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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 47 DEZEMBER 2010 www.perspektive21.de TOBIAS DÜRR: Gesellschaft mit geschrumpfter Zukunft THOMAS KRALINSKI: Im Amt, aber an der Macht? PEER STEINBRÜCK: Die Krise als Zäsur JOACHIM RAGNITZ: Auf der Suche nach neuen Lösungen MICHAEL GÖBEL: Anstoß für mehr INGO SINGE & CHRISTOPH THIEME: Geld ist nicht alles RALF CHRISTOFFERS: Viele kleine Schritte MARTIN WILKE: Den Blick voraus RICHARD WILKINSON: Mehr Gleichheit ist für alle besser NACH DER WIRTSCHAFTS- UND FINANZKRISE It’s the economy, stupid?

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It’s the economy, stupid?

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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 47 DEZEMBER 2010 www.perspektive21.de

TOBIAS DÜRR: Gesellschaft mit geschrumpfter Zukunft

THOMAS KRALINSKI: Im Amt, aber an der Macht?

PEER STEINBRÜCK: Die Krise als Zäsur

JOACHIM RAGNITZ: Auf der Suche nach neuen Lösungen

MICHAEL GÖBEL: Anstoß für mehr

INGO SINGE & CHRISTOPH THIEME: Geld ist nicht alles

RALF CHRISTOFFERS: Viele kleine Schritte

MARTIN WILKE: Den Blick voraus

RICHARD WILKINSON: Mehr Gleichheit ist für alle besser

NACH DER WIRTSCHAFTS- UND FINANZKRISE

It’s the economy, stupid?

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| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen

20 Jahre nachder friedlichenRevolution von 1989:

Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutsch-land jetzt?

224 Seiten,gebunden

Eine persönliche Bestandsaufnahme

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It’s the economy, stupid?Im September 2008 erreichte die Wirtschafts- und Finanzkrise mit dem Zusam-

menbruch der Lehman Brothers-Bank ihren ersten Höhepunkt. In der Folge stürztedie deutsche Wirtschaft um bis dato nicht für möglich gehaltene fünf Prozent ab.Schon im Frühjahr 2009 haben wir uns in der Perspektive 21 erstmals mit denLehren aus der Finanzkrise beschäftigt. Heute, gut zwei Jahre nach dem dramati-schen Herbst von 2008, haben wir die Wirtschaftspolitik erneut in den Mittel-punkt eines Heftes gerückt.

Was keiner vermutet hatte: Brandenburg ist im Großen und Ganzen relativglimpflich durch die Wirtschaftskrise gekommen. Das hat viel mit der Export-schwäche unserer Unternehmen zu tun, aber auch mit der mittlerweile breiteraufgestellten Wirtschaftsstruktur unseres Landes. Peer Steinbrück analysiert inseinem Beitrag sehr überzeugend, warum wir ein neues Wirtschaftsmodell brau-chen – und wie dies aussehen kann. Dazu zählt auch die Demokratisierung unserer Wirtschaftsordnung. Das heißt mehr Mitbestimmung, vernünftigeGewerkschaften und starke Betriebsräte. Ingo Schöne und Christoph Thiemeerklären anschaulich, warum gerade die Unternehmen mit einem hohen Maß anMitbestimmung besonders gut durch die Krise gekommen sind und auch mitFachkräftemangel besser umgehen können. Genau das ist ein zentrales Thema fürdie Zukunftsfähigkeit unseres Landes, denn in Brandenburg werden demnächstdie Arbeitskräfte knapp und wir müssen sehen, wie es gelingt, Fachkräfte zu hal-ten und zu gewinnen. Mit einer Niedriglohnstrategie, wie sie immer noch vonden Konservativen verfolgt wird, geht das nicht. Seit 2005 gibt es eine neueFörderstrategie des Landes: „Stärken stärken.“ Welche ersten Ergebnisse diesePolitik zeitigt, diskutieren wir ebenfalls in diesem Heft.

Wie schädlich Ungleichheit und wie wichtig mehr Gleichheit für eine Gesell-schaft ist, erläutert Richard Wilkinson, der zusammen mit Kate Picket ein sehrlesenswertes Buch zu diesem Thema geschrieben hat. Es geht um die Frage, wieman eine Gesellschaft zusammenhalten kann. Und nichts anderes ist unser Zielhier in Brandenburg.

IHR KLAUS NESS

vorwort

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inhalt

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It’s the economy, stupid?NACH DER WIRTSCHAFTS- UND FINANZKRISE

MAGAZINTOBIAS DÜRR: Gesellschaft mit geschrumpfter Zukunft ...................................... 7

Warum es in der alternden Gesellschaft schwieriger wird, Fortschritt zu organisieren

THOMAS KRALINSKI: Im Amt, aber an der Macht? .............................................. 13

Fast überall in Westeuropa steht die Handlungsfähigkeit der Politik auf dem Spiel

THEMAPEER STEINBRÜCK: Die Krise als Zäsur ................................................................ 19

Die Bewältigung der Finanzkrise erfordert mehr als nur die Sanierung des Bankensektors

JOACHIM RAGNITZ: Auf der Suche nach neuen Lösungen .................................... 27

Die ostdeutsche Wirtschaft nach der Finanz- und Wirtschaftskrise

MICHAEL GÖBEL: Anstoß für mehr ...................................................................... 33

Eine Zwischenbilanz der neu ausgerichteten Brandenburger Förderpolitik

INGO SINGE & CHRISTOPH THIEME: Geld ist nicht alles ........................................ 41

Über die Lage der ostdeutschen Unternehmen, fehlende Fachkräfte und Betriebsräte

RALF CHRISTOFFERS: Viele kleine Schritte .......................................................... 51

Warum Brandenburg so erfolgreich ist und wie das so bleiben kann

MARTIN WILKE: Den Blick voraus ........................................................................ 57

Wie Frankfurt (Oder) zu einer der dynamischsten deutschen Städte wurde

RICHARD WILKINSON: Mehr Gleichheit ist für alle besser .................................... 61

Über Fettleibigkeit, Gehaltsunterschiede und eine neue Wirtschaftsdemokratie

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Gesellschaft mit geschrumpfter ZukunftWARUM ES IN DER ALTERNDEN GESELLSCHAFT SCHWIERIGER WIRD,

DRINGEND NOTWENDIGEN FORTSCHRITT ZU ORGANISIEREN

VON TOBIAS DÜRR

In der alternden, demografisch schrumpfenden, zunehmend von Kinderlosigkeitgeprägten, wohlhabenden westeuropäischen Gesellschaft des frühen 21. Jahr-

hunderts schrumpft zugleich auch die Zukunft. Oder genauer gesagt: Es schrumpftdie subjektive Zukunft. Mit „subjektiver Zukunft“ ist diejenige Zukunft gemeint,die Menschen für sich selbst als bedeutsam, als gestaltbar und gestaltenswert erle-ben und empfinden. Denn auf absehbare Zeit wächst relativ zu der Zahl der Men-schen, deren Leben zu guten Teilen noch vor ihnen liegt, unaufhörlich die Zahl derMenschen, die den größeren Teil ihrer Lebenszeit bereits hinter sich haben. Diesubjektive Zukunft in unserer Gesellschaft schrumpft mithin in vielen Einzelfällenmit der individuellen biologischen Alterung; und sozusagen per Saldo verliert diesubjektive Zukunft in unseren Gesellschaften insgesamt an Gewicht (während diesubjektive Vergangenheit an gesellschaftlichem Gewicht zulegt).

Auf der individuellen Ebene sind die Phänomene des „Alterskonservatismus“und des „Altersegoismus“ seit langem bekannt; was wir aber inzwischen zuneh-mend erleben, sind gesamtgesellschaftlicher Alterskonservatismus und Altersegois-mus oder anders gesagt: der Konservatismus und der Egoismus einer insgesamtim historischen Vergleich beispiellos alten Gesellschaft – mit mächtige Folgenfür die Fähigkeit dieser Gesellschaft, ihre objektive Zukunft angemessen zuorganisieren, also die konkreten Erfordernisse der kommenden Jahrzehnte zubewältigen.

Dies soll hier schlaglichtartig an zwei Sachverhalten verdeutlicht werden. Ineinem Fall handelt es sich um anekdotische Evidenz, im anderen um solide sozial-wissenschaftliche Demografieforschung:

Erstens: Gegen das groß dimensionierte Bahnprojekt „Stuttgart 21“ kann manzweifellos viele Einwände erheben – aus guten und aus weniger guten Gründen.Ein spezifisches Motiv des Widerstandes tritt aber immer wieder zum Vorschein.Protestierende geben explizit oder sinngemäß zu verstehen: „Ach, wissen Sie, es soll

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ja 10 oder 15 Jahre dauern, bis die ganze Sache fertig ist. Bis dahin bin ich sowiesotot, und deshalb bin ich dagegen.“

Zweitens: Wie Harald Wilkoszewski vom Rostocker Max-Planck-Institut fürDemographieforschung im Vergleich von 13 europäischen Ländern empirischgezeigt hat, sind ältere, kinderlose und unverheiratete Menschen weniger geneigt,öffentliche Transfers (also Geld, Zeit, Bildung, Infrastruktur) zugunsten vonFamilien und Kindern zu unterstützen. Stattdessen favorisieren diese älteren, kinderlosen oder unverheirateten Menschen Transfers, die ihnen selbst zugutekommen. In welche Versuchungen die politischen Parteien damit angesichts der sich weiter zugunsten von älteren, kinderlosen und unverheirateten Wahl-berechtigten verschiebenden gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse geraten, liegt auf der Hand.

Selbst was schlecht ist, soll so bleiben, wie es ist

Es ist kein Zufall, dass als die beste Zeit der Bundesrepublik vielfach diejenigenJahre gelten, in denen die Angehörigen der heute quantitativ breitesten west-deutschen Alterskohorte jung waren, ins Berufsleben starteten und Familiengründeten. Jedenfalls im kulturell tonangebenden Westen Deutschlands erinnertman sich an die sechziger und frühen siebziger Jahre als Ära des Aufbruchs; darinkommen biologische und gesellschaftliche Zeit zur Deckung. Je älter nunmehrdie deutsche Bevölkerung im Durchschnitt wird, je mehr sie schrumpft und jemehr sich das innergesellschaftliche Gleichgewicht von den Jüngeren zu den(seinerzeit jungen) Älteren verschiebt, desto mehr droht sich diese Gesellschaftinsgesamt auf eine Weise zu verändern, die ihrem zukünftigen Erfolg und ihrerobjektiven Zukunftstauglichkeit gerade nicht zugute kommt. Die kollektiveMentalität der Gesamtgesellschaft mit ihrer geschrumpften subjektiven Zukunftbegünstigt zunehmend defensive, an der Bewahrung des Status quo (ante) aus-gerichtete Haltungen: „Das Beste war schon“, statt „Das Beste kommt noch“.

Anschauliche Indizien unter anderen sind in jüngerer Zeit der Erfolg der sozialprotektionistischen Retro-Bewegung WASG, die beschlossene „Renten-garantie“, die angestrebte Rückabwicklung von – gesellschaftliche Zukunfts-fähigkeit herstellenden – Sozialreformen (Rente mit 67), die öffentliche Zustimmung („Endlich traut sich mal einer …“) zum rassentheoretischen Obskurantismus Thilo Sarrazins sowie die in dieser Zustimmung zu Sarrazins„komischen Ansichten“ (FAZ) zum Ausdruck kommende Islamophobie undAngst vor „Überfremdung“, der ausgeprägte Widerstand gegen Einwanderung,

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die verbreitete Beschäftigung mit Identitäts- statt Problemlösungsdiskursen, diezunehmende Bereitschaft, für Missstände bestimmte Kollektivsündenböcke ver-antwortlich zu machen (die Politiker, die Banker, die Muslime, die Ausländer,die Ossis/Wessis), die Begeisterung für Baumaßnahmen, die untergegangeneArchitektur möglichst originalgetreu wiederherstellen sollen (StadtschlösserPotsdam und Berlin), die spontane Bereitschaft zur Identifikation mit Anti-Mo-dernisierungs-Protesten (neben Stuttgart 21 auch die Hamburger Schulreform,Carbon Capture & Storage (CCS), Windräder, überhaupt: die Erneuerung vonEnergieinfrastruktur). Vielfach erkennen politische Eliten mehrheitlich die Not-wendigkeit der Erneuerung, werden aber von gesellschaftlichen Vetokoalitionenam Handeln gehindert (Hamburger Schulreform) oder von „Not in my back-yard“-Bündnissen („NIMBY“) in Schach gehalten; in anderen Fällen rollen po-litische Akteure die Reformfahne bereits vorauseilend ein (wie etwa in der SPDbei der Rente mit 67).

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, hat unlängst mit geradezu verblüffenderOffenheit seine eigene Beobachtung zum Thema der schrumpfenden Zukunftbeigesteuert, freilich ohne sie explizit mit der gesamtgesellschaftlichen Alterung inVerbindung zu bringen: „Die Menschen sind zutiefst verunsichert und sehnensich nach dem Ort, wo sich nichts ändert, wo nichts verändert wird, wo sie sichauskennen und sich sicher fühlen. Vor allem dort, wo sie wohnen, in ihrer Hei-mat, wollen sie nicht auch noch Veränderungen und Verunsicherungen hinneh-men müssen. Selbst das, was schlecht ist, soll so bleiben, wie es ist.“

Wer wird den Wohlstand erwirtschaften?

„Selbst das, was schlecht ist, soll so bleiben, wie es ist“ – dies ist sozusagen derSchlachtruf der alterskonservativen Gesellschaft mit ihrer subjektiv geschrumpf-ten Zukunft. Aber: Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ist das natür-lich eine vollständig unerfüllbare, im Übrigen auch zutiefst irrationale Erwartung.Denn die kommenden Jahrzehnte werden Jahrzehnte ungeheuren Wandels sein:2050 werden 9 Milliarden Menschen auf der Erde leben - und sie alle müssenernährt werden; es drohen dramatische Auseinandersetzungen um Ressourcen;das Ende des fossilen Zeitalters zeichnet sich drastisch ab; das globale Klima wan-delt sich.

Das alles schafft unerhörte Notwendigkeiten der zupackenden Veränderung,der Gestaltung, der Umstellung und der Erneuerung. Kein Fortschritt, keineInnovation, keine neuen Ideen, keine Bewegung, keine Dynamik, einfach nur

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tobias dürr – gesellschaft mit geschrumpfter zukunft

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Festhalten am Bestehenden - diese Option besteht ganz einfach nicht. UmGuiseppe Tomasi di Lampedusa zu paraphrasieren: Gerade wer in unseren west-lichen Gesellschaften will, dass im 21. Jahrhundert vieles so bleibt, wie es ist, der wird außerordentlich viel verändern müssen.

Hinzu kommt: In unseren eigenen Gesellschaften sind es paradoxerweise nichtzuletzt die durch die Prozesse der Alterung und Schrumpfung verursachten Ver-änderungen selbst, die sich nur mit großer Erneuerungsbereitschaft bewältigenlassen: Wer wird den Wohlstand der älteren und schrumpfenden Gesellschafterwirtschaften? Wie soll die Fähigkeit zur ökonomischen und technologischenInnovation erhalten und aktualisiert werden, wenn nicht mit massiver Investitionin Bildung und Forschung? Wer wird die vielen Älteren pflegen und medizinischversorgen? Keine einzige dieser Herausforderungen wird sich bewältigen lassenohne sehr viel Erneuerung wie – beispielsweise – erhebliche zusätzliche Einwan-derung. Aber Einwanderung ist ja nun gerade eine Veränderung des Status quo,vielleicht diejenige Veränderung schlechthin, vor der sich die alterskonservativeGesellschaft mit ihrer subjektiv geschrumpften Zukunft am allermeisten fürchtet.

Erneuerer werden gebraucht

Damit droht Deutschland in einen gefährlichen psycho-demografischen Teufels-kreis zu geraten. Gerade in der alternden und schrumpfenden Gesellschaft, diedoch des Aufbruchs und der Öffnung im Grunde besonders dringend bedarf(schon um die Lebensqualität der ökonomisch inaktiven Gruppen zu finanzie-ren), wachsen Nostalgie, Verunsicherung und Angst vor den Zumutungen derZukunft. Das Bevorstehende scheint für immer mehr Menschen kein Ver-sprechen mehr zu bergen. Stattdessen wird die Zukunft als bedrohlich und unübersichtlich wahrgenommen – oder eben für das eigene Leben als nicht mehrrelevant. Nicht die gemeinsame Suche nach praktischen Lösungen für das best-mögliche gesellschaftliche Miteinander angesichts zukünftiger Herausforderungenist unter solchen Umständen prägend für den öffentlichen Diskurs, sondern dieVerteidigung des Bestehenden und (mutmaßlich) Entschwindenden.

Dies also ist das Dilemma der subjektiv schrumpfenden Zukunft: Je älter dieBevölkerung im Durchschnitt wird, je mehr sie schrumpft, je mehr sich das inner-gesellschaftliche Gleichgewicht von den Jüngeren zu den Älteren verschiebt, destostärker droht sich die kollektive Mentalität der Gesellschaft insgesamt in einerWeise zu verändern, die ihrer objektiven Zukunftstauglichkeit im Wege steht.Dass wir es hier mit dramatischen Herausforderungen für die Steuerungs- und

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Innovationsfähigkeit sowie die Legitimation des politischen Systems im Allgemei-nen und ganz besonders für die politischen Parteien zu tun haben, dürfte deut-lich sein. Im frühen 21. Jahrhundert werden progressive Erneuerung und Erneu-erer dringend gebraucht – doch in der Gesellschaft mit geschrumpfter Zukunftbläst ihnen der Wind so heftig ins Gesicht wie selten zuvor. �

D R. T O B I A S D Ü R R

ist Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik.

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Im Amt, aber an der Macht? VON KOPENHAGEN BIS LISSABON – FAST ÜBERALL IN WESTEUROPA

STEHT HEUTE DIE HANDLUNGSFÄHIGKEIT DER POLITIK AUF DEM SPIEL

VON THOMAS KRALINSKI

E s geht ein Gespenst um in Europa – das Gespenst der Unregierbarkeit. In den vergangenen Jahren haben die meisten europäischen Wahlen kaum

eindeutige Ergebnisse hervorgebracht, wie eine kleine Rundreise durch einigeeuropäische Hauptstädte zeigt.

Kopenhagen: Schon seit 2001 regiert in Dänemark keine Regierung mehr mitabsoluter Mehrheit. Das konservativ-liberale Minderheitskabinett, erst unterAnders Fogh Rasmussen, jetzt unter Lars Løkke Rasmussen, stützt sich im Parla-ment auf die ausländerfeindliche Dänische Volkspartei.

