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Feuilletonistische Hinrichtung? Peter Handkes Äußerungen zum ‚Kosovo-Krieg’ in den deutschsprachigen Printmedien 1999. 1. Überblick Am Streit um Peter Handke lässt sich exemplarisch die Vehemenz der Auseinandersetzung um die ‚richtige’ Position in der Kosovo-Debatte nachzeichnen ein Streit, der zu Überreaktionen auf beiden Seiten führte und Gräben riss, die noch Jahre später vgl. die causa Heine-Preis 2006 klafften. Feuilletonisten lehnten in besonderem Ausmaß eine Auseinander- setzung mit den Gründen für Handkes pro-serbische Haltung ab. Erst mit der Rezeption der ‚morawischen Nacht’ 1 2008 wurde eine versöhnlichere Haltung erkennbar. Zwölf Jahre lang, seit dem Erscheinen der ‚Winterlichen Reise’, 2 war Handke als ‚Serbenfreund’ oder gar ‚Milošević-Freund’ stigmatisiert worden, fast genau so schlimm, als in üblen früheren Zeiten als ‚Russen-’ oder gar ‚Judenfreund’ gegolten zu haben“. 3 Am 18. Februar 1999 erklärte der Schriftsteller in Rambouillet dem jugoslawischen Fernsehen in einem auf Französisch gegebenen Interview, sein Platz sei in Serbien, „‚sollten die Nato-Verbrecher das Land bombardieren.’“ 4 Während Hans Rauscher daraufhin meinte, „der endgültige Verlust des Denkers Handke“ 5 sei zu verkünden, verteidigte die Tageszeitung Neues Deutschland den Dichter. 6 Dieser hatte gegenüber dem serbischen Fernsehen mit Äußerungen provoziert wie mit jener über „‚diese Pseudodichter in Sarajevo. Die wurden nur für den Krieg als Dichter eingesetzt, irgendwelche Ali Muhmets. Die waren plötzlich Dichter, und jetzt sind sie wieder die üblichen Trinker, wahrscheinlich.’ [...] ‚Jedenfalls haben die Medien für den Krieg Dichter gebraucht, die in Wahrheit keine waren. Und jetzt kommt wirklich einer und der ist gegen sie. Nicht einfach, oder?’“ 7 1 Peter Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt am Main 2008. 2 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a.M. 1996. 3 Ralph Hartmann, Die NATO-Aggression und die neue NATO-Strategie, in: Jugoslawisch- Österreichische Solidaritätsbewegung (Hg.), Wiener Tribunal gegen die österreichische Regierung wegen Beihilfe zur NATO-Aggression gegen Jugoslawien, Wien 2000, S. 35-42, S. 38. 4 göt, Kein Feind der Zeit, in: Süddeutsche Zeitung, 20./21. Februar 1999. 5 Rau (Hans Rauscher), Handke in Belgrad, in: Der Standard, 20./21. Februar 1999. 6 Hans-Dieter Schütt, ‚Mein Platz ist in Serbien’, in: Neues Deutschland, 20./21. Februar 1999. 7 Frank Schirrmacher, Handke lacht. Ein Schriftsteller droht mit Sanktionen, in: FAZ, 11. März 1999.

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Feuilletonistische Hinrichtung? Peter Handkes Äußerungen zum

‚Kosovo-Krieg’ in den deutschsprachigen Printmedien 1999.

1. Überblick

Am Streit um Peter Handke lässt sich exemplarisch die Vehemenz der

Auseinandersetzung um die ‚richtige’ Position in der Kosovo-Debatte

nachzeichnen – ein Streit, der zu Überreaktionen auf beiden Seiten führte

und Gräben riss, die noch Jahre später – vgl. die causa Heine-Preis 2006 –

klafften. Feuilletonisten lehnten in besonderem Ausmaß eine Auseinander-

setzung mit den Gründen für Handkes pro-serbische Haltung ab. Erst mit der

Rezeption der ‚morawischen Nacht’1 2008 wurde eine versöhnlichere

Haltung erkennbar. Zwölf Jahre lang, seit dem Erscheinen der ‚Winterlichen

Reise’,2 war Handke als ‚Serbenfreund’ oder gar ‚Milošević-Freund’

stigmatisiert worden, fast genau so schlimm, „als in üblen früheren Zeiten

als ‚Russen-’ oder gar ‚Judenfreund’ gegolten zu haben“.3

Am 18. Februar 1999 erklärte der Schriftsteller in Rambouillet dem

jugoslawischen Fernsehen in einem auf Französisch gegebenen Interview,

sein Platz sei in Serbien, „‚sollten die Nato-Verbrecher das Land

bombardieren.’“4 Während Hans Rauscher daraufhin meinte, „der endgültige

Verlust des Denkers Handke“5 sei zu verkünden, verteidigte die

Tageszeitung Neues Deutschland den Dichter.6 Dieser hatte gegenüber dem

serbischen Fernsehen mit Äußerungen provoziert wie mit jener über

„‚diese Pseudodichter in Sarajevo. Die wurden nur für den Krieg als Dichter

eingesetzt, irgendwelche Ali Muhmets. Die waren plötzlich Dichter, und

jetzt sind sie wieder die üblichen Trinker, wahrscheinlich.’ [...] ‚Jedenfalls

haben die Medien für den Krieg Dichter gebraucht, die in Wahrheit keine

waren. Und jetzt kommt wirklich einer – und der ist gegen sie. Nicht

einfach, oder?’“7

1 Peter Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt am Main 2008.

2 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder

Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a.M. 1996. 3 Ralph Hartmann, Die NATO-Aggression und die neue NATO-Strategie, in: Jugoslawisch-

Österreichische Solidaritätsbewegung (Hg.), Wiener Tribunal gegen die österreichische

Regierung wegen Beihilfe zur NATO-Aggression gegen Jugoslawien, Wien 2000, S. 35-42,

S. 38. 4 göt, Kein Feind der Zeit, in: Süddeutsche Zeitung, 20./21. Februar 1999. 5 Rau (Hans Rauscher), Handke in Belgrad, in: Der Standard, 20./21. Februar 1999. 6 Hans-Dieter Schütt, ‚Mein Platz ist in Serbien’, in: Neues Deutschland, 20./21. Februar

1999. 7 Frank Schirrmacher, Handke lacht. Ein Schriftsteller droht mit Sanktionen, in: FAZ, 11.

März 1999.

