Perspektivische Amerikanisierung. Thomas Mann, Peter ... · den Sohn George Sylvester Vierecks...

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1 Perspektivische Amerikanisierung. Thomas Mann, Peter Viereck und die deutsche Romantik Stefan Matuschek Zwei Vierecke und drei Punkte Thomas Manns Roman Doktor Faustus arbeitet – vom trutzigen Lutherdeutsch über die Burschenschaften bis zum bildungsbürgerlichen Gymnasiallehrer und dessen genialischem Künstlerfreund als faustischem Teufelsbündler – ausgiebig mit den Klischees des deutschen Nationalcharakters, insbesondere mit denen der Romantik. Der Lindenbaum, unter dem die Hauptfigur Adrian Leverkühn zum ersten Mal zur Musik findet, gehört dazu: natürlich eine „alte Linde“ (22 1 ), unter der das Kind Adrian mit der bäuerlichen Magd auf dem elterlichen Hof die ersten Kanons singt. Schon im Zauberberg hat Thomas Mann das LindenbaumMotiv mit Schuberts Lied „Am Brunnen vor dem Tore…“ als Inbegriff der Romantik zelebriert. 2 Im Doktor Faustus kehrt es als Initiationsort des deutschen Tonsetzers wieder, eingefügt in ein dichtes Gewebe deutscher Klischees, die in diesem Roman nicht einfach verwendet, sondern zugleich in ihrer mythischen Qualität wie ihrer geschichtlichen und aktuellen Wirksamkeit bedacht werden. Sie sind der Grundwortschatz, mit dem Thomas Mann hier das Deutsche von dessen prägenden historischen Figuren und Nationaltypologien bis zum Nationalsozialismus verhandelt. So vieles kommt dabei zur Sprache, dass ein RomanKommentar in dieser Hinsicht geradezu ein Handbuch der deutschen Nationalklischees ergäbe. Die Motive sind dicht und stimmig gefügt: Zum Lindebaum stellt auch der Roman eine umlaufende Bank, er erwähnt die „herrlich duftenden Blüten“ zur „Junizeit“ (22) und er lässt in seinem Schatten zwei Kinder und eine Magd Volkslieder singen. Dass Adrian nicht anders als durchs kindliche Volksliedsingen überhaupt zur Musik kommt, bezeichnet die wohlberechnete Position, die der Lindenbaum hier in der 1 Nachweise unter Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe: Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 2007 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.1). 2 Am Ende des Kapitels „Fülle des Wohllauts“.

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Perspektivische Amerikanisierung.  

Thomas Mann, Peter Viereck und die deutsche Romantik 

 

Stefan Matuschek 

 

Zwei Vierecke und drei Punkte 

Thomas Manns Roman Doktor Faustus arbeitet – vom trutzigen Lutherdeutsch 

über die Burschenschaften bis zum bildungsbürgerlichen Gymnasiallehrer und 

dessen genialischem Künstlerfreund als faustischem Teufelsbündler – ausgiebig 

mit den Klischees des deutschen Nationalcharakters,  insbesondere mit denen 

der  Romantik. Der  Lindenbaum,  unter  dem  die Hauptfigur Adrian  Leverkühn 

zum ersten Mal zur Musik findet, gehört dazu: natürlich eine „alte Linde“ (221), 

unter der das Kind Adrian mit der bäuerlichen Magd auf dem elterlichen Hof 

die  ersten  Kanons  singt.  Schon  im  Zauberberg  hat  Thomas  Mann  das 

Lindenbaum‐Motiv  mit  Schuberts  Lied  „Am  Brunnen  vor  dem  Tore…“  als 

Inbegriff der Romantik zelebriert.2 Im Doktor Faustus kehrt es als Initiationsort 

des deutschen Tonsetzers wieder, eingefügt  in ein dichtes Gewebe deutscher 

Klischees, die  in diesem Roman nicht einfach verwendet,  sondern  zugleich  in 

ihrer mythischen Qualität wie  ihrer geschichtlichen und aktuellen Wirksamkeit 

bedacht werden.  Sie  sind  der Grundwortschatz, mit  dem  Thomas Mann  hier 

das  Deutsche  von  dessen  prägenden  historischen  Figuren  und 

Nationaltypologien  bis  zum Nationalsozialismus  verhandelt.  So  vieles  kommt 

dabei zur Sprache, dass ein Roman‐Kommentar in dieser Hinsicht geradezu ein 

Handbuch der deutschen Nationalklischees ergäbe. Die Motive sind dicht und 

stimmig gefügt: Zum Lindebaum stellt auch der Roman eine umlaufende Bank, 

er erwähnt die  „herrlich duftenden Blüten“  zur  „Junizeit“  (22) und er  lässt  in 

seinem  Schatten  zwei Kinder und  eine Magd Volkslieder  singen. Dass Adrian 

nicht anders als durchs kindliche Volksliedsingen überhaupt zur Musik kommt, 

bezeichnet  die  wohlberechnete  Position,  die  der  Lindenbaum  hier  in  der 

                                                            1 Nachweise unter Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe: Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 2007 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.1). 2 Am Ende des Kapitels „Fülle des Wohllauts“. 

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deutschen  Musikerbiographie  einnimmt.  Das  Romantische,  das  er 

repräsentiert,  wird  überdies  als  etwas  Sentimentales  gekennzeichnet  und 

damit  aus  der  Perspektive  der  technisch‐pragmatisch  fortgeschrittenen 

Moderne  gesehen:  Dem  Fuhrverkehr  auf  dem  Hofe,  heißt  es,  ist  der  Baum 

längst  im Wege,  doch  lässt man  ihn  aus Nostalgie  stehen.  So  knapp  und  so 

prägnant  zeichnet  der  Autor  den  romantischen  Ursprung  seiner  modernen 

deutschen Künstlerfigur. 

Das einzige Detail, das in diesem Arrangement beliebig scheint, ist der Hinweis, 

dass der Hof, auf dem die  Linde  steht, ein  „offenes Viereck“  (22) bildet. Das 

Viereck gehört nicht zum deutsch‐romantischen Klischeebestand. Aber es kehrt 

wieder.  Auch  der  Hof  der  Familie  Schweigestill,  auf  dem  der  erwachsene 

Leverkühn  dann wie  in  einem  Abbild  seines  Elternhauses wohnt, wobei  nur 

statt der Linde eine Ulme  im Zentrum steht: auch dieser Hof, heißt es, bildet 

ein  „Viereck“  (372).  Und  damit  nicht  genug.  Der  Kompositionsweise  des 

deutschen  Tonsetzers  wird  wörtlich  „eine  gewisse  Viereckigkeit“  (583) 

bescheinigt. Es  ist der Konzertagent Saul Fitelberg, der das  sagt, und  zwar  in 

ausdrücklich  nationalcharakterlichem  Sinne:  Die  „gewisse  Viereckigkeit“  sei 

gerade das Deutsche an Leverkühn, sei, wie der aus Paris Angereiste sagt, seine 

„qualité d’Allemand“ (583). Das Steife kennen wir als deutsches Klischee; aber 

das  Viereckige?  Und  wie  passt  das  Viereck  zum  idyllischen  Linden‐  und 

Ulmenschattenplatz? Der Roman  ist motivisch so dicht und kulturgeschichtlich 

so gelehrt, dass man auch hier unwillkürlich nach der Stimmigkeit fragt. Und es 

gibt eine Antwort. Denn was motivisch hier nicht ganz schlüssig erscheint, passt 

doch  auf  andere Weise;  auf  eine Weise,  die  der  Roman  strukturell  auch  an 

anderer Stelle nutzt. Viereck  ist ein Name, ein hier einschlägiger Name. Peter 

Viereck  ist der Autor eines Buches, das 1941  in Amerika erschien und das als 

eines der ersten einen Zusammenhang zwischen der deutschen Romantik und 

dem Nationalsozialismus behauptet. Thomas Mann hat das Buch  gekannt, er 

hat es öffentlich kommentiert und es hat eine deutliche Spur  in seinem Werk 

hinterlassen,  insbesondere was das Verständnis der deutschen Romantik und 

deren  Zusammenhang  mit  dem  Nationalsozialismus  betrifft.  Wer  seinen  

Ratgeber Adorno mit dem Wort „Wiesengrund“ (84)  im Roman markiert, dem 

darf man  zutrauen, dass er auch einen anderen Namen auf ähnlich  indirekte 

Weise  aufnimmt.  Was  als  Form  und  als  metaphorische  qualité  d’Allemand 

beliebig erscheint, wird  stimmig, wenn man darin eine versteckte Erinnerung 

3  

an  den  amerikanischen  Autor  sieht.  Viereck  wirkte  dabei  nicht  so 

durchschlagend,  wie  es  Adorno  für  die  musikphilosophischen  Passagen  des 

Romans war. Sein Einfluss geht dem Roman vielmehr unmittelbar voraus und 

ist  am  deutlichsten  in  Manns  Essays  über  Deutschland  vom  Anfang  der 

Vierzigerjahre greifbar. Doch schlägt er sich auch noch  im Roman nieder. Und 

ich  halte  es  für  keine  überschießende  Phantasie,  dort  noch  einen  weiteren 

Hinweis  auf  Vierecks  Buch  zu  sehen.    Es  trägt  den  Titel Metapolitics.  From 

Wagner and  the German Romantics  to Hitler.  Im Teufelsgespräch des Doktor 

Faustus  gibt  es  eine  Passage,  in  der  eine  Reihe  von  Komposita  von  der 

medizinischen zur ideologischen Ansteckungsgefahr führt: eine Überleitung, die 

der  Romanidee  entspricht,  im Motiv  des  Teufelspaktes  die  Ansteckung  mit 

Syphilis  mit  der  Ausbreitung  der  nationalsozialistischen  Ideologie  zu 

verknüpfen.  Die  Reihe  führt  von  der  „Metastasierung  ins  Metaphysische, 

Metavenerische, Metainfektiose“ (340), und sie endet nicht mit diesem letzten 

Wort,  sondern  setzt  sich mit  drei  Punkten  „…“  ins Offene  fort. Das  lässt  ein 

weiteres „Meta…“‐Kompositum erwarten. Kein anderes wäre hier einschlägiger 

als das Titelwort von Peter Viereck, „Metapolitics“. Denn es bezeichnet genau 

das, worum es  in der Komposita‐Reihe  im Roman geht: die wie eine Krankheit 

sich ausbreitende deutsche  Ideologie. Wenn die von Thomas Mann gesetzten 

drei Punkte nach den vier Meta‐Komposita nicht beliebig sind, dann kann man 

sie als Platzhalter  für Vierecks Buchtitel verstehen. Sapienti sat: eine Ästhetik 

der Anspielung, die dem Autor ja nicht fremd ist. 