Stockholm: Die Reichstagswahl im September 2010 brachte der konservativenVier-Parteien-Koalition zwar den Sieg über die rot-grün-rote Opposition. Den-noch verlor Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt seine absolute Mehrheit imParlament, weil die rechtsextremen Schwedendemokraten erstmals in den Stock-holmer Reichstag einzogen. Vorerst regiert Reinfeldt mit einem Minderheits-kabinett weiter – für Schweden keine ganz ungewöhnliche Situation. Allerdingswaren es bisher immer die Sozialdemokraten, die einer Minderheitsregierungvorstanden und mit wechselnden Partnern Mehrheiten im Parlament suchenmußten.

Den Haag: Seit dem Jahr 2002 hat in den Niederlanden keine Regierungmehr das reguläre Ende der Wahlperiode erreicht. Gleichzeitig hat die Zer-splitterung des Parlaments zugenommen: Bei der Wahl im Sommer 2010 erreichte die stärkste Kraft – die rechtsliberale VVD – gerade einmal 20,5 Pro-zent der Stimmen; die drei stärksten Parteien zusammen kommen nur noch auf55 Prozent der Stimmen. Insgesamt sitzen in der Tweede Kamer zehn Parteien.Die Regierungsbildungen stellten die Holländer schon häufiger auf harte Ge-duldsproben, 2010 dauerte sie fast vier Monate. Am Ende kam zum ersten Mal seit 1918 eine Regierung ohne eigenständige Mehrheit ins Amt. Die libe-ral-christdemokratische Regierung unter Mark Rutte ist im Parlament von der

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islamophoben Partei Geert Wilders’ abhängig und verfügt selbst dann nur übereine Mehrheit von einer Stimme.

Brüssel: Im südlichen Nachbarland war alles schon immer noch komplizierter.Dass Regierungsbildungen dort etwas länger dauern, ist das belgische Publikumbereits seit Jahren gewohnt. Dabei dominiert der Konflikt zwischen Flamen undWallonen die politische Agenda, so dass es seit der Wahl im Mai 2010 nochimmer nicht zu einer tragfähigen Regierungskonstellation gekommen ist. InFlandern hat die separatistische Nieuw-Vlaamse Alliantie die Wahl gewonnen, sie ist jedoch in der Wallonie ohne politischen Partner. Daneben stehen die vierParteienfamilien (Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberale und Grüne), die jeweils einen flämischen und einen wallonischen Zweig besitzen. Es ist alsokeine einfache Angelegenheit, in solch einer Situation ein kohärentes Regierungs-programm zu entwickeln, dass auch noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit für nötigeVerfassungsänderungen zusammenbringt und den (flämischen) Wahlsieger in dieRegierung holt.

Madrid: Das spanische Parteiensystem ist eine interessante Mischung aus hoherKonzentration und gleichzeitiger Zersplitterung. Die sozialdemokratische PSOEund die konservative Volkspartei PP erhielten bei den Wahlen 2004 und 2008zusammen deutlich über 80 Prozent der Stimmen. Das ist ein europäischer Re-kordwert für die beiden größten Parteien eines Landes. Gleichwohl sitzen imMadrider Parlament zehn Parteien, wobei sechs von ihnen Regionalparteien sind.Seit mittlerweile fast sieben Jahren regiert die PSOE unter José Luis Zapatero,allerdings auch hier als Minderheitsregierung. Seit den neunziger Jahren habensowohl die Volkspartei als auch die Sozialdemokraten ohne eigene Mehrheit imParlament regiert – jeweils mit Unterstützung einer oder mehrerer Regionalpar-teien, was regelmäßig zur Ausweitung der Autonomie der Regionen geführt hat.

Lissabon: In Portugal regieren seit 2005 die Sozialdemokraten. Nach den Parla-mentswahlen im September 2009 kann sich Ministerpräsident José Sócrates nurnoch auf eine Minderheitsregierung stützen – und dies in einer für das Land exis-tenziell schwierigen wirtschaftlichen Situation. Die Sparmaßnahmen der Regie-rung konnten die Sozialdemokraten im Parlament nur mit Mühe durchsetzen.

London: Großbritannien passt nicht ganz in diese Reihe. Nach den Unterhaus-wahlen im Mai 2010 musste Labour zwar die Downing Street räumen, doch auchdie konservativen Tories konnten keine eigene Mehrheit im Parlament erringen.So kam es im Vereinigten Königreich zur ersten Koalitionsregierung seit Ende desZweiten Weltkrieges. Wie stabil die Regierung aus Konservativen und Liberal-demokraten ist, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Ähnlich wie in Deutschland

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mussten die Liberalen seit ihrem Regierungsantritt einen jähen Absturz in denUmfragen hinnehmen. Und allein die Tatsache, dass überhaupt eine Koalitions-regierung gebildet werden musste, zeigt, dass auch in Großbritannien traditionellepolitische Muster ins Rutschen gekommen sind.

Athen, Rom, Berlin: In allen drei Hauptstädten sind Regierungen im Amt, diebei den Wahlen zwar ordentliche Mehrheiten errungen haben, an deren innererStabilität jedoch erhebliche Zweifel bestehen. Am auffälligsten ist dies bei derRegierung Berlusconi, die in diesen Wochen ins Taumeln geraten ist. Die deut-sche Regierung hat binnen weniger Monate so viel Kredit verspielt, dass dieOpposition in den Umfragen mittlerweile mit 20 bis 25 Prozentpunkten vor denRegierungsparteien liegt und die Regierung im Bundesrat keine Mehrheit mehrbesitzt. Und in Griechenland haben die Sozialisten die Wahlen im vergangenenJahr zwar mit absoluter Mandatsmehrheit gewonnen, doch das Sanierungspro-gramm der Regierung Papandreou ist so hart, dass keiner ganz sicher ist, ob diePASOK wirklich bis zu den nächsten regulären Wahlen durchhält.

Die neue Verunsicherung der Demokratie

Bei dieser Aufzählung fehlen osteuropäische Hauptstädte, obwohl diese doch bis-her eher als Hort politischer Unsicherheiten galten. Doch 20 Jahre nach demEnde des Kommunismus und fünf Jahre nach dem EU-Beitritt scheint sich derOsten Europas zu stabilisieren. In der letzten Zeit statteten die Wähler neue Re-gierungen mit ordentlichen Mehrheiten aus. In Ungarn regieren die Nationalkon-servativen der FIDESZ mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, in Polen wird wohl zumzweiten Mal seit 1989 eine Legislaturperiode zu Ende gebracht, in Tschechienwiederum endete im Sommer eine lange Phase der politischen Lähmung. Undselbst die Letten, die unter der Finanzkrise besonders stark leiden, wählten die Re-gierung wieder.

Was also ist los in West-Europa? Bei allen unterschiedlichen politischen Tradi-tionen, Konstellationen und dem jeweiligen politischen Personal: Ist tatsächlichein gemeinsamer Trend erkennbar? Und gibt es einen Zusammenhang zu denjüngsten ökonomischen Friktionen? Zunächst einmal stehen alle Länder vor enor-men wirtschaftlichen Herausforderungen. Die einen, wie Spanien, Portugal oderGriechenland, weil sie schlicht nicht wettbewerbsfähig genug sind. Andere, wieGroßbritannien oder Irland, stehen vor dem Kollaps ihrer Bankensysteme. Undwieder andere, wie Deutschland oder Schweden, sind zwar bislang ganz ordentlichdurch die Krise gekommen, tragen aber eine große Mitverantwortung (oder auch

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Last), damit sich die Schuldenspirale über den Partnerländern in der EU nichtüberdreht und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte nicht noch größer werden.

Dabei wird immer deutlicher, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise massivepolitische Folgekosten hat. Sie zeigen sich in den Schwierigkeiten, die alle Regie-rungen haben, politische Entscheidungen kommunizieren und bisweilen auchverwirklichen zu können. Denn die Regierungen stehen einer Bevölkerung gegen-über, die bis heute kaum verstanden hat, wie und warum der Euro in Gefahr ge-raten konnte, weshalb Griechenland gerettet werden musste und wieso die Welt-wirtschaft immer noch am Abgrund steht und die Art unseres Wirtschaftensbedroht. Das geht einher mit gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozessen, diesich in den vergangenen Jahren noch beschleunigt haben. Sie führen dazu, dass esden „guten alten Volksparteien“ immer weniger gelingt, breite soziale Schichtenanzusprechen und deren Interessen zu vertreten.

Parteiensysteme mit neurotischen Zügen

Die Folgen sind kleiner werdende Großparteien und zunehmend ausdifferenzierteParteiensysteme. Damit haben sich zwar, wie in Deutschland schön zu beobach-ten, die Koalitionsmöglichkeiten vervielfacht. Aber eben auch gleichzeitig dieBlockade- und Vetomöglichkeiten. Man könnte auch sagen, dass die Parteiensys-teme neurotische Züge bekommen haben, weil zwar viele Parteien im Parlamentsitzen, aber längst nicht alle mit allen (regieren) können oder überhaupt Verant-wortung tragen wollen. Das macht die Mehrheitsbildung kompliziert – und führteben auch immer häufiger zu Minderheitsregierungen.

Der gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozess trifft auch und gerade die so-zialdemokratischen Parteien, die einstmals großen auf sozialen Ausgleich undAufstieg orientierten Arbeiterparteien. Arbeiter alten Schlages gibt es kaum noch,und mit dem Aufstieg und Ausgleich ist es auch viel komplizierter geworden. Ge-rade auch die Schwäche der Sozialdemokraten hat in vielen Ländern zu komplizier-ten Mehrheitsverhältnissen geführt. Ganz offensichtlich ist dies in Schweden, Dä-nemark oder Holland, wo die Sozialdemokraten für die Regierungsbildung wedergebraucht werden noch überhaupt genügend Bündnispartner haben. Ähnlich stelltes sich in Deutschland und Großbritannien dar – wenngleich Regenerationspro-zesse in der Opposition nach einer langen Regierungszeit gewiss nicht ungewöhn-lich sind.

Die Integrationsschwäche der Sozialdemokraten erleichtert rechtspopulisti-schen Parteien die Suche nach Sündenböcken. Die Wähler der so genannten

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Schwedendemokraten, der FPÖ, der Wilders-Partei, des Front National oder derdänischen Volkspartei waren noch vor kurzem klassische sozialdemokratischeStammklientel. Arbeiter, Hilfsarbeiter, Ungelernte haben das Vertrauen verlorenin das klassische Aufstiegsversprechen – und den Glauben in die Wirksamkeit vonPolitik gleich mit. Neue Konzepte für gesellschaftliche Integration und sozialenAufstieg zu entwickeln, ist deshalb die Grundvoraussetzung, um überhaupt neuesVertrauen in die Wirkungsmacht von Politik zu generieren. Eine Aufgabe, dersich alle europäischen Parteienfamilien stellen müssen – aber ganz besonders dieSozialdemokraten. Auch deshalb, weil die Sozialdemokratie in den meisten Län-dern Konkurrenz von links bekommen hat. Sie ist damit quasi automatisch eineKraft der Mitte geworden, die in viele Richtungen integrieren kann.

Heute sieht es so aus, als hätte die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht nur einenSchock an den Börsen, sondern auch einen Verunsicherungsschub in den europä-ischen Demokratien ausgelöst. Und damit stehen die Demokratien an sich unterRechtfertigungsdruck. Entscheidend ist also, wie es gelingt, die nötigen wirtschafts-und finanzpolitischen Maßnahmen mit einem neuen gesellschaftspolitischen An-satz zu verbinden – und damit Gestaltungs- und Handlungsmacht der Politikzurückzugewinnen. Dann gibt es auch eine realistische Chance, das Gespenst derUnregierbarkeit wieder zu vertreiben. �

T H O M A S K R A L I N S K I

ist Geschäftsführer der Brandenburger SPD-Landtagsfraktion und Chefredakteur der Zeitschrift Perspektive 21.

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I.Die ökonomischen Auswirkungender Turbulenzen an den Finanz-

märkten mit den Übersprungeffektenauf die Realwirtschaft und den Arbeits-markt sind offensichtlich. Die weltwei-ten Wohlstandsverluste werden unter-schiedlich eingeschätzt. Der niedrigsteWert, den ich gelesen habe, war 15 Bil-lionen US-Dollar. Den weltweiten Ab-schreibungsbedarf in den Bilanzen derBanken hat der IWF auf 1,7 BillionenDollar taxiert. Der britische Rechnungs-hof schätzte Ende 2009 die Stützungs-maßnahmen der zehn wichtigsten Industrieländer für ihre Banken auf 5 Billionen Euro, darunter die USA mit 2,5 Billionen Euro. In den USAsind allein im Jahr 2009 rund 140 Ban-ken zusammengebrochen und von derEinlagensicherung FDIC geschlossenworden. Briten und Amerikaner habenin höchstem Pragmatismus etwas ge-tan, was hierzulande von ordnungspo-litischen Puristen revolutionären Um-trieben gleichgesetzt wird: Sie habenBanken verstaatlicht oder unter ihreFittiche genommen. Die Staatsschul-den der G20-Staaten steigen bis zumJahr 2015 wahrscheinlich um fast 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist

nach internationalen Berechnungs-standards in einigen Ländern wie denUSA und Großbritannien stark (auffast 10 beziehungsweise 8 Prozent)gestiegen, in Deutschland dank effek-tiver arbeitsmarktpolitischer Maßnah-men sogar gesunken. Weite Teile derWelt pendeln zwischen kurzfristigenDeflationsängsten und mittelfristigenInflationserwartungen.

Zerstörerische Kraft

Die Auswirkungen der Krise werdenjedoch viel tiefer greifen und nachhal-tiger sein, als die nackten Daten un-mittelbar erkennen lassen. Wir habenes mit einer Schuldenkrise zu tun, dienicht nur ihren Ausgangspunkt ineiner der höchstentwickelten Volks-wirtschaften – den USA – nahm undvon anderen entwickelten Industrie-ländern befeuert wurde, sondern derenzerstörerische Kraft auch weitgehenddiesen Kreis der führenden Industrie-länder betrifft. Das durchschnittlicheBudgetdefizit der Industrieländer dürf-te inzwischen bei über 7 Prozent, das-jenige der Schwellenländer bei unter 3 Prozent liegen. Daraus lässt sich die

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Die Krise als Zäsur DIE BEWÄLTIGUNG DER FINANZKRISE ERFORDERT

MEHR ALS NUR DIE SANIERUNG DES BANKENSEKTORS

VON PEER STEINBRÜCK

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durchaus vertretbare These ableiten,dass die Finanz- und Wirtschaftskrisedas geopolitische Koordinatensystemverändern wird. Der Trend zu einersolchen Verschiebung im ökonomi-schen und politischen Kräftefeld warallerdings schon vor Beginn der Kriseeingeleitet. Aber die Krise war und istein Treibsatz dieser Entwicklung.

Europa hat nach dem MaastrichterVertrag von 1992 den Sprung voneiner Währungsunion zu einer politi-schen Union nicht vollzogen. Weileine Koordination der Wirtschafts-und Finanzpolitik seiner Mitglieds-staaten ausblieb, haben die Dispari-täten innerhalb der Eurozone wie derEU insgesamt nicht ab-, sondern zu-genommen. Über die Beitrittspolitikseit 1992, als die damalige EuropäischeGemeinschaft noch aus zwölf Staatenbestand, ist dieses Europa inzwischenauf 27 Staaten, mit der Perspektiveweiterer Aufnahmen, angewachsen,ohne dass es sich dafür die notwendi-gen institutionellen und verfahrenspo-litischen Voraussetzungen geschaffenhat. Der Einsatz seiner finanziellenMittel entspricht nicht den Prioritäten.Über die FinanzmarktreguIierung, dieKonjunkturförderung, den Defizitab-bau und den Einfluss auf die Geldpo-litik der EZB gehen die Meinungenund Interessen deutlich auseinander.Statt von einer zündenden Idee überdas Europa der Zukunft mitgerissen zuwerden, sind die Bürger frustriert von

einem Europa der bürokratischen De-tailregelungen unter Verletzung desSubsidiaritätsprinzips.

II.Unterschätzt wird, dass die Krisenicht nur ökonomische Kosten

verursacht, sondern auch zahlreichegesellschaftliche Implikationen hat.Wenn es stimmt, dass die Krise auchzu einem Umdenken geführt hat unddie in manchen Etagen der Gesell-schaft unverhohlen zum Ausdruckgebrachte „Bereichert euch!“-Menta-lität tatsächlich im Schwinden begrif-fen ist – jedenfalls nicht mehr so offenund lautstark vertreten wird –, dannwäre das ein positiver Effekt.

Vertrauen ist beschädigt

Unzweifelhaft scheint mir indes, dasses eine tiefgehende Verstörung der Ge-sellschaft darüber gibt, was da in denletzten drei Jahren eigentlich passiertist. Die These von der angeblich selbst-regulierenden und zum Ausgleich ten-dierenden Kraft der Märkte ist falsifi-ziert worden. Exzesse, Spekulationenund sich selbst verstärkende Prozessehaben zwar nicht die Legitimation derMarktwirtschaft erschüttert. Aber dasVertrauen in dieses Ordnungssystemist schwer beschädigt. Gleichzeitig sinddie Erwartungen an eine ordnende undstabilisierende Hand des Staates bezie-hungsweise an die Koordinierungsfä-higkeit souveräner Staaten, in interna-

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thema – it’s the economy, stupid?

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tionalen Organisationen ein Regel-werk zu erstellen und durchzusetzen,gewachsen.

Das aber heißt: Antworten auf dieKrise werden bei einer übergeordneten,demokratisch legitimierten Instanzgesucht. Gleichzeitig breitet sich aberder Eindruck aus, dass staatliche In-stanzen und ihre Vertreter dazu nichtin der Lage sind, entweder, weil siesich als handlungsunfähig erweisen –oder, weil der Taktstock längst nichtmehr in ihren Händen liegt. Eine ent-grenzte, enthemmte Wirtschaftsmachtmit eigenen Gesetzmäßigkeiten scheintsich jeder politischen Kontrolle zu entziehen. Und hier erhebt sich diezentrale Frage nach dem Primat derPolitik: Ist sie in der Lage, Einfluss zurückzugewinnen, oder unterliegenwir bereits unwiderruflich dem Primatder Ökonomie?