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Harschere Kritik erntete aber ein anderes Zitat aus demselben Interview:8

„‚Was die Serben seit fünf, mehr noch, seit acht Jahren durchmachen, das

hat kein Volk in diesem Jahrhundert in Europa durchgemacht. Dafür gibt es

keine Kategorien. Bei den Juden, da gibt es Kategorien-/Begriffe – man

kann darüber sprechen. Aber bei den Serben – das ist eine Tragödie ohne

Grund. Das ist ein Skandal.’“9

Handke habe das Leid der Serben über jenes der europäischen Juden zur NS-

Zeit gestellt, meinte die FAZ,10

und Frank Schirrmacher fragte, ob damit

denn gemeint sei, dass es für die Vernichtung der Juden einen ‚Grund’, „das

heißt: eine Ratio“11

gegeben habe. Immerhin druckte die FAZ am 15. März

einen längeren Originalkommentar Handkes, in welchem der Schriftsteller

klarmachte, dass er sich in seinem auf Französisch gegebenen Interview

„verhaspelt“12

habe. Tatsächlich habe er genau das Gegenteil sagen wollen:

„Zum Thema Juden (vernichtung) gibt es keine Kategorien. Die Juden sind

außer Kategorie. Darüber gibt es nichts zu sagen (daran ist nicht zu rütteln).

Das Volk aber, das in diesem Jahrhundert (nach den Juden) am meisten in

Europa gelitten hat (durch die Deutschen, die Österreicher, die katholischen

Ustascha-Kroaten), das sind für mich die Serben. Und was man dem

serbischen Volk angetan hat und jetzt weiter antut, das geht über mein

Verstehen.“13

Dennoch konnte oder wollte der Schriftsteller es nicht dabei belassen:

„Bemerkenswert dabei aber, wie gerade die geschriebene Presse, allen voran

die FAZ, sich auf meinen Verhaspler gestürzt hat. Für diese Leute scheint

nur noch das Mündliche, nicht mehr das Schriftliche zu gelten. Ich bin ein

Schreiber und Leser, und im Mündlichen kann (und darf) mir das eine und

andere unterlaufen, vor allem, weil kein böser Wille (im Gegenteil!)

vorhanden ist (und war). Was für mich gilt, ist das Schriftliche.“14

Zeitungen seien mehr und mehr „von Maulwerkern bevölkert, von Anti-

Lese-Ratten“,15

so der Schriftsteller, der darauf hinwies, dass seine

‚verhaspelten Sätze’ gar keinen Sinn ergeben hätten, es sei denn, man

unterstellte dies böswillig. Die Bereitschaft dazu existierte indes nicht bloß

8 Vgl. Schirrmacher, FAZ, 11. März 1999 oder Thomas E. Schmidt, Der kurze Brief zum

langen Abschied. Peter Handkes Medienkritik führt bis an die Grenze zum politischen

Skandal – und in die Einsamkeit, in: Die Welt, 16. März 1999. 9 Schirrmacher, FAZ, 11. März 1999. 10 Handke reagiert. Es war alles nicht so gemeint, in: FAZ, 15. März 1999. 11 Schirrmacher, FAZ, 11. März 1999. 12 Handke reagiert, FAZ, 15. März 1999. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd.

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unter Journalisten, sondern selbst unter Autorenkollegen.16

Im März 1999

weitete sich der Skandal um Peter Handke auch auf dessen aktuellstes Werk

aus. Nachdem die österreichische Wochenzeitung Format bereits ein

heimlich aufgenommenes Telefongespräch als Interview ausgegeben hatte,

zitierte sie wenig später ohne Genehmigung aus ‚Die Fahrt im Einbaum oder

das Stück zum Film vom Krieg’,17

einem Theaterstück über die

unterschiedlichen Interpretationen des ‚Jugoslawien-Kriegs’.18

Darauf drohte

Handke mit der Absetzung und forderte ‚die Journalisten’ in einem offenen

Brief auf, das Werk und die Schauspieler in Frieden zu lassen, während er

über sich selbst nicht ohne Ironie schrieb: „‚Journalisten, macht mit mir, wie

es euch gefällt’“.19

Lothar Baier fiel angesichts der fortdauernden Debatte

die synonyme Verwendung der Begriffe ‚Dichter’ und ‚unzurechnungsfähig’

auf. Der Kärntner Autor erleichtere die Wahrnehmung der komplizierten

jugoslawischen Verhältnisse, denn jeder Einspruch gegen Handke gelte als

„Vernunft und Sachkenntnis“.20

Baier, der Handke bereits in der Debatte um

die Winterliche Reise 1996 verteidigt hatte,21

begründete seinen Standpunkt

2002 mit dem von Voltaire gegenüber Rousseau geäußerten Satz: ‚Ich

verabscheue deine Meinung – würde mich aber dafür schlagen, dass du sie

äußern kannst.’22

Wolfram Knorr erläuterte inzwischen den Lesern der Schweizer Weltwoche

Handkes pro-serbische Position damit, dass es zur Methode des

Österreichers gehöre, Trends und Moden zu unterlaufen und immer das

Gegenteil von dem zu machen, was eine Mehrheit gerade vertrete. Damit sei

es Handke als einzigem lebendem Schriftsteller gelungen ein Popstar zu

werden.23

Mit der Behauptung, der Autor drohe das Stück ‚Die Fahrt im

16 „Daß die Serben, seiner ‚verhaspelten’ Aussage zufolge, mehr erlitten als die europäischen

Juden, zeigt den Geisteszustand eines Mannes, der, statt in der Realität, in einem Wahn lebt.“

Günter Kunert, Befördert die Zivilisation die Barbarei? Auf dem Amselfeld kämpft der

Westen auch um die Bewahrung seiner bereits brüchig gewordenen Ideale, in: Die Welt, 1.

April 1999. Hans-Christoph Buch stellte Handke auf eine Stufe mit den pro-faschistischen

Dichtern Ezra Pound und Louis-Ferdinand Celine, vgl. Hans-Christoph Buch, Armer Ritter.

Auf den Spuren von Celine: Der Amoklauf des Peter Handke, in: Tagesspiegel, 8. April 1999. 17 Peter Handke, Die Fahrt im Einbaum oder das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt a.M.

