auch nicht zu dem zu schwei-gen, was heute ansteht und was in derFreiheit das offene – auch das protestie-rende – Wort braucht. Das diktatori-sche SED-System mit seinem marxis-tisch-leninistischen Überbau und seinermissionarischen Welterlösungsvorstel-lung liegt hinter uns. Manche tun je-

73perspektive21

friedrich schorlemmer – frei und unbefangen?

Page 74: perspektive21 - Heft 49

doch so, als ob es noch existierte odertäglich wiedererstehen könne.

Die 40 geteilten Jahre bedürfen weiter der politischen Erinnerung sowie der persönlichen Würdigung derer, die darunter besonders gelittenund Widerstand geleistet haben.Redliche Erinnerung und nüchterneAnalyse wird sich vor schönfärberi-schem Nostalgisieren ebenso hütenwie vor scharfrichterischem Dämo-nisieren.

Dass die Zeit Wunden heilt, ist eineGnade, die all jene ausschlagen, die dieWunden beharrlich aufkratzen. Werwollte die Narben verschweigen undwer sollte nicht froh sein über das Ver-narbte? Ich weiß sehr wohl, wie schwerdas ist. Und ich habe wieder und wiederdie Tragfähigkeit jenes Pauluswortes

bedacht: „Lass dich nicht vom Bösenüberwinden, sondern überwinde dasBöse mit Gutem“ (Römer 12, 21).

Ich habe mein Pfarramt immer so ver-standen, dass mir durch Jesus Christus„das Amt gegeben ist, das die Versöh-nung predigt“(2. Korinther 5,18), dasswir durch die Fährnisse des Lebens gelei-tet werden (vgl. 2. Korinther 6,1-10) unddass jedem Menschen ein Neuwerden zu-getraut ist. Schließlich war Paulus selbstein eifriger Christenverfolger gewesen.Stets hatten ihn seine Gegner, gerade seine Glaubensbrüder(!), auf seine Ver-gangenheit festlegen, ja festnageln wollen.Ein Versöhner hat „vor der Welt“ meistschlechte Karten, weil er immer beidenSeiten etwas zumutet: Scham und Ein-sicht auf der einen, Großmut und Ver-zeihen auf der anderen Seite. �

74 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

FRIEDRICH SCHORLEMMER

ist Theologe aus Wittenberg und war ein wichtiger Protagonist der DDR-Bürgerrechtsbewegung.

Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem 2012 im Aufbau-Verlag erscheinenden Buch

„Klar sehen und doch hoffen. Erinnerungen und Perspektiven“.

Page 75: perspektive21 - Heft 49

W er die Gutachten der Enquete-Kommission des Brandenburger

Landtages zur Aufarbeitung der Ver-gangenheit liest und die Debatten dortverfolgt, kann zu dem Schluss kommen,dass die Maßstäbe für gelungene odernicht gelungene Aufarbeitung der Ver-gangenheit zum einen der Umgang mitehemaligen Stasimitarbeitern und zumanderen die Einstellung ist, die man zuManfred Stolpes Wirken in der DDRhat. Dabei wird von den Protagonistendieser Sicht vermieden, historische Ein-ordnungen vorzunehmen.

Aufarbeitung der Vergangenheit ist seit 1990 ein großes umfassendesThema, von der Aufklärung über dieMachtverhältnisse und die Systeme der Diktatur, die Bestrafung, Sühneund Buße von Tätern, die gesellschaft-liche Versöhnung, die Rehabilitierungvon Opfern, die vollständige System-überwindung und den Aufbau einesneuen politischen Systems der Demo-kratie. Steffen Reiche hat in einer Dis-kussionsreihe im Herbst 1990 vor denBrandenburger Landtagswahlen dasThema Aufarbeitung und Versöhnungintensiv diskutiert, u. a. mit Fachleu-ten, die über den Umgang mit der

Vergangenheit in Spanien nach derFranco-Diktatur-Ära berichteten, auch über die Frage des Umgangs mitden Tätern und die Frage der Ver-söhnung. Insofern sind solche Fragensehr früh und vergleichend diskutiertworden, obwohl in dieser Aufbruch-phase andere, existentiellere Dinge imVordergrund standen.

Glaubwürdigkeit und Bürgernähe

Als ich im Juni 1990 vom Parteivor-stand nach Brandenburg geschicktwurde, um dort SPD-Geschäftsführerzu werden, ermunterten mich der da-malige Parteivorsitzende Hans-JochenVogel und die damalige Bundesge-schäftsführerin Anke Fuchs, dass mitManfred Stolpe ein Kandidat gefundensei, der für Glaubwürdigkeit, Authenti-zität und Bürgernähe stünde, mit demdie Wahlen in Brandenburg zu gewin-nen sein müssten. In der Tat hat sichManfred Stolpe als Glücksfall für Bran-denburg, aber auch für ganz Ost-deutschland herausgestellt, weil ereinen großen Beitrag dazu geliefert hat,die Menschen in die Demokratie unddie Marktwirtschaft mitzunehmen und

75perspektive21

Der GlücksfallEINE EINORDNUNG DER DISKUSSIONEN UM MANFRED STOLPE

VON MARTIN GORHOLT

Page 76: perspektive21 - Heft 49

ihnen Selbstbewusstsein auf diesenWeg zu geben. Er war in den neun-ziger Jahren die ostdeutsche Identifi-kationsperson in der Politik. Es gabauch in der Brandenburger SPD deneinen oder anderen, der bei der Kan-didatenaufstellung Mitte 1990 zubedenken gab, dass die Rolle derKirche und damit auch die Rolle vonManfred Stolpe zu einer schwierigenDiskussion in den nächsten Jahrenführen könnte. Die Stimmen warennicht von entscheidendem Gewicht.