III.Die Demokratie kommt überdie gegenwärtige Krise in einen

doppelten Stresstest. Sie muss einerseitsden Bürgern erklären, dass das her-kömmliche Wachstumsparadigma inder Folge der Krise gestört, ja prinzipi-ell in Frage gestellt sein könnte. Undsie ist den Bürgern auf der anderenSeite den Beweis schuldig, dass es nichtanonyme Wirtschaftskräfte und dieKalküle eines brutalen Finanzkapita-lismus sind, welche den Weltenlaufund ihre persönlichen Lebensverhält-nisse bestimmen, sondern dass demo-

kratisch legitimierte Institutionen undderen Repräsentanten die Kraft undden Gestaltungswillen haben, das Ru-der wieder in die Hand zu nehmen.Die vier Dimensionen der Krise – dieFinanzmarktkrise, die Krise der Real-wirtschaft, die Fiskalkrise, die sich zueiner Bedrohung ganzer Nationalstaa-ten ausweitet – haben sich (bisher)nicht zu einer Krise der Demokratieverdichtet. Aber der Stress und der Le-gitimationsdruck für die Demokratienehmen zu.

Wer trägt die Kosten?

Dazu trägt nicht zuletzt die bisher un-gelöste Frage bei, wer die Kosten derKrise zu tragen hat. Nachdem die Ban-ken untereinander kein Vertrauenmehr hatten und sich das Vertrauenvom Staat in Form eines Rettungspa-kets von 500 Milliarden Euro allein inDeutschland leihen mussten, war es dieAufgabe der Politik, jedes Abgeordne-ten in seinem Wahlkreis und jedesMitglieds der Bundesregierung vor denMikrophonen, diesen einmalig hohenstaatlichen Einsatz öffentlich zu erklä-ren und zu vermitteln. Es kann demBürger nicht abverlangt werden, imRahmen dieser gigantischen SummenGarantien, Eigenkapitalzuschüsse undRisikoübernahmen zu unterscheidenund dann auch noch zu verstehen, dasser auf seine berechtigte Frage, mit wel-chen Fälligkeiten, eventuellen Risiken

21perspektive21

peer steinbrück – die krise als zäsur

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und tatsächlichen Belastungen für dieStaatskasse – also für ihn als Steuer-zahler – zu rechnen sei, keine einfa-chen Antworten bekommt. Klebenbleiben 500 Milliarden Euro, eineSumme, deren unendlich viele Nullenauf die eigene Lebensumgebung gespie-gelt werden: auf die renovierungsbedürf-tige Schule der Kinder, die fehlendeUmgehungsstraße zur Lärmminderung,den knappen Hartz-IV-Regelsatz, dieausgebliebene Rentenerhöhung, denabgewiesenen Betriebsmittelkredit füreinen Handwerker oder die geschlos-sene Stadtbücherei.

IV.Die Erläuterung, warum derBankensektor stabilisiert werden

musste, konnte gelingen, weil sie denStellenwert der Banken, die Versorgungvon Wirtschaft und Gesellschaft mitdem Lebenssaft Geld oder Kapital zubeschreiben wusste. Vom Rentner sei-nen Rentenansprüchen über den Sparermit seinen Anlagen, den Häuslebauermit seiner Hypothek, den Arbeitneh-mer mit den fremdfinanzierten, Ar-beitsplätze schaffenden Investitionenseines Unternehmens bis hin zumGewerbetreibenden mit seiner Kredit-linie – jeder konnte verstehen, dass einstabiler und funktionsfähiger Finanz-dienstleistungssektor von existenziellerBedeutung ist und sich nicht für irgend-welche Experimente eignet, an derenEnde ein Herzinfarkt der Geld- undKreditwirtschaft stehen kann.

Das Verständnis der Bürger gehtaber keineswegs so weit, dass sie bereitsind, auch noch die Lasten aus derKrise zu übernehmen. Sie haben denEindruck, dass die staatlichen Hilfennicht an die Geschädigten der Krisefließen, sondern an die Verursacher.Die Frage, ob es gelingt, das Banken-system angemessen an den Folgekostender Krise zu beteiligen, wird darüberentscheiden, ob die Politik Vertrauenzurückgewinnt. Über Instrumentekann man lange streiten. Ich fand undfinde es einleuchtend, ausnahmslosjedes Finanzgeschäft so zu behandelnwie eine Handwerkerdienstleistung,nämlich mit einer Art Mehrwertsteuerzu belegen. Der kompliziertere Begriffdafür lautet Finanzmarkttransaktions-steuer. Wenn sich darüber, wie es aus-sieht, im G20-Kreis keine Einigkeitherstellen lässt und im Europa der 27 mit einer seit jeher spezifischenPosition Großbritanniens ebenfallskein Fortschritt zu erzielen ist, dannwird sich die deutsche Politik mitihrem ganzen Gewicht auf die Euro-zone konzentrieren und Verbündetefür die Einführung einer solchenSteuer suchen müssen. Bleibt es beidem jetzigen Zustand, der die Bankenweitgehend – die in Rede stehende,umstrittene Bankenabgabe ist wederqualitativ noch quantitativ ein Ersatz –von den Kosten für die Aufräumarbei-ten freistellt, und werden die erstenGewährleistungen zu Lasten des Staats-

22 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

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haushalts mit Konsequenzen auf derEinnahme- und Ausgabenseite fällig,wird sich die gezügelte Empörungsowohl gegen „die“ Banken als auch„die“ Politik möglicherweise auch irrational entladen.

Eine Krise des Denkens

Einige Bankenmanager haben denKnall offenbar immer noch nicht ge-hört. In den Prämientöpfen der Groß-banken der Wall Street sollen für 2009etwa 120 bis 140 Milliarden US-Dollarauf ihre Ausschüttung an Mitarbeitergewartet haben. Weil an der WallStreet, im Unterschied zu den meistenanderen Branchen, Bonuszahlungennicht aus dem Gewinn gezahlt werden,sondern aus dem Umsatz, kann es pas-sieren, dass Finanzinstitute selbst dannPrämien ausschütten, wenn sie Ver-luste erwirtschaften. Falls sich diesePraxis und die Geschäftspraktiken, diein die Finanzkrise geführt haben, nichtdurch ein proaktives Handeln des Ban-kensystems selbst ändern, wird es zueiner Auflehnung von „Main Street“gegen „Wall Street“ kommen, undzwar nicht nur in den USA, sondernauch unter den gemäßigteren Verhält-nissen in Europa.

V.Der Chef der britischen Finanz-aufsicht, Lord Adair Turner, soll

laut Spiegel gesagt haben, dass die Krisenicht nur eine Krise einzelner Banken

sei, sondern eine Krise des Denkens.Unsere Vorstellung, dass Preise wichti-ge Informationen transportieren, dassMärkte sich rational verhalten und sichim Falle von Irrationalität selbst korri-gieren, sei in Frage gestellt. Nur wersich diese bitteren Wahrheiten zumute,werde bei der Suche nach Lösungenerfolgreich sein können. Das Gesche-hen auf den Finanzmärkten hat sich inder Tat längst von der Wirklichkeitrealwirtschaftlicher Vorgänge gelöst.Der Nominalwert von außerbörslichgehandelten Derivaten ist Mitte 2009wieder auf über 600 Billionen US-Dol-lar gestiegen. Das weltweite Handels-volumen an den Finanzmärkten sollbei ungefähr 4.400 Billionen US-Dol-lar liegen und damit über 70-mal sogroß sein wie die jährliche weltweiteWirtschaftsleistung. Bei solchen Ab-weichungen zwischen nominalen Ge-schäften auf den Finanzmärkten undder realen Wertschöpfung wird deut-lich, dass es sich bei der gegenwärtigenKrise auch um eine Krise in den Köpf-chen handelt.

Der Beginn etwas Besseren

Es geht um eine Richtungsänderung,durch die die Regeln und die Formunseres Wirtschaftens stärker aufgesellschaftliche Werte verpflichtetwerden. Der Kampf gegen die Krisebraucht mehr als nur die Hoffnung,darüber hinwegzukommen. Aus dieser

23perspektive21

peer steinbrück – die krise als zäsur

Page 24: perspektive21 - Heft 47

Krise keine Lehren zu ziehen für dieZeit danach wäre nicht nur eine schrei-ende Dummheit, sondern auch blankerZynismus gegenüber, denjenigen, diezu den Verlierern gehören.

In einer neuen Orientierung ver-sucht man zu begreifen, was schiefgelaufen ist. Man versucht, so etwaswie einen Sinn im Scheitern zu erken-nen. Es stellt sich die Frage, wozu dasalles möglicherweise am Ende dochnoch irgendwie gut sei, was wir durch-leben. Der Sinn, den ich in diesemepochalen Ereignis sehe, ist die Er-kenntnis des Irrsinns, der dazu geführthat. Wenn die Zäsur eine Wendebewirkt zu einem nachhaltigeren Wirt-schaften, zu einer größeren Verant-wortungsbereitschaft von Eliten, zueiner Stärkung des politischen Man-dats, zu einer Bändigung des Finanz-kapitalismus durch Transparenz, Re-gierung und Aufsicht sowie zu einerstärkeren europäischen Aufstellung und einer stabileren Weltwirtschaftsord-nung, dann ist das aktuelle Geschehenzwar immer noch sehr schmerzhaft, aberimmerhin der Beginn von etwas Besse-rem. Weniger als das sollte eine Zäsurnicht bewirken.

VI.Und Deutschland? Das Wirt-schaftsmodell Deutschland

steht auf dem Prüfstand. Es fehlt an einem Konzept, wie die Republik an-gesichts ihrer Stärken, aber auch ihrerim rasanten Wandel unübersehbaren

Schwächen das Niveau halten kann, dasihr in den vergangenen Jahrzehnten einhistorisch einmaliges Maß an individu-eller Freiheit, ökonomischem Wohl-stand und sozialem Ausgleich bescherthat. Wir gehen auf sehr wackligen Bei-nen in die Zukunft. Es ist Zeit für eineAgenda 2020.

Wo die Arbeit von morgen ist

Im Bundestagswahlkampf 2009 legteder SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier ein Papier unterdem Titel „Die Arbeit von morgen –Politik für das nächste Jahrzehnt“ vor.Die Reaktion der politischen Konkur-renz war höhnisch bis abfällig. Diemeisten von ihnen hatten nicht einmaleine Zusammenfassung gelesen. Das67-seitige Papier mag wahlkampfun-tauglich gewesen sein. Ich grabe es wie-der aus, weil es mehr als der bloßeVersuch war, von einem Standort imSommer 2009 einen Weg in das nächs-te Jahrzehnt zu beschreiben. Das Pa-pier befasst sich in acht Punkten miteiner Modernisierung des Produktions-standortes Deutschland, dem Entwick-lungspotential der Gesundheits- undKreativitätswirtschaft als Wirtschafts-faktoren wie auch als Treiber gesell-schaftlicher Prozesse, der Stärkung derBinnennachfrage durch eine gerechteEinkommensverteilung und öffentlicheInvestitionen, der SchlüsselkategorieBildung, der Revitalisierung der sozia-

24 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

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len Marktwirtschaft, der Gleichberech-tigung von Frauen auch in Führungs-positionen, dem Ausbau moderner undintelligenter Netze in den BereichenKommunikation, Energie und Verkehr

sowie abschließend mit der Regelungder Finanzmärkte. Das sind achtFelder, auf denen sich Zukunft inDeutschland ergibt – oder gestaltetwird. �

25perspektive21

peer steinbrück – die krise als zäsur

P E E R S T E I N B R Ü C K

war von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister und stellvertretender Vorsitzender der SPD.

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26 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

Page 27: perspektive21 - Heft 47

K aum zwei Jahre ist es her, dass dieWelt aus den Fugen zu geraten

schien. Das Weltfinanzsystem war insStraucheln geraten und zog auch dieRealwirtschaft in den Strudel hinein;ein Rückgang des Bruttoinlandspro-dukts in den Ländern der europäischenUnion um 4,2 Prozent im Jahr 2009war die Folge. Um Schlimmeres abzu-wenden, hat die Politik allerorten be-herzte Gegenmaßnahmen ergriffen undinsbesondere durch kreditfinanzierteAusgabenprogramme den Ausfall pri-vater Nachfrage zu kompensieren ver-sucht.

Im Untergrund gärt es noch

Auch wenn es im Untergrund noch immer gärt, weder die Ursachen derFinanzkrise behoben noch all ihre Fol-gen bewältigt sind, befindet sich dieWeltwirtschaft inzwischen in einemkräftigen Konjunkturaufschwung. Diesgilt insbesondere auch für Deutschland,wo das Wirtschaftswachstum im Jahr2010 die 4-Prozent-Marke nur knapp

verfehlte. Auch die Arbeitslosigkeit gehtdeutlich zurück und unterschreitet in-zwischen sogar das Vorkrisen-Niveau.Also alles wieder gut?

Schon im gesamtdeutschen Rahmenkann hiervon keine Rede sein: Deraktuelle Konjunkturaufschwung istmaßgeblich getrieben durch das Fort-wirken der expansiven Politik der Jahre2008/2009, und eine Abschwächungim Jahr 2011 ist sehr wahrscheinlich.Auch darf nicht übersehen werden,dass das Vorkrisenniveau beim Brutto-inlandsprodukt noch nicht wieder er-reicht ist. Und nicht zu verkennen ist,dass sich durch die massiven öffentli-chen Hilfen für Unternehmen undBanken ein erheblicher Konsolidie-rungsdruck aufgebaut hat, der in denkommenden Jahren zu einer Ein-schränkung der öffentlichen Ausgabenund damit zu einer zusätzlichenDämpfung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung führen wird. Die Ent-spannung am Arbeitsmarkt dürfte sichzwar fortsetzen; stattdessen rückt aberdas Problem zunehmender Fachkräfte-

27perspektive21

Auf der Suche nachneuen Lösungen DIE OSTDEUTSCHE WIRTSCHAFT NACH DER FINANZ- UND

WIRTSCHAFTSKRISE

VON JOACHIM RAGNITZ

Page 28: perspektive21 - Heft 47

knappheiten aufgrund der demografi-schen Entwicklung in den Vorder-grund. All dies lässt die weiteren Zu-kunftsaussichten für die deutscheWirtschaft in einem weniger rosigenLicht erscheinen als es der Öffentlich-keit häufig suggeriert wird.

Geringerer Absturz

Genaueres Hinsehen offenbart zudem,dass die regionalwirtschaftlichen Ungleichgewichte in Deutschland –insbesondere der Abstand der Wirt-schaftskraft zwischen Ost- und West-deutschland – auch nach der Krisefortbestehen. Ostdeutschland war vonden rezessiven Tendenzen der Jahre2008/2009 zwar weniger stark betrof-fen als die westdeutschen Länder, dochhat dies allein mit den spezifischenWirtschaftsstrukturen in den neuenLändern zu tun: Die Nachfragerück-gänge trafen vor allem die Industrieund hier wiederum vor allem die starkim Export engagierten Unternehmen,so dass Ostdeutschland wegen desgeringeren Anteils der Industrie an derGesamtwirtschaft und der im ganzenschwächeren Exportorientierung in derKrise zunächst begünstigt war. Tat-sächlich lag die Veränderungsrate desBruttoinlandsprodukts in den ostdeut-schen Ländern insgesamt im Jahr 2009nur bei -2,9 Prozent. Dabei waren diestärker industrialisierten LänderSachsen-Anhalt (-4,7 Prozent) und

Thüringen (-4,3 Prozent) stärker be-troffen als die eher ländlich geprägtenLänder Brandenburg (-2,1 Prozent) undMecklenburg-Vorpommern (-2,3 Pro-zent). Die Berliner Wirtschaft mitihrem hohen Dienstleistungsanteil kamsogar nahezu unbeschadet durch dieKrise (-0,7 Prozent). Verglichen mitBundesländern wie dem Saarland (-7,9 Prozent) oder Baden-Württem-berg (-7,4 Prozent) waren die direktenAuswirkungen der konjunkturellen Abschwächung also gering.

Der Abstand bleibt

Genau diese strukturellen Besonder-heiten verhindern allerdings auch, dassdas Bruttoinlandsprodukt in Ost-deutschland im aktuellen konjunktu-rellen Aufschwung im Gleichklang mitder gesamtdeutschen Entwicklungzunehmen kann, denn die Wachstums-dynamik wird derzeit vor allem vonder Industrie und hier insbesonderevon den exportorientierten Zweigengetragen. Selbst eine Verlagerung derAuftriebskräfte auf die Binnennach-frage – Konsum und Investitionen –dürfte der ostdeutschen Wirtschaftnicht viel nützen, weil insbesondere inder Industrie eher vorleistungsorien-tierte Wirtschaftszweige dominieren.Der Abstand der Wirtschaftskraft ge-genüber dem westdeutschen Durch-schnittswert dürfte sich also weiterhinin einer Größenordnung von 30 Pro-

28 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

Page 29: perspektive21 - Heft 47

zent (Bruttoinlandsprodukt je Einwoh-ner) bzw. 20 Prozent (Bruttoinlands-produkt je Erwerbstätigen) bewegen.

Was im Osten fehlt

Dies ist mehr, als mit gängigen Vor-stellungen über die „Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse“ vereinbarscheint. Natürlich ist „Gleichwertig-keit“ nicht mit „Einheitlichkeit“ zuverwechseln. Ein ausreichend hohesEinkommensniveau ist aber nicht nurerforderlich, um gesamtdeutscheStandards bei der öffentlichen Da-seinsvorsorge auch bei stark rückläu-figer Bevölkerung finanzieren zu kön-nen, sondern auch notwendig, um dieAbwanderung gerade jüngerer und gutqualifizierter Erwerbspersonen zu ver-hindern. Letzteres kann nämlich dazuführen, dass sich Rückstände in derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ver-härten, weil Unternehmen nicht diebenötigten Fachkräfte in Ostdeutsch-land finden können und sich letztenEndes eine Wirtschaftsstruktur heraus-bildet, die geprägt ist durch eher einfa-che, wenig wertschöpfungsintensiveProduktionen.

In vielen Regionen Ostdeutschlandsist genau dies bereits festzustellen: Esfehlt an Unternehmenshauptsitzen mitentsprechenden betrieblichen Funktio-nen (wie Forschung und Entwicklung),ein anspruchsvolles Dienstleistungs-angebot gibt es nur in Ansätzen, und

die meisten Unternehmen sind viel zuklein, als dass sie Marktchancen aufüberregionalen oder gar internationa-len Märkten wahrnehmen könnten. Alldies wirkt sich nicht nur nachteilig aufdas durchschnittliche Produktivitäts-niveau in der ostdeutschen Wirtschaftaus, sondern verringert auch die Chan-cen auf ein höheres Lohn- und Ein-kommensniveau. Es ist leicht erkenn-bar, dass dies in einzelnen Regionen zukumulativen Abwärtsspiralen führenkann.