Die  versteckten  Hinweise  auf  Vierecks  Buch  wären  bloße  Spekulation  und 

erübrigten sich auch der Sache nach, wenn die Beziehungen zwischen Thomas 

Mann und Peter Viereck, zwischen Doktor Faustus und Metapolitics kein festes 

sachliches Fundament hätten. Sie haben es. Da der amerikanische Autor und 

sein Buch  in Deutschland,  insbesondere auch  in der Thomas‐Mann‐Forschung 

kaum bekannt sind3, stelle ich beide kurz vor. 

Peter Viereck 

Peter Viereck wurde 1916 als Sohn eines deutschen Emigranten  in New York 

geboren. Er studierte Geschichte und Literatur in Harvard, wo er 1941 mit dem 

Buch, um das es hier geht, promovierte. Metapolitics.  From Wagner and  the 

German Romantics to Hitler ist eine Havard‐Dissertation aus den ersten Jahren                                                             3 Einen kurzen Hinweis auf Viereck und Metapolitics gibt jetzt Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938‐1952, Frankfurt a. M. 2011, S. 338‐341. 

4  

des Zweiten Weltkriegs. Seit 1939 hat Viereck daran gearbeitet,  im November 

und  Dezember  39  erschienen  Vorabdrucke  des  Wagner‐Kapitels  in  der 

amerikanischen Zeitschrift Common Sense, 1941 dann das ganze Buch, Anfang 

1942 wurde die Promotion in Harvard vollzogen. 1943 und 44 stand Viereck in 

Nordafrika  und  in  Italien  im  Dienst  der  amerikanischen  Armee,  nicht  als 

kämpfender  Soldat,  sondern  aufgrund  seiner  guten  Deutschkenntnisse  vor 

allem  als  Übersetzer  und  Interpret  der  abgehörten  deutschen 

Militärkommunikation. Nach Dozentenstellen in Havard in den Jahren 1946/47 

gelangte er 1948 als Geschichtsprofessor an das Mount Holyoke College, eine 

(bis  heute)  ausschließlich  Studentinnen  vorbehaltene  exklusive 

Privathochschule  in Massachusetts.    Ihr  blieb  Viereck  bis  1997,  also  fast  50 

Jahre lang, verbunden. Knapp zehn Jahre später, 2006, starb er.  

Neben dieser eher verborgenen beruflichen Karriere steht die des Autors Peter 

Viereck. Sie  ist weitaus sichtbarer, und sie vollzieht sich  in zwei Bereichen:  in 

der  Lyrik  und  der  politischen  Publizistik.  Als  Lyriker wurde  Peter  Viereck  im 

Jahre 1949 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet, als politischer Publizist gilt er 

als  einer  der  Väter  des  modernen  Konservativismus  in  Amerika,  als  ein 

unorthodoxer  allerdings.  Denn  trotz  seines  politisch  konservativen 

Bekenntnisses und trotz seiner vehementen Opposition gegen Sozialismus und 

Kommunismus  trat er doch ebenso entschieden gegen den Senator McCarthy 

und dessen Politik und für den Demokraten Roosevelt auf. Ein Jahr vor Vierecks 

Tod, also 2005, brachte The New Yorker einen Artikel über ihn, um ihn als, wie 

die Überschrift sagt, „The First Conservative“4 neu  in Erinnerung zu rufen. Der 

Artikel  ist  geradezu  eine  Hommage  an  Viereck,  der  hier  als  ein  kluger, 

besonnener  Ahnherr  bewusst  gegen  das  aktuelle  Erscheinungsbild  des 

amerikanischen Konservativismus  in  Stellung  gebracht wird. Die  konservative 

National  Review  hat  die  Botschaft  verstanden  und  diese  politische 

Vorläuferschaft im Gegenzug prompt bestritten.5 

Die Doppelrolle von Lyriker und politischem Publizisten hat Peter Viereck nicht 

neu  für  sich  gefunden,  sondern  von  seinem Vater, George  Sylvester Viereck, 

                                                            4 Tom Reiss, The First Conservative. How Peter Viereck  inspired – and lost – a movement, in: The New Yorker, October 24, 2005, S. 38ff. 5 Vgl. John J. Miller, Veering Off Course. The New Yorker tries to revive Peter Viereck, in: National Review Online (http://old.nationalreview.com/miller200510260817.asp). Eine ausgewogene, wissenschaftliche Beurteilung des politischen Publizisten Peter Viereck versucht Claes G. Ryn, The Legacy of Peter Viereck: His Prose Writings, in: Humanitas, Vol. XIX, Nos. 1 and 2, 2006, S. 38‐49. Allerdings kann man hier insofern von Befangenheit sprechen, als Viereck zu Lebzeiten Mitherausgeber dieser Zeitschrift war. 

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übernommen.  Es  ist  nicht  unwichtig,  das  zu  wissen,  denn  es  gibt  seiner 

Dissertation,  um  die  es  hier  geht,  eine  eigene  Dimension  persönlicher 

Betroffenheit. Der Vater, George Sylvester Viereck, muss eine schillernde Figur 

gewesen sein. Im Alter von 12 Jahren wanderte der in München Geborene mit 

seiner  Familie  nach  New  York  aus,  um  dort  dann  später  als  Vermittler 

Deutschlands  in  den USA  zu wirken.  Er  hielt  sich  selbst  für  einen  illegitimen 

Enkel  Kaiser Wilhems  I.,  für  dessen  offiziellen  Enkel, Wilhelm  II.,  er  größte 

Bewunderung  hegte.  In  den  1920‐  und  30er‐Jahren  trat  er  früh  und  sehr 

engagiert für den Nationalsozialismus ein. 1923 veröffentlichte er als erster  in 

Amerika ein  Interview mit Hitler, 1934  trat er  im Madison Square Garden als 

Redner  vor den  „Friends of  the New Germany“ auf, einer Großveranstaltung 

mit  Hakenkreuzfahnen  und  Hitler‐Porträts.  Gleichzeitig  popularisierte  er  die 

Lehren Sigmund Freuds  in Amerika, brachte ein  Interview mit Albert Einstein 

heraus  und  publizierte  philosemitische  Unterhaltungsromane.  Auch  Thomas 

Mann hat er für die amerikanische Presse interviewt; aus dieser Zeit, Ende der 

Zwanziger‐, Anfang der Dreißigerjahre sind auch einige Briefe zwischen beiden 

überliefert.6 1941,  in dem  Jahr,  in dem  Peter Viereck mit  seiner Dissertation 

sein  erstes  Buch  veröffentlicht,  wird  George  Sylvester  Viereck  als  ein  von 

Deutschland aus verdeckt bezahlter Nazi‐Agent und  ‐Propagandist  in Amerika 

inhaftiert,  bis  1947  sitzt  er  im  Gefängnis.  Peter  Vierecks  Dissertation  ist  ein 

öffentliches  Manifest  gegen  den  Geist  seines  Vaters.  Sein  anschließender 

Dienst  in  der  amerikanischen  Armee  ist  der  Versuch,  sich  gegen  seine 

verdächtige Herkunft  im  Krieg  gegen  Deutschland  als  loyaler  amerikanischer 

Staatsbürger zu erweisen. 

Metapolitics  ist ein Buch, mit dem ein kaum 25jähriger Mann kulturhistorisch 

zu diagnostizieren versucht, was er  in seinem Vater verkörpert sehen konnte: 

den  Nationalsozialismus  nicht  als  kulturellen  Bruch,  sondern  als  Fortsetzung 

einer aus dem 19.  Jahrhundert stammenden deutschnationalen Begeisterung. 

Diagnose ist dabei nur die halbe Wahrheit, oder vielleicht sogar weniger als die 

Hälfte. Denn als Abrechnung mit der Vaterideologie, als beschwörende Anzeige 

und Warnung vor  ihr  ist das Buch viel emotionaler und affektiver, als man es 

für die Gattung Dissertation für möglich halten möchte. 

                                                            6 Vagets Vermutung, Thomas Mann sei „sich nicht recht bewusst“ gewesen, dass es sich bei Peter Viereck um den Sohn George Sylvester Vierecks handle (Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, wie Anm. 3, S. 339) halte ich für unbegründet, da Thomas Mann Peter Viereck in seinen Tagebüchern wiederholt als den „jungen Viereck“ bezeichnet. 

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Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler 

Das Titelwort seiner Dissertation übernimmt Viereck aus dem „Offenen Brief an 

Richard Wagner“, mit dem der Historiker und Publizist Constantin  Frantz auf 

Richard  Wagners  Aufforderung  reagierte,  zu  der  Frage  „Was  ist  Deutsch?“ 

Stellung  zu  nehmen.  Dieser  offene  Brief  erschien  ebenso  wie  Wagners 

Aufforderung  1878  in  den  Bayreuther  Blättern.  Was  er  unter  „deutsch“ 

versteht,  entwickelt  Frantz  in  ausdrücklicher  Opposition  zur  Bismarckschen 

Politik,  indem  er  gegen  deren  nationalstaatliche  Reichsgründung  die  größere 

Dimension des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation beschwört. Diese 

Dimension,  die  er  sich  vage  als  einen  europäischen  Föderalismus  unter 

deutscher Führung vorstellt, versteht er als das wahrhaft Deutsche, und es  ist 

genau  diese  visionäre  Überbietung  der  Realpolitik,  die  er  am  Ende  auf  den 

Begriff  „Metapolitik“  bringt.  Der  Begriff  ist  also  ganz  affirmativ  gemeint.  In 

Frantz‘ Wortlaut: „um wirklich deutsch zu sein muss daher die Politik über sich 

selbst hinaus gehen. Sie muss sich zur Metapolitik erheben, als welche sich zur 

gemeinen Schulpolitik ähnlich verhält, wie zur Physik die Metaphysik.“7 

Hier setzt Vierecks Diagnose an.  In der visionären Überbietung der Realpolitik 

sieht er das charakteristisch Deutsche, das genau  in dem Moment  zur  realen 

politischen Gefahr werde,  in dem die militärische Stärke Deutschlands  in den 

Dienst der Visionen trete. Genau diesen Moment sieht er mit Hitler gekommen. 