Nischen und Eigensinn

Die Kirche hat – nebenbei bemerkt –für die Rekrutierung von neuen Poli-tikern in Ostdeutschland ab 1989/90eine große Rolle gespielt. So sind alledrei Spitzenämter von der SPD Bran-denburg mit erfahrenen Kirchenleutenbesetzt worden. Der ehemalige Konsis-torialpräsident wurde Ministerpräsi-dent, der Pfarrer Steffen Reiche Landes-vorsitzender und Wolfgang Birthler,ein Tierarzt, aber geschult in Rede undModeration durch die Arbeit in kirch-lichen Gruppen, wurde Fraktionsvor-sitzender. Insofern besteht auch darinein Verdienst der Kirchen, sonst wäreein „Elitenwechsel“ noch schwierigergeworden, oder die Elitenrekrutierunghätte sich noch stärker auf Westdeut-sche konzentrieren müssen.

Das Wirken und Handeln vonManfred Stolpe als Konsistorialpräsi-

dent ist einzuordnen in die europapo-litische Lage und in die politischenStrategien, die sich daraus in den sech-ziger und siebziger Jahren entwickel-ten. Wichtiger Markstein der Nach-kriegsgeschichte des „Kalten Krieges“ist der 13. August 1961, der vomSED-Regime durchgeführte Mauerbauzwischen der DDR und der BRD. Ab1961 war den Menschen in der DDRklar, dass nur unter großen Risiken fürLeib und Leben ein Verlassen ihresStaates noch möglich war. Auch einegrundlegende Veränderung der DDRvon innen heraus hatte keine Chance,da die Sowjetunion als führender Staatdes Warschauer Paktes und des Ost-blocks dem entgegentreten wäre. DieMilitärpräsenz der Sowjetarmee in derDDR war groß. Und den Staats- undParteiführungen in der Sowjetunionund der DDR war klar, dass weitge-hende Veränderungen in der Gesell-schaftsordnung der DDR nicht nur dieMachtfrage, sondern auch immer gleichdie nationale Frage stellen würden.

Insofern hieß es für die meistenBürgerinnen und Bürger der DDR,sich einerseits anzupassen und mitzu-machen, andererseits im Alltag Eigen-sinn zu entwickeln in Nischen vonKultur und Freizeit oder von kleinerenInitiativen. Die Entspannungspolitikvon Willy Brandt und Walter Scheelging ab Ende der sechziger Jahre vondenselben Prämissen aus. Sie nahmendie DDR als kurzfristig nicht zu ver-

76 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 77: perspektive21 - Heft 49

hindernde Realität. Grenzänderungenund Veränderungen des Systems warennicht in Sicht und deshalb war dasZiel, in der hochgerüsteten Ost-West-Konfrontation durch Gespräche undVereinbarungen den Frieden sichererzu machen, das menschliche Leben inden beiden deutschen Staaten zu er-leichtern, Familienzusammenführungenzu erreichen und in Verhandlungenkonkrete Dinge durchzusetzen, was zumBeispiel zum Freikaufen von politischenHäftlingen führte. Mit der Schlussaktevon Helsinki oder dem SED-SPDPapier „Der Streit der Ideologien unddie gemeinsame Sicherheit“ gab esGrundlagen, auf die sich die Kirchenoder Oppositionsgruppen beziehenkonnten, um für Freiheitsrechte oderfür Reformfähigkeit zu streiten.

Die Kirche suchte ihre Rolle

Die Kirche war die einzige bedeutendenicht-sozialistische Institution in derDDR. Wenn die Kirche schon nichtabzuschaffen war, so sollte ihr Einflussmaßgeblich zurückgedrängt werden. Sowurde mit der Jugendweihe die Kon-firmation zu einer Minderheitenfeierund das aktive Christ-sein in Schuleund Beruf diskriminiert. In der Tatsank die Zahl der Kirchenmitgliederdrastisch. Unter diesen Rahmenbedin-gungen hatte die Kirche ihre Rolle zufinden. Sie versuchte für sich selberFreiräume zu schaffen, um in einem

offiziell atheistisch ausgerichteten Landweiter zu existieren, ihre Pfarrer undMitarbeiter auszubilden und offen zusein für jeden, der sich im Rahmen derKirche engagieren wollte. Gleichzeitigversuchte die Kirche sich auch für an-dere Menschen einzusetzen, einenSchutz für Menschen zu bieten, diesich nicht in das DDR-System einord-nen wollten.