Die Probleme bleiben

Hinzu kommt, dass nach wie vor etwa ein Fünftel der ostdeutschenWirtschaftsleistung auf öffentlichenTransferleistungen beruht. Diese wer-den in den kommenden Jahren zu-nehmend zurückgeführt: So ist derSolidarpakt II bis 2019 befristet, dieLeistungen im Länderfinanzausgleichsind direkt an die Einwohnerzahl derEmpfängerländer gekoppelt, und inder Rentenversicherung sind rückläufi-ge Transfers aufgrund der niedrigerenRentenansprüche kommender Rent-nergenerationen zu erwarten. Zudemwerden weite Teile Ostdeutschlandskünftig nicht mehr bevorzugte Ziel-regionen der EU-Strukturfondsförde-rung sein. All das dämpft die wirt-schaftlichen Entwicklungsperspektivenzusätzlich, und zwar sowohl angebots-als auch nachfrageseitig. Und selbst

29perspektive21

joachim ragnitz – auf der suche nach neuen lösungen

Page 30: perspektive21 - Heft 47

wenn man dies als eine Art von„Normalisierung“ wohl akzeptierenmuss (und sowohl eine dauerhafteSubventionierung der Unternehmenals auch eine fortgesetzte Alimentie-rung der Nachfrage in Ostdeutschlandschwerwiegende Anreizprobleme mitsich bringt), darf man die kurzfristig zuerwartenden negativen Auswirkungendoch nicht verleugnen.

Die Wirtschaftskrise hat die fortbe-stehenden regionalwirtschaftlichen Pro-bleme in Deutschland eine Zeitlang inden Hintergrund rücken lassen – gelöstsind sie deswegen noch nicht. Dasssich der Bund nur noch wenig umOstdeutschland kümmert, mag mandabei noch hinnehmen, da für dieBundespolitik die gesamtdeutschenAufgaben im Vordergrund stehen müs-sen. Allerdings sollte geprüft werden,inwieweit ordnungsrechtliche Rahmen-bedingungen, die für ganz Deutschlandgelten, in jedem Einzelfall auch denBedürfnissen strukturschwacher Regio-nen (in Ost- und in Westdeutschland)gerecht werden.

Das meiste ist schon erprobt

Problematischer aber ist: Auch den ost-deutschen Ländern als den eigentlichBetroffenen scheint es an Phantasie zufehlen, wie mit den bestehenden He-rausforderungen umzugehen ist. Zwarist zuzugestehen, dass es zunehmendschwer fällt, geeignete politische An-

satzpunkte zu benennen: alle vorstell-baren Politikmöglichkeiten scheinen inder einen oder anderen Weise bereitserprobt worden zu sein. Es mag aberauch sein, dass der Leidensdruck in derVergangenheit noch nicht groß genugwar, nach innovativen Lösungen zusuchen, insbesondere weil die bisherigeFinanzausstattung noch vergleichsweisegroßzügig bemessen und ein möglichesAufbegehren der Bevölkerung bislangnicht festzustellen war.

Bescheidenheit üben

Oder auch: Weil sich die Politik zu-weilen selbst im Wege steht. So könntebeispielsweise eine regional stärker dif-ferenzierte Ausgestaltung wirtschaftsre-levanter Rechtsvorschriften die Attra-hierung von Investoren erleichtern(was aber der „Einheitlichkeit desRechtssystems“ entgegensteht); eineverstärkte Förderung der Agglomera-tionsräume könnte diese zu echten„Wachstumspolen“ entwickeln (wasaber der gängigen Interpretation desGrundsatzes gleichwertiger Lebensver-hältnisse widerspricht); eine stärkereFinanzierung regionaler Initiativendurch die Landespolitik könnte zueiner Mobilisierung der Akteure vorOrt beitragen (was aber häufig amMisstrauen gegenüber deren fachlichenKompetenzen scheitert); ein klares Be-kenntnis zu (regional und fachlich)integrierten Politikkonzepten könnte

30 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

Page 31: perspektive21 - Heft 47

dazu beitragen, Ressortdenken undWettbewerbsängste zu überwinden,und ähnliches mehr. Und es bedarf derEinsicht, dass die Politik letzten Endes„gegen den Markt“ (und das heißt indiesem Fall: gegen den internationalenWettbewerb) nur wenig auszurichtenvermag. Auch bloße Forderungen nach„mehr Geld“ sind nicht hilfreich, solange nicht klar ist, wie die Finan-zierung erfolgen und welche Maß-nahmen damit überhaupt finanziertwerden sollen.

Letzten Endes bedarf es des Ein-geständnisses: Auch wenn beim„Aufbau Ost“ viel erreicht wurde, ist die wirtschaftliche (und gesell-

schaftliche) Entwicklung in denneuen Ländern kein Selbstläufer, derbis zum Auslaufen des SolidarpaktesII quasi automatisch zu einem befrie-digenden Ergebnis führen wird. Ingleicher Weise muss die Politik aberauch bereit sein, Bescheidenheit zuüben; manche Entwicklungen entzie-hen sich ihres Einflusses. Nur wennsie bereit ist dies zuzugeben, bestehtauch die Möglichkeit, sukzessive nachneuartigen Lösungen zu suchen unddiese auch umzusetzen. Ansonsten istzu befürchten, dass die regionalenDisparitäten in Deutschland im Jahr2020 eher noch größer als heute seinwerden. �

31perspektive21

joachim ragnitz – auf der suche nach neuen lösungen

D R. J O A C H I M R A G N I T Z

arbeitet am ifo Institut für Wirtschaftsforschung in Dresden.

Page 32: perspektive21 - Heft 47

32 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

Page 33: perspektive21 - Heft 47

Im Rahmen der Neuausrichtung derFörderpolitik unter dem Motto

„Stärken stärken“ hat das Land Bran-denburg im November 2005 15 so genannte Regionale Wachstumskerne(RWK) ausgewiesen. Es handelt sichdabei um Standorte, die über beson-dere wirtschaftliche bzw. wissenschaft-liche Potenziale sowie über eine Min-desteinwohnerzahl verfügen. Neben

dieser regionalen Neuausrichtung derFörderpolitik wurde eine sektoraleKomponente mit den 16 Branchen-kompetenzfeldern eingeführt. Die 15 RWK umfassen 10 Prozent derFläche des Landes Brandenburg, ver-einen gut ein Drittel der BevölkerungBrandenburgs auf sich und bietenknapp die Hälfte der Arbeitsplätze des Landes an.

33perspektive21

michael göbel – anstoß für mehr

Anstoß für mehr EINE ZWISCHENBILANZ DER NEU AUSGERICHTETEN

BRANDENBURGER FÖRDERPOLITIK AUF REGIONALE WACHSTUMSKERNE

VON MICHAEL GÖBEL

Prignitz

Luckenwalde

Cottbus

Prignitz

Potsdam

Neuruppin

Spremberg

SchönefelderKreuz

EberswaldeO-H-V

Westlausitz

Ludwigs-felde

Schwedt/Oder

Frankfurt (Oder) -Eisenhüttenstadt

Fürstenwalde/Spree

Brandenburgan der Havel

P

P

PP

P

PP

P

P

PP

P

P P

P

Regionale Wachstumskerne

P Regionaler Wachstumskern*

* gemäß Kabinettbeschluss vom November 2005

Name derRegionalen Wachstumskerne

O-H-VOranienburgHennigsdorfVelten

PrignitzPerlebergWittenbergeKarstädt

WestlausitzFinsterwaldeGroßräschenLauchhammerSchwarzheideSenftenberg

Schönefelder KreuzKönigs WusterhausenWildauSchönefeld

LBV, Raumbeobachtung | 2010

Regionale Wachstumskerne

O-H-VOranienburgHennigsdorfVelten

PrignitzPerlebergWittenbergeKarstädt

WestlausitzFinsterwaldeGroßräschenLauchhammerSchwarzheideSenftenberg

Schönefelder KreuzKönigs WusterhausenWildauSchönefeld

LBV, Raumbeobachtung | 2010

Page 34: perspektive21 - Heft 47

Die Neuausrichtung der Förderpo-litik auf regionale Wachstumskerne solldazu beitragen:

� die Schaffung von Arbeitsplätzen zuunterstützen und damit die Abwan-derung zu verringern,

� die nach wie vor hohe Arbeitslosig-keit in Brandenburg dadurch besserzu bekämpfen, dass den hier ansäs-sigen oder ansiedlungswilligen Un-ternehmen passgenauere Investi-tionsbedingungen und attraktivereStandorte angeboten werden,

� die bereits seit 2007 rückläufigenMittel des Landes (unter anderemdurch zurückgehende EU-Mittel

und Bundeszuweisungen) effizientereinzusetzen.Darüber hinaus sollen die Wachs-

tumskerne eine Motorfunktion für ihre Region erfüllen und in ihr Um-land ausstrahlen.

Der Prozess der Neuausrichtung der Förderpolitik wird von einerInterministeriellen Arbeitsgruppe„Integrierte Standortentwicklung“(IMAG) begleitet und durch dieStaatskanzlei federführend koordi-niert. Die folgende Abbildung gibteinen stark vereinfachten Überblicküber den zeitlichen Ablauf und dieMeilensteine der Neuausrichtung der Förderpolitik auf RWK.

34 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

20092007200620052004

prioritäre Maßnahmen Sofortmaßnahmen

27

133 Sofortmaßnahmen und prioritäre Maßnahmen, davon 21 bis Oktober 2009 abgeschlossen

15 24

2008

17 26

Auftrag IMAG

Entwicklung

regionaler Förder-

strategie

14.12.2004

2. IMAG Bericht

Festlegung RWK

und erste Sofortmaßnahmen

22.11.2005

April 2005

1. IMAG

Bericht

Festlegung BKF + BSO

23.11.2005

Auftrag RWK:

Entwicklung

von SEK

1.1.2006 12.9.2006

Neu-

ausrichtung:

GA-I auf RWK, GA-G

auf BKF

3. IMAG Bericht

Kabinett-

beschluss: prioritäre

Maßnahmen

Juni/Juli 2006

Beginn

Gesprächs-

runden RWK, IMAG

Prognos

4. IMAG Bericht

Kabinett-

beschluss: prioritäre

Maßnahmen

5.12.2006

19.6.2007

2.12.2008

5. IMAG

Bericht

7. IMAG

Bericht

August 2007

Ende

Prozess-

evaluierung Prognos

Oktober 2008 18.12.2007

6. IMAG

Bericht

Beginn

Prozess-

evaluierung Prognos

Beginn

Ergebniseva-

luation Regionomica

Oktober 2009

Feb 2009

Internet-

portal

2010

8. IMAG

Bericht

15.12.2009

24

Dezember

2010

Endbericht

Evaluation

Gespräche

RWK / IMAG

und Vorbereit- ung 9. IMAG

Bericht

Sep./Okt. 2010

Meilensteine der neu ausgerichteten Förderpolitik

Page 35: perspektive21 - Heft 47

Der Landtag hatte die Landesregie-rung mit Beschluss vom 24. Januar2008 aufgefordert, eine RWK-Wir-kungs- und Statusevaluierung im Jahr2010 vorzubereiten, mit der eine Ent-scheidung vorbereitet werden soll, wel-che Städte oder Städteverbünde denRWK-Status behalten bzw. erhalten.Betrachtet werden sollen dabei aucherfolgreiche Standorte außerhalb derzurzeit definierten regionalen Wachs-tumskerne. Mit dieser Evaluation wurdeEnde Oktober 2009 die RegionomicaGmbH in Kooperation mit der ErnstBasler + Partner GmbH beauftragt.

Im Mittelpunkt der Evaluation ste-hen drei Untersuchungsfelder:

� sozioökonomische Ausgangslage undEntwicklung in den einzelnen RWK(Indikatorenanalyse),

� Bestandsaufnahme und Zwischen-bilanz zu Ergebnissen der Neuaus-richtung der Förderpolitik auf RWK,

� soziökonomische Ausgangslage undEntwicklung von BrandenburgerStandorten außerhalb der RWK(Indikatorenanalyse).

Die Evaluationsuntersuchung erfolgtin zwei Phasen und basierte auf insge-samt 15 Arbeits- und Teilarbeitsschrit-ten. Methodische Schwerpunkte sindneben der Zusammenstellung undAuswertungen der Unterlagen undStatistiken für die sozioökonomische

Analyse der RWK sowie der Kommu-nen außerhalb der RWK mit 15.000und mehr Einwohnern die Erarbeitungso genannter RWK-Profile für jedenregionalen Wachstumskern und insbe-sondere umfassende Fachgespräche inden RWK.

Mittlerweile liegen zwei Zwischen-berichte vor, die über die Internetseiteder Staatskanzlei auch einer breitenÖffentlichkeit zugänglich sind.1 AusSicht der Gutachter sind die folgendenZwischenergebnisse besonders erwäh-nenswert.

Effekte mit Verzögerung

Die neue Förderpolitik läuft jetzt seitetwas mehr als fünf Jahren – und istdamit insgesamt noch relativ jung. So wurden seit Beginn der Neuaus-richtung der Förderpolitik insgesamt27 Sofortmaßnahmen und 106 prio-ritäre Maßnahmen für die regionalenWachstumskerne angestoßen bzw.durch die Landesregierung genehmigt.Bis Ende Oktober 2009 waren 21 Pro-jekte abgeschlossen. Bis zum Ende derEvaluation zum Jahresende 2010 wer-den voraussichtlich 36 Projekte, dassind knapp 30 Prozent, tatsächlich abgeschlossen sein.

Fast die Hälfte der Maßnahmen be-zieht sich auf eine Verbesserung derVerkehrsinfrastruktur. Weitere Schwer-

35perspektive21

michael göbel – anstoß für mehr

1 www.stk.brandenburg.de

Page 36: perspektive21 - Heft 47

punkte sind die Bildungs- und For-schungsinfrastruktur, die städtischeInfrastruktur, die Kultur und der Tou-rismus, die Kooperation mit dem Um-land, die Wirtschaftsförderung, dieEntwicklung von Gewerbeflächensowie die Fachkräftesicherung. Bei derMehrzahl der Projekte handelt es sichum Investitions- und Bauprojekte, beidenen nach der Fertigstellung erst mitweiteren Verzögerungen die tatsächli-chen Wirkungen und Effekte ersicht-lich werden.

Sehr hohes Engagement

Die RWK-spezifischen Strategien,Maßnahmebündel und Aktivitäten derRWK selbst verdeutlichen die Diffe-renziertheit aller Wachstumskerne. Diebisherige Datenauswertung zeigt, dasseine enge Korrelation zwischen der La-ge der RWK im Raum und der sozio-ökonomischen Entwicklung unterstelltwerden kann und nachvollziehbar ist.Die Maßnahmenableitung in denRWK hängt sehr stark von den örtli-chen und regionalen Gegebenheiten,dem wirtschaftlichen Profil und derbereits in der Vergangenheit eingeschla-genen Infrastrukturentwicklung ab.Diese genannten Faktoren erschwerengleichzeitig eine „vergleichende“ Eva-luation.

Alle Wachstumskerne nehmen denRWK-Status und den Prozess selbstsehr ernst und zeigten bisher ein hohes

Engagement. Dies betrifft sowohl die„berlinfernen“, als auch die eher „ber-linnahen“ und entwicklungsbegünstig-ten RWK. Dabei ist allerdings auchanzumerken, dass teilweise kleinereund/oder „berlinferne“ Wachstums-kerne dem RWK-Prozess ein größeresGewicht einräumen, als solche diegleichzeitig auch noch auf andere Ent-wicklungsfaktoren und -potenziale zu-rückgreifen können.

Der Prozess der Neuausrichtung derFörderpolitik auf regionale Wachs-tumskerne ist jetzt erst richtig angelau-fen und muss in den kommendenJahren nachweisbare und belastbareWirkungen zeigen. Die begrenzte An-zahl an abgeschlossenen Maßnahmenspiegelt diesen frühen Stand des Pro-zesses deutlich wider. Zum einen han-delt es sich bei vielen Projekten umlangfristige Maßnahmen und zum anderen benötigen viele der komple-xen Maßnahmen eine entsprechendePlanungs- und Vorbereitungsphase.Dementsprechend können zum jetzi-gen Zeitpunkt auch nur begrenzteunmittelbare Wirkungen festgestelltwerden.

Effekte schwer zu isolieren

Die unmissverständliche Diskussionder Maßnahmen in den Wachstums-kernen selbst und die Reflektion dersozioökonomischen Entwicklungmachen sehr deutlich, dass unmittel-

36 dezember 2010 – heft 47

thema – it’s the economy, stupid?

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bare RWK-Effekte nur bedingt zuidentifizieren und von anderen über-lagernden Entwicklungen zu trennensind. So zeigt sich beispielsweise ab2005 in ganz Brandenburg eine deut-liche konjunkturelle Verbesserung, inderen Folge viele Wirtschaftsindika-toren anziehen. Gleichwohl partizi-pieren im Durchschnitt die Wachs-tumskerne etwas stärker von dieserpositiven Entwicklung, es kann aberletztendlich kein direkter Zusammen-hang zwischen dem RWK-Status unddieser überdurchschnittlichen Ent-wicklung hergestellt werden.

Größere Stabilität

Die sich allgemein ab 2005 abzeich-nende konjunkturelle Erholung fälltzusammen mit dem Beginn des RWK-Prozesses. Besonders aussagekräftigeIndikatoren wie die Zahl der sozialver-sicherungspflichtig Beschäftigten oderbeispielsweise der Wanderungssaldoentwickeln sich in den Wachstums-kernen leicht besser als im Landesdurch-schnitt. Eine langfristige Betrachtungdieser Indikatoren deutet auf eine all-gemeine Stabilisierung in den meistenRWK hin. Vor diesem Hintergrundkann man zwar nicht von einer auslö-senden Funktion, aber gleichwohl voneiner unterstützenden Funktion desRWK-Status für die Entwicklung inden jeweiligen Wachstumskernen spre-chen. Insbesondere in den eher lagebe-

nachteiligten RWK wird diese Stabili-sierungsfunktion des Status als regiona-ler Wachstumskern gesehen.

Nach dieser allgemeinen Stabilisie-rungsphase, mit zunehmender Um-setzung der beschlossenen Maßnahmensowie der weiteren Aktivitäten derWachstumskerne und mit einer Fort-führung der Konzentration der Akti-vitäten und Förderung auf die „starkenStandorte“ sollten künftig auch deutli-chere und eindeutig zuzuordnendeWachstumsimpulse in den RWK (undihrem Umland) spürbar werden. Dasin den Wachstumskernen von denGutachtern bisher festgestellte Aktivi-tätsniveau deutet darauf hin.