Dieser  ist  in  Vierecks  Augen  der  Mann,  der  in  die  Tat  umsetzt,  was  im 

deutschen  politischen  Denken  von  je  her  als  irrationaler,  visionärer 

Überschwang in Kurs war. Der Nationalsozialismus ist demnach inhaltlich nichts 

Neues,  sondern  nur  die  massenpädagogische  Eintrichterung  und  materiell‐

militärische  Umsetzung  des  deutschen  metapolitischen  Denkens.  Als  deren 

hauptsächliche  Bestandteile  nennt  er  (1.)  Romantik,  (2.)  einen  sich 

wissenschaftlich gebenden Rassismus.  (3.) einen vagen Hang zum Sozialismus, 

der  tatsächlich  nur  negativ  als  Antikapitalismus  bestimmt  sei,  und  (4.)  eine 

irrational übernatürliche Vorstellung vom Volk.8 Schon auf der dritten Textseite 

                                                            7 Constantin Frantz, Offener Brief an Richard Wagner, in: Bayreuther Blätter 6, 1878, S. 149‐170, hier S. 169. Wagners Aufforderung „Was ist Deutsch?“ dort im Heft 2, 1878, S. 29‐42. 8 „I shall use “metapolitics“ to mean the semi‐political ideology resulting from the intertwining of four distinct strands. These four are romanticism (as interpreted in the chapter following this); the “science” of racism; a vague economic socialism, protesting sometimes demagogically and sometimes sincerely against capitalist materialism; and the alleged supernatural and unconscious forces of Volk collectivity.”Peter Viereck, Metapolitics. From Wagner and the German Romantics to Hitler. Expanded edition, with a new introduction by the author, New Brunswick, London 2007, S. 4. Alle weiteren Nachweise aus diesem Buch unmittelbar im Text mit der Sigle V. 

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räumt  Viereck  die  „oversimplification“  (V  5)  seines  Erklärungsansatzes  ein. 

Doch sieht er sie nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig für die Botschaft 

seines  Buches.  Um  sie  heute  zu  verstehen,  muss  man  die  zeitgenössische 

Diskussionslage in Amerika sehen, auf die sich Viereck bezieht. Ihm geht es zum 

einen darum, dass der Nationalsozialismus kein irritierender plötzlicher Störfall 

in Deutschland sei, der übersteh‐ und behebbar wäre, sondern die Konsequenz 

aus einer langen deutschen Kulturgeschichte. Dies richtet sich gegen diejenigen 

in Amerika, die das aktuelle böse  vom alten  guten Deutschland  trennen und 

sich  die  alte  Deutschland‐,  insbesondere  auch  Wagner‐Liebe  nicht  nehmen 

lassen  wollen.  Zum  anderen  geht  es  ihm  darum, mit  der  kulturhistorischen 

Herleitung  und  Ausmalung  des  Nationalsozialismus  das  so  gesehen  durch 

Jahrhunderte angereicherte und aufgelaufene Bedrohungspotenzial zu zeigen, 

mit dem man es hier zu tun hat. Dies richtet sich gegen diejenigen in Amerika, 

die es ablehnten oder zögerten, ob die Amerikaner sich  im anfangs  ja  fernen 

europäischen  Krieg  engagieren  und  sich  selbst  aktiv  an  der  militärischen 

Bekämpfung Deutschlands beteiligen  sollten. Vierecks Buch  ist  in erster  Linie 

politische  Rhetorik.  Es will  das  bedrohliche Ausmaß  der  aktuellen  deutschen 

Politik bewusst machen und damit  zu deren  aktiver Bekämpfung motivieren. 

Gleich die ersten Sätze machen das deutlich: 

“The  type  of  politics  discussed  in  this  book  is  not  really  ‘politics’  in  the 

unpretentious  American  sense  of  the word  but  is  best  described  as  – well, 

there  is  no  ordinary  English  word  for  it  –  as Metapolitik:  metapolitics.  No 

English word expresses so well  the Weltanschauung which Hitler has  instilled 

into  German  youth  and  which,  backed  by  German  military  and  economic 

efficiency, is the menace of the hour to all free peoples.” (V 3) 

Bedenkt  man  dieses  auf  die  aktuelle  amerikanische  Deutschland‐Diskussion 

bezogene Engagement, dann wundert man sich nicht über das hingebungsvolle 

Analogisieren, mit dem Viereck aus den Germanen, aus den Romantikern und 

Idealisten,  aus Wagner und den Wagnerianern,  aus dem  Turnvater  Jahn und 

den Nationalsozialisten  ein  unheilvolles  Panorama  des  deutschen  politischen 

Irrationalismus  aufspannt.  Man  wundert  sich  höchstens,  dass  dies  in  der 

Gattung Dissertation auftreten konnte. Man kann es als Indiz für die derzeitige 

Situation  der  Harvard‐Universität  nehmen,  an  der  offenbar  eine 

Empfänglichkeit  für Vierecks Botschaft herrschte – oder, umgekehrt gesehen, 

8  

ein intellektuelles Milieu, das Vierecks Arbeit inspiriert hat.9 Denn sie steht mit 

ihren  Thesen  nicht  allein.  Während  des  Zweiten  Weltkriegs  waren  im 

amerikanischen  und  auch  englischen  Universitätsmilieu  Rückführungen  des 

Nationalsozialismus  auf den deutschen  Idealismus  keine  Seltenheit, wobei es 

im  akademischen  Zusammenhang  insbesondere  um  die  Disqualifizierung  der 

alten  Philosophie  durch  die  aktuelle  Politik  Deutschlands  ging.  Der 

Namhafteste, der  so urteilte,  ist wohl der Philosoph  John Dewey.10 Auch bei 

Viereck kommen Fichte und Hegel zwar knapp, doch eindeutig als die geistigen 

Ahnherren der aktuellen deutschen Machtpolitik vor (vgl. V 192, 201f.). 

Vierecks  Schwerpunkt  liegt  allerdings  woanders.  Sein  Beitrag  ist  die 

Dokumentation derjenigen, die er für die entscheidenden Transformatoren der 

romantischen  Ideen  in moderne, massenwirksame Botschaften hält. Das  sind 

Friedrich Ludwig Jahn (der „Turnvater“), Richard Wagner und Alfred Rosenberg. 

Ihnen gibt Vierecks Buch den größten Raum, und nicht zufällig wählt es seinen 

Leitbegriff  „Metapolitik“  aus  den  Bayreuther  Blättern.  Viereck  zitiert  viel, 

insbesondere  aus Wagners  Prosaschriften,  die  er  als  ideologische  und  auch 

stilistische Vorlagen  für Hitlers Mein Kampf präsentiert. Das  versteht  sich als 

ein  dokumentarischer  Angriff  auf  die  amerikanischen Wagnerianer,  die  ihre 

Opernliebe  vom  nationalsozialistischen Wagner‐Kult  frei  und  getrennt  sehen 

wollen. Eben dies will Viereck seinen Landsleuten als Naivität oder Selbstbetrug 

austreiben und  statt dessen, wie er  in  formaler Anleihe an den Operndichter 

alliterierend  sagt,  „Wagner’s warped  genius“  als  „the most  important  single 

fountainhead  of  current  Nazi  ideology“  (V  91)  sichtbar  machen.  Die 

materialreiche Dokumentation  ist ein Verdienst Vierecks, gerade  im Blick auf 

seine amerikanischen Leser, die das meiste, was Viereck bringt, kaum gekannt 

haben dürften. Das Gesamtbild der verhängnisvollen deutschen Metapolitik ist 

in  seiner  kruden Völkerpsychologie  der  alarmierten politischen  Situation und 

dem  Engagement  geschuldet,  Amerika  gegen  Deutschland  zu  mobilisieren. 

Viereck  selbst  schwankt  zwischen  pauschalen,  fast  aphoristischen  Sprüchen 

über die ewig irrationalen Deutschen einerseits („Germans have a strange habit 

of  fleeing  not  from  prisons  but  into  prisons.“  V  27)  und  andererseits  dem 

Versuch,  zwischen  den  alten  Romantikern  und  den  aktuellen  Politikern  trotz 

aller  Kontinuität  zu  differenzieren.  Zu  Johann Gottfried Herder  etwa  sagt  er: 

                                                            9 Claes G. Ryn (vgl. Anm. 5, S. 38) nennt den Komparatisten Irving Babbitt, der Viereck durch seine kritische Perspektive auf die Romantik beeinflusst habe. 10 Vgl. Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Frankfurt a. M. 2008, S. 43. 