Ein Ansprechpartner für alle

Die Kirchenvertreter waren deshalb oft hin- und hergerissen zwischen Ver-zweifelung auf der einen Seite undeiner Anpassung an die Spielregeln des Regimes auf der anderen Seite, ummöglichst viel Spielraum zu erhalten.Zu den Verzweifelten gehörte zumBeispiel der Pfarrer Oskar Brüsewitz,der 1976 den Freitod suchte. Dies warAnlass für kontroverse Diskussioneninnerhalb der Kirche, ob die Leitungnicht zu diplomatisch mit der SEDFührung umginge. Aber wäre ein an-derer Weg möglich gewesen und hätteer zu mehr Erfolg geführt?

Um den Spielraum für die Kirchenzu erhalten und sich gleichzeitig fürverfolgte Menschen der DDR einzu-setzen, wurden von Teilen der Kircheund insbesondere auch von ManfredStolpe alle Ebenen der Kommunika-tion und des Gesprächs gesucht, obdas die Ebene der Partei, des Staatesoder der Staatssicherheit war. Alle drei

77perspektive21

martin gorholt – der glücksfall

Page 78: perspektive21 - Heft 49

hatten ihre eigenen Funktionen inner-halb des Systems und hatten eigeneEinflusssphären. Solche Gesprächesind immer auch Gespräche auf Ge-genseitigkeit, sie müssen für beideSeiten etwas bringen.

Insofern war auch ein ManfredStolpe immer in der schwierigenSituation abzuschätzen, welche In-formationen über politische Entwick-lungen in Westdeutschland, die ihmzugetragen wurden oder über dieEntwicklung in den Kirchen mit zudiskutieren, auf der anderen SeiteZugeständnisse zu bekommen fürkirchliche Freiräume oder für direkteHilfen für einzelne Menschen. DieKirche war in der Lage, Räume für denEigensinn der Menschen zu schaffen,für ein Stückchen Gegenöffentlich-keit, für Lebenshilfen, zu Fragen vonMenschenrechten, der Umwelt- undFriedenspolitik. Durch seine Kontaktewar Manfred Stolpe auch ein wichti-ger Ansprechpartner für westdeutschePolitiker, um Einschätzungen zu be-kommen, um Verhandlungen mit derSED-Führung vorzubereiten etc.

Es gibt heute kaum noch Kontro-versen über die historische Bewertungder Entspannungspolitik. Sie hat denFrieden sicherer gemacht und zu einemAustausch zwischen Ost und West ge-führt, der unumkehrbar wurde. DerWeg Gorbatschows von Öffnung undVeränderung hat 1989/90 die Chancedes Sturzes des SED-Regimes eröffnet

und dann – von vielen lange unter-schätzt – unmittelbar die nationaleFrage gestellt. Ohne die Entspannungs-politik hätte es auch eine weitere Ab-schottung der kommunistischen Sys-teme geben können, so dass es zu denVeränderungen und Umwälzungen inden achtziger und neunziger Jahrennicht gekommen wäre.

Kirche im Sozialismus

Die Politik der Kirche in der DDR istein Stück eine Entsprechung zur Ent-spannungspolitik. Sie war der Versuch,systemkonform ein Maximum an Spiel-räumen und Freiheiten zu schaffen, fürdie Kirche selbst, aber auch für nicht-konforme Ideen und Gespräche. Esfanden durchaus parallele Sondierun-gen von westdeutschen Politikern mitder Kirche und der Partei- und Staats-führung statt, um Möglichkeiten undEntscheidungen auszuloten.

Andere Wege für die Kirche wärendie Konfrontation mit dem Regimeund das völlige Nischendasein gewe-sen. Beides hätte die Möglichkeiten derEinflussnahme und des Erhalts vonSpielräumen, von öffentlichem Wirkenstark eingeschränkt. Ob bei den Ge-sprächen von Seiten der Kirche an eini-gen Stellen zu viel Vertrautheit ent-stand, kann nur für jeden einzelnenFall beurteilt werden. Ohne denSpielraum, den die Kirchen schufen,hätten wirksame Oppositionsgruppen

78 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 79: perspektive21 - Heft 49

nicht entstehen können, ohne diekirchlichen Veranstaltungen wären dieMontagsdemonstrationen nicht ent-standen, ohne den Schutz der Kirchen-räume hätten sich nicht immer mehrBürger zu Veranstaltungen gegen dasDDR Regime versammelt, ohne dieGespräche der Kirchenleitungen wärendie Proteste im Herbst 1989 vielleichtnicht so friedlich verlaufen. Letztlichhat dreierlei das DDR-System zumEinsturz gebracht: Die Distanz, die dieSowjetunion zur bornierten hartenHaltung des DDR-Regime einnahm,zum zweiten die Fluchtbewegung ausder DDR, die durch die Öffnung vonGrenzen über Ungarn möglich wurdeund zum dritten durch die Stärke derOppositionsgruppen und deren De-monstrationen („Wir bleiben hier“), andenen auch die offizielle DDR-Öffent-lichkeit und die SED-Führung nichtmehr vorbei kamen.