Eine isolierte Betrachtung der be-schlossenen Maßnahmen gibt nur einsehr eingeschränktes Bild wieder.Vielfach waren sie Teil eines größerenGesamtprojektes. Die beschlossenenMaßnahmen stellen somit nur einenAusschnitt dar. In einigen Fällen bil-den sie sogar den Anstoß für eine wei-tergehende Entwicklung und ermög-lichten erst die Gesamtprojekte. Ananderen Beispielen wird bei einerGesamtbetrachtung auch das Zusam-menwirken von Landespolitik, RWK-Aktivitäten und wirtschaftlichemEngagement privater Akteure deutlich.Fördermittel aus mehreren „Förder-töpfen“ fließen dann in die Projekte.Hier die Wirkungen auf einzelne Teileoder Teilmaßnahmen herunterzubre-chen, fällt naturgemäß schwer.

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michael göbel – anstoß für mehr

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Erst durch das Zusammenwirkenvon beschlossenen Maßnahmen undweiteren Aktivitäten der regionalenWachstumskerne wird der gemeinsameEntwicklungsprozess bestimmt. DieseGesamtportfolios in den RWK sind imProzess breiter geworden. Es werdenmehr Handlungsfelder „bespielt“,wobei RWK-spezifische Handlungs-bedarfe, -potenziale und -strategienzum Ausdruck kommen. Insgesamtlässt sich feststellen, dass es wederMusterstrategien noch -portfolios gibt.

Neue Qualitäten

Eindeutig, und von allen Wachstums-kernen bestätigt, wurden die Auswir-kungen des RWK-Status und die damitverbundenen Anforderungen auf diestrategische Ausrichtung der Städte undStädteverbünde. Zwar lagen in vielenRWK-Städten schon Entwicklungskon-zepte für die verschiedensten Bereichevor, aber mit dem RWK-Status wurdeeine neue Qualität erreicht. Die Wachs-tumskerne waren „gezwungen“, sichüber die zukünftige Entwicklung Ge-danken zu machen und zugleich einePriorisierung der dafür notwendigenMaßnahmen und Aktivitäten vorzuneh-men. Damit ist eine neue analytischeund strategische Qualitätsstufe erreichtworden. Dies gilt sinngemäß und ver-stärkt in der jüngsten Vergangenheitauch für die Kooperation mit und dieAusstrahlung auf das weitere Umland.

Durch den RWK-Prozess selbst unddurch die bei den Mehrlingen notwen-dige Zusammenarbeit, aber auch durchdie bei den anderen RWK notwendigeAusstrahlung auf ihr Umland, habendie regionale und interkommunaleKooperation einen deutlichen Schuberfahren. Aus Gutachtersicht fällt bis-her auf, dass insbesondere die RWK-Mehrlinge neben den projektbezoge-nen Effekten sehr stark die sich aus dernotwendigen verstärkten Abstimmungund Kooperation ergebenden Effektepositiv hervorheben und hier auch einendeutlichen Mehrwert des Prozessessehen. Erfahrungsgemäß kommen sol-che Kooperationen allein auf Basiseiner „freiwilligen“ Zusammenarbeitund ohne Förderanreize nur sehrschwer zustande oder halten sich nichtlange. Diesbezügliche Erfahrungen lie-gen in anderen Bundesländern zurGenüge vor. Von daher wurde mitdem RWK-Prozess eine notwendigeEntwicklung angestoßen und forciert,die vielleicht zu Beginn des Prozessesin dieser Form nicht absehbar war.

Offensive Zusammenarbeit

Auch bei der Umlandkooperation istein sehr breites Spektrum entsprechendder sehr unterschiedlichen Ausgangs-lagen festzustellen. Sowohl bei den„einzelnen“ Wachstumskernen als auchbei den Mehrlingen ist die Umlandko-operation stärker geworden, sie reicht

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thema – it’s the economy, stupid?

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von der Abstimmung zu Gewerbever-lagerungen in benachbarte Gewerbege-biete bis zur gemeinsamen Wirtschafts-förderung mit Umlandkommunen.

Der Beginn des Prozesses gestaltetesich für die Wachstumskerne und füralle Akteure schwierig. Erklärungsbe-dürftig waren der Status, der Prozessund auch die damit verbundenen An-forderungen. Diese Anfangsschwierig-keiten sind aus Gutachtersicht bei denRWK-Verantwortlichen, den Verwal-tungen und auch zunehmend denstrukturbestimmenden Unternehmenüberwunden. In der Öffentlichkeit istder Prozess zum jetzigen Zeitpunktnoch nicht in der Breite angekommen,wie es eventuell wünschenswert wäre.Die Wachstumskerne selbst nutzenden RWK-Status verstärkt und immeroffensiver für ihr eigenes Marketingund stellen sich als „Premium-Stand-orte“ des Landes dar.

Schließlich und endlich wird dasFachkräftethema in allen Wachstums-

kernen als der zentrale Engpass in derweiteren RWK-Entwicklung wahrge-nommen. Die Wachstumskerne sehenhier insbesondere im Übergangsbe-reich von Schule zur Wirtschaft nochweiteren Verbesserungsbedarf imSchulbereich. Auch wird der eherregionale, wenn nicht sogar überre-gionale Charakter der notwendigenMaßnahmen unterstrichen. Kleintei-lige Maßnahmen in einzelnen Kom-munen sind eher weniger hilfreich,wenn nicht sogar kontraproduktiv. Es mehren sich in vielen Wachstums-kernen auch die Anzeichen, dasskünftig ein immer höherer Anteil anFachkräften von außen angeworbenwerden muss, da das vorhandene lokale und regionale Arbeits- undQualifizierungspotenzial begrenzt ist.Dementsprechend spielt die weitereAttraktivierung der regionalen Wachs-tumskerne als Lebensort vermutlicheine immer stärkere Rolle im Wett-bewerb um Fachkräfte. �

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michael göbel – anstoß für mehr

D R. M I C H A E L G Ö B E L

ist Ökonom und Geschäftsführer von Regionomica Deutschland.

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PERSPEKTIVE 21: Wie sieht die Wettbe-werbssituation der kleinen und mittlerenostdeutschen Unternehmen 20 Jahre nachder Vereinigung aus?CHRISTOPH THIEME: Bei aller Vorsichtund gebotener Differenzierung kannman durchaus sagen, dass die Situationin einem Großteil der ostdeutschenUnternehmen nicht schlecht ist. Vieleder Unternehmen, die den nichtimmer einfachen Weg der letzten zehnbis 15 Jahre bewältigen konnten,haben ihre Marktnische gefunden,haben stabile Kunden- und Zuliefer-beziehungen etabliert und sind infunktionierende Netzwerke eingebun-den. Wenn wir noch bis vor fünfJahren von einer Konsolidierung vielerostdeutscher Unternehmen gesprochenhaben, so befinden sich heute vieleUnternehmen in einer Phase der Ex-pansion. Sie versuchen aus den Ni-schen heraus zu kommen, neue Kun-den zu gewinnen und neue, regionalewie auch technologische Absatzmärktezu erschließen. Eine zentrale Rolle beidieser Entwicklung spielt dabei derExport! Die Unternehmen des verar-beitenden Gewerbes wirken hier wie

Lokomotiven, aber auch in anderenBereichen wie zum Beispiel Handwerk,Dienstleistungen oder Handel gibt espositive Entwicklungen.

Hat sich die Lage vor, während undnach der Wirtschafts- und Finanzkriseverändert?THIEME: Der drastische Auftragsein-bruch stellte natürlich einen massivenSchock für die betroffenen Unterneh-men dar. Man darf aber nicht verges-sen, dass der Abschwung auf eine extre-me Boomphase folgt und damit umsodrastischer empfunden wurde. Vieler-orts folgte auf die Überbeschäftigungim Extremfall die Kurzarbeit null undgeht mittlerweile wieder in eine Arbeits-intensität wie vor der Krise über. SolcheWechselbäder der Arbeitsbelastung, mitder ja auch massiv persönliche Ängsteund auch Einschränkungen verbundensind, dürften bei vielen ostdeutschenArbeitnehmern noch in böser Erinne-rung sein. Auf der anderen Seite ist manauch krisenerprobt und leidensfähigerals westdeutsche Kollegen.INGO SINGE: Tatsächlich finden wir Un-ternehmen, die 30 oder 40 Prozent Auf-

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Geld ist nicht alles ÜBER DIE LAGE DER OSTDEUTSCHEN UNTERNEHMEN

NACH DER KRISE, FEHLENDE FACHKRÄFTE UND BETRIEBSRÄTE SPRACH

THOMAS KRALINSKI MIT INGO SINGE UND CHRISTOPH THIEME

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tragsrückgang zu verkraften hatten, aberinzwischen bereits wieder an der Kapazi-tätsgrenze produzieren. Die Beschäftig-ten haben Zugeständnisse machen müs-sen, inzwischen brummt es wiederdermaßen, dass die Klagen von Unter-besetzungen, Verdichtung von Arbeitund Stress wieder deutlich vernehmbarsind. Da stellt sich die Frage, ob und wieUnternehmen die Opferbereitschafthonorieren wollen und können.

Trotz des Aufschwungs also eine fragileLage?SINGE: Ob der Export angesichts derZählebigkeit der Krise in anderen Län-dern dauerhaft tragfähig ist und eineStabilitätskonstellation begründenkann, ist für mich zweifelhaft. Schließ-lich mehren sich aus dem Ausland jaauch kritische Stimmen bezüglich derdeutschen Exportorientierung, dieweltwirtschaftliche Situation bleibt insgesamt instabil. Und auch wenn dieAuftragslage gut ist – in vielen kleinenund mittleren Unternehmen gibt esKlagen, dass die mächtigen Abnehmerder Produkte enorm auf die Preisedrücken und die Rentabilität der Un-ternehmen gefährdet ist.

Vertrauen und Motivation

THIEME: Vor diesem Hintergrund kannman darüber streiten, ob die Krisener-fahrenheit der Ostdeutschen die Kri-senbewältigung für die Unternehmen

erleichtert hat. Zweifelsohne haben diearbeitsmarktpolitischen Regelungen,insbesondere die Ausweitung der Kurz-arbeit, den Unternehmen den Wegdurch die Krise erleichtert. Auch dieLeiharbeit hat natürlich eine Rollegespielt, die Leiharbeiter waren vielfachdie ersten Opfer. Insgesamt gibt esjedoch deutliche Unterschiede: Wäh-rend einige Unternehmen den Auf-tragsrückgang dazu nutzen konnten,etwa die Entwicklungsarbeit zu inten-sivieren oder die Mitarbeiter weiterzu-bilden, verfielen andere in eine ArtSchockstarre. Da hängt vieles von derBranchenzugehörigkeit und der tech-nologischen Ausrichtung des jeweili-gen Unternehmens ab.

Unter welchen Bedingungen sind Unter-nehmen besser als andere durch die Krisegekommen?THIEME: Das kann man pauschal sichernicht sagen. Unabhängig von der Krisehat sich gerade in kleinen und mittle-ren Unternehmen (KMU) gezeigt, dasseine Beteiligungsorientierung langfris-tig die Performance der Unternehmenverbessert, da Beteiligung zur Repro-duktion von Vertrauensbeziehungenbeiträgt und so als Basis für hohe Mo-tivation und Personalbindung dient.Diese Mechanismen können natürlichauch in einer Krisensituation die Ma-növrierfähigkeit aufrechterhalten. VieleManager fürchten, die besten Leute zuverlieren, wenn Sie die aktuell schlech-

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te Lage des Unternehmens offenbarenund verhängen eine Nachrichtensperre.Sie verkennen dabei, dass ohne eineklare Informationspolitik die Gerüch-teküche angeheizt wird. Letztendlichwird die Lage trotzdem schlecht beur-teilt, das Vertrauensverhältnis ist zu-sätzlich stark beschädigt und die Leutewandern trotzdem ab. Wie man durchdie Krise kommt, hängt auch von einerReihe andere, kaum beeinflussbarerFaktoren ab. Grundsätzlich kann manaber sagen, dass Unternehmen mit gutfunktionierenden Sozialbeziehungenund einer offenen Informationspolitik,bessere Voraussetzungen haben, durchdie Krise zu kommen.

Wenn Türen offen stehen

SINGE: Leider gibt es zu dieser Fragenoch keine flächendeckenden Erhe-bungen. Die Gefahr besteht darin, dassin der Krise gerade diejenigen Kräftedas Unternehmen verlassen, die auf der Basis ihrer Qualifikationen guteArbeitsmarktchancen haben und diedie Unternehmen eigentlich unbedingthalten müssten. Unser früherer KollegeMichael Behr hat in seinen Unter-suchungen immer wieder die Gruppeder „kritischen Optionisten“ identifi-ziert. Das ist eine Gruppe, denen aufdem Arbeitsmarkt einige Türen offenstehen, und die gleichzeitig ein gewis-ses Maß an Kritik an ihrer aktuellenArbeitssituation äußern. Wo das So-

zialklima schon vor der Krise nichtgestimmt hat, wo es Führungsdefizitegab, wo ein Mangel an Beteiligungs-optionen bestand, wo keine Betriebs-räte als demokratische Instanz imBetrieb existierten, wird die Bindungs-fähigkeit der Unternehmen vergleichs-weise schwächer ausgeprägt sein. Wirhaben feststellen können, dass dieMehrheit der Unternehmen auch inder Krise versucht hat, die Fachkräftezu halten – auch um den Preis vonProduktivitätsverlusten. Es kam in derKrise vielerorts darauf an, die durch dieKrise ausgelöste Unsicherheit zu be-grenzen. Auch Betriebsräte haben hierin vielen Fällen eine wichtige Rollegespielt – wo sie gut arbeiten, wissen die Beschäftigten, dass ihre Interessengegenüber dem Management artikuliertwerden und eine kontrollierende In-stanz existiert. Davon abgesehen: bei der Umsetzung der Kurzarbeit, der Nut-zung flexibler Arbeitszeitsysteme oderauch bei der Qualifizierung während derKurzarbeit haben Betriebsräte oftmalseine Kompetenz, auch wegen ihrer Ver-bindung zu Betriebsräten in anderenUnternehmen, auf die Unternehmeneigentlich nicht verzichten sollten.

Wo drückt denn den ostdeutschen KMUheute besonders der Schuh? THIEME: Viele Unternehmen sind der-zeit noch lange nicht so etabliert wievergleichbare Unternehmen in denalten Bundesländern, etwa was die

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ingo singe & christoph thieme – geld ist nicht alles

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Eigenkapitalbasis oder die Strategie-fähigkeit angeht. Es ist in der Breiteeinfach noch nicht so viel materielleSubstanz da. Das wichtigste Pfund derUnternehmen war bisher die exzellenteund zu guten Konditionen verfügbareHumankapitalbasis. Die hohe Bedeu-tung der Mitarbeiter, deren Qualifi-kationen und das Engagement werdenvon den Managern auch in hohemMaße anerkannt. Das Hauptproblemvieler Unternehmen ist aber, dass die-ser generellen Anerkennung und Wert-schätzung der Ressource Personal nurselten eine praktisch-strategische Aus-richtung gegenübersteht.

Personalstrategien fehlen

Was heißt das?THIEME: Kurz gesagt: Man schätzt seineMitarbeiter, verwendet aber wenigGedanken darauf, eine Personalstra-tegie der mittleren und längeren Fristzu etablieren. Dazu würden zumBeispiel genaue Altersstrukturanalysengenauso gehören wie die regelmäßigeErmittlung des Qualifizierungsbedar-fes, die Gestaltung der Kooperations-und Lernprozesse zwischen verschiede-nen Alterskohorten und die Sicherungdes Wissens ausscheidender Beschäf-tigter. Dabei registrieren viele Verant-wortliche in den Unternehmen, dasssich die Anspruchshaltung der Mitar-beiter, nicht zuletzt im Zuge des statt-findenden Generationenwechsels, mas-

siv verändert. Das fängt im materiellenBereich an und reicht über das Be-triebsklima, berufliche Perspektivenhin zu lokalen Standortbedingungen.Es besteht aber wenig Klarheit darüber,wie diesen Ansprüchen der Beschäf-tigten begegnet werden kann.

Gibt es denn genügend Arbeitskräfte fürdie Zukunft?SINGE: In bestimmten Segmenten ma-nifestiert sich der Arbeitskräftemangelbereits heute deutlich, das gilt bei-spielsweise für gewerbliche Fachkräfteund Ingenieure. Mit Prognosen mussman vorsichtig umgehen, aber die sichabzeichnende Konstellation ist durch-aus dramatisch. Die Schülerabgangs-zahlen werden bis 2020 auf ungefähr120.000 pro Jahr sinken, Mitte desabgelaufenen Jahrzehnts waren es noch220.000. Gleichzeitig wächst der Er-satzbedarf bis 2020 auf ca. 200.000pro Jahr, derzeit liegt dieser Bedarfgerade bei 80.000. Da entwickelt sichoffensichtlich ein Missverhältnis ganzneuer Qualität.

Die verlorene Generation

Und das bei immer noch hoher Arbeits-losigkeit in vielen ostdeutschen Regionen. SINGE: Eine neue Studie unter Leitungvon Burkhard Lutz hat an die „verlore-ne Generation“ erinnert. Das sind diemehreren Hunderttausend, die zwi-schen Ende der 1970er und Ende der

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1980er Jahre geboren wurden, abertrotz einer guten Schulausbildung undeiner berufliche Qualifizierung denWeg in reguläre Beschäftigung in Ost-deutschland nicht gefunden haben.Hier bestünde ein Reservoir an Ar-beitskräften. Die Anstrengungen, dienötig wären, um diese Menschen inArbeit zu bringen, wären aber beträcht-lich. Umso notwendiger erscheint einklares politisches Signal in diese Rich-tung. Die aktuelle Arbeitsmarktpolitikmacht aber nur wenig Hoffnung.