1999. 18 Huala lepo! oder: Handke droht, sein Stück zu stoppen, in: Tagesspiegel, 20. März 1999. 19 Ebd. 20 Lothar Baier, Haut den Handke, in: Wochenzeitung, 25. März 1999. 21 Lothar Baier, Krieg im Kopf. Aufregung um Peter Handkes Reisebericht aus Serbien, in:

Freitag, 2. Februar 1996. 22 So Lothar Baier in einer E-mail an den Verfasser dieser Arbeit, 25. März 2002 (Ausdruck

im Besitz des Verfassers). 23 Knorr zufolge stelle sich Peter Handke zuerst an die Spitze der Trends, um sie dann aus der

Ferne zu konterkarieren. Er zählt dazu Handkes Bekenntnis des ‚Elfenbeinturmbewohners’ in

einer Zeit, in der politisch engagierte Literaten in waren; sein tausendseitiges Werk ‚Mein

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Einbaum’ abzusetzen, wenn die Kritik an seiner Position nicht aufhöre, lag

Knorr jedoch falsch.24

Als der Angriff auf Jugoslawien begann, verglich der

Verfasser der ‚Niemandsbucht’ die NATO in einem offenen Brief in der

Belgrader Zeitung Politika am 26. März mit den Marsianern aus Tim

Burtons Filmsatire ‚Mars attacks’.25

Hans Haider missverstand die

Anspielung und fühlte sich stattdessen an Karl Kraus’ Weltuntergangsdrama

‚Die letzten Tage der Menschheit’ erinnert. So kritisierte Haider, dass die

Marsianer von Kraus „einen total anderen, doch einen gerechteren Dienst als

den, den sich heute Handke arrogiert“,26

leisteten. Handke suggeriere nicht

zum ersten Mal, dass die Moral bei den Serben wohne, die Verbrechen bei

den Nichtserben.27

Diese Umkehrung musste angesichts der Verein-

nahmung der Moral durch das nordatlantische Bündnis bei Interventions-

befürwortern geradezu blasphemisch wirken.28

In weiteren Reaktionen

bescheinigte der österreichisch-serbische Literat Milo Dor seinem Kärntner

Kollegen, alles durcheinander zu bringen, da er von Politik nichts verstehe,

und Susan Sontag meinte, Handkes politische Ansichten seien ‚grauenhaft’,

er stehe damit „‚absolut auf der falschen Seite.’“29

Später fügte sie hinzu,

seine Bücher nicht mehr lesen zu wollen.30

Dor hielt auch drei Jahre danach

noch an seiner Einschätzung fest: „Wenn einer sich in einer Sache nicht

auskennt, dann soll er lieber darüber schweigen.“31

Handke wettere immer

wieder gegen die Oberflächlichkeit und Uninformiertheit der Journalisten

und verfalle dabei selbst in den gleichen Fehler.32

Jahr in der Niemandsbucht’ angesichts der Tatsache, dass hauptsächlich nur mehr dünne

Bücher geschrieben wurden; ‚Die Angst des Tormanns beim Elfmeter’ – obwohl nach

landläufiger Meinung der Schütze beim Elfmeter Angst hat und nicht der Torhüter; um in den

Medien zu bleiben, habe er sich schließlich dem Politischen zugewendet und dabei Serbien,

weil der allgemeine Trend gegen das Land war. Wolfram Knorr, Der Gegensurfer. Popikone

Handke, in: Weltwoche, 25. März 1999. 24 Ebd. 25 lm, Die Marsianer, in: FAZ, 27. März 1999. – In ‚Mars attacks’ greifen Marsianer die Erde

an und töten mit den Worten „Wir kommen in Frieden“ wahllos, wer sich ihnen in den Weg

stellt. Anfangs halten die USA und danach die EU dies für ein kulturelles Missverständnis, da

der erste Angriff beim Anblick einer Friedenstaube erfolgte. Sobald sie sich jedoch auf ein

neues Treffen einlassen, morden die Marsianer wieder blindlings. Der Film besticht besonders

durch die Darstellung der empathielosen Angreifer, für die jeder Begriff von Frieden und

Verständigung bloße Rhetorik ist, während die Zerstörung der Erheiterung dient. 26 Hans Haider, Wer zum Mars greift... Das falsche Bild zum Krieg auf dem Balkan, in:

Presse, 29. März 1999. 27 Ebd. 28 Vgl. Nenning, Freitag, 16. April 1999. 29 Aktuell, Handke, in: Kleine Zeitung, 29. März 1999. 30 Vgl. Buch, Tagesspiegel, 8. April 1999. 31 So Milo Dor am 13. April 2002 in einem persönlichen Schreiben an den Verfasser. 32 Ebd.

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Doch zurück ins Jahr 1999: Alain Finkielkraut warf Peter Handke im

Corriere della Sera die ‚Verwandlung in ein ideologisches Monster’33

vor,

während der albanische Nationalschriftsteller Ismail Kadare meinte, es sei

immer traurig, „‚wenn einer von uns, ein Autor, vom rechten Weg

abkommt.’“34

Mit für die Handke-Berichterstattung des Magazins nicht

untypischen Invektiven und Verleumdungen wartete derweil Peter Stolle im

Spiegel auf.35

So habe der Schriftsteller „mit heißem Herzen, aber betrüblich

schwach bei Verstand“36

immer wieder Serbien bereist und Widerspruch bei

öffentlichen Diskussionen mit dem Ausspruch „‚Sie können sich Ihre

Leichen in den Arsch stecken’“ beschieden. Wiewohl der Artikel suggeriert,

dass Peter Handke solche Aussagen öfters gemacht hätte, stellt dies nicht

den Höhepunkt an Einseitigkeit dar, auch nicht die Tatsache, dass der Satz

aus dem Zusammenhang gerissen worden war,37

sondern die Verdrehung des

Zitierten.38

Die korrekte Aussage war eine wütende Replik auf die Frage des

News-Journalisten Karl Wendl nach der Betroffenheit Handkes angesichts

der Leiden in Bosnien und lautete wie folgt: „Stecken Sie sich von mir aus

33 Vgl. dpa, Aroma des Krieges. Handke, Grass, Wolf: Die Schriftsteller und der Balkan, in:

Süddeutsche Zeitung, 3./4./5. April 1999. 34 Aktuell, Kleine Zeitung, 29. März 1999. 35 So z.B. in der Rezeption der ‚winterlichen Reise’ 1996, als ein anonymer Polemiker im

Spiegel aus Handkes Interviewzitat, er stelle nicht die Frage, was auf dem Markt von

Sarajevo beim Massaker 1994 geschehen ist, er frage, was dort wirklich passiert sei,

geschlossen hatte, Antworten solcher Art seien „tautologisches Fragegefuchtel, nur scheinbar

am Wirklichen interessiert“. Dichters Winterreise. Peter Handkes Serbien-Reportage und die

Intellektuellen, in: Der Spiegel, 5. Februar 1996. – Handkes Zitat im Interview mit Willi

Winkler lautete hingegen: „Ich stelle nicht in Frage, was dort geschehen ist auf dem Markt

von Sarajevo. Ich stelle die Frage: Was ist da wirklich passiert?“ (Hervorhebungen von mir,

K.G.) Willi Winkler, Ich bin nicht hingegangen, um mitzuhassen. Peter Handke antwortet

seinen Kritikern. Ein Zeit-Gespräch mit Willi Winkler, in: Die Zeit, 2. Februar 1996. 36 Peter Stolle, Maulwerker ahoi. Serbien in Not, Peter Handke in Rage: Gegen Nato und

schurkische Journaille macht der Dichter sein neues Theaterstück zur skandalumraunten