Aus der Vergangenheit lernen

Durch den Untergang der DDR wur-den viele Menschen abrupt aus ihrenZusammenhängen gerissen. Sie muss-ten sich von heute auf morgen ineiner neuen Gesellschaftsordnungzurecht finden. Aus der Vergangenheitlernen heißt, klarzumachen, wie ele-mentar unterschiedlich Diktatur undDemokratie sind, welches die Ursachenvon Diktaturen sind, welches die spe-zifische Entwicklung von kommunis-

tischen Diktaturen ist. Demokratieheißt Sicherung der gleichen Würdealler Menschen, die Achtung der Men-schenrechte, die Wahrung von Grund-freiheiten wie Meinungsfreiheit oderGlaubensfreiheit. Demokratie mussvon Generation zu Generation immerwieder neu verankert werden.

Der Einsatz für Demokratie ist eineLehre aus dem Entstehen von Dikta-turen. Deshalb war es eine zentraleAufgabe nach 1990 die Menschen, vorallem die Jugend, von einem Engage-ment für die Demokratie zu überzeu-gen, vom Engagement in Parteien, inVereinen, in Verbänden, generell vomehrenamtlichen Engagement. Die Ost-deutschen mussten in einer völligneuen Gesellschaft ankommen und dieneuen Aufgaben annehmen. Das istauch eine Aufgabe von Vergangen-heitsbewältigung, alte Gewohnheitenund alte Mentalitäten abstreifen undsich neu in einer Gesellschaft zurecht-finden. Identifikationsfiguren wieManfred Stolpe und Regine Hilde-brandt haben in dieser Umbruchphaseeine wichtige Aufgabe übernommen,die Menschen in das neue System zubegleiten und sie zu Anstrengungender Integration und des Mitmachens inder neuen Gesellschaft zu motivieren.Der Umbruch von 1990 wird rück-blickend unterschätzt, wenn diese Zeitauf Fragestellungen reduziert wird, obman sich in Verwaltungen oder Par-teien hinreichend mit IMs und offiziel-

79perspektive21

martin gorholt – der glücksfall

Page 80: perspektive21 - Heft 49

len Stasi-Mitarbeitern auseinandergesetzt und sie aus wichtigen Funktio-nen entlassen hat.

Nach der Wende stellte sich nichtnur die Frage der Aufarbeitung derDDR-Vergangenheit, sondern auch die Frage der Aufarbeitung der Vergan-genheit des Nationalsozialismus, desgroßen Zivilisationsbruches in der Ge-schichte Deutschlands. Denn der ver-ordnete Antifaschismus hatte vor allemdie für das System funktional hilfreicheAuseinandersetzung mit dem Natio-nalsozialismus gefördert. Er dientedazu, die Gesellschaft zusammenzu-führen und durch ein Feindbild dieeigene Ordnung in ein positives Lichtzu stellen. Diese Neuaufarbeitung bei-spielsweise im Land Brandenburg inden Gedenkstätten in Sachsenhausen,Ravensbrück oder Brandenburg-Gör-den kann als sehr gelungen eingeschätztwerden, da diese Gedenkstätten jetzt imMittelpunkt des Gedenkens in ganzDeutschland stehen. Gleichzeitig istmir selber in meiner eigenen Biografie

kaum bewusst, dass ich mich jemals sointensiv mit der Vergangenheit ausein-andergesetzt habe wie in der Zeit von1990 bis 1994.

Es gab so viel zu diskutieren, dieVergangenheit von Manfred Stolpe, dieVergangenheit von Gustav Just, dieAufnahme von ehemaligen Mitgliedernvon Blockparteien in die SPD... DerVorwurf, es hätte eine Verdrängung derVergangenheit in den Aufbaujahren inBrandenburg auf Grund der Diskussionum Manfred Stolpe gegeben, ist völligfalsch. Das Gegenteil ist richtig. Geradedurch die Auseinandersetzung auch mitder Rolle Manfred Stolpes in der DDRfand eine ganz intensive Auseinander-setzung mit DDR-Geschichte statt.Breite Zusammenarbeit und das Hand-Ausstrecken zur Versöhnung sind erstauf dieser Basis möglich gewesen. ImÜbrigen – das sei an dieser Stelle nochvermerkt – war das Landeskabinett inBrandenburg 1990 das einzige in denneuen Ländern, das ohne „alte Kader“auskam. �

80 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

M A R T I N G O R H O L T

war Anfang der neunziger Jahre Landesgeschäftsführer der Brandenburger SPD und ist heute Staatssekretär für Wissenschaft,

Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

Weiterführende Literatur

Martin Gorholt, Norbert Kunz (Hg.), Deutsche Linke – DeutscheEinheit‚ Frankfurt am Main 1991

Richard Schröder, Deutschland schwierig Vaterland, Freiburg 1993Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009