Niedriglohnstrategie schadet

THIEME: Wenn wir hier von den KMUim verarbeitenden Gewerbe in Ost-deutschland sprechen, kann man dreiwesentliche Malus-Faktoren benennen.Das verarbeitende Gewerbe gilt beiSchülern, aufgrund der Erfahrungender Elterngenerationen, als wenigzukunftsträchtig, Industriearbeit besitzteinen geringen Status. Das Gros derkleinen und mittleren Unternehmenist einfach nicht bekannt und der Os-ten gilt nach wie vor ganz allgemein alsNiedriglohngebiet, insbesondere imVergleich mit Regionen in Süddeutsch-land. Auch wenn es einzelne Regionenwie zum Beispiel Dresden und Jenagelingt, sich von diesem Image zu lösen,haften dem Osten diese Probleme wei-terhin an. Es ist auch nicht zu erwarten,dass sich dies in den nächsten Jahren inWohlgefallen auflösen wird. Viel wahr-

scheinlicher ist eine weitere Differenzie-rung der Regionen in Ostdeutschlanddie sich auch auf die Verfügbarkeit vonArbeitskräften auswirken wird.

Sind denn die Löhne das einzige undwichtigste Kriterium?SINGE: Das Entgelt wird als Bindungs-faktor zukünftig in all jenen Bereicheneine wachsende Rolle spielen, in denensich die Arbeitsmarktlage entspanntoder sich gar Asymmetrien entwickeln,die die Position der Anbieter von Ar-beitskraft stärken. Qualifizierte undhochqualifizierte junge Arbeitnehmer-gruppen werden schwierig zu haltensein, sofern die Lücke zum West-Ent-gelt nicht verringert wird. Facharbeiterund -angestellte in der ostdeutschenMetall- und Elektroindustrie verdienennoch immer ca. 35 Prozent weniger alsihre Kollegen im Westen, die Bereit-schaft zur Bescheidenheit wird sichaber nicht unbegrenzt erhalten lassen.

Das Sozialklima ist bedroht

Haben die Unternehmen denn die Kraftfür Lohnerhöhungen?SINGE: Die Möglichkeiten der Unter-nehmen, mit Lohnerhöhungen auf dieneuen Knappheitsverhältnisse zu rea-gieren, sind sehr unterschiedlich ausge-prägt. Auch angesichts der Tatsache,dass die ostdeutschen Arbeitgeber sichvielerorts aus dem Tarifsystem verab-schiedet haben und damit keine Arena

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ingo singe & christoph thieme – geld ist nicht alles

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existiert, in der branchenweite, syste-matische Gestaltung von Lohn erfolgenkönnte, droht aus Unternehmenssichtdie Entwicklung eines Negativszena-rios: Verschärfte Konkurrenz um quali-fizierte Kräfte führt zu selektiv erhöh-ten Angeboten für junge Arbeitskräfte,zu „Bocksprüngen“ in der Lohnge-staltung und zu einer betrieblichenLohnspreizung, die Ungerechtigkeits-empfindungen bei älteren Arbeitneh-mergruppen hervorrufen kann unddas Sozialklima bedroht. Folgt mandiesem Szenario, wird sich eine Ab-werbedynamik entwickeln, die beson-ders kleinere und mittlere, ressourcen-arme Unternehmen bedroht, derenErfolgsgrundlage oftmals auch miteiner hohen Abhängigkeit von sehrspezifischen Beschäftigtenqualifika-tionen und stabilen Kooperations-beziehungen einher geht.

Kriterien für gute Arbeit

Es geht also nur ums Geld?SINGE: Natürlich gibt es für Unterneh-men Möglichkeiten, Unzufriedenheitin den Bereichen Zeit und Entgeltwenigstens ein Stück weit durch andere„Leistungen“ zu kompensieren und soBeschäftigte zu rekrutieren und zu bin-den. In unseren Untersuchungen be-kunden Beschäftigte immer wieder diehohe Wertigkeit, die vertrauensvolleKollegenbeziehungen, Qualifizierungs-möglichkeiten und eine interessante

Aufgabengestaltung als Kriterien fürgute Arbeit für sie besitzen. Auch imBereich der Facharbeit können wirimmer wieder feststellen, dass es Be-schäftigtenansprüche an erweiterteTeilhabe am Unternehmensgeschehengibt – man möchte gut informiert wer-den, es gibt ein Interesse an mehrDemokratie im Betrieb, man möchtenicht nur als Arbeitskraft sondern alsPerson gewertschätzt werden.

Strategisch herangehen

Wird das von den Unternehmen auchverstanden?SINGE: Die Fähigkeit der Unterneh-mensleitungen, strategisch auf dieseHerausforderungen zu reagieren, istunseres Erachtens in vielen Bereichenunzulänglich entwickelt. Das liegt auchdaran, dass die sich abzeichnende Si-tuation auf Teilarbeitsmärkten so dras-tisch mit den Bedingungen kontras-tiert, die die Unternehmen langevorfanden. Es gab ein Überangebot gutqualifizierter Kräfte, die durch denDruck enger Arbeitsmärkte notgedrun-gen zu Lohnbescheidenheit, flexiblerArbeit und hohen Leistungen bereitwaren. In diesem Kontext konntePersonalarbeit quasi nebenbei laufen.Das wird in Zukunft zumindest in denBereichen nicht mehr tragen, in denensich keine umfassende Standardisie-rung von Tätigkeiten erreichen lässtund auf einer geringen Qualifikations-

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basis produziert werden kann. DieHerstellung partizipativer Unterneh-menskulturen – ein wichtiges Krite-rium, wenn Beschäftigte ein Unter-nehmen bewerten – erfordert einsystematisch-reflexives Umgehen mitder Frage „Personal“. Aber besondersin KMU mit geringen Managementres-sourcen und besonders dort, wo keineBetriebsräte existieren, die als authenti-sche Stimme die Ansprüche und Pro-bleme der Belegschaften artikulierenkönnten, sind die Bedingungen für dieEntwicklung neuer Bindungsstrategiennicht eben gut. Und das Problem derFachkräftesicherung ist sowieso nurbegrenzt Lösungen auf einzelbetrieb-licher Ebene zugänglich.

Betriebsräte helfen

THIEME: Auch hier ein Beispiel: VieleGeschäftsführer machten aus der Notkleiner Unternehmen mit geringenmateriellen Spielräumen die Tugendder Tüftlerbude mit flachen Hierar-chien, bei der sich jeder Mitarbeiterdem Chef quasi ebenbürtig in dasUnternehmen einbringen und in Formvon Projektverantwortung eigenePerspektiven verfolgen kann. DiesesModell hat viele Unternehmen undderen Belegschaften in der oftmals cha-otischen aber auch sinnstiftenden An-fangsphase geprägt. Mit dem Unter-nehmenswachstum bleiben diese Wertesukzessive auf der Strecke und rufen

Enttäuschungen und Konflikte zwi-schen den Generationen hervor, für die keine Lösungsmechanismen in derSchublade liegen und nur wenigengelingt dies intuitiv. Fehlt in denUnternehmen zudem ein klarer An-sprechpartner in Form des Betriebs-rates, bieten sich dem Managementkaum Ansatzpunkte für Initiativen. Inder Folge entwickeln sich die abküh-lenden Leistungsgemeinschaften mitden bekannten Folgen: schlechtesBetriebsklima, Kommunikationspro-bleme, gestörte Sozialbeziehungen undsinkende Motivation und Einsatzbe-reitschaft. Unternehmen, die das Ru-der nicht mehr rumreißen können,geraten dann auch wirtschaftlich inschwere Krisen.

Welche Rolle können denn Betriebsrätebei der Bewältigung des Fachkräfteman-gels spielen?SINGE: Sicher ist: Die Unternehmenmüssen die Herausforderungen derZukunft mit älteren Belegschaftenbewältigen. Unternehmen, die es nichtvermögen, die Arbeitsfähigkeit, alsoGesundheit und Qualifikation, undnatürlich die Arbeitsbereitschaft derälteren Beschäftigten zu sichern, wer-den fundamentale Probleme bekom-men. Wenn es schwieriger wird,Know-how auf externen Märkten zukaufen, kommt der Pflege und Ent-wicklung betriebsinterner Ressourceneine verstärkte Bedeutung zu. Gewerk-

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schaften und Betriebsräte besitzen invielen Fällen eine große Erfahrung,wenn es um die Gestaltung von gesunderhaltenden, motivierenden und lern-förderlichen Arbeitsbedingungen geht.Hier können Betriebsräte eine zentraleFunktion wahrnehmen: Der Betriebs-rat ist in vielen Fällen näher an denBelegschaften dran als es eine Ge-schäftsleitung je sein könnte. WoBetriebsräte gut funktionieren, sindsie sensibel für die Belange der Be-schäftigten und können Anliegen artikulieren und somit bearbeitbarmachen, mit denen sich einzelne Be-schäftigte oft gar nicht aus der De-ckung wagen würden. Betriebsrätekönnen latente Unzufriedenheit, Un-rechtsempfinden, Beteiligungs- undKommunikationslücken, Qualifizie-rungsbedarfe oder Gesundheitsgefähr-dungen durch physische und psychi-sche Überanspruchung oft einfacherentdecken als das Management und zueiner produktiven Thematisierung imBetrieb beitragen. Wo sie als Warn-instanzen für defizitäre Personalpo-litiken nicht vorhanden sind, drohtder Beschäftigtenrückzug auf „Dienstnach Vorschrift“-Haltungen – odereben zum Exit, zum Betriebswechsel.

Und wie ist es mit Gewerkschaften?SINGE: Die Gewerkschaften als tradi-tionsreiche Organisationen verfügenbezüglich der Gestaltung nachhaltigerArbeitsbedingungen über jahrzehnte-

lange Erfahrung und an der Praxis ge-neriertes Wissen. Sie können Betriebs-räten wichtige Unterstützungsleistungenanbieten. Wird die Fachkräfteproble-matik angemessen verstanden, nämlichals eine Querschnittsherausforderung,deren Bewältigung der Kooperationverschiedener Akteure unter anderemaus Politik, Bildungsinstitutionen,Gesundheitssystem bedarf, spielenauch die Gewerkschaften als überbe-triebliche Akteure eine wichtige Rolle.Die Sicherung der Fachkräfte wirdnicht allein durch höhere Löhne fürnachgefragte Arbeitskräfte zu gewähr-leisten sein. Die Attraktivität Ost-deutschlands wird auch daran zu mes-sen sein, inwieweit es gelingt, attraktiveLebensverhältnisse zu schaffen. Dasfordert eine Entwicklungsperspektive,die auch auf die Schaffung guter Ar-beitsbedingungen zum Beispiel in Bil-dung und Dienstleistungen zielt.

Nicht ohne Gewerkschaften

Wie stark sind denn Gewerkschaften undBetriebsräte in Ostdeutschland? SINGE: Die ostdeutsche – und zuneh-mend auch die westliche – Realität beider Gestaltung der Arbeitsverhältnissehat mit der Praxis, die sich nach demZweiten Weltkrieg in Deutschland alsKonfliktpartnerschaft etablierte, nurnoch wenig zu tun. Immer wenigerBeschäftigte werden von tarifvertragli-chen Regelungen auf Branchenebene

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erfasst, derzeit sind es in Ostdeutsch-land etwa ein Drittel. Das liegt vorallem daran, dass sich die Arbeitgebermassenhaft aus dem Tarifsystem verab-schieden und die Flucht aus den Ver-bänden angetreten haben. Die Zahl derGewerkschaftsmitglieder ist zusam-mengeschmolzen, inzwischen ist nochnicht einmal jeder fünfte abhängigBeschäftigte gewerkschaftlich organi-siert. In der Privatwirtschaft haben nur ca. 10 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat. Nur 38 Prozent der Be-schäftigten werden durch Betriebsräterepräsentiert. Und auch dort wo Be-triebsräte existieren, stehen sie unterstarkem Druck, die Interessen des„eigenen“ Betriebes über umfassendereLohnarbeitsinteressen zu stellen undZugeständnisse zu machen. Von

durchsetzungsfähigen Interessenorga-nisationen kann also in Ostdeutschlandnicht ausgegangen werden. Aber wiebereits gesagt: In den Bereichen qualifi-zierter Arbeit könnten sich die Macht-verhältnisse zwischen Arbeitgeber undArbeitnehmer durch die Arbeitsmarkt-engpässe ändern. Es kann gut sein, dassdann die Freiheit vom Tarif zum Pro-blem für die Arbeitgeberseite wird, weilder Tarif als überbetrieblicher Regulie-rungsmechanismus ausgehebelt wurde.In anderen Branchen wird es so schnellnicht zur Arbeitskraftknappheit kom-men, es besteht die Gefahr, dass dortNiedriglohnstrategien weiter fortgesetztwerden. Es droht eine fortschreitendePolarisierung der Entgelt- und Lebens-bedingungen, die einer nachhaltigenEntwicklung nicht eben zuträglich ist. �

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I N G O S I N G E U N D C H R I S T O P H T H I E M E

sind Diplom-Soziologen und arbeiten am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- undWirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Derzeitig forschen

sie im Rahmen des BMBF-Projektes „MOVANO. Innovation durch Kompetenzund gute Arbeit – Management, Betriebsrat und Beschäftigte als Akteure

moderner Innovationsstrategien“.

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B randenburg steht gut da, diese Bi-lanz lässt sich zweifellos zum Ende

dieses Jahres ziehen. Die Arbeitslosen-quote ist unter 10 Prozent gesunken, einige Branchen verzeichnen zuneh-mend mehr Aufträge, die Struktur derWirtschaft in Brandenburg entwickeltsich in eine klar von Innovation undQualität getragene Richtung. Die stei-gende Zahl von Touristen, die guteEntwicklung im Umfeld des im Bau be-findlichen Flughafens Berlin Branden-burg International BBI, eine Reihe vonAnsiedlungen und Betriebserweiterun-gen – dies sind nur einige wenige Bei-spiele für das, was wir in diesem Jahr bewegt, begleitet und befördert haben.

Allein im ersten Halbjahr 2010 be-trug das reale Wirtschaftswachstum des Landes im Vergleich zum Vorjahr2,8 Prozent. Damit lag Brandenburgvor allen anderen neuen Bundeslän-dern (ohne Berlin). Von der weltwei-ten Finanzkrise war das Land weitweniger betroffen als andere Bundes-länder, weil die Industrie zwischenElbe und Oder weniger exportorien-tiert ist als die Unternehmern in denalten Bundesländern. Hier liegen die

Wachstumszahlen nach der Krise na-turgemäß höher, weil die guten Wirt-schaftsdaten für Deutschland insgesamtden guten Geschäften mit dem Aus-land zu verdanken sind. Gleichwohldeuten die aktuellen Zahlen für Bran-denburg daraufhin, dass sich der positi-ve Trend auch im kommenden Jahrfortsetzt.

Motor des Aufschwungs

Das gilt auch für den Arbeitsmarkt.Inzwischen ist die Arbeitslosigkeit aufden erfreulichen Tiefstand von etwa9,8 Prozent gesunken. Im Oktober ver-gangenen Jahres lag die Quote nochbei 11,0 Prozent. Einzelne Landkreiseliegen inzwischen unter dem Bundes-durchschnitt – wie Potsdam-Mittel-mark und Dahme-Spreewald.

Motor des Aufschwungs ist dieIndustrie. In den ersten acht Monatenist der Umsatz des verarbeitendenGewerbes um etwa 14 Prozent gestie-gen. Der Anteil des Auslandsumsatzesdaran liegt bei 25 Prozent. Einen Auf-schwung im Export belegen auch dieZahlen des ersten Halbjahres 2010:

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Viele kleine Schritte WARUM BRANDENBURG SO ERFOLGREICH IST UND WIE

DAS SO BLEIBEN KANN

VON RALF CHRISTOFFERS

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Die Ausfuhren stiegen um 9,6 Prozentgegenüber dem Vorjahreswert. DieImporte stiegen um 34 Prozent.

Besonders erfreulich ist, dass sichneue Unternehmen aus dem In- undAusland in Brandenburg angesiedelthaben. Dazu gehören beispielsweise dieEco-Strom Plus GmbH (Errichtungeiner Bioethanolproduktion mit 95Arbeitsplätzen am Standort Premnitz)oder die Greenblade GmbH (Pro-duktion von Rotorblättern für Wind-kraftanlagen mit 45 Arbeitsplätzen amStandort Brandenburg an der Havel).Außerdem gab es wichtige Erweite-rungsinvestitionen wie z. B. der Unter-nehmen Panther Display, Yamaichi,Nanosolar oder Prignitzer Chemie.

Vom Unternehmerfleiß

Auch die Eröffnung des Logistik-zentrums von Lidl im Güterverkehrs-zentrum Freienbrink oder die Ent-scheidung des Tandem Verlages, sichaus Königswinter nach Potsdam zuverlagern, sind das Signal, dass derStandort Brandenburg für Ansied-lungen attraktiv ist.

Darüber hinaus unterstreicht dieAnkündigung des Unternehmens FirstSolar, seine Kapazitäten am StandortFrankfurt (Oder) verdoppeln zu wol-len, dass ansässige Unternehmen hierin Brandenburg – als Teil der deut-schen Hauptstadtregion – beste Rah-menbedingungen für die Produktion

und nachhaltiges Wachstum vorfinden.Dies sind nur einige wenige Beispielefür die positive Entwicklung in fast allenBranchenkompetenzfeldern.

Zu verdanken ist diese Entwicklungin erster Linie den Unternehmerinnenund Unternehmern und den Beschäf-tigten in den Firmen. Ihr Fleiß hatBrandenburg inzwischen mehrere Eh-rungen eingebracht.

Leitstern 2010

Im Februar wurde Brandenburg von der Europäischen Union zur „Unter-nehmerregion 2011“ ernannt. Qualität,Nachhaltigkeit und die Erfolgsergeb-nisse seiner politischen Vision für mehrUnternehmergeist und die ökologischeModernisierung der mittelständischenWirtschaft waren die Gründe für dieseWürdigung. Den Wettbewerb um die„Europäische Unternehmerregion“(„European Entrepreneurial Region“ –EER) hat der Ausschuss der Regionenin diesem Jahr als Pilotprojekt ins Lebengerufen. Ziel dieser neuen Initiative istes, dynamische und ökologisch vorbild-liche Regionen in ganz Europa zu er-mitteln und zu fördern. Den Regionenmit den überzeugendsten wirtschaftspo-litischen Zielsetzungen wird jeweils fürein Jahr die Auszeichnung „EuropäischeUnternehmerregion“ verliehen. Bran-denburg war eine von 40 Regionen, diesich beworben hatten und eine von drei,die die Auszeichnung bekommen haben.

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Ende November bekam das Landwieder einen Preis: Den „Leitstern2010“, nach 2008 zum zweiten Mal,denn Brandenburg ist top beim Aus-bau Erneuerbarer Energien. Das gehtaus einer Studie hervor, die die Agen-tur für Erneuerbare Energien mitUnterstützung des Bundes durchge-führt hat.