Geheimsache, in: Der Spiegel, 29. März 1999. 37 Peter Handke hatte sich im Wiener Akademietheater über die ihm vorgeworfene mangelnde

Empathie mit den bosnischen Muslimen aufgeregt. „Sie sprechen, als ob Sie der Besitzer der

300.000 Toten wären, als ob Sie der Besitzer des Leides wären. Ihr scheinheiligen Gestalten

tut so, als gehört euch das Leid. Das ist das Schlimmste. Habt ihr es im Grundbuch

eingetragen, das Leid, oder wie? Jammergestalten! [...] Ich rede nicht mit Ihnen, hauen Sie

ab.“ Michael Scharang/Stefan Ripplinger/Peter Handke, Literatur und Lüge. Der Streit um

Peter Handke, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Bei Andruck Mord. Die deutsche Propaganda

und der Balkankrieg (konkret texte 12), Hamburg 1997, S. 232-248, S. 247. Später sagte

Handke im Interview, „Einmal im Jahr bin ich halt bereit durchzudrehen. Ich bedaure auch in

keinem Moment meine Ausfälle, die diesmal vor zwei Tagen in Wien passiert sind. Aber das

genügt, das hat sich, ist aufgezeichnet und oft gesendet.“ Vgl. Wolfgang Reiter, Remis nach

dem Heimsieg, in: profil, 25. März 1996. 38 Darauf verwies auch der Literat Michael Scharang, Die Zeit, 15. April 1999.

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Ihre Betroffenheit in den Arsch!“39

Weiters bezeichnete Stolle Handkes

Korrektur seines ‚Verhasplers’ über die Juden und die ‚serbische Tragödie

ohne Grund’ als ‚alberne Richtigstellung’, welche ‚die politische Tölpelei

noch peinlicher’ mache. „Denn statt sich mannhaft zu entschuldigen,

verharmloste der Agitator den Blödsinn als ‚Verhaspler’ und gab den

Pressebengels gleich tüchtig eins aufs Dach.“40

Der Streit um Peter Handke zeige, wie sehr auch Intellektuelle die Fassung

verlören, unduldsam gegen abweichende Meinungen würden und um so

lauter tönten, je unsicherer sie seien, notierte Jörg Magenau zutreffend in der

taz am 31. März 1999.41

Ganz in diesem Sinne verkündete der

Generalsekretär des Deutsch-Schweizer PEN-Zentrums, vor dem

Hintergrund des Engagements des PEN für albanische Autoren aus dem

Kosovo spreche „aus Handkes proserbischen Entgleisungen ein besonders

unerträglicher Zynismus“.42

Inzwischen reiste der Kärntner Schriftsteller

tatsächlich Ende März/Anfang April für vier Tage nach Serbien,43

um nach

eigener Aussage die Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren.44

Die Süddeutsche

Zeitung kommentierte die Fahrt unter Berufung auf das Belgrader Blatt

Politika mit den Worten, der Schriftsteller sei hingefahren, um ‚das Aroma

des Landes’ zu riechen. Im Titel wurde daraus schließlich ‚Aroma des

Krieges’.45

Peter Handke bekrittelte dies am 16. April und monierte, er sei

dort gewesen, „‚um das Land zu spüren’“.46

Die FAZ hatte gar „Handke

riecht Lunten“47

getitelt. Explizit distanzierte sich der Schriftsteller von der

propagandistisch anmutenden Formulierung ‚bis zum letzten Serben’ im

Satz, den die Süddeutsche unter Berufung auf das Belgrader Blatt Politika

zitiert hatte: „‚Als ich hörte, daß die Nato-Bombardierungen bis zum letzten

Serben fortgesetzt werden sollen, habe ich mich entschlossen zu kommen

und hier, in Serbien, mit euch zu sein.“48

Handke: „SZ: Es war einmal eine

Zeitung...“49

Zudem dementierte er Berichte, denen zufolge er für seine

Tapferkeit in seinem Engagement gegen den NATO-Krieg zum ‚Serbischen

Ritter’ geschlagen worden sei. Doch damit nicht genug der Aufregung: Nach

39 Scharang/Ripplinger/Handke, Literatur und Lüge, S. 247. 40 Stolle, Der Spiegel, 29. März 1999. 41 Jörg Magenau, Schreiber und Krieger. Warum Intellektuelle manchmal besser schweigen

sollten, weil sie sonst den Verstand verlieren, in: taz, 31. März 1999. 42 dpa, Autoren über Handke und den Tod auf dem Amselfeld, in: Die Welt, 1. April 1999. 43 Vgl. dpa, Aroma des Krieges, Süddeutsche Zeitung, 3./4./5. April 1999. 44 Peter Handke, Slawes Bruder. Ein kurzer Brief zum langen Krieg, in: Süddeutsche Zeitung,

16. April 1999. 45 Vgl. dpa, Aroma des Krieges, Süddeutsche Zeitung, 3./4./5. April 1999. 46 Handke, Süddeutsche Zeitung, 16. April 1999. 47 dpa, Handke riecht Lunten. Der Dichter in Belgrad eingetroffen, in: FAZ, 3. April 1999. 48 Vgl. dpa, Aroma des Krieges Süddeutsche Zeitung, 3./4./5. April 1999. 49 Handke, Süddeutsche Zeitung, 16. April 1999.

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seiner Rückkehr gab der Schriftsteller aus Protest gegen die Politik des

transatlantischen Bündnisses den 1973 erhaltenen Büchnerpreis samt

Preisgeld von DM 10.000 zurück.50

Damit, so Kritiker, entferne sich Handke

eigenhändig „aus der Namensnähe des gerechten51

Büchner. Welch eine

Einsicht.“52

Ein Kommentar des Erzbischofs von Cambrai in Le Monde vom

4. April regte den Dichter darüber hinaus dergestalt auf, dass er seinen

Austritt aus der katholischen Kirche bekannt gab, obwohl der Vatikan sich

um die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit Jugoslawien bemüht

hatte.53

Neben der Bezeichnung ‚Bruderkrieg’ anstelle von ‚NATO-Überfall’

hatte Handke insbesondere die Aussage gestört, Waffen seien nie eine

Lösung, aber für den Moment sei es dringlich, den Angreifer zu entwaffnen.