Page 81: perspektive21 - Heft 49

L ässt sich die Aufarbeitung derDDR-Vergangenheit überhaupt

messen? Das ist wohl die erste Frage, die man sich stellen muss, wenn mandarangehen will, die Aufarbeitungsbe-mühungen in den ostdeutschen Bun-desländern vergleichend zu bewerten.In der öffentlichen Debatte spielt hier-bei der Umgang mit Stasi-belastetenBeschäftigten im öffentlichen Dienstzumeist die Hauptrolle. Daneben – undleider trotzdem viel zu selten – wirdnoch auf die Schwierigkeiten verwiesen,denen sich ehemals politisch Verfolgtebei der Rehabilitierung ihres erlittenenUnrechts gegenüber sehen. Damit istder Aufarbeitungsdiskurs in der Regelschon auf den simplen Gegensatz vonTätern und Opfern reduziert. Unbeach-tet bleiben somit allzu oft die gesell-schaftlichen Dimensionen, ohne die eine wirkliche Aufarbeitung der Ge-schichte nicht gelingen kann. Dennwenn es einen speziellen „Branden-burger Weg“ bei der Aufarbeitung ge-geben haben sollte, dann gehört dazuauch die Diskussion um die Stasi-Kon-

takte des ehemaligen Ministerpräsiden-ten Stolpe, die zwei volle Jahre – von1992 bis 1994 – andauerte. Kein neuesBundesland – obwohl in deren Kabinet-ten zahlreiche ehemalige Blockpartei-mitglieder Ministerämter bekleideten –hat so lange und so intensiv über Ver-strickungen und Grauzonen in einerDiktatur diskutiert. Jeder Vorwurf,Brandenburg hätte mit Rücksicht aufManfred Stolpe bei Stasi-Überprüfun-gen nicht so genau hingeschaut, läuftauch deshalb ins Leere, weil ein großerTeil der Überprüfungen bereits in denJahren 1991/ 92 gelaufen war.

Der Rahmen war gleich

Statt einer breiten gesellschaftlichenDiskussion werden heute die Vergan-genheitsbewältigung und der Streit da-rüber zunehmend zum alltäglichen Geschäft politischer Akteure und Insti-tutionen. Es verwundert daher nicht,dass vor allem der staatliche Umgangmit Stasi-Belasteten bzw. mit denOpfern des Regimes im Zentrum der

81perspektive21

Sachsens Glanz undBrandenburgs Weg?DIE UNRECHTSAUFARBEITUNG IN

DEN OSTDEUTSCHEN BUNDESLÄNDERN

VON ROBERT DAMBON

Page 82: perspektive21 - Heft 49

politischen Auseinandersetzung um dieVergangenheitsaufarbeitung stehen. Sothematisch verengt eine solche Fokus-sierung auch ist, zumindest lässt sich derUmgang mit der DDR-Vergangenheitin diesen Bereichen quantifizieren.

Der Umgang mit dem Erbe derSED-Diktatur folgte und folgt in denneuen Ländern abgesehen von denrechtlichen Rahmenbedingungen, diedurch den Bundestag und die Volks-kammer vorgegeben waren, keinem ein-heitlichen Muster. Dennoch standen alle ostdeutschen Bundesländer Anfangder neunziger Jahre vor großen He-rausforderungen, ihre Landesbediens-teten auf eine eventuelle MfS-Mitarbeitzu überprüfen. Insbesondere dem Bun-desland Brandenburg – in diesem Kon-text oft als die „kleine DDR“ gebrand-markt – wird hier regelmäßig einmangelhaftes Überprüfungsverfahrenvorgeworfen. Dieser Vorwurf ist mitBlick auf die konkreten Zahlen jedochkaum zutreffend.

63.000 Bescheide für Brandenburg

Tatsächlich waren in Brandenburg bis1996 bereits 90 Prozent aller Landes-bediensteten auf eine MfS-Mitarbeitüberprüft worden. So ergingen bis zudiesem Zeitpunkt etwa 63.000 Beschei-de vom Bundesbeauftragten für dieUnterlagen des Staatssicherheitsdienstes(BStU). Damit lag Brandenburg imDurchschnitt der ostdeutschen Länder.

Es ergingen für Berlin 52.000, fürMecklenburg-Vorpommern 72.000, für Thüringen 80.000 und Sachsen-Anhalt 90.000 Bescheide.

Fast jeder wurde überprüft

Einzig Sachsen stach beim Umfang derÜberprüfungen deutlich hervor. Sostellte der Freistaat bis zum Jahr 1997239.000 Anfragen an den BStU. Biszum Jahr 2004 summierte sich dieseZahl auf 320.000 Anfragen. Die enor-me Menge an Auskunftsersuchen er-klärt sich nur mit der relativ hohenZahl von 135.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst und den dortigenPersonalfluktuationen. Nicht zuletzt,so vermutet der sächsische Stasi-Beauf-tragte in seinem 13. Tätigkeitsbericht2004/2005, seien häufig Anfragenmehrfach gestellt worden. Dafürspricht auch, dass bis 2004 vom BStUlediglich 195.000 Auskünfte ergingen.Inwiefern ähnliche statistische Un-schärfen auch für die anderen Länderzutreffen, lässt sich hier abschließendnicht bestimmen. Dennoch kann Sach-sen hinsichtlich des Überprüfungs-umfanges wohl als besonders konse-quent gelten.