Um die positive wirtschaftlicheEntwicklung weiter zu steigern, habenwir in diesem Jahr einiges auf den Weggebracht. Entsprechend meinemGrundsatz, ökonomische Effizienz,Nachhaltigkeit und soziale Gestaltunggemeinsam umzusetzen, wurde zuerstdie Art der Förderung von Unterneh-men umgestellt. Schrittweise wird derAnteil von nicht rückzahlbaren Zu-schüssen durch Darlehen an Unter-nehmen verringert. Das heißt, mitBeteiligungen und Darlehen durch dasLand wird die Anschubfinanzierunggesichert. Ziel ist es, der Eigenkapital-schwäche kleiner und mittelständischerUnternehmen (KMU) entgegen zuwirken.

Neue Förderinstrumente

Diese neuen Förderinstrumente sindsogenannte revolvierende Fonds. Miteiner solchen Förderstrategie stehen dieGelder über einen längeren Zeitraumzur Verfügung und – anders als im Fallvon „verlorenen Zuschüssen“ – könnenmehrfach verwendet werden. Durch

die Vergabe von Darlehen erfolgt zumBeispiel ein Rückfluss in Form vonTilgungen und Zinsen, so dass in die-sen Fonds auch über die Förderperiodebis 2013 hinaus Mittel zur Verfügungstehen, auch wenn kein frisches Kapitaldurch EU, Bund und Länder bereitge-stellt würde.

Beispiele für diese Fonds sind dersogenannte „Frühphasenfonds“ undder „Brandenburg-Kredit Mezzanine“für kleine und mittelständische Unter-nehmen. Schon jetzt ist bei der Inves-titionsbank Brandenburg eine regeNachfrage zu verzeichnen. Die beidenFonds haben Modellcharakter. DerenWirkung soll zunächst abgewartet wer-den, bevor über die Einführung weite-rer revolvierender Instrumente ent-schieden wird. Gerade die zahlreichenmittelständischen Unternehmen habenweiterhin einen hohen Bedarf an Eigen-kapitallösungen. Eine geringe unter-nehmerische Eigenkapitalausstattungengt die Kreditaufnahmefähigkeit derUnternehmen ein und senkt die Be-reitschaft für Investitionen. Für dieseUnternehmen können die Fonds eineUnterstützung bedeuten.

Die Einführung solcher Finanzie-rungsinstrumente ist auch vor demHintergrund sinkender Landeshaus-halte in den kommenden Jahren wich-tig. Ein Grund für diesen Rückgangdafür ist, dass Brandenburg in Zukunftkein Höchstördergebiet innerhalb derEuropäischen Union sein wird. Denn

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hierfür liegt die Grenze bei 75 Prozentdes durchschnittlichen Bruttoinlands-produktes der Europäischen Union –und Brandenburg liegt mittlerweileüber dieser Grenze. Ein im Grundepositives Zeichen, denn damit ist klar:Das Land erreicht langsam aber stetigdas Niveau der alten Bundesländer.Dennoch ist es wichtig in BrüsselÜbergangsregelungen auszuhandeln.Denn eine Kohäsionspolitik in derFörderperiode ab 2014 muss den Er-halt von finanziellen Spielräumengewährleisten, um auf der Basis derbewährten Förderpolitik unter demMotto „Stärken stärken“ Wettbewerbs-fähigkeit und Beschäftigung weiter nach-haltig zu verbessern. Gegenwärtig kannüber den Ausgang der Verhandlungenzur Zukunft der Kohäsionspolitik nurspekuliert werden. Die heiße Phase derDiskussion wird mit der für Mitte 2011erwarteten Vorlage der FinanziellenVorausschau der EU beginnen. Damitwerden die ersten belastbaren finanziel-len Vorstellungen der EuropäischenKommission öffentlich werden.

An einem Strang

Wichtiges Element für die weitereEntwicklung der Wirtschaft ist dieInnovationsstrategie, die Anfang De-zember in Potsdam vorgestellt wurde.Es ist die erste Plattform in diesemBereich, die von zwei Bundesländerngemeinsam vorgestellt wurde. Inno-

vationsbereitschaft und -fähigkeit alsVoraussetzung für Wachstum und Sta-bilität der Hauptstadtregion werdenzunehmend vom klaren Bekenntnis zuwissensbasierter Industrie- und Tech-nologieentwicklung bestimmt. In die-sem Jahr wurde der Fokus strategischauf die stärkere Zusammenarbeit mitBerlin gerichtet. Im Rahmen der Zusammenarbeit sollen die bisherigenZukunftsfelder zu Clustern weiterent-wickelt werden. Das neue Förderinstru-ment „Brandenburger Innovationsgut-schein“, soll die Zusammenarbeitzwischen Wirtschaft und Wissenschaftverbessern. Er kann von kleinen undmittleren Unternehmen genutzt wer-den. Sie haben damit die Möglichkeit,Kleinprojekte in Zusammenarbeit mitHochschulen und Forschungsinstitutendurchzuführen.

Die Landesregierung hat in ihrerKoalitionsvereinbarung festgeschrieben,die 2004 begonnene Ausrichtung derFörderpolitik auf Regionale Wachs-tumskerne beizubehalten. Um denWachstumskernprozess weiter zu opti-mieren, hat die Landesregierung eineEvaluation der Ergebnisse dieser För-derpolitik in Auftrag gegeben. Anfang2011 wird unter Federführung derStaatskanzlei eine Entscheidung da-rüber getroffen, welche Städte undStädteverbünde den Status als „Regio-naler Wachstumskern“ behalten oderbekommen sollen. Insgesamt soll dieZahl von 15 Wachstumskernen aber

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nicht überschritten werden. Im Rah-men einer Besuchsreise haben sich der Chef der Staatskanzlei, AlbrechtGerber, Staatssekretär Henning Hei-demanns und ich in der ersten Jah-reshälfte über die Potenziale vor Ortinformiert. In Gesprächen mit Ent-scheidungsträgern und Unternehmernwurden Strategien zur weiteren Stär-kung der Wachstumskerne diskutiert,an den Veranstaltungen nahmen mehrals 1.200 Besucher teil.

Rahmenbedingungen ändern

Die Regionalen Wachstumskerne wer-den mit Hilfe verschiedener Förder-instrumente unterstützt. Ihnen wurdein bestehenden Förderprogrammen einVorrang eingeräumt, wodurch zahlrei-che Einzelvorhaben unterstützt werdenkonnten. Neue Instrumente sind mitHilfe des Europäischen Fonds für re-gionale Entwicklung und der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe geschaf-fen worden. Neu eingeführt wurdendie Regionalbudgets, mit denen Mar-keting- und Netzwerkaktivitäten unter-stützt werden, sechs Anträge regionalerWachstumskerne sind bereits bewilligtworden.

Hauptaufgabe der Landesregierungist es, geeignete Rahmenbedingungenfür die Entwicklung von Branchen zuschaffen. Eine wichtige Branche inBrandenburg ist der Tourismus. DieRahmenbedingungen ändern sich dort

besonders schnell, deshalb müssenKonzeptionen regelmäßig überprüftund Profile geschärft werden. Vor die-sem Hintergrund hat die Koalition ver-einbart, die in diesem Jahr auslaufendeLandestourismuskonzeption fortzu-schreiben. Mittlerweile liegt der Entwurffür die neue Konzeption für die Jahre2011 bis 2015 vor. Vorgestellt wird sieauf der Internationalen Tourismusbörseim Frühjahr 2011 in Berlin.

Brandenburg positioniert sich alsReisedestination über die Qualität dertouristischen Angebote am Markt. DasThema Qualität, wozu auch die Barrie-refreiheit zählt, bleibt zur Sicherungund zum weiteren Ausbau der Wett-bewerbsposition des Reiselandes Bran-denburg auch in dieser Legislatur-periode außerordentlich wichtig. DieBranche selbst fordert Qualitätskri-terien inzwischen aktiv ein, das ist eingroßer Fortschritt. Derzeit ist dieTourismusakademie Brandenburg(TAB) damit beauftragt, Konzepte zuentwickeln, die Servicequalität der tou-ristischen Leistungsträger weiter zusteigern und die Entwicklung des bar-rierefreien Tourismus voranzutreiben.

Mit neuer Energie

Neben der Unterstützung bei derTechnologie- und Tourismusentwick-lung gibt es noch eine Reihe andererVorhaben, die das nächste Jahr bestim-men werden. Das Vergabegesetz ist

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ralf christoffers – viele kleine schritte

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derzeit in der Abstimmung mit denMinisterien. Dabei bleibt mein Grund-satz, dass die Einführung einer Lohn-untergrenze das zentrale Ziel diesesGesetzes ist. Bis zur Sommerpause wer-den wir die neue Energiestrategie vor-stellen. Weiter bemühen wir uns auchim Ausland um die Ansiedlung neuerUnternehmen im Land, vor allem auch

im Umfeld des neuen Flughafens BerlinBrandenburg International. EinenMasterplan für den Breitbandausbaustellen wir im Frühjahr 2011 vor. EineFülle von Vorhaben und Projekten also,von denen wir überzeugt sind, dass sichdamit die positive wirtschaftliche Ent-wicklung in diesem Jahr auch in 2011und darüber hinaus fortsetzen lässt. �

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ist Minister für Wirtschaft und Europaangelegenheitendes Landes Brandenburg.

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E ine aktuelle Studie bescheinigt derStadt Frankfurt (Oder), dass ihre

Wirtschaftskraft stärker als in anderenTeilen Deutschlands wächst. In einerRangliste der arbeitgebernahen Initia-tive „Initiative Neue Soziale Marktwirt-schaft (INSM) belegt Frankfurt (Oder)in der Dynamik der wirtschaftlichenEntwicklung unter den 100 größtenkreisfreien Städten einen bemerkens-werten fünften Platz.

Frankfurt (Oder) profitierte in denJahren seit der letzten Befragung imJahr 2004 von günstigeren Arbeits-marktdaten, verbesserten Standortbe-dingungen sowie einer belebten Kon-junkturentwicklung, wie vor allem dienachfolgenden Darstellungen zur An-siedlung von Unternehmen aus derSolarindustrie belegen. Besonders her-vorzuheben ist, dass es gelang, dieArbeitslosenquote von 21,2 Prozentauf 12,4 Prozent zu senken.

Frankfurt (Oder) liegt im ZentrumEuropas, an der Grenze zu Polen unddamit auch zu Osteuropa. Die Stadtsteht seit vielen Jahren für einen wirt-schaftlichen Aufschwung, was die nun-mehr vorliegende INSM-Studie ein-

drucksvoll belegt. Ein Vorteil wardabei sicher auch die Bildung einesgemeinsamen so genannten regionalenWachstumskerns mit dem nahegelege-nen Eisenhüttenstadt. Den Argumen-tationen der Brandenburger Landes-regierung folgend, nimmt dieser inZukunft eine immer stärker wirkendeMotorfunktion für die gesamte Regionund das Umland entlang der Oder ein.

Eine stolze Region

Die Zahlen geben dieser Prognoserecht und mit Stolz kann die Regionauf mehr als 1,4 Milliarden Euro anprivaten Investitionen seit dem Jahr2005 zurückblicken. Mehr als 3.000neue Arbeitsplätze sind entstanden.Die Unternehmen kommen aus allerWelt, aus Frankreich, USA, Japan.Diese erfolgreiche wirtschaftliche Ent-wicklung schlägt sich auch in den zuerzielenden Einkommen je sozialversi-cherungspflichtigen Beschäftigten derRegion nieder. Sie liegen über demDurchschnitt des Landes Brandenburg.

Der wirtschaftliche Aufschwung inFrankfurt (Oder) kommt nicht von

Den Blick voraus WIE FRANKFURT (ODER) ZU EINER DER

DYNAMISCHSTEN DEUTSCHEN STÄDTE WURDE

VON MARTIN WILKE

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ungefähr. Er ist das Ergebnis der hart-näckigen Verfolgung von ambitionier-ten Zielen. Pragmatisch und zielorien-tiert wurden in Zusammenarbeit mitder Landesregierung und der Zukunfts-agentur innovative Wege gefunden, um Unternehmen auf die Region auf-merksam zu machen und bei der An-siedlung zu unterstützen.

Junge Leute halten

Selbstverständlich gab es während die-ser Zeit auch Rückschläge. Das ge-scheiterte Ansiedlungsvorhaben derCommunicant AG zum Bau einerChipfabrik führte dazu, dass einigeSchwarzmaler die Region bereits abge-schrieben hatten. Nicht so die Frank-furter, allen voran die Stadtverwaltungund die Wirtschaftsförderer der Stadt.Konsequent blickte man voraus undschaffte weiter Rahmenbedingungen,um Investoren vom Standort zu über-zeugen. Neben der geografischen Lagepunktet die Oderstadt heute insbeson-dere mit ihrer gut ausgebauten Infra-struktur in den zahlreichen Industrie-und Gewerbegebieten entlang der A12und den gut qualifizierten Arbeitskräf-ten vor Ort. Darüber hinaus war undist es ein Hauptanliegen der Stadt, dieBildungsträger am Standort zu haltenund damit die Attraktivität der Stadt,auch für junge Menschen zu sichern.

Heute ist festzustellen, dass sich diezahlreich unternommenen Anstren-

gungen ausgezahlt haben. Die Ansied-lung des weltweit größten Dünnschicht-Solarmodulproduzenten „First Solar“war wie eine Initialzündung für dieweitere positive Entwicklung der ge-samten Region. Das nordamerika-nische Unternehmen investierte imJahr 2006 rund 120 Millionen Euro in Frankfurt. Nun konnten die Wirt-schaftsförderer zeigen, wie gute Zusam-menarbeit zwischen Kommunal-, Lan-des- und Bundesbehörden tatsächlichfunktioniert. Innerhalb von nur zweiMonaten wurde die Baugenehmigungerteilt, zwischen Unterzeichnung des„Memorandum of Understanding“und dem Beginn der Produktion ver-ging gerade einmal ein Jahr. Diese erst-klassige Unterstützung zahlte sich aus.Momentan befindet sich First Solar inder zweiten Ausbaustufe und der damitverbundenen Verdopplung aller bishe-rigen Kapazitäten. Für die Stadt bedeu-tet dies weitere 600 Arbeitsplätze undweitere 170 Millionen Euro, die größ-tenteils in die regionale Wertschöpfungfließen.

Stadt der Sonne

In diese erfreuliche Entwicklung reihtsich die Ansiedlung eines HamburgerUnternehmens, der Conergy Solar-Module GmbH & Co. KG ein. Seitdem Jahr 2007 stellt dieses nun auchin Frankfurt (Oder) Solarmodule aufSiliziumbasis in einer voll-integrierten

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Fabrik her. Mittlerweile hat das Unter-nehmen insgesamt 700 Beschäftigte.Ein weiteres klares Bekenntnis von„Conergy“ zum Standort Frankfurt gabes, als es im Sommer dieses Jahres ver-kündete, weitere 100 Zeitarbeiter inein festes Arbeitsverhältnis zu überneh-men. Die Zahl der Festanstellungenerhöhte sich mit diesem Schritt aufmehr als 450.

In barer Münze

Eine weitere Besonderheit stellt der„Ur-Frankfurter“ Solarherststeller„OderSun“ dar. Basiert auf einer inFrankfurt (Oder) entwickelten undpatentierten Dünnschichttechnologiestellt das Unternehmen ebenfalls seit2007 Solarmodule auf Kupferbandbasisher, die sowohl für Solarkraftwerke alsauch für Designer-Taschen mit inte-grierter „Steckdose“ in jeder Größe undLeistung nutzbar sind. Gemeinsam mitder Produktionsstätte im nahegelegenenFürstenwalde beschäftigt das Unterneh-men an beiden Standorten aktuell rund280 Mitarbeiter.

Der in den vergangenen Jahren inder gesamten Region entstandene Bran-chenmix aus Solarindustrie, Stahl- undPapierproduktion wird flankiert voninnovativen mittelständischen Unter-nehmen und einer Vielzahl an F&E-Kompetenzen. Für die Stadt zahlt sichdiese Entwicklung in barer Münze aus.Bei einem Vergleich zwischen Investi-

tionen in die Infrastruktur und privatenInvestitionen kommt die Region auf einstolzes Verhältnis von 1:10.

Auch die weichen Standortfaktorenwill die Stadt weiter fördern. Kurz nachden Oberbürgermeisterwahlen im Früh-jahr 2010 gelang den politischen Partei-en etwas Einmaliges. Gemeinsam mitallen Fraktionen wurde eine Vereinba-rung zur Zusammenarbeit abgeschlos-sen. Ein wesentliches Ziel ist, Frankfurtnoch lebenswerter und internationalerzu machen.

Gute Infrastruktur

Im nationalen Vergleich des Kulturan-gebots von Städten unter 100.000 Ein-wohnern muss sich Frankfurt (Oder)ebenfalls nicht verstecken. Frankfurt(Oder) liegt direkt nach Weimar undBayreuth auf Platz 4. Bei der Versor-gung mit Kita-Plätzen steht Frankfurtbundesweit ebenfalls auf einem Spit-zenplatz. Deutsch-polnische Kinder-gärten sind in der Stadt keine Ausnah-me. Die Entwicklung von attraktivemWohnraum entlang der Oder ist aktu-ell ein wichtiges Projekt für das nächsteJahr. Obwohl die Einpendlerquotenmittlerweile wieder rückläufig sind,gibt es nach wie vor über 15.000 Pend-ler, die täglich über die gut ausgebauteA12 oder den halbstündig einpendeln-den Regionalexpress der DeutschenBahn von Berlin nach Frankfurt (Oder)fahren. Im Fokus steht dabei auch klar

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martin wilke – den blick voraus

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die junge Generation, um Fachkräftefür die kommenden Jahrzehnte zusichern.

Für Frankfurt (Oder) spielt For-schung und Hochschulbildung eine ganzbesondere Rolle. Mehr als 6.000 Stu-denten aus 80 Ländern studieren ander Europa-Universität Viadrina. Da-rüber hinaus befassen sich derzeitigüber 300 Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter aus über 20 Ländern am

Leibniz Institut für Innovative Mikro-elektronik (IHP) in Frankfurt (Oder)mit Forschungsarbeiten zum Thema„Höchstgeschwindigkeitselektronik“zur Weiterentwicklung von Anwen-dungen z. B. in der Luft- und Raum-fahrt, der Automatisierungs-, Medizin-bzw. Kommunikationstechnik.

Kurzum: Unsere Stadt ist für die Zu-kunft gut gerüstet – und jeder kann sichgerne vor Ort ein Bild davon machen. �

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D R. M A R T I N W I L K E

ist Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder).