Handke: „‚Nie. Doch für den Moment...’“54

Angesichts zunehmender Anfeindungen in den deutschsprachigen Medien

konstatierte Hans-Dieter Schütt am 9. April in der Tageszeitung Neues

Deutschland, es finde „eine feuilletonistische Hinrichtung statt“.55

Dass er

damit nicht so falsch lag, hatte der Autor Hans-Christoph Buch einen Tag

zuvor im Berliner Tagesspiegel gezeigt. Dort reihte er Handke in die Riege

der Faschismus verherrlichenden Dichter Ezra Pound (für Mussolini) und

Louis-Ferdinand Celine (für Hitler) ein.56

Pound-Celine-Handke – angesichts

der westlichen Propaganda (Mussolini)-Hitler-Milošević ein

nachvollziehbarer, wenngleich insbesondere für einen Intellektuellen

fragwürdiger Vergleich. Bei beiden Dichtern sei ebenso wie bei Handke das

politische nicht vom ästhetischen Engagement zu trennen, also von

literarischen Positionen, welche sie unter Beifall der Kritik bereits früher

vertreten hatten.57

Celines Verleger wurde schließlich als Kollaborateur

50 Hubert Spiegel, Zehntausend Mark. Peter Handke gibt den Büchner-Preis zurück, in: FAZ,

8. April 1999. 51 Assheuer vergisst hierbei, dass Büchner Zeit seines kurzen Lebens ein Rebell gegen die

herrschende Ordnung war, was dem damaligen Establishment keineswegs als ‚gerecht’

erschien. Dieses Adjektiv erhielt Büchner erst postum. ‚Gerechtigkeit’ ist nicht bloß

subjektiv, sie hängt auch mit den Idealen der jeweiligen Zeit zusammen. 52 Thomas Assheuer, Irrfahrt im Einbaum. Peter Handkes neues Stück ist erschienen: Trägt

der Westen die Schuld am Balkankrieg?, in: Die Zeit, 29. April 1999. 53 Klaus Brill, Offensive des Vatikans für Frieden in Jugoslawien. Päpstliche Gesandte

bemühen sich seit Tagen um Vermittlung/Hilfe für die Flüchtlinge, in: Süddeutsche Zeitung,

1. April 1999. 54 red, Peter Handkes Konsequenz: Kirchenaustritt, Preisrückgabe, in: Der Standard, 8. April

1999. 55 Hans-Dieter Schütt, Kein Bewohner des Elfenbeinturms mehr. Der Fall Peter Handke und

die neue Engstirnigkeit, in: Neues Deutschland, 9. April 1999. 56 Buch, Tagesspiegel, 8. April 1999. 57 Ebd.

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hingerichtet58

und Pound bekanntlich von den Alliierten in Pisa in einen

Käfig gesperrt. Handke hinter Gitter? Zumindest intellektuell:

„Pound, Celine, Handke – ein schlimmes Trio, drei außerordentliche Fälle

von Verbohrtheit und Verblendung. Drei Beispiele dichterischer

Ahnungslosigkeit, die im Umfeld von Faschismus, Antisemitismus,

Völkermord enden.“59

Den Faschismusvergleichen zum Trotz nahm der Verleger Michael Krüger

den Österreicher gegen die „Mischung aus Haß und Hohn“60

am selben Tag

in der Süddeutschen Zeitung in Schutz, wobei er sich gleichzeitig in aller

Deutlichkeit von Milošević distanzierte. Zu den Interventionsbefürwortern

bemerkte Krüger: „Jetzt haben wir Bürgerkrieg und europäischen Krieg, und

die französischen Philosophen der Generation Handkes sind begeistert.“61

Es

folgten weitere Solidaritätsbekundungen für den Kärntner Dichter: Der 1941

geborene österreichische Autor Michael Scharang, der schon 1972 einen

Band über seinen Landsmann herausgegeben und dessen Werk auch in der

Debatte um ‚Gerechtigkeit für Serbien’ 1996 verteidigt hatte,62

äußerte die

Befürchtung, die Attacken auf den Autor zielten in Wirklichkeit auf sein

Werk ab.63

Martin Walser kritisierte, der Kärntner Schriftsteller werde seit

der Rückgabe des Büchnerpreises moralisch, politisch und professionell

unglaublich disqualifiziert. „Daran bemerke ich eine Kriegsstimmung, die

mich ein bißchen erschrecken läßt.’“64

Für Handke äußerte sich auch der

Schauspieler Josef ‚Sepp’ Bierbichler in einem offenen Brief in der Zeit.65

Inzwischen publizierte der Maler und Dichter Herbert Achternbusch in

seinem Band ‚Weiße Flecken’ ein Gemälde mit dem Titel ‚Handke in

Fäulnis’. Achternbusch bezeichnete den Dichter als ‚ausgemachten

Dummkopf’, nicht, „‚weil er dumm wäre, nein, weil er mit seiner Klugheit

solche Dummheiten verbreitet wie die zu Serbien.’“66

Der österreichische

Literat Günther Nenning meinte hingegen, Handke habe die Trennung

zwischen fortschrittlichem Westen und serbischer Barbarei, die auch eine

moralische in Gut und Böse war, durch seine Parteinahme für Serbien

aufgehoben und das Land damit ‚europakompatibel’ gemacht. Trotzdem sei

58 Ebd. 59 Fritz Göttler, Bagatellen zum Massaker. Der Dichter Handke, die serbische Sache und der

Büchnerpreis, in: Süddeutsche Zeitung, 9. April 1999. 60 Krüger, Süddeutsche Zeitung, 9. April 1999. 61 Ebd. 62 Michael Scharang, Erfahrung schrecklicher Fremdheit, in: Der Standard, 24. Januar 1996. 63 Scharang, Die Zeit, 15. April 1999. 64 dpa, Aktionen gegen Hilflosigkeit. Walser verteidigt Handke, Loest schlägt Kriegskongreß

der Schriftsteller vor, in: Neues Deutschland, 17./18. April 1999. 65 Bierbichler, Die Zeit, 15. April 1999. 66 SZ, Handke in Fäulnis, in: Süddeutsche Zeitung, 15. April 1999.

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die pro-serbische Parteinahme letztlich ‚absurd’ und für ‚die falsche Seite’.67

Der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek bezeichnete

Handkes Haltung schließlich als ‚verkehrten Rassismus’, da sich der

Schriftsteller nicht mit dem gegenwärtigen Serbien, sondern mit „einem

konstruierten Objekt von zweideutigem Haß und Faszination“68

identifiziere.

Dem Schweizer Literaten Jürg Laederach ging die Opposition indes nicht

weit genug. Er warf insbesondere den Suhrkamp-Autoren vor, durch ihr

Schweigen dem Kärntner Dichter „direkt und indirekt“69

verpflichtet zu sein.