Grundsätzlich lässt sich aber mit Blickauf die Personalkörper der Vergleichs-länder davon ausgehen, dass bereits inder zweiten Hälfte der neunziger Jahrenahezu alle ostdeutschen Landesbediens-teten überprüft waren.

82 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Page 83: perspektive21 - Heft 49

Die eigentliche Kritik an den Über-prüfungsverfahren entzündet sich daherwohl vielmehr an der Frage, wie viele der Überprüften den öffentlichen Dienst infolge eines Bescheides mit Hinweisenauf eine MfS-Zusammenarbeit verlassenmussten, wobei das unausgesprochenePostulat mitschwingt, je mehr Entlas-sungen desto besser.

Sehr deutlich zeigen sich hier zweiähnliche Muster. Während Thüringenund Sachsen jeden zweiten Beschäftig-ten entließen, bei dem Hinweise auf eine MfS-Zusammenarbeit vorlagen,war es in Brandenburg, Sachsen-Anhaltund Mecklenburg-Vorpommern nurjeder Dritte.

Vieles landete vor Gericht

Schwierig ist indes die Bewertung dieser unterschiedlichen Quoten. So waren die Überprüfungsverfahren mit Ausnahme von Sachsen zumeistnicht einheitlich geregelt, was eine

Vergleichbarkeit der Ergebnisse sehrerschwert.

Dessen ungeachtet ist eine differen-zierte Bewertung der insgesamt mehr als 28.000 Einzelfallprüfungen in denVergleichsländern schlichtweg unmög-lich. Sicher ist nur, dass die entspre-chenden Personalkommissionen ihrenjeweiligen Spielraum unterschiedlichnutzten. Kategorien wie „Milde“ oder„Strenge“, die allzu oft den öffentlichenDiskurs dominieren, scheinen als Be-schreibung der komplexen Verfahreneher unangebracht. De facto wurden aufder Grundlage der gesetzlichen Rege-lungen Abwägungen getroffen, die zwarrechtsstaatlich einwandfrei, doch nichtimmer unter ethischen Gesichtspunktennachvollziehbar waren. Inwiefern hierauch sachfremde Motive wie Personal-bedarf bei den Entscheidungen eineRolle spielten, ist nicht zu beziffern undnoch weniger qualitativ zu gewichten.

Besondere Erwähnung verdient aber,dass gerade in Sachsen viele der ausge-

83perspektive21

robert dambon – sachsens glanz und brandenburgs weg?

Land Stand BStU- BStU- ungefähre Zahl derAnfragen Auskünfte Landesbediensteten

Brandenburg 12/1996 70.293 63.521 60.000

Mecklenburg- 6/1997 77.827 72.806 52.000Vorpommern

Sachsen 6/1997 239.803 180.740 135.000

Sachsen-Anhalt 12/1996 98.282 90.110 —

Thüringen 12/1996 80.150 80.150 75.000

Page 84: perspektive21 - Heft 49

sprochenen Kündigungen wegen MfS-Zusammenarbeit im Klagefall vor denArbeits- und Verwaltungsgerichten kei-nen rechtlichen Bestand hatten. So en-deten allein über 600 Arbeitsrechts-streite im Vergleich. In über 250 Fällen,wobei es sich möglicherweise auch umbis zu 1.200 Fälle handeln kann, musstedie fristlose Kündigung zurückgenom-men werden oder wurde ohne Richter-spruch vom Arbeitgeber zurückgenom-men.2 Freilich verbietet es sich, darausRückschlüsse auf das sächsische Über-prüfungsverfahren zu ziehen. Dennochzeigt gerade die große Zahl teilweise er-folgreicher Klagen gegen die Kündigun-

gen die problematischen Abwägungen,die die Personalkommissionen in denneuen Ländern zu treffen hatten.

Trotz der sehr unterschiedlichen Ent-lassungsquoten findet sich bei näherer Betrachtung allerdings eine bemerkens-werte Übereinstimmung der Überprü-fungspraxis in Sachsen und Brandenburg.Beide Länder übernahmen insbeson-dere im Polizeibereich auch belasteteBedienstete. Der Freistaat entließ von2.538 belasteten Polizeibeamten ledig-lich 995 (39 Prozent), Brandenburgentfernte von 1.823 Belasteten 500 Per-sonen aus dem Dienst (27 Prozent). InSachsen kommt erschwerend hinzu,dass sich viele Entlassene wieder einkla-gen konnten, wobei das Innenministe-rium diese Zahl bis heute nicht genaubeziffern kann. Sehr wahrscheinlichspielten für die relativ hohe Übernah-mequote praktische Erwägungen wohleine wichtige Rolle. So ist zu vermuten,dass angesichts der stark zunehmenden,

84 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

Land Stand Bescheide mit beendete beendeteHinweisen auf MfS- Arbeitsver- Arbeitsver-Zusammenarbeit hältnisse hältnisse in %