9  

„The Nazi  and Wagnerian  cult of  the organic  instinctive Volk  could not have 

existed without him. Yet he would be jailed as a pacifist and  internationalist  if 

he  lived  in  Germany  today.“  (V  52)  Und  auch  wenn  er  Jahn  und  Wagner 

ideologisch so eng mit dem Nationalsozialismus verbindet, beharrt er doch auf 

dem  Unterschied  zwischen  Gedanken  und  Taten:  „A  few  years  under  Hitler 

would  have  been  the  best  cure  and  return  to  sanity  for  all  the  nineteenth‐

century proto‐Nazis we have been discussing,  including Wagner and  Jahn.“  (V 

182) 

Das Hauptproblem von Vierecks Buch  liegt, wie bei seiner These kaum anders 

zu erwarten, in der Verflochtenheit von Gegenstand und Methode.  Wo Viereck 

den  Zusammenhang  einer  mythisch‐irrationalen  Selbstberauschung  in  der 

deutschen Kulturgeschichte kritisch erkennen und analysieren will, stellt er ihn 

vielfach  durch  seine  suggestiven  Analogien  erst  selbst  her. Mythendiagnose 

und Mythenbildung sind hier eng  ineinander verwickelt. Der wissenschaftliche 

Wert jenseits der Materialsammlung ist also eher gering – was allerdings nicht 

daran  gehindert  hat,  dass  Vierecks  Buch  bis  heute  in  einem  gängigen 

amerikanischen Lehrwerk über Nazi‐Deutschland zur weiterführenden Lektüre 

empfohlen wird.11  Der Wert  des  Buches  bemisst  sich  im  Verhältnis  zu  dem 

damaligen  deutschlandpolitischen  Informations‐  und  Diskussionsstand  in 

Amerika,  den  es  erweitert  und  herausfordert.  Auch  in  seiner  Dissertation 

erscheint Viereck also als politischer Publizist.  

Es  ist deshalb ganz angemessen, dass sein Wagner‐Kapitel  in einer politischen 

Zeitschrift  vorab  gedruckt  wurde:  in  dem  in  New  York  herausgegebenen 

Magazin Common Sense. Es war 1932 aus dem Parteimagazin der League  for 

Independent  Political  Action  hervorgegangen,  einer  sozialistisch  orientierten 

Bewegung,  die  unter  dem  Vorsitz  des  schon  genannten  Philosophen  John 

Dewey eine politische Alternative zwischen den etablierten Republikanern und 

Demokraten auf der einen und den Marxisten auf der anderen Seite suchte. Die 

League  löste  sich  1936  auf,  die  Zeitschrift  hielt  sich  bis  1946.  Der  Viereck‐

Auszug erschien in zwei Teilen im November‐ und im Dezemberheft 1939 unter 

dem Titel „Hitler and Richard Wagner“. Über ihn bahnt sich der Weg zu Thomas 

Mann. Denn  einer der Herausgeber  von Common  Sense, Alfred M. Bingham, 

schickte Vierecks Aufsatz an seine Adresse: als Herausforderung, was denn der 

                                                            11 Vgl. Joseph W. Bendersky, A Concise History of Nazi Germany, 3. ed., Lanham, Boulder, New York, Toronto, Plymouth 2007, S. 58. 

10  

berühmte Wagner‐Verehrer  zu  dieser  Zusammenstellung  des  Verehrten mit 

Hitler zu sagen habe. Die Herausforderung war dabei nicht nur intern durch die 

persönliche  Zusendung  gestellt,  sondern  auch  öffentlich  durch  Vierecks  Text 

selbst.  Denn  in  ihm  wird  Thomas  Mann  als  Wagner‐Bewunderer  suggestiv 

neben Hitler gestellt,  insbesondere  im Blick auf die Hochachtung  für Wagners 

Prosaschriften: 

„Thomas Mann, noblest and greatest of anti‐Hitler Germans […] is expounding 

his  love and admiration not only for Wagner the musician but for Wagner the 

thinker.  Mann  is  referring  to  Wagner’s  Prose:  ‚essays  of  astonishing 

intelligence.‘  Flashback  to Germany: Hitler’s  ‚favorite  reading‘  is  the  ‚political 

compositions of Richard Wagner.‘“12 

Das hier  zitierte Wagner‐Lob konnte Viereck dem Vortrag „Leiden und Größe 

Richard Wagners“ entnehmen, den Thomas Mann nach anderen Gelegenheiten 

und Orten auch  in New York an der New School  for Social Research gehalten 

hatte.  Dort  bezeichnet  er Wagners  Prosaaufsätze  als  „Künstlerschriften  von 

erstaunlicher Gescheitheit“.13 Thomas Mann nahm die Herausforderung an. 

Thomas Mann und Peter Viereck zum Ersten: eine entwaffnende Antwort und 

dankbarste Reaktionen 

Manns    Antwort  an  Common  Sense,  die  dort  im  Januarheft  1940  gedruckt 

wurde, gibt ein eindrucksvolles Beispiel, wie man eine Herausforderung nicht 

defensiv,  sondern  offensiv  annehmen  kann:  durch  Zustimmung, Überbietung 

und punktuell zielgenauen Tadel. Denn genau so reagiert Thomas Mann, und es 

ist  irreführend,  dass  diese  Reaktion  in  Common  Sense  unter  dem  Titel  „In 

Defence  of  Wagner“  erschien,  einem  Titel,  der  offenbar  nicht  vom  Autor, 

sondern von der amerikanischen Redaktion stammt. Aus redaktioneller Sicht ist 

er auch gut verständlich, weil er eine Kontroverse  inszeniert – noch dazu mit 

dem  namhaftesten  Repräsentanten  deutscher  Kultur. Dieser  jedoch  ließ  sich 

gar nicht auf eine Kontroverse ein, sondern gab der Herausforderung recht,  ja 

mehr  noch:  er  dehnte  ihre  Perspektive  aus.    Ich  zitiere  aus  der  deutschen 

Fassung, die heute in den Thomas‐Mann‐Ausgaben zu finden ist: 

                                                            12 Peter Viereck, Hitler and Richard Wagner, in: Common Sense, vol. VIII, no. 11, November 1939, S. 3‐6, hier S. 3. 13 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: T. M., Leiden und Größe der Meister, Frankfurt a. M. 1982, S. 716‐779, hier S. 731. (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. und mit Nachbemerkungen versehen von Peter de Mendelssohn). 

11  

„National‐Sozialismus, in all seiner unsäglichen empirischen Gemeinheit, ist die 

tragische Konsequenz der mythischen Politikfremdheit des deutschen Geistes. 

– Sie sehen, ich gehe ein wenig weiter als Herr Viereck. Ich finde das nazistische 

Element  nicht  nur  in Wagners  fragwürdiger  ‚Literatur‘,  ich  finde  es  auch  in 

seiner  ‚Musik‘,  in  seinem  ebenso,  wenn  auch  in  einem  erhabeneren  Sinne, 

fragwürdigen Werk“.14 

Thomas Mann  stimmt Viereck  grundsätzlich  zu und wiederholt dessen  These 

nur  mit  eigenen  Worten,  wenn  er  sagt,  dass  in  Deutschland  „mythische 

Surrogate  für  das  wirklich  Soziale“  (821)  eintreten  und  dass  im 

Nationalsozialismus  genau  diese  deutsche  Charaktereigenschaft  zur 

verhängnisvollen  realen  Politik  werde.  Insofern  bestätigt  er  Vierecks 

Herleitung,  für  die  er  geradezu  eine  aphoristische  Zusammenfassung  liefert: 

„National‐Sozialismus heißt:  ‚Ich will überhaupt das Soziale nicht,  ich will das 

Volksmärchen.‘“ (821) Auch Vierecks Leitbegriff „Metapolitik“ nimmt er auf, so 

wie  er  die  vielen  suggestiven  Analogien mit  aller  Überzeugung  als  die  „von 

Herrn  Viereck  aufgedeckten  Beziehungen“  (820)  anerkennt. Man  weiß,  wie 

sehr auch Thomas Mann zu solchen völkerpsychologischen Perspektiven neigt. 

Schließlich stimmt er auch  in den appellativen Ton Vierecks ein, wenn er von 

der „‘metapolitischen‘ Bewegung“ spricht, „die heute den Schrecken der Welt 

bildet, und die geschlagen werden muß“. (822) 

Wogegen Thomas Mann sich  indes verwahrt,  ist die Rolle, die  ihm Viereck als 

Wagner‐Bewunderer an der Seite Hitlers zugewiesen hat. Es ist allerdings nicht 

der  Ton  empörter  Richtigstellung,  in  dem  er  dies  tut,  sondern  in  dem  der 

verletzten  Sensibilität  :  „was mich  betroffen macht,  ist,  daß Herr Viereck,  in 

seinem  vorzüglichen  Artikel,  den  Anschein  erweckt,  als  hätte  ich mich  recht 

stumpf  erwiesen  vor  der  Bedenklichkeit  des  Phänomens  und  zu  der 

simplistischen  Auffassung  beigetragen, Wagner  sei  ein  eindeutiger  Vertreter 

des  ‚guten Deutschland‘  im Gegensatz zu dem bösen des Herrn Hitler.“  (817) 

Dass Thomas Mann dieser   Trennung  in Gut und Böse nicht anhing, belegt vor 

allem  sein  Essay  „Bruder  Hitler“,  dessen  Titel  schon  die  ganz  andere, 

kompliziertere und selbstkritische Perspektive anzeigt. Dieser Essay ist im März 

1939  in  englischer  Übersetzung  auch  in  Amerika  erschienen.  Insofern  hat 

                                                            14 Thomas Mann, Zu Wagners Verteidigung. Brief an den Herausgeber des Common Sense, in: T. M., Leiden und Größe der Meister (wie Anm. 13), S. 815‐823, hier S. 821. Die weiteren Nachweise unmittelbar im Text durch Seitenzahlen. 