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PERSPEKTIVE 21: Die Forderung nachmehr gesellschaftlicher Gleichheit ist ja ziemlich aus der Mode geraten. Wie kom-men Sie darauf, dass gleichere Gesell-schaften funktionaler sind? RICHARD WILKINSON: Wir haben 23 wohl-habende Industrieländer miteinanderverglichen, dazu noch die 50 amerikani-schen Bundesstaaten untereinander. DieStatistiken sprechen eine klare Sprache:Vergleicht man die reichsten 20 Prozentmit den ärmsten 20 Prozent einerBevölkerung, fallen die gesundheitlichenund sozialen Probleme umso stärker aus,je größer die Einkommensunterschiedesind. Ob es nun um Lebenserwartung,Säuglingssterblichkeit, Fettleibigkeit,Drogensucht, Teenager-Schwanger-schaften, Selbstmorde oder soziale Mo-bilität geht – die ungleicheren Länderschneiden erheblich schlechter ab. Undzwar unabhängig davon, wie arm oderreich ein Land insgesamt ist. Das Aus-maß der Einkommensunterschiede in-nerhalb unserer eigenen Gesellschaft be-trifft uns also viel stärker als die Höhe desDurchschnittseinkommens im Land.

Wo steht Deutschland im internationa-len Vergleich?WILKINSON: Was Ungleichheit undsoziale Probleme angeht, befindet sichDeutschland etwas oberhalb der Mitte.Die Klassenbesten sind Japan und dieskandinavischen Länder. Hinten liegendie Vereinigten Staaten, Singapur, Por-tugal, Großbritannien und Australien.

Vertrauen ist die Basis

Nehmen wir einmal das Beispiel Fett-sucht. Ihr epidemologischer Befund lau-tet: Je größer die Einkommensungleich-heit, umso mehr Fettsüchtige gibt es.Spielt die jeweilige Esskultur eines Lan-des gar keine Rolle?WILKINSON: Dann dürften sich die 50amerikanischen Bundesstaaten ja nichtvoneinander unterscheiden. Das tun sieaber: In Colorado sind rund 22 Pro-zent der Erwachsenen fettleibig, inTexas fast 34 Prozent. Fettsucht gehtklar auf Stress zurück. Gestresste Men-schen essen mehr, um sich gut zufühlen, und sie verarbeiten ihre Nah-

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Mehr Gleichheit ist für alle besser ÜBER FETTLEIBIGKEIT, GEHALTSUNTERSCHIEDE UND EINE

NEUE WIRTSCHAFTSDEMOKRATIE SPRACH MICHAEL MIEBACH

MIT RICHARD WILKINSON

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rung anders als ihre ungestressten Mit-menschen: Fettgewebe bauen sie vorallem im Bauchbereich auf, weniger anden Hüften und Schenkeln. Auch weißman, dass Stress und Ängste in derKindheit das Gewicht als Erwachsenebeeinflussen. Im Verlaufe der Evolu-tion war es wohl rational, in Zeitenvon Unsicherheit und Konflikten Vor-räte anzulegen. Beispielsweise nahm dieZahl der Fettleibigen in Ostdeutsch-land in den Jahren nach der Wendesignifikant zu – nicht weil sich dieMenschen mehr leisten konnten, son-dern weil die Einkommen ungleicherwurden und es viele Wendeverlierergab.

Wie hängen Ungleichheit und Stressgenau zusammen? WILKINSON: Man kann sich materielleUnterschiede wie ein Gerüst vorstellen,an dem kulturelle und klassenspezifi-sche Differenzierungen befestigt sind:Kleidung, Geschmack, Bildung, Selbst-bewusstsein. Selbst sehr reiche Men-schen drücken mit Geld immer auchden eigenen Status aus. Der Grad derEinkommensgleichheit zeigt also an,wie hierarchisch es in einer Gesellschaftzugeht. Deshalb reagieren Menschensehr sensibel darauf. Ungleichheit ver-schärft den Statuswettbewerb, ver-schlechtert die Qualität unserer sozia-len Beziehungen und erzeugt sozialenStress. Umgekehrt vertrauen sich dieMenschen in egalitäreren Gesell-

schaften mehr, sie nehmen mehr am ge-meinschaftlichen Leben teil und sindsozial engagierter.

Die Mittel- und Oberschicht dürfte ge-sellschaftliche Ungleichheit nicht beson-ders stören.WILKINSON: Dann liegen sie falsch. Na-türlich kommen soziale und gesund-heitliche Probleme in den ärmerenSchichten häufiger vor. Aber Ungleich-heit wirkt sich auch auf die übrige Be-völkerung negativ aus. In ungleicherenGesellschaften spielt die wechselseitigeEinschätzung des sozialen Status undStatuskonkurrenz eine größere Rolle –und zwar in allen Schichten. Dadurchentstehen soziale Ängste. So beschäf-tigen sich Menschen in ungleicherenGesellschaften mehr mit ihrem eige-nen Vorankommen. Schließlich ist derEinsatz höher, den sie dafür erbringenmüssen.

Ungleichheit schadet

In seiner „Theorie der Gerechtigkeit“argumentiert der Philosoph John Rawls,Ungleichheit sei gerechtfertigt, solange siezu einer besseren Lebenssituation derÄrmeren führt. Dazu passt ein Zitat desehemaligen britischen Wirtschaftsmi-nisters Peter Mandelson: „Wir sindäußerst entspannt, wenn manche Leutestinkreich werden.“ Dahinter steht dieauch unter progressiven Sozialdemokra-ten verbreitete Hoffnung, der Reichtum

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werde in die unteren Schichten durch-sickern. Widersprechen Sie Rawls undMandelson?WILKINSON: Definitiv. Die Theorie derGerechtigkeit geht von der falschenAnnahme aus, das Wichtigste seien dieabsoluten materiellen Maßstäbe. KatePickett und ich weisen dagegen auf dienegativen psychosozialen Effekte vonUngleichheit hin. Fast alle unsereBefunde haben mit dem menschlichenVerhalten zu tun. Es geht um Gefühlevon Überlegenheit und Minderwertig-keit durch Ungleichheit. Es geht umrelative, nicht um absolute Schlechter-stellung. Im Mittelpunkt unseresDenkens steht nicht der individuelleWohlstand, sondern die zwischen-menschliche Beziehung – und diesewird eben häufig durch materielleStandards definiert. Zum Beispielleben in den Vereinigten Staaten etwa12 Prozent der Bevölkerung unterhalbder absoluten Armutsgrenze. Aber 80 Prozent der Armen haben eine Kli-maanlage, die Hälfte besitzt ein Auto,ein Drittel eine Spülmaschine und einenComputer. Materiell geht es ihnen alsogar nicht so übel, und dennoch gibt esin dieser Bevölkerungsgruppe mehr Gewalt, mehr Drogenmissbrauch, mehrTeenager-Schwangerschaften. DerGrund sind die negativen psychosozialenAuswirkungen von relativer Armut.

Sie haben auch untersucht, wie sichGleichheit auf die soziale Mobilität aus-

wirkt. Eigentlich müsste es in ungleichenLändern mehr Anreize geben, durchArbeit und Leistung aufzusteigen.WILKINSON: Das Gegenteil ist der Fall.Ungleichheit macht Gesellschaftenweniger durchlässig, führt zu mehrsozialräumlicher Segregation und zumehr Vorurteilen gegenüber den sozialSchwächeren – was die Statusunter-schiede wiederum manifestiert.

Wer glücklich ist

Ist es nicht etwas einseitig, soziale Mo-bilität nur auf den Grad an Einkom-mensgleichheit zurückzuführen? ZumBeispiel beeinflussen doch auch die Bil-dungssysteme die Aufstiegschancen derKinder.WILKINSON: Bildung spielt eine Rolle,aber der Statuseffekt ist viel wichtiger.Ungleichheit wirkt sich stark auf diefamiliären Beziehungen aus. HäuslicheKonflikte oder fehlende Zeit für denNachwuchs beeinflussen die kindlicheEntwicklung negativ. Wenn Elterngroße persönliche Sorgen und Ängstehaben, geben sie diese häufig unbe-wusst an ihre Kinder weiter – undbeeinträchtigen damit deren emotio-nales und kognitives Wachstum. Nachneuesten Erkenntnissen aus der Prima-tenforschung kann es sogar sein, dasssich frühkindliche Prägungen direktauf die Gene auswirken. Hinzukommt: Kinder aus ärmeren Eltern-häusern passen sich automatisch ihrem

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niedrigen sozialen Status an und fühlensich häufig minderwertig. Studien derneurologischen Forschung zeigen, dassLernfähigkeit viel mit Gefühlen zu tunhat. Wer zuversichtlich und glücklichist, hat eine höhere Gehirnleistung alsjemand, der sich hilf- und chancenlosfühlt.

Ursachen bekämpfen

Die von Ihnen verwendeten Statistikenbeziehen sich allesamt auf das Hier undJetzt. Längerfristige Entwicklungen ha-ben Sie nicht untersucht. Dabei ist diedurchschnittliche Lebenserwartung in denmeisten wohlhabenden Ländern gestiegen,die Bildungschancen haben sich verbessertund die Kriminalität ist zurückgegangen– obwohl die Ungleichheit seit den acht-ziger Jahren angewachsen ist. WILKINSON: An genau dieser Stelle wol-len wir jetzt weiterforschen. Es gibtbereits Studien über längere Zeiträu-me, die unsere Thesen stützen. ZumBeispiel erhöhte sich in den osteuropäi-schen Staaten nach der kommunisti-schen Zeit die Sterberate nicht in denärmsten Ländern am meisten, sondernin den ungleichsten. Und was die stei-gende Lebenserwartung angeht: Das isteins der großen Rätsel der Gesund-heitsforschung. Wir sagen ja nicht,dass Gleichheit der einzige relevanteFaktor ist, aber sie ist bei allen von unsuntersuchten Kategorien ein entschei-dender Faktor.

Darüber hinaus blenden Sie vollkommenaus, dass das Armutsrisiko in bestimmtenBevölkerungsgruppen besonders hoch ist –zum Beispiel unter Einwanderern oderAlleinerziehenden. Sollte sich die Politiknicht zunächst um diese Menschen küm-mern? WILKINSON: In der Vergangenheit hatdie Politik doch schon für jede Pro-blemgruppe und für jeden sozialenMissstand eigene Programme und spe-zialisierte soziale Dienste eingerichtet.Jedes einzelne Problem wird für sichbehandelt, anstatt die gemeinsameUrsache der Probleme zu bekämpfen:Ungleichheit, relative Armut und soweiter.

Nur das Ergebnis zählt

Auch die Debatte um unterschiedlicheTypologien von Wirtschafts- undSozialmodellen kommt in Ihrem Buchüberhaupt nicht vor. Dabei ist dochunbestritten, dass es besser und schlechterorganisierte Wohlfahrtsmodelle gibt. WILKINSON: Aber unsere Empirie zeigt,dass es vollkommen irrelevant ist, aufwelchem Weg ein Land mehr Ein-kommensgleichheit erreicht. Nur dasErgebnis zählt. Weder die Höhe derSozialleistungen noch die Steuerquotekorrelieren mit den sozialen Proble-men. Zum Beispiel steht der amerika-nische Bundesstaat New Hampshirebei Einkommensgleichheit, Gesundheitund sozialen Indikatoren weit besser da

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als viele andere Staaten, aber er hatnach Alaska die niedrigste Steuerquote.Dafür sind in New Hampshire dieLohnunterschiede gering, weil dieGewerkschaften dort sehr stark sind.

Politics matters

Viele glauben, die wachsende Kluft zwi-schen Arm und Reich in den westlichenGesellschaften sei aufgrund der Globa-lisierung und des technologischen Wan-dels unvermeidbar. Ist die Politik über-haupt in der Lage, für mehr Gleichheitzu sorgen?WILKINSON: Der berühmte ÖkonomPaul Krugman geht davon aus, dass diewachsende Ungleichheit seit den acht-ziger Jahren in erster Linie auf politi-sche Entscheidungen zurückgeht.Denn während die Einkommensdif-ferenzen in den zwanziger Jahren desvorigen Jahrhunderts sehr hoch waren,wurden die Gesellschaften nach derGroßen Depression und im Zuge desamerikanischen New Deal bis in diesechziger Jahre immer gleicher. In denSiebzigern stagnierte die Ungleichheit,erst seit den achtziger Jahren steigt siewieder. Ein zentraler Grund dafür wardie Liberalisierungspolitik RonaldReagans und Margret Thatchers:Steuersenkungen, Schwächung derGewerkschaften, Privatisierungen.Ihnen ging es in erster Linie umWirtschaftswachstum; die wachsendeKluft zwischen Arm und Reich haben

sie billigend in Kauf genommen. DiePolitik hat folglich durchaus großenEinfluss auf den Grad der Ungleich-heit.

Führen ungleiche Gesellschaften über-haupt zu mehr Wachstum?WILKINSON: Im Gegenteil: Die meistenempirischen Studien zeigen, dassGleichheit das Wirtschaftswachstumpositiv beeinflusst. Denn gesellschaftli-cher Zusammenhalt, soziales Kapitalund Vertrauen senken die Transak-tionskosten für die Unternehmen undschaffen ein gutes Geschäftsumfeld.Interessant ist auch, dass in gleicherenLändern mehr Patente pro Kopf ange-meldet werden, wohl weil die Bevöl-kerung in ungleicheren Gesellschafteneinen schlechteren Bildungsstand hatund weniger Menschen sozial aufstei-gen können. Ungleiche Gesellschaftenverschwenden einfach zu viele ihrerTalente. Aber davon einmal abgesehensollte unser Ziel gar nicht zusätzlichesWachstum sein, sondern mehr Lebens-qualität, bessere soziale Beziehungenund eine saubere Umwelt – durchmehr Gleichheit.

Was hat Ökologie mit Einkommens-gleichheit zu tun?WILKINSON: Zum einen gibt es in glei-cheren Gesellschaften ein stärkeresBewusstsein für das Allgemeinwohl.Um ein Beispiel zu nennen: In gleiche-ren Gesellschaften wird mehr Müll

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recycelt als in ungleicheren. DiesesBewusstsein ist auch beim Klimaschutzessenziell. Zum anderen spielt in un-gleicheren Gesellschaften der Konsumeine größere Rolle. Konsum hat vielmit Statuswettbewerb zu tun, Un-gleichheit heizt ihn an. Kate Pickettund ich sind davon überzeugt, dassMenschen in ungleicheren Gesell-schaften deshalb im Durchschnitt län-ger arbeiten, weil Geld wichtiger ist.Um dem Konsumismus entgegenzu-wirken, brauchen wir mehr Gleichheit.

Wirtschaft demokratisieren

Welche politischen Maßnahmen schlagenSie vor, um dieses Ziel zu erreichen?WILKINSON: Wir sind keine Politik-experten, deshalb sprechen wir auchkeine konkreten politischen Emp-fehlungen aus. Und wie gesagt: Aufwelchem Weg das Gleichheitszielerreicht wird, spielt keine Rolle. EineVariante sind natürlich höhere Steuernund Abgaben, aber Steuererhöhungensind unpopulär und können von späte-ren Regierungen leicht wieder rückgän-gig gemacht werden. Deshalb solltenwir Gleichheit tiefer in unserer Kulturverankern und unser Wirtschaftssystemdemokratisieren. Damit meine ichnicht nur mehr Mitbestimmung undstarke Betriebsräte, sondern die För-derung von Genossenschaften, mehrMöglichkeiten zur Beteiligung derArbeitnehmer an den Unternehmens-

gewinnen – bis hin zu arbeitnehmerge-führten Unternehmen. Weitere wich-tige Felder für die Frage der Gleichheitsind gesetzliche Mindestlöhne, Bil-dung, Weiterbildung, der Arbeits-markt, öffentliche Dienstleistungen,Renten und die Familienpolitik.

Geht die demokratische Beteiligung derMitarbeiter nicht auf Kosten der Wett-bewerbsfähigkeit?WILKINSON: Ich habe mir mehrereumfangreiche und gut abgesicherteStudien zur Anteilseignerschaft vonArbeitnehmern und zu partizipatori-schen Managementmethoden angese-hen. In Unternehmen, in denen esdiese beiden Elemente auf intelligenteWeise gibt, ist die Produktivität deut-lich angestiegen. Wer über seine Arbeitmitbestimmen kann, lebt auf, engagiertsich stärker, übernimmt mehr Verant-wortung. Anders herum hat das Ge-fühl, am Arbeitsplatz ungerecht be-handelt zu werden, erwiesenermaßennegativen Einfluss auf die Gesundheitdes Arbeitnehmers. Und noch etwas ist wichtig für unser Thema: In diesenUnternehmen gerät die Einkommens-schere unter demokratische Kontrolle.

Wie verträgt sich Gleichheit mit persön-licher Freiheit und Eigenverantwortung?WILKINSON: Das Beispiel Wirtschafts-demokratie zeigt es doch: Mehr Gleich-heit kann mehr Freiheit bedeuten – indiesem Fall mehr Freiheit für Arbeit-

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nehmer. Der Kommunismus hat denBegriff der Gleichheit über Jahr-zehnte diskreditiert. Seit dem KaltenKrieg wird Gleichheit mit Freiheits-verlust gleichgesetzt, also mit wenigerMeinungsfreiheit, weniger Presse-

freiheit, weniger Reisefreiheit. Wennman nun aber Gleichheit mit einerAusweitung von Demokratie undFreiheit in Verbindung bringt, dürftesie bei den Menschen größere Akzep-tanz erfahren. �

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richard wilkinson – mehr gleichheit ist für alle besser

R I C H A R D W I L K I N S O N

ist Epidemiologe und hat mit Kate Picket in dem Buch „Gleichheit ist Glück.Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ empirisch belegt,

dass soziale Probleme einer Gesellschaft zunehmen, je stärker die Ungleichheitzwischen Arm und Reich ist.

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Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen

kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer

Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

DAS DEBATTENMAGAZIN

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich www.b-republik.de

Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR zzgl. Versandkosten als Einzelheft erhältlich oder im Abonnement zu beziehen:Jahresabo 30,– EUR; Studentenjahresabo: 25,– EUR

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SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die BerlinerRepublik

Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten:

Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: WissenHeft 30 Chancen für Regionen

Heft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wirHeft 40 Bildung für alleHeft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?Heft 42 1989 - 2009Heft 43 20 Jahre SDPHeft 44 Gemeinsinn und ErneuerungHeft 45 Neue ChancenHeft 46 Zwanzig Jahre Brandenburg