Brandenburg 6/19991 4.751 1.596 34

Mecklenburg- 6/1997 4.931 1.785 36Vorpommern

Sachsen 6/1997 8.653 4.311 50

Sachsen-Anhalt 12/1996 5.446 1.829 34

Thüringen 12/1996 4.220 2.213 52

1 Im Jahr 1996 liefen noch etwa 200 Verfahren, die erst inder Folge endgültig abgeschlossen wurden. Um eine statis-tische Verschiebung zugunsten Brandenburgs zu vermeiden,sind hier auch alle Belasteten aufgeführt, die zwischen 1996und 1999 bekannt wurden. Vgl. Drs. 3/802 des Branden-burger Landtages.

2 Die erhebliche Spanne geht auf eine unterschiedlicheDatenerfassung im sächsischen Staatsministerium desInnern zurück. Vgl. Drs. 4/2309 des SächsischenLandtages.

Page 85: perspektive21 - Heft 49

vor allem grenzüberschreitenden Krimi-nalität Anfang der neunziger Jahre grö-ßere Personalentlassungen im Polizei-bereich nicht tragbar erschienen. Vordiesem Hintergrund fielen womöglichdie Abwägungen der Personalkommis-sionen häufig zugunsten der belastetenPolizeibeamten aus.

Auch in der Justiz zeigt sich, dass sichBrandenburg bei weitem nicht von an-deren neuen Ländern unterschied. Nachindividueller Überprüfung in den Rich-terwahlausschüssen übernahm Sachsenetwa 48 Prozent seiner Richter mitDDR-Vergangenheit, Brandenburg hingegen 44 Prozent.

Ähnlich wie beim Umgang mit MfS-Belasteten im öffentlichen Dienst giltdas Bundesland Brandenburg auch beider Umsetzung der Rehabilitierungs-gesetzgebung, die die soziale und juristi-sche Wiedergutmachung von strafrecht-lichem und verwaltungsrechtlichemUnrecht sowie von beruflicher Diskri-minierung in der DDR regelt, als inkon-sequent. Wie im vorherigen Fall ist die-ser Vorwurf nur schwerlich zu erhärten.

Wie die Rehabilitierung lief

Vor allem im Bereich der strafrechtli-chen Rehabilitierung liegt Brandenburgmit einer Rehabilitierungsquote von 60 Prozent (Berlin lediglich 50 Prozent)im Durchschnitt der ostdeutschen Län-der. Im Bereich der verwaltungsrechtli-chen und beruflichen Rehabilitierung

liegt die Anerkennungsquote in Bran-denburg mit 44 Prozent dagegen niedri-ger als anderen Ländern (mit Ausnahmevon Mecklenburg-Vorpommern). DieseZahl bedarf aber einer Einschränkung.So fiel entsprechend dem ehemaligenSitz des Ministeriums für Nationale Ver-teidigung der DDR in Strausberg einzigdem Land Brandenburg die Zuständig-keit für alle Fälle von beruflicher Diskri-minierung und von Verfolgung in derNVA zu. Gerade aber in diesen Fällen la-gen zumeist Ausschlussgründe, wie zumBeispiel eine Zusammenarbeit mit demMfS, vor, sodass sowohl Fallzahlen alsauch die Zahl der Ablehnungen deutlichstiegen.

Eine eigene Gangart

Dennoch sollten freilich im besonderssensiblen Bereich der Rehabilitierungs-gesetzgebung die Bedenken der Betrof-fenen stets ernst genommen werdenund etwaige Missstände so schnell wiemöglich abgestellt werden.

Die ostdeutschen Bundesländerstanden am Anfang der neunzigerJahre vor enormen Herausforderun-gen. Dazu zählte nicht nur die Über-prüfung des öffentlichen Dienstes,sondern vor allem der organisierteÜbergang von der SED-Diktatur in einen demokratischen Rechtsstaat. 21 Jahre später kann man zweifelloskonstatieren, dass der Wechsel in dieDemokratie geglückt ist. Keines der

85perspektive21

robert dambon – sachsens glanz und brandenburgs weg?

Page 86: perspektive21 - Heft 49

Länder ist eine „kleine DDR“. Den-noch mussten alle ostdeutschen Bun-desländer und ihre Bürger eine eigeneGangart auf diesem Weg hin zum de-mokratischen Rechtsstaat finden.

Neue Aufgaben

Das Land Brandenburg verzichtete bis2009 auf die Berufung eines Landes-beauftragten für die Unterlagen desStaatssicherheitsdienstes der ehemaligenDeutschen Demokratischen Republik.Diese Entscheidung wird von allen poli-tischen Kräften Brandenburgs heute alsFehler bewertet. Gleichwohl: Der Blickvon heute auf Entscheidungen von ges-tern sollte damalige konkrete Situatio-nen nicht aus dem Blick verlieren. DieNichtberufung eines Stasi-Beauftragtenist ein solcher Fall. Günter Nooke, An-fang der neunziger Jahre Fraktionsvor-sitzender des mitregierenden Bürger-bündnisses, erklärte jüngst, warum seineFraktion eines Landesbeauftragten ab-lehnte: Den Posten hätte dann nämlichdie FDP bekommen. Diese Haltung trafsich mit zunehmendem ostdeutschenSelbstbewusstsein, das sich insbesonderein der SPD artikulierte. Sie war es auch,die 1994 eine weitere Regelanfrage aufStasi-Mitarbeit der Abgeordneten ab-lehnte – und zwar so lange, bis sich alledeutschen Landtagsabgeordneten einerÜberprüfung unterziehen mussten.3

Freiwillig ließen sich die SPD-Abgeord-neten gleichwohl überprüfen.

Letztlich berief der Landtag Bran-denburg im Jahr 2009 eine Landesbe-auftragte zur Aufarbeitung der Folgender kommunistischen Diktatur. Schonder Titel der Landesbeauftragten deutetauf ein gewandeltes Verständnis. Esgeht nicht mehr nur um die Zuständig-keit für die Unterlagen der ehemaligenStaatssicherheit, sondern um die Frage,wie die Folgen von vierzig Jahren Dik-tatur überwunden werden können.Diese weitergehend angelegte Aufga-benbeschreibung gilt mittlerweile alsvorbildlich, da sie Erfahrungen der ver-gangenen 20 Jahre Geschichtsaufarbei-tung aufgreift und den Fokus nebenden Stasi-Akten hin zu einem breitenAnsatz von Aufarbeitung lenkt.

Ein Prozess ohne Ende

Fragwürdig bleibt am Ende jedoch dieKonzentration der öffentlichen Diskus-sion auf die Stasi-Belastung in der Ver-waltung. Aus dem öffentlichen Dienstwurden in Ostdeutschland insgesamtetwa 3 Prozent der Beschäftigten wegenStasi-Belastung entlassen. Es mag nichtverwundern, dass große Teile der Be-völkerung in Frage stellen, ob Umfangund Lautstärke mancher Debatten an-gesichts dieser Zahlen zu rechtfertigensind. Zweifellos bleibt die Aufarbeitungder DDR-Geschichte ein Prozess, der

86 september 2011 – heft 49

thema – geschichte, die nicht vergeht

3 Siehe dazu auch das Interview mit Andreas Kuhnert in die-sem Heft.

Page 87: perspektive21 - Heft 49

nur schwerlich ein konkretes Ende haben kann. Dennoch muss über dieGrenzen gesellschaftlicher Aufarbeitungdiskutiert werden. So scheint eine wirk-liche Wiedergutmachung für Verfolgteund Geschädigte fast aussichtslos. Einzerstörtes Leben wird nicht wiedergut-gemacht – schon gar nicht durch denScheck der Opferrente vom Sozialamt.Die Verbrechen der SED-Diktatur da-

gegen wirklich zu sühnen, gelingt oftnicht. Die Mittel des Rechtsstaates erweisen sich als nicht geeignet, um das Unrecht in der DDR zu bestrafenund Gerechtigkeit zu schaffen. Viel-leicht darf es auch nicht anders sein.Denn der Rechtsstaat bietet gerade das,was die SED-Diktatur niemals zu bie-ten hatte, nämlich Rechtssicherheit für alle Menschen. �

87perspektive21

robert dambon – sachsens glanz und brandenburgs weg?

R O B E R T D A M B O N

studiert Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.

Page 88: perspektive21 - Heft 49

88

Page 89: perspektive21 - Heft 49

89perspektive21

impressum

HERAUSGEBER

� SPD-Landesverband Brandenburg� Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel

ANSCHRIFT

Alleestraße 914469 PotsdamTelefon 0331 / 730 980 00Telefax 0331 / 730 980 60

E-MAIL

[email protected]

INTERNET

http://www.perspektive21.de

HERSTELLUNG

Layout, Satz: statement WerbeagenturKantstr. 117A, 10627 BerlinDruck: Lewerenz GmbH, Klieken/Buro

BEZUG

Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.

Page 90: perspektive21 - Heft 49
Page 91: perspektive21 - Heft 49

Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen

kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer

Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

DAS DEBATTENMAGAZIN

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich www.b-republik.de

Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR zzgl. Versandkosten als Einzelheft erhältlich oder im Abonnement zu beziehen:Jahresabo 30,– EUR; Studentenjahresabo: 25,– EUR

Jetzt Probeheft bestellen: Telefon 030/255 94-130 Telefax 030/255 94-199, E-Mail [email protected]

Page 92: perspektive21 - Heft 49

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die BerlinerRepublik

Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten:

Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: WissenHeft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in Köpfe

Heft 32 Auf dem Weg ins 21.JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wirHeft 40 Bildung für alleHeft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?Heft 42 1989 - 2009Heft 43 20 Jahre SDPHeft 44 Gemeinsinn und ErneuerungHeft 45 Neue ChancenHeft 46 Zwanzig Jahre BrandenburgHeft 47 It’s the economy, stupid?Heft 48 Wie wollen wir leben?

SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550