12  

Thomas Mann einen guten Grund, sich gegen diese „simplistische Auffassung“ 

zu verwahren. In dem Wagner‐Vortrag, auf den sich Viereck bezieht und der ja 

schon deutlich  früher, Anfang 1933 entstanden  ist,  liegen die Dinge allerdings 

noch  anders.  Die  „Bedenklichkeit  des  Phänomens“  Wagner  hat  hier 

begreiflicherweise noch nicht die Dimension, die  sie bei Viereck und dann  in 

Manns Antwort auf Viereck gewinnt. Die Herausforderung, die Common Sense 

an Mann adressiert, konfrontiert also eine ältere Position des Autors mit der 

seit  Kriegsbeginn  verschärften  politischen  Situation. Hätte  Viereck  indes  den 

anderen  Wagner‐Essay  gekannt,  den  Thomas  Mann  im  November  1937  in 

Zürich gehalten hat  („Richard Wagner und der  ‚Ring des Nibelungen‘“), dann 

hätte er dort seine eigene Perspektive wiederfinden können. Es begegnen dort 

dieselben  Formulierungen,  die  Mann  zwei  Jahre  später  zur  Antwort  und 

Bestätigung Vierecks wiederverwenden wird. Im November 1937 heißt es dort 

über Richard Wagner: 

„Angesichts  zeitlicher  Probleme  führt  er  zu  Lösungsversuchen,  die 

Ausweichungen  sind  und  das Gepräge mythischer  Surrogate  für  das wirklich 

Soziale  tragen.  Es  ist  nicht  schwer,  im  heutigen  deutschen  Staats‐  und 

Gesellschaftsexperiment ein solches mythisches Surrogat zu erkennen. Aus der 

politischen Terminologie ins Psychologische übersetzt besagt dies Heutige: ‚Ich 

will überhaupt das Soziale nicht, ich will das Volksmärchen.‘“15 

An  dieser  Stelle  wird  nicht  nur  das  Textbausteinverfahren  Thomas  Manns 

deutlich, sondern auch die Tatsache, dass Vierecks Stoßrichtung bei ihm durch 

offene  Türen  führte.  Was  im  Antwortbrief  von  1939/40  als  pointierte 

Zusammenfassung  des Viereckschen Artikels  erscheint,  ist  Eigenes  von  1937. 

Dass  er  seine  alten  Formulierungen  nicht  als  längst  schon Gewusstes  zitiert, 

sondern wie neu  als  spontane  Zustimmung  aussehen  lässt, hat wohl mit der 

Großzügigkeit gegenüber einem jungen amerikanischen Autor zu tun und auch 

mit  der  Pflege  seines  Erscheinungsbildes  in  der  amerikanischen  Presse.  Als 

Besserwisser  wollte  er  nicht  dastehen,  eher  in  Übereinstimmung    mit  den 

jungen, engagierten Intellektuellen. 

Der  einzige  Tadel,  den  Thomas Mann  dann  doch  gegen  Viereck  ausspricht, 

kommt ebenso wie die Selbstverteidigung aus der verletzten Sensibilität. Der 

Vorwurf  ist  in der Sache zunächst ganz klein: Das einzige, was Thomas Mann,                                                             15 Thomas Mann, Richard Wagner und der „Ring des Nibelungen“,in: T.M., Leiden und Größe der Meister (wie Anm. 13), S. 779‐804, hier S. 803. 

13  

wie  er  sagt,  in  „Herrn  Vierecks  einsichtsreicher  Wagner‐Charakteristik  ein 

wenig  vermisse“, sei „die Nuance“. Dieser kleine Tadel wird jedoch groß durch 

den  Zusatz,  dass  es  zum  Wagner‐Verständnis  vor  allem  auf  die  Nuance 

ankomme.  Sie  sei  hier  „das  Aller‐Unentbehrlichste“,  wofür  gerade  den 

nationalsozialistischen Wagnerianern  jedes Verständnis  fehle:  „Diesem Getier 

ist  die  Nuance, was  dem  Stiere  das  rote  Tuch.“16  Darin  liegt  nun  doch  eine 

Portion Bitterkeit gegen Viereck. Er wird hier als ein Grobian hingestellt, dem 

die nötige Sensibilität  für deutsche Angelegenheiten abgeht. Dieser Tadel  ist, 

um es mit dem Autor zu sagen, nur eine kleine Nuance in Manns Antwortbrief. 

Die Frage, ob  sie auch  in dieser Angelegenheit das Aller‐Unentbehrlichste  ist, 

bleibt unter dem dominanten Zuspruch zu Viereck verborgen. Thomas Mann, 

weiß man, kann sehr diplomatisch sein. 

Viereck  selbst  jedenfalls  hat  diese  Nuance  entweder  nicht  verstanden  oder 

nicht  so  wichtig  genommen.  Denn  seine  Reaktion  auf  Thomas  Mann  zeigt 

größte Dankbarkeit.  Sie  äußert  sich mehrfach,  zunächst und  vor  allem darin, 

dass  er  die  suggestive  Verbindung  von Mann  und  Hitler  in  der  Buchfassung 

streicht  und  durch  ein  Zitat  aus  Manns  Antwortschreiben  ersetzt,  das  die 

Bestätigung und Erweiterung der Viereckschen Thesen enthält  (vgl. V 92). Bei 

einem  weiteren  Thomas‐Mann‐Zitat,  das  schon  in  Vierecks  

Zeitschriftenfassung steht und sich auf Wagners Volkstümlichkeit bezieht, wird 

die Buchfassung so verändert, dass sie nun eindeutig Manns skeptische Distanz 

dazu markiert.17 Statt des naiven Wagnerianers zeigt Viereck in Mann nun also 

den  reflektiert‐kritischen Wagner‐Kenner. Viereck geht es  in der Buchfassung 

offenbar  darum,  nicht  mehr  als  Herausforderer,  sondern  als  Verbündeter 

Thomas Manns da  zu  stehen. Zahlreiche weitere affirmative und  solidarische 

Zitate, auch aus dem Brief an Common Sense    (V 135, 183), zeigen dies. Eine 

andere Dimension der Dankbarkeit  liegt darin, dass er das von Thomas Mann 

gebrachte Nietzsche‐Zitat  zu den Meistersingern – diese Oper  sei  „gegen die 

Zivilisation“18  –  in  sein Wagner‐Kapitel  aufnimmt  (vgl.  V  98).  Es  passt  dort 

natürlich  bestens;  die  Zeitschriftenfassung  kennt  es  noch  nicht.  Der 

Neuausgabe von Metapoltics, die zuerst 1961 und 65, und dann wieder 2004, 

diese  zuletzt  in  dritter  Auflage  2007  erschien,  stehen  Thomas  Manns 

                                                            16 Vgl. Zu Wagners Verteidigung (wie Anm. 14), S. 818. 17 Die Buchfassung verändert den Ausdruck „tentatively“, der in der Zeitschriftenfassung (wie Anm. 12, S. 5) Manns Haltung anzeigt, in „sceptically“ (V 98). 18 Zu Wagners Verteidigung (wie Anm. 14), S. 816 und 823. 

14  

Antwortschreiben an Common Sense und noch ein weiterer Brief von  ihm, der 

die erste Buchfassung von 1941 nachdrücklich lobt, wie Adelsbriefe voran (vgl. 

V  li‐lxi).  Auch  die  hintere Umschlagseite  bringt  Lobesworte  daraus.  So  dient 

Thomas Mann über seinen Tod hinaus als Werbeträger für Metapolitics. 

Wenn  Viereck  Thomas Mann  somit  plakativ  vor  sich  her  führt,  so  ist  es  im 

umgekehrten Fall anders. Diesen umgekehrten Fall gibt es, denn auch Thomas 

Mann führt Viereck noch einige Zeit  in seinen Texten mit sich. Mit dem einen 

Antwortschreiben an Common Sense ist es nicht getan, auch nicht mit dem sich 

daran  anschließenden  privaten  Briefwechsel,  in  dem  sie  sich  unter  anderem 

über  die  politische  Dimension  der  deutschen  Romantik,  also  über  Vierecks 

Metapolitics‐These,  weiter  austauschen.19  Vierecks  Resonanz  reicht  darüber 

hinaus  in einen weniger bekannten und einen  sehr bekannten Essay Thomas 

Manns  sowie  schließlich  in den  Faustus‐Roman.  Sie bleibt allerdings  insoweit 

verborgen, als der Name Viereck dabei nicht mehr genannt wird. Sein Einfluss 

aber betrifft Entscheidendes: die Einschätzung und den Begriff der deutschen 

Romantik. 

Thomas Mann und Peter Viereck  zum  Zweiten:  von Metapolitics  zum Geist 

von Kaisersaschern 

Der erste Text Thomas Manns, in dem Viereck ungenannt präsent ist, erschien 

im Juli 1941 unter dem Titel „Germany’s Guilt and Mission“ in der von seinem 

Sohn Klaus Mann  in New York herausgegebenen Zeitschrift Decision. Der Text 

hebt den Blick über den Zusammenhang von Wagner und Hitler hinaus auf die 

weitere kulturgeschichtliche Herkunft des Nationalsozialismus. Er wird dabei so 

handfest  nationaltypologisch,  dass  er  in  den  Werkausgaben  später  den 

lakonischen  Titel  „Deutschland“  bekommen  hat.  Den  Anlass  zu  diesem 

kürzeren  Essay  gab  ein  in  Amerika  veröffentlichtes  Interview  des  Prinzen 

Bernhard  zu  Lippe‐Biesterfeld,  eines  deutschen  Adeligen,  der  wenige  Jahre 

zuvor die niederländische Thronfolgerin geheiratet hatte und nun,  im zweiten 

Kriegsjahr  im  Dienst  der  Royal  Air  Force,  als  eingeheirateter  Niederländer 

gegen das  ihm  fremde Deutschland  sprach:  „the old Germany of  culture and 

                                                            19 Vgl. Thomas Manns Brief an Peter Viereck vom 13.4.1940, nachgewiesen in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register, Bd. II: Die Briefe von 1934 bis 1943. Bearbeitet und hg. unter Mitarbeit von Yvonne Schmidlin von Hans Bürgin und Hans‐Otto Mayer, Frankfurt a. M. 1980, S. 401, Nr. 40/208. Ein weiterer Brief an Viereck ist dort für den 13.3.1940 nachgewiesen (S. 396, Nr. 40/178); die Tagebücher erwähnen für 1941 weitere, in den Regesten nicht nachgewiesene Briefe. 