Der Österreicher, seit ‚Gerechtigkeit für Serbien’ nicht mehr nur

Schriftsteller, sondern eine Partei, ein Guru und Scientologe,70

habe noch

während des Goethe-Jahrs erfolgreicher „das Handke-Jahr ausgerufen“,71

meinte Laederach, der nach eigenen Angaben 1996 aufgrund des Streits um

‚Gerechtigkeit für Serbien’, das er in die Nähe neonazistischer Propaganda

gerückt hatte, den Suhrkamp-Verlag verlassen hatte.72

Inzwischen brach Peter Handke erneut zu einer Jugoslawien-Fahrt mit dem

Ziel Pristina auf.73

Währenddessen bescheinigte Thomas Assheuer in einer

Rezension des jüngsten Werks, Handkes Dichtung kenne nur „Krieg oder

Frieden, das Reine oder das Unreine, den Haß oder die Liebe“.74

Dieser

Traum besitze allenfalls in der Literatur sein natürliches Recht, denn: „Wer

über den Krieg ein Märchen schreibt, betreibt eine Strategie des

Vergessens.“75

Der Kosovo-Beauftragte der EU Wolfgang Petritsch meinte

diesbezüglich, ‚Die Fahrt im Einbaum’ erscheine ihm als eine ‚rückwärts

67 Nenning, Freitag, 16. April 1999. 68 Taschwer, taz, 16. April 1999. 69 Laederach, Weltwoche, 22. April 1999. 70 Skandal mit Wirkungsästhetik. Laederach verläßt Suhrkamp wegen Handke, in: Frankfurter

Rundschau, 7. Februar 1996. 71 Laederach, Weltwoche, 22. April 1999. 72 Laederach verlässt Suhrkamp, in: Tages Anzeiger, 7. Februar 1996. 73 dpa, Wieder unterwegs. Peter Handke fährt nach Pristina, in: Süddeutsche Zeitung, 22.

April 1999. – Zur lange vor dem Krieg geplanten einwöchigen Fahrt durch Slowenien,

Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Jugoslawien (allerdings ohne Kosovo, da dies die

serbischen Behörden verhinderten) vgl. Thomas Deichmann, ‚Warum war Columbus so

neugierig?’ Eine Reise mit Peter Handke in den Krieg nach Jugoslawien, in: profil, 31. Mai

1999. – Diese Reiseaufzeichnung inspirierte die österreichische Wochenzeitung Falter zu

einer stellenweise diskreditierenden Parodie. Vgl. Reportage: Exklusiv im ‚Falter’: Der von

den Medien bislang totgeschwiegene Kfz-Mechaniker Alois Oblatnig berichtet von der

Serbien-Reise an der Seite Peter Handkes, von den berüchtigten Wutanfällen des Dichters und

davon, was sich im Stammlokal von Roter Stern Belgrad tatsächlich zutrug, in: Falter, 11.

Juni 1999. Als Buch veröffentlicht wurden Handkes Jugoslawien-Reisen nachträglich unter

Peter Handke, Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-

Durchquerungen im Krieg, März und April 1999, Frankfurt a.M. 2000. 74 Assheuer, Die Zeit, 29. April 1999. 75 Ebd.

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gewandte Utopie’, die Sicht des Autors, der ins ‚banal Polemische’ abgleite,

sei „‚ziemlich oberflächlich’“.76

Inzwischen wurden dem Schriftsteller

angesichts der aktuellen Thematik PR-Zwecke unterstellt,77

da sein Stück

vor der Uraufführung in Wien bereits als Buch bei Suhrkamp erschienen

war. Die Verlagsankündigung war jedoch Monate vor Kriegsbeginn

erfolgt.78

Interventionsbefürworter Salman Rushdie plädierte schließlich

dafür, Handke zusammen mit Charlton Heston79

in die engere Auswahl der

‚Wirrköpfe des Jahres’ zu berufen. Man könne die Situation wohl mit

gemischten Gefühlen betrachten, dies sei aber alles andere „als Handkes halb

törichte, halb zynische Komplizenschaft mit dem Bösen“.80

Der Genannte

zweifelte inzwischen im österreichischen Magazin News Flüchtlingsberichte

von Massenvergewaltigungen und Massenvertreibungen an:

„Ich höre immer von Massenvergewaltigungen und Vertreibungen, und es

steht auch immer: Wir können das zwar nicht beweisen, aber es wird sicher

bewiesen werden. Ich habe da ein sprachkritisches Formbewußtsein, das mir

sagt: Etwas ist falsch.“81

Weitere Äußerungen, die ihn ins Kreuzfeuer der Kritik brachten, waren:

„Der amerikanische Dreckskerl, der englische Kunstturner, alle diese

Verbrechertypen [...] die Pfeifen und Verbrecher [...] Genauso verlogen,

brutal und schmutzig, wie die Deutschen den Zweiten Weltkrieg vom Zaun

gebrochen haben, ist die Nato gegen Jugoslawien vorgegangen. Schon der

Sprachgebrauch! ‚Krieg im Kosovo’, da könnte ich schon meinen

Kugelschreiber entsichern. Für mich heißt das ‚Der Krieg gegen

Jugoslawien’. [...] Für mich ist das Weiße Haus nicht mehr das Weiße Haus,

sondern das Herz der Finsternis, und ich schlage vor, das Oval Office zur

Bombenform zu verlängern.“82

Die Presse differenzierte nun noch seltener – die dargebotene Angriffsfläche

war wohl zu verlockend, wie das Zitat über Journalisten zeigt:

„Ich sehe bei diesen Typen seit langem keine Arbeit mehr. [...] Ist Killen

denn eine Arbeit? Diese Zeitungsratten verdienen mit ihrer Nichtarbeit, mit

ihren Fertigsätzen und Fertigbildern ein Heidengeld. Für diese mechanische

76 dpa, Herbe Verrisse für Handkes Thesen zum Krieg, in: Die Welt, 11. Mai 1999. 77 U.a. Knorr, Weltwoche, 25. März 1999 sowie Nenning, Freitag, 16. April 1999. 78 So Peter Handke im Interview mit Heinz Sichrovsky, ‚Es ist etwas so Schmutziges passiert

wie seit Hitler nicht mehr.’ Interview mit Peter Handke, in: News, 11. Mai 1999. 79 Der Filmschauspieler Heston, Präsident der US-amerikanischen Waffenvereinigung

National Rifle Association, hatte als Reaktion auf den Amoklauf an der Columbine-

Highschool in Littelton, bei der am 20. April 1999 zwei Schüler mehrere Mitschüler und

Lehrer und anschließend sich selbst getötet hatten, für eine Bewaffnung der Lehrer plädiert. 80 Rushdie, Die Welt, 12. Mai 1999. 81 Sichrovsky, News, 11. Mai 1999. 82 Ebd.

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Killerei und Schweinerei bekommen sie auch noch eine Pension. Unter den

tausend Skandalen ist das einer der schlimmsten.“83

Der unmittelbar darauf folgende Satz fand allerdings keine Erwähnung:

„Andererseits habe ich gerade in ‚Le Monde’ gelesen, daß sich jetzt viele

Fotojournalisten weigern, in diese Flüchtlingsbilder zu fotografieren. Sie

fotografieren lieber die Fotografen, die in Großaufnahme in diese seltsame

Mischung aus Erschöpfung und Verzweiflung hineinfotografieren.“84

Dass Handke im selben Interview auch den auf Kosovo-Flüchtlinge und

Vertriebene angewendeten Begriff ‚Deportierte’ als „eine Entwertung des

Judenelends“85

kritisiert hatte, wurde ebenfalls nicht berücksichtigt, im

Gegenteil: Hans Rauscher warf dem „Wiederholungstäter gegen humanes

Denken“86

paradoxerweise vor, das Niveau von Holocaust-Verharmlosern

oder „die moralisch-intellektuelle Verrottung jener Intellektuellen, die Stalin

und Mao für die Schaffung eines ‚neuen Menschen’ priesen“,87

erreicht zu

haben. Davon unbeeindruckt behauptete Handke am 15./16. Mai im

Interview mit Willi Winkler, die NATO habe entgegen ihrer angeblichen

Ziele „ein neues Auschwitz erreicht“.88

Von Winkler, „handzahm, wie es

sonst nicht seine Art ist“,89

darauf hingewiesen, dass Auschwitz doch etwas

anderes sei, meinte der Dichter: „Damals waren es Gashähne und

Genickschußkammern; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter

Höhe.“90

Damit drehte der Schriftsteller „den Spieß der offiziellen

Rechtfertigungen für die Bombenangriffe um“.91

Unter „den gesetzmäßig

verunglückenden Auschwitz-Vergleichen ist dies wohl einer der

verrücktesten“,92

meinte dazu Peter Schneider, der schon in der Debatte um

‚Gerechtigkeit für Serbien’ als vehementer Kritiker93

aufgetreten war.

Handke griff im Interview auch Jürgen Habermas an, der in seinem Essay in

83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Hans Rauscher, Peter Handkes moralischer Zerfall, in: Der Standard, 14. Mai 1999. 87 Ebd. 88 Winkler, Süddeutsche Zeitung, 15./16. Mai 1999. 89 Wolfram Schütte, Gashähne, in: Frankfurter Rundschau, 18. Mai 1999. 90 Winkler, Süddeutsche Zeitung, 15./16. Mai 1999. Diese Formulierung wurde in der

Frankfurter Rundschau heftig kritisiert: „Wer Auschwitz mit Gashähnen und

Genickschusskammern assoziiert, hat seine Imaginationsfähigkeit verloren [Hervorhebungen

im Original]“, so Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 18. Mai 1999. 91 Bernd Reinhardt, Der Schriftsteller Peter Handke, die öffentliche Meinung und der Krieg in

Jugoslawien, in: World Socialist Website, Juli 1999, zit. nach

www.wsws.org/de/1999/jul1999/hand-j22.shtml, update 30. August 2008. 92 Schneider, ‚Ich kann über Leichen gehen, ihr könnt es nicht’, S. 227. 93 Vgl. Peter Schneider, Der Ritt über den Balkan, in: Der Spiegel, 15. Januar 1996.

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der Zeit die Intervention verteidigt hatte.94

Recht als Gegenteil von Willkür

müsse Recht bleiben, denn Moral, so der Dichter, sei für ihn in diesem Krieg

zu einem anderen Wort für Willkür geworden. Mit seiner Formulierung, fast

alle Menschen in Serbien, im Kosovo, in Montenegro seien „so unschuldig,

wie hier auf dem Kriegs- und Feindesplaneten fast alle schuldig sind, finster-

ahnungslos schuldig“,95

setzte er sich weiteren Angriffen aus, auch wenn er

betonte, „mit dem serbischen Volk, nicht mit Milošević“96

zu sein. Seine

Teilnahme am Begräbnis des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs 2006

offenbarte später eine Veränderung im Standpunkt des Schriftstellers. Oder

war der Kern dazu schon während der Luftangriffe 1999 entstanden? „Was

hätte ein anderer Präsident Serbiens im Interesse Jugoslawiens anders

machen können als Milošević?“,97

fragte Handke nämlich angesichts der

Feststellung, dass ‚die Serben’ als einziges Volk durch den Zerfall

Jugoslawiens nur verlieren konnten. Diese Aussage kommentierte Reinhard

Mohr 1999 im Spiegel damit, der Schriftsteller adle „den Faschisten

Milošević zum Vorkämpfer der Menschheit“.98

Unseriöse wie politisch

korrekte Äußerungen dieser Art brachten den Dichter auf die Palme. Im

ORF-Interview sagte er am 10. Dezember 2007 rückblickend:

„So leid es mir tut, ich hatte und ich habe keine Meinung zu Slobodan

Milošević. Aber es ist mir unerträglich, wie man, vor allem kurz nach

seinem Tod, über ihn geredet hat. ‚Der Schlächter vom Balkan’, der ‚Kriege

angezettelt’ hat! Der ‚blutrünstige Killer’ [...] Milošević war nicht

Ceausescu, er war nicht Hitler. Ich weiß nicht, was er war. Es wäre wichtig

für den Frieden, zu wissen, wer er wirklich war.“99

Seine Beweggründe, dem Begräbnis des letzten jugoslawischen Präsidenten

beizuwohnen, erklärte er folgendermaßen: „Ich bin als privater Mensch

hingegangen. [...] Ich war auf eine Weise Trauergast für das gestorbene

Jugoslawien“.100

Aufschlussreiches liefert ein weiterer Satz aus demselben

Interview. Zur Arbeit an literarischen Texten sagte Handke nämlich, es sei

wichtig, „falsch anzufangen und richtig aufzuhören. Hätte ich immer richtig

angefangen, hätte ich nichts entdeckt“.101

Selbiges lässt sich für viele

94 Jürgen Habermas, Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und

Moral, in: Die Zeit 18, 29. April 1999. 95 Winkler, Süddeutsche Zeitung, 15./16. Mai 1999. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Mohr, Der Spiegel 21, 24. Mai 1999. 99 Claus Philipp, ‚Instrumentalisiert wurde ich ja wohl eher von den West-Medien’, in: Der

Standard, 10.-12. Juni 2006. 100 ORF-Interview mit Peter Handke zu seinem 65. Geburtstags, ausgestrahlt am 10.

Dezember 2007 um 22:30 Uhr. 101 Ebd.

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Kritiker nicht behaupten, die seiner Forderung nach Sprachreflexion – „Die

meisten Journalisten und Politiker sind ohne Sprachgewissen, und eine

ärgere Gewissenlosigkeit gibt es nicht.“102

– verständnislos gegenüber-

standen. Vor diesem Hintergrund wird Handkes Angriff auf Hans Magnus

Enzensberger, der eine Bewaffnung der UCK gefordert hatte,

nachvollziehbar: „Der weiß immer, wo’s lang geht, ein grinsender

höhnischer Zuschauer, der menschgewordene Hohn“.103

Und auf Daniel J.