15  

learning“, sagt dieser in Jena geborene Prinz, sei durch den Nationalsozialismus 

so zerstört, dass es niemals wiedererstehen könne.20 

Hier setzt Thomas Mann kritisch an: sowohl  in der Person,  indem er sich über 

die kalte Teilnahmslosigkeit dieses deutschen Deutschlandkritikers wundert, als 

auch  in der  Sache,  indem er das  vom Prinzen  für  seine eigene Geschichte  in 

Anspruch  genommene  Ideal  verurteilt:  „the  old  Germany  of  culture  and 

learning“  sei  ein  naives  Wunschbild,  das  sich  über  die  tatsächlichen 

Zusammenhänge des alten mit dem aktuellen Deutschland betrüge. Diese Kritik 

setzt  fort, was der Beitrag „Bruder Hitler“ schon eröffnet hat. Die Füllung, die 

diese Perspektive  jetzt erhält, entspricht  jedoch dem, was Thomas Mann bei 

Viereck finden konnte. Seine Namensliste, mit der er den Weg zu Hitler bahnt, 

folgt der Nomenklatur  in Metapolitics. Dass Mann hier Fichte, Hegel, Wagner, 

Chamberlain,  Spengler und Rosenberg nennt,  ist unspezifisch und muss noch 

nichts  mit  Viereck  zu  tun  haben.  Dass  er  aber  gerade  Turnvater  Jahn  und 

Treitschke dazusetzt, kommt Vierecks Auswahl und Schwerpunktsetzung  sehr 

nahe.21  Denn  neben  den  Hauptzeugen  Jahn,  Wagner  und  Rosenberg  spielt 

Treitschke  in  Vierecks  Argumentation  eine markante  Rolle  als  Scharnierfigur 

zwischen Preußentum und Nationalsozialismus (vgl. V 203‐206). 

Ganz  der  Viereckschen  Vorgabe  aber  entspricht  die  entscheidende 

Veränderung, die zwischen dem „Bruder Hitler“‐ und dem „Deutschland“‐Essay 

eintritt.  Sie  betrifft  die  Art  und Weise, wie  das  aktuelle  auf  das  historische 

Deutschland  bezogen  wird.  Im  älteren  Essay  spricht  Thomas  Mann  von 

„Verhunzung“:  „Wagnerisch,  auf der  Stufe der Verhunzung,  ist das Ganze.“22 

Der neue Essay sieht  in Hitlers Politik dagegen – ganz  in Vierecks Sinne – die 

„Verwirklichung“  und  „politische  Erfüllung  von  Ideen,  die  seit  mindestens 

anderthalb Jahrhunderten  im deutschen Volk und  in der deutschen  Intelligenz 

rumorten.“23  Damit  bezieht  Thomas Mann  eine  Position,  gegen  die  er  sich 

wenige Jahre zuvor,  im Wagner‐Aufsatz von 1937, noch ausdrücklich verwahrt 

hat.  Dort  wird  der  Wagner‐Bezug  der  Nationalsozialisten  als  „Mißbrauch“ 

bewertet,  so  entschieden, dass  Thomas Mann  es  ausdrücklich nicht  zulassen 

will, „hier überhaupt von Verwirklichung, sei es selbst  im Sinne des Zerrbilds“,                                                             20 Vgl. Thomas Mann, Deutschland, in: T. M., An die gesittete Welt. Politische Schriften und Reden im Exil. Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1986, S. 426‐434, hier S. 427 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe). 21 Vgl. ebd. S. 431f. 22 Thomas Mann, Bruder Hitler, in: T. M., An die gesittete Welt (wie Anm. 20), S. 253‐260, hier S. 256. 23 Thomas Mann, Deutschland (wie Anm. 20), S. 432f. 

16  

zu  reden.24  Im  „Deutschland“‐Essay von 1941  redet er nun  selbst davon, und 

zwar nicht nur wörtlich von der „Verwirklichung“, sondern mehr noch von der 

„politischen Erfüllung“,  so als hätten die hergebrachten deutschen  Ideen von 

sich aus eine Tendenz zur nationalsozialistischen Gewalt. In Manns Worten: Es 

sind Ideen, die „den Keim mörderischer Dekadenz immer in sich trugen.“25 Das 

ist  ein  anderer  Ton  als  1937  und  39. Der Ausbruch  und  die  Entwicklung  des 

Krieges  bis  Mitte  1941  führen  nicht  dazu,  dass  Thomas  Mann  die  eigene 

Gewalt‐Dimension  Nazi‐Deutschlands  betont,  sondern  im  Gegenteil  deren 

Verwurzelung  in der deutschen Geschichte. Die  aktuelle militärisch‐politische 

Gewalt fordert ihre historische Dimensionierung heraus, um zu zeigen, welches 

Gefahrenpotenzial  sich in ihr angehäuft hat. Genau das war die Botschaft von 

Metapolitics, und genau das  ist die Botschaft von Manns „Deutschland“‐Essay. 

Und genau wie das amerikanische Buch spitzt der deutsche Essay die Analyse 

der nationalsozialistischen Gefahr darin zu, dass diese die hergebrachten Ideen 

dem  „technischen  Massenzeitalter“  anpasst  und  damit  „eine 

Sprengmischungen“  erzeugt  habe,  „die  buchstäblich  die  ganze  Zivilisation 

bedroht.“26  Metapolitics  endet  mit  einem  Kapitel,  das  „Neanderthalers  in 

Airplaines“  (V  312)  überschrieben  ist  und  mit  den  Neandertalern  als 

Bomberpiloten  eine  solche  Sprengmischung  vorstellt:  „applying  to uncivilized 

ends  the highest  technical  achievements of  civilization.“  (V 313) Viereck und 

Thomas Mann liegen hier eng beieinander. 

Unmittelbar  vor  dem  „Deutschland“‐Essay  halten  die  Tagebücher  Thomas 

Manns Viereck‐Lektüre  fest. Am 18.  Juni 41  liest er weitere Vorabdrucke von 

Metapolitics, am Tag darauf beginnt er mit dem Essay. Die Viereck‐Lektüre wird 

mit  dem Zusatz „Gut“27 vermerkt, den Niederschlag der Lektüre sieht man dem 

Essay an. Nicht zuletzt auch darin, dass Mann wie Viereck die verhängnisvolle 

historische Dimension von Nazi‐Deutschland auf den Begriff „Romantik“ bringt. 

Noch einmal der Essay: „Was man Nationalsozialismus nennt,  ist die virulente 

Entartungsform  von  Ideen,  die  allerdings  den  Keim  mörderischer  Dekadenz 

immer in sich trugen, aber in the old Germany of culture and learning gar sehr 

zu Hause waren.  Sie  lebten dort auf  vornehmen  Fuße,  sie hießen  ‚Romantik‘ 

                                                            24 Vgl. Thomas Mann, Richard Wagner und der „Ring des Nibelungen“ (wie Anm. 15), S. 803f. 25 Thomas Mann, Deutschland (wie Anm. 20), S. 431. 26 Ebd. S. 431. 27 Thomas Mann, Tagebücher, Bd. 5: 1940‐1943, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1982, Eintrag vom 18.6.1941. 

17  

und hatten viel Faszinierendes für die ganze gebildete Welt.“28 In diesen Sätzen 

steckt  eine Neubewertung  und  auch Neudefinition  der  deutschen  Romantik, 

die sich in dem bekannteren Essay „Deutschland und die Deutschen“ von 1945 

weiter entfalten wird. Auch dabei    folgt Mann, wie gleich zu sehen sein wird, 

der Viereckschen Inspiration. 

Zuvor  sei  kurz  an  Thomas  Manns  eigene,  vorangehende  Verwendung  des 

Romantik‐Begriffs  erinnert.  Maßgeblich  ist  hier  zunächst  die  Formel 

„Sympathie mit dem Tode“, die er als „Grundbestimmung aller Romantik“29  in 

den Betrachtungen eines Unpolitischen geprägt und beispielhaft mit Pfitzners 

Oper  Palestrina  belegt  hat.  Dahinter  steckt  Goethes  Definition  des 

Romantischen  als  des  Kranken,  die  Thomas  Mann  fast  überall,  wo  er  von 

Romantik spricht, mitführt. Dahinter stecken auch Nietzsche, der die Romantik 

als pathologisches Symptom aus der „Verarmung des Lebens“30 ableitet, sowie 

Manns  eigene  epochale  Herkunft  aus  der  décadence.  So  verstanden,  ist  die 

Romantik  seltener  ein  begrifflich  erörtertes  Thema,  häufig  dagegen  ein  breit 

ausgeführtes  Motiv  in  Manns  Werken.  Begrifflich  wird  die  Romantik  dann 

wieder im Wagner‐Essay von 1933 erfasst, wo sie, im Blick auf Wagners Opern, 

als eine doppelte Ambivalenz bestimmt wird: als Zwittrigkeit von Mythos und 

moderner Psychologie, von Popularität und elitärer Verfeinerung. Doch geht es 

hier  mehr  um  die  Spannweite  des  Phänomens  Wagner  als  um  eine 

Begriffsanalyse der Romantik. Die Analyse wird nur ansatzweise versucht, um 

am  Ende  durch  die  Evokation  einer  komplexen  Stimmungslage überboten  zu 

werden, die für Thomas Mann die eigentliche Bedeutung des Wortes Romantik 

ausmacht:  „Der  Begriff  des  Romantischen  ist  noch  der  tauglichste,  sein  [sc. 

Wagners] Wesen auf einen Nenner zu bringen; aber gerade er ist ja dermaßen 

komplex und schillernd, daß er mehr den Verzicht auf Definition als diese selbst 

bedeutet.“31 Kurzum: Thomas Mann verwendet das Wort  ‚Romantik‘ nicht als 

einen  Begriff,  der  das  Gemeinte  in  die  Distanz  rationaler  Benennung  und 

Erörterung  rückt;  im Gegenteil  verwendet  er  es  evokativ,  um  eine  komplexe 

Stimmungslage jenseits rationaler Durchdringbarkeit aufzurufen. Sie speist sich 

                                                            28 Thomas Mann, Deutschland (wie Anm. 20), S. 431. 29 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1983, S. 425 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe). 30 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: F. N., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1980, S. 343‐651, hier S. 620 (5. Buch, Nr. 370: „Was ist Romantik?“). 31 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (wie Anm. 13), S. 756. 

18  

aus dem ganzen Assoziationsinventar der deutschen Kulturgeschichte des 19. 

Jahrhunderts. Wer von  ‚Romantik‘ bei Thomas Mann  liest,  ist eingeladen, sich 

stimmungshaft  in  diesen  Assoziationsraum  zu  begeben.  Um  begriffliches 

Verständnis  und  Objektivierung  geht  es  gerade  nicht.  Schon  die  Formel 

„Sympathie mit dem Tode“ ist ein Beleg dafür. 

Wenn  es  im  „Deutschland“‐Essay  von  1941  heißt,  dass  die  Romantik  in 

Deutschland  „auf  vornehmen  Fuße“  lebte  und  „viel  Faszinierendes  für  die 

ganze  gebildete  Welt“  hatte,  dann  ist  damit  recht  passend  Manns  eigene 

frühere Rede von der Romantik getroffen. Der Satz kann als Selbstreflexion des 

Autors gelten, wie er selbst einst von einem Phänomen gesprochen hat, das er 

jetzt  ganz  anders  zu  bewerten  gelernt  hat.  Dass  die  Neubewertung mit  der 

Viereck‐Lektüre  zu  tun  hat,  zeigt  sich  darin,  dass  sie  genau  das  neu  in  sich 

aufnimmt, was Metapolitics zur Begriffsbestimmung der Romantik anbietet. 

Auch Viereck  sieht  die  ausufernde Überdetermination des Romantik‐Begriffs, 

durch die  er  insgesamt  geradezu bedeutungslos  geworden  sei. Der Ausdruck 

‚Romantik‘  sage  im  Allgemeinen  alles  und  nichts,  wenn  man  nicht  jeweils 

einschränke, welche besondere Art  von  ihr man denn meine. Die besondere 

Art, die Viereck meint, versteht Romantik als die epochale Erscheinungsweise, 

die der ewige deutsche Widerstand gegen die westlichen Zivilisationsstandards 

von  Aufklärung  und  Rationalismus  im  19.  Jahrhundert  angenommen  habe: 

„romanticism  is  really  the  nineteenth  century’s  version  of  the  perennial 

German revolt against the western heritage.” (V 19) Das ist freilich ein Klischee, 

dem Viereck jedoch durch eine präzisere inhaltliche Bestimmung einen eigenen 

Akzent  gibt.  Dieses  Präzisere  ist  die  „not  prosaic‐factual  but  intoxicating‐

ecstatic  definition  of  Life.”  (V  22f.)  Genau  so  erklären  sich  für  Viereck  die 

deutsche Romantik und  ihr  Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus:  als 

„intoxicating‐ecstatic  definition  of  Life“.  Auch  Nietzsche  nennt  „den  Rausch, 

den  Krampf,  die  Betäubung“32  als  mögliche  romantische  Symptome.  Das 

scheint nicht so weit entfernt von der „intoxicating‐ecstatic definition of Life“. 

Doch  täuscht  diese  Ähnlichkeit.  Denn  anders  als  bei  Goethe,  Nietzsche  und 

Thomas Mann hat Vierecks ‚intoxication’ als Merkmal der Romantik nichts mit 

Krankheit,  Lebensarmut  und  Todesverfallenheit  zu  tun.  Im  Gegenteil.  Er 

versteht  es  vitalistisch  als  „cult  of  Life  (with  capital  ‚L‘)“  und  „dynamism“  (V 

22f.).  So  kann er den Bogen  zur nationalsozialistischen  Selbstbezeichnung als                                                             32 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (wie Anm. 30), S. 620. 

19  

‚Bewegung‘  schlagen:    „the  cult  of  Life  means  ‚dynamism‘,  key  word  of 

romanticism and of nazism.“ (V 23) 

Vierecks  Romantik‐Verständnis  hat  nichts  von  der  Vornehmheit  und 

Faszination  für die gebildete Welt, von denen Thomas Mann  spricht und von 

denen  er  selbst  Zeugnis  gibt.  Es  reduziert das  Phänomen  vielmehr  auf  einen 

trivialen  Irrationalismus,  den  er  –  in  gesuchter  Pointe  –  ebenso  in 

Schundromanen wie  in Goethes  Faust  verkörpert  sieht.  In  der  „intoxicating‐

ecstatic  definition  of  Life“  kommen  für  ihn  die  trivialsten Groschenheft‐  und 

Leinwandfiguren mit  Goethes  Dramenfigur  überein.  Das  ist  eine  beachtliche 

Faust‐Interpretation, die näher  am  Text  ist  als die Botschaft  vom  titanischen 

Geisteshelden und Erkenntnisstreber. Beachtlich auch darin, dass sie Faust als 

Negativ‐  und Warnfigur  auffasst  und  damit  der  heutigen  Germanistik  näher 

kommt  als  die  meisten  Germanisten  in  den  Dreißiger‐  und  Vierzigerjahren. 

Insgesamt  zielt  Vierecks  Romantik‐Verständnis  darauf  ab,  den  deutschen 

Dichter‐  und  Denker‐Nimbus  wegzublasen  und  die  Sache  als  gefährlichen 

Irrationalismus bloßzustellen. Deshalb  auch die Überblendung  von  Faust und 

Schundroman.  Viereck  hat  sichtlich  Gefallen  daran  und  zeiht  sich  selbst 

genüsslich  des  Sakrilegs,  den  dies  in  den  Augen  der  „Goethe‐snobs  (those 

philosophical blood‐suckers of Goethe’s greatness)“ (V 23) darstellen müsse. 

Es  ist  dieser  ganz  und    gar  nicht  vornehme,  die  gebildete  Welt  kaum 

faszinierende Aspekt des  irrationalen Lebenskultes, den Thomas Mann  in sein 

Romantik‐Verständnis aufnimmt. Und weil dies  seiner bisherigen Vorstellung, 

die  er  deshalb  nicht  einfach  aufgibt,  sondern  zugleich  festhält, widerspricht, 

wird die Romantik  für  ihn zu einem „verwirrenden Paradox“ von „irisierender 

Doppeldeutigkeit“. Wenn Thomas Mann das  so  sagt, gewinnt man eingedenk 

seiner früheren Äußerungen zur Romantik den Eindruck, dass er dieses Paradox 

im Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ nicht nur seinen Hörern, sondern 

zugleich  auch  sich  selbst  klar  zu machen  versucht:  „Dies  ist  ihr  verwirrendes 

Paradox,  daß  sie  [sc.  die  Romantik],  die  die  irrationalen  Lebenskräfte 

revolutionär  gegen  die  abstrakte  Vernunft,  den  flachen  Humanitarismus 

vertritt,  eben  durch  ihre  Hingabe  an  das  Irrationale  und  die  Vergangenheit, 

eine tiefe Affinität zum Tode besitzt. Sie hat in Deutschland, ihrem eigentlichen 

Heimatland, diese  irisierende Doppeldeutigkeit, als Verherrlichung des Vitalen 

20  

gegen das bloß Moralische und zugleich als Todesverwandtschaft, am stärksten 

und unheimlichsten bewährt.“33 

Durch die Aufnahme des Viereckschen Aspekts verschiebt sich der Horizont, in 

dem Thomas Mann die Romantik sieht. War sie  für  ihn  früher eine Sache der 

Psychologie  und  der  Kunst,  geht  es  nun  um  ihre  praktische  und 

gesellschaftliche Dimension, um Romantik als Politikum. Das wird  gleich dort 

deutlich,  wo  Thomas  Mann  den  Begriff  im  Vortrag  „Deutschland  und  die 

Deutschen“ einführt. Hier wird das psychologisch‐ästhetische vom praktischen 

und politischen Verständnis geradezu korrigiert: „Die deutsche Romantik, was 

ist  sie  anderes  als  ein  Ausdruck  jener  schönsten  deutschen  Eigenschaft,  der 

deutschen  Innerlichkeit?  Viel  Sehnsüchtig‐Verträumtes,  Phantastisch‐

Geisterhaftes und Tief‐Skurriles, auch ein hohes artistisches Raffinement, eine 

alles überschwebende Ironie verbindet sich mit dem Begriff der Romantik. Aber 

nicht dies ist es eigentlich, woran ich denke, wenn ich von deutscher Romantik 

spreche. Es ist vielmehr eine gewisse dunkle Mächtigkeit […] der Seele, welche 

sich den chthonischen,  irrationalen und dämonischen Kräften des Lebens, das 

will  sagen:  den  eigentlichen  Quellen  des  Lebens  nahe  fühlt  und  einer  nur 

vernünftigen  Weltbetrachtung  und  Weltbehandlung  die  Widersetzlichkeit 

tieferen Wissens,  tieferer Verbundenheit mit dem Heiligen bietet.“34 Vierecks 

Stichwort ist hier gleich doppelt aufgenommen („irrationale Kräfte des Lebens“, 

„eigentliche  Quellen  des  Lebens“)  und  führt  zur  praktischen  Dimension  der 

Romantik,  die  Thomas Mann wie  Viereck  in  ihrer  Verbindung mit  Bismarcks 

Realpolitik verfolgen.35 

Im Wagner‐Essay von 1933 bezeichnet Thomas Mann das politische Versagen 

des  deutschen  Bürgertums mit  der  dann  bekannt  gewordenen  Formel    der 

„resignierten, machtgeschützten  Innerlichkeit.“ Das Versagen wird hier  in der 

Abkehr von aller Politik gesehen, in der „bürgerlich‐deutschen Selbsttäuschung 

[…], man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein“; ein „Wahn“, so heißt es 

weiter,  „der Deutschlands Elend verschuldet hat.“36 Der Essay von 1945 geht 

hier  einen  Schritt  weiter  und  diagnostiziert  Deutschlands  Elend  nicht  im 

Unpolitischen,  sondern  im  Politischen  der  romantischen  Innerlichkeit.  Deren 

                                                            33 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, in: T. M., An die gesittete Welt (wie Anm. 20), S. 701‐723, hier S. 720. 34 Ebd. S. 717. 35 Vgl. ebd. S. 718; bei Viereck das Kapitel „Realpolitik: Fichte, Hegel, Treitschke, Hitler“, V 189‐208. 36 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (wie Anm. 13), S. 771. 