Goldhagens Forderung nach Besiegen, Besetzen und Umerziehen von

Serbien meinte Handke in neuerlicher Anspielung auf ‚Mars Attacks’:

„Seit Vietnam werden die Amerikaner nur noch zum Beten, Boomen und

Bomben erzogen. Seitdem sind die Marsmenschen da, und sie tragen eine

Clinton-Maske. Serbien umerziehen? Nein, Amerika umerziehen, samt

seinem Vorsteher und dem Pimpf Goldhagen.“104

Kann man dem österreichischen Dichter in seiner Bildkritik oder seiner

Skepsis gegen die Vermarktung von Flüchtlingsbildern folgen, so ist seine

am Schluss des Interviews getätigte Aussage, dass der sichtbare Krieg im

Kosovo durch den Einbruch des UCK-Terrors in die Städte Ende 1998

begann, aufgrund der Faktenlage nicht zutreffend.

Während Handkes ehemalige Lebensgefährtin Marie Colbin die Debatte

inzwischen zur persönlichen Abrechnung – der Schriftsteller sei kein Mann

des Friedens, sondern ein „‚Ideologe des modernen Balkanfaschismus’“105

nutzte,106

suchten andere Antworten in der Kunst.107

Der bukolische Blick

habe nicht unmittelbar „mit einer jugoslawischen Verblendung zu tun“,108

er

sei vielmehr Bestandteil der poetischen Methode, meinte Wolfgang Reiter

im österreichischen Magazin profil. Und der Schriftsteller Michael Amon

verlautbarte im österreichischen Standard, das ganze literarische Werk drehe

102 Winkler, Süddeutsche Zeitung, 15./16. Mai 1999. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 SN/apa, ‚Du bist kein Mann des Friedens!’. Marie Colbin beglich mit dem einstigen

Gefährten Peter Handke jetzt eine offene Rechnung aus dem Rosenkrieg, in: Salzburger

Nachrichten, 22. Mai 1999. U.a. warf Colbin, die sich selbst als Pazifistin bezeichnet, ihrem

langjährigen Lebensgefährten in einem offenen Brief vor, sie zu Boden gestoßen, in den

Unterleib getreten und ins Gesicht geschlagen zu haben. 106 Zur Thematik vgl. Isolde Schaad, Ein Fleck, der nicht ausgeht. Über das Frauenbild bei

Peter Handke, in: Text und Kritik 24 Peter Handke, Juni 1999, S. 100-109. 107 Zur Handkes Erzählweise vor allem in „den Reisemärchen und herausgestülpten

Wunschromanen“, vgl. Hugo Dittberner, Der heroische Kampf um die Erzählung.

Anmerkungen zum gegenwärtigen Peter Handke, in: Text und Kritik 24 Peter Handke, Juni

1999, S. 28-37 (Zitat aus S. 34); Weiters Alexandra M. Kedves, ‚Sie erzählten einander

namenlos’. Peter Handkes Erzählen als präsentische Allegorie, in: Text und Kritik 24 (Peter

Handke), Juni 1999, S, 80-91. 108 Wolfgang Reiter, Der Unvernünftige stirbt nicht aus, in: profil, 31. Mai 1999.

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sich nicht um Realität, sondern um die Selbstwahrnehmung des Autors.

Deshalb sei es falsch, wie Hans Rauscher zu unterstellen, Handke wolle ‚das

Unleugbare leugnen’,109

vielmehr sei er seiner eigenen, ‚offenbar falschen’

Theorie über Literatur und Wirklichkeit auf den Leim gegangen, nämlich

„daß sich die Wirklichkeit nicht an seinem Werk orientiert“.110

Während

Marcel Reich-Ranicki angesichts der wütenden Medienschelte den

Gesundheitszustand des Dichters anzweifelte und ihm empfahl, „‚sich

möglichst schnell in die Obhut eines Sanatoriums zu begeben’“,111

konstatierte Reiter, der Schriftsteller sei nicht nur „seiner poetischen

Methode, dem reflexiv subjektivistischen Zugang zu einem Thema, auch in

Kriegszeiten“112

treu geblieben, sondern auch seinen Eskapaden. Der jäh

aufbrausende Charakter sei nichts anderes als die Kehrseite von Handkes

ruhiger, weltabgewandter Beobachtungsgabe. Das Magazin unterstrich diese

These, indem es unter dem Titel ‚Der Publikumsbeschimpfer’ ‚Die kurze

Chronik der Handkeschen Eskapaden’ abdruckte.113

Etwas überraschend wartete gegen Kriegsende die FAZ mit versöhnlichen

Tönen auf. Thomas Wirtz meinte unter Bezugnahme auf Handkes

Interviewzitat „Man sagt immer, das erste Opfer des Krieges sei die

Wahrheit. Für mich ist immer eins der ersten Opfer die Sprache“,114

so

trauere ein Dichter. Die NATO-Sprache habe für den Schriftsteller nicht

zuerst das politische, sondern das poetische Wort beschmutzt, und das

Serbien, von dem der Kärntner Autor spreche, sei seine literarische

Erfindung.115

Wirtz’ Einschätzung wird vom Interviewzitat des

Schriftstellers im Juni 2006 gestützt, derzufolge ein Grundantrieb seines

Engagements für Serbien die Sprache der Medien sei.116

Handkes

„bürgerlicher Selbstmordversuch vor laufenden Mikrophonen“117

verdiene

Respekt, meinte Wirtz 1999, weil er mit dem Übertritt in die Unbelang-

109 Rauscher, Der Standard, 14. Mai 1999. 110 Michael Amon, Ein Autist, kein Kriegstreiber. Peter Handkes Ansichten künden von

einem radikalen Subjektivismus, in: Der Standard, 28. Mai 1999. 111 Reiter, profil, 31. Mai 1999. – Reich-Ranickis Aussage verwundert angesichts des seit

Jahren angespannten Verhältnisses zwischen dem Kritiker und dem Dichter nicht. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Winkler, Süddeutsche Zeitung, 15./16. Mai 1999. – Zum bewussten Umgang mit Sprache

vgl. die Dankesrede des Übersetzers und Herausgebers Peter Urban beim Festakt zum Leipzi-

ger Buchpreis 2000, Peter Urban, Verständigung braucht Sprache, in: Freitag, 31. März 2000. 115 Thomas Wirtz, Der andere Krieg. Ein Friedensangebot an Peter Handke, in: FAZ, 5. Juni

1999. 116 Vgl. Martin Meyer/Andreas Breitenstein, Der lange Abschied von Jugoslawien. Peter

Handke über den Untergang des Vielvölkerstaates und seine umstrittene