21  

Geschichte wird nun nicht mehr wie noch 1933 als Weg  „von der Revolution 

zur  Enttäuschung,  zum  Pessimismus“  und  zur  Resignation37  beschrieben. 

Vielmehr wird die revolutionäre Durchschlagskraft der Romantik selbst betont: 

als  „romantische  Gegenrevolution“38  gegen  Rationalismus,  Aufklärung  und 

Demokratie.  So  tritt  Thomas  Manns  Romantik‐Verständnis  aus  dem 

bildungsbürgerlichen Assoziationsraum von Psychologie und Ästhetik hinaus in 

die  politische  Praxis. Was  zuvor mit  den  Ausdrücken  Sehnsucht,  Phantasie, 

Traum,  Tiefsinn,  Raffinement  und  Ironie  vage,  aber  anteilnehmend  positiv 

konnotiert war,  erscheint  nun  eindeutig  negativ  als  Demokratiefeindlichkeit. 

Die  romantische Mittelalterverehrung  verliert  ihren  weichen  kunstreligiösen 

Zug  und  steht  nun  brutal  als  Zwang  und  Gewalt  der  voraufklärerischen 

Gesellschaftsform da. Kurzum: Thomas Manns Romantik‐Verständnis wechselt 

vom psychologisch‐ästhetischen Faszinosum zum politischen Tremendum. Der 

Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ entwickelt dies geradlinig thesenhaft 

als deutsche Nationalpsychologie, der gleichzeitig entstehende Faustus‐Roman 

in komplizierterer perspektivischer Brechung. Vierecks Buch gibt gewiss nicht 

den  einzigen,  aber  doch  einen  entscheidenden  Anstoß  dazu.  In  den  beiden 

Deutschland‐Essays erscheinen Vierecks Thesen kondensiert und pointiert;  im 

Roman werden sie durch die Erzählerfigur Zeitbloom so verkörpert, dass sie als 

eine  zwischen  Faszination  und  Grauen  angespannte,  benommene,  teilweise 

verwirrte  Perspektive  kenntlich  werden.  Der  Wechsel  von  Faszinosum  und 

Tremendem  ist,  so  zeigt  es der Roman, nicht  einfach die Wahrheit  über das 

romantische Deutschland, sondern auch die psychische Disposition derjenigen, 

die  Deutschland  so  sehen.  Insofern  reicht  die  Reflexion  des  Romans  über 

Viereck und zugleich über Thomas Manns eigene Essays hinaus: Er präsentiert 

nicht einfach eine Ursprungserzählung des Nationalsozialismus, er präsentiert 

zugleich  deren  Erzähler  und  dessen  Situation,  so  dass  die  emotionale 

Anspannung  deutlich  wird,  die  solch  eine  mythisierende  Deutung  gebiert. 

Doktor  Faustus  ist  nicht  einfach  ein  Roman  über  Nazi‐Deutschland,  sondern 

zugleich  über  die  aktuellen  Deutungsreaktionen,  die  es  hervorruft.  Die 

erfundene Erzählerfigur gibt der Emotionalität und Irrationalität der spontanen 

Verstehensanstrengung  Gestalt,  so  dass  sie  nicht  stillschweigend  in  die 

Deutschlanderzählung einfließen, sondern in ihrem Einfluss erkennbar werden. 

                                                            37 Vgl. ebd.  38 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 33), S. 717. 

22  

In den Essays wie  im Roman verbindet Thomas Mann Außen‐ und  Innensicht. 

Seine völkerpsychologische Diagnose erscheint  zugleich als autobiographische 

Revision.  Analytiker  und  Patient,  könnte man  sagen,  sprechen  hier  in  einer 

Person. In der Thomas‐Mann‐Forschung  ist  in diesem Zusammenhang Eckhard 

Heftrichs  Rede  von  der  „radikalen  Autobiographie“39  aufgenommen worden. 

Als  äußerer Umstand  spielt  die  amerikanische  Staatsbürgerschaft  eine  Rolle, 

die  Thomas Mann  1944  erlangt  und  in  der  sein  Blickpunkt  der  historischen 

Innen‐ und aktuellen Außensicht offiziell wird. Der Vortrag  „Deutschland und 

die Deutschen“ macht diese Sprechsituation eigens zum Thema, indem Thomas 

Mann  hier  dankbar  die  Richtigkeit  betont,  die  es  hat,    „daß  ich  Amerikaner 

geworden  bin.“40  Das  ist,  wie  gesagt,  nicht  nur  eine  Sache  der 

Staatsangehörigkeit,  sondern  auch  der  Perspektive.  Vierecks  Buch  ist  ein 

Beitrag  dazu.  Es  befördert  die  perspektivische  Amerikanisierung  Thomas 

Manns. Sie betrifft das Romantik‐Verständnis und sie besteht darin, sich vom 

bildungsbürgerlichen  Ansehen  der  Romantik  zu  distanzieren  und  sie 

stattdessen politisch  als den entscheidenden Rückschritt  zu bewerten, der  in 

die  Katastrophe  des  Nationalsozialismus  geführt  hat.  Im  Faustus‐Roman  ist 

dieses neue Romantik‐Verständnis als Geist von „Kaisersaschern“ artikuliert, als 

Geist einer Stadt, die den ganzen Kanon der romantisch‐deutschen Merkmale 

nicht mehr  als  bürgerliches  Bildungsgut,  sondern  als  Zeichen  der  politischen 

Rückschlagsgefahr  in die Barbarei  trägt. Als  „latente  seelische Epidemie“ und 

„altertümlich‐neurotische  Unterteuftheit“  wird  dieser  Geist  bezeichnet;  er 

habe  insgesamt etwas „dem Geiste der Neuzeit  ins Gesicht Schlagendes“ (58). 

Exemplarisch wird dafür die Aktion der „Bücherverbrennung“ (58) genannt: im 

Roman  der  erste  unmittelbare  Zusammenschluss  der musikerbiographischen 

Herkunftserzählung  mit  dem  Nationalsozialismus.  Aus  diesem  romantischen 

Städtebild  ist  alle  bildungsbürgerliche  Vornehmheit  und  Faszination 

verschwunden.  Was  bleibt,  ist  der  gesellschaftliche  Rückfall  hinter  die 

Aufklärung. 

Über  den  Geist  von  Kaisersaschern  hinaus  zeigt  sich  das  neue 

Romantikverständnis auch  in der musiktheorietischen Diskussion des Romans, 

begrifflich am pointiertesten dort, wo Leverkühn das Romantische als „falsche 

                                                            39 Vgl. Eckhard Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse. Über Thomas Mann, Frankfurt a. M. 1982, insbesondere das Kapitel „Radikale Autobiographie und Allegorie der Epoche: Doktor Faustus“, S.173‐289. 40 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, in: T. M., An die gesittete Welt (wie Anm. 20), S. 701‐723, hier S. 702. 

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Primitivität“  (467) definiert. Das alte Romantikverständnis und die zugehörige 

Faszination  der  psychologisierenden  Bildungsbürger  verkörpert  die  Figur 

Zeitblom.  Sie  kokettiert  damit, wenn  sie  gesteht,  dass  sie  als  „altmodischer 

Mensch“  bei  „gewissen,  mir  lieben  romantischen  Anschauungen  stehen 

geblieben“  (42)  sei,  und  sie  steigert  die  Koketterie,  wenn  sie  diese 

Anschauungen „romantischen Brimborium“ (42) nennt. Als Beispiel dafür wird 

der  „pathetisierende  Gegensatz  von  Künstlertum  und  Bürgerlichkeit“  (42)  – 

Manns eigenes  langjähriges  Thema, wie man weiß –  angeführt. Was  aus der 

Figurenperspektive  dabei  als  Selbstironie  erscheint,  rückt  der  Roman  auf 

kritische  Distanz.  Denn  er  lässt  ja  keinen  Zweifel  daran,  dass  die  alten 

Anschauungen des Bildungsbürgers Zeitblom vor der Gegenwart kapitulieren. 

In seiner politischen Konversion zu Beginn der Zwanzigerjahre, in der er sich zu 

Republik  und  Demokratie  bekannte,  hielt  Thomas  Mann  am  positiven 

Romantik‐Verständnis fest. Auch wenn er sich von dem verabschiedete, was er 

später  „machtgeschützte  Innerlichkeit“  nannte,  war  für  ihn  die  Romantik 

dadurch  keinesfalls  diskreditiert.  Im  Gegenteil.  Dem  neu  bekehrten 

Demokraten  lag vielmehr alles daran,  seine neue politische Überzeugung  „an 

die Sphäre der deutschen Romantik anzuschließen“, Demokratie und Republik, 

wie  er  mit  kurioser  Formulierung  sagt,  auf  „das  Niveau  der  deutschen 

Romantik“ zu heben. So heißt es 1922  in der Rede „Von deutscher Republik“, 

die  „den edlen und geisteszarten Namen der Romantik“ von aller politischen 

Reaktion und allem politischen Obskurantismus unterschieden wissen will.41 An 

dieser  bildungsbürgerlichen  Romantik‐Verehrung  hielt  Thomas  Mann  lange 

fest, auch noch, als er den Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus 

und  Richard Wagner  sah.  Erst  nach  der  Viereck‐Lektüre  ändert  es  sich.  Das 

neue,  viel  distanziertere  und  kritische Romantik‐Verständnis  ist  die  Spur,  die 

diese  Lektüre  in  Manns  Werk  hinterlassen  hat.  Es  ist  deshalb  keine 

überschießende  Phantasie,  wenn  man  das  „Viereck“  im  romantischen 

Initiationsort  des  deutschen  Tonsetzers  und  das  unausgeschriebene  „Meta‐

“Kompositum im Teufelsgespräch als Erinnerungen an die Harvard‐Dissertation 

von 1941 liest. 

                                                            41 Vgl. Thomas Mann, Von deutscher Republik, in: T. M., Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland. Nachwort von Hanno Helbling, Frankfurt a. M. 1984, S. 118‐159, Zitate S. 139, 143 und 125 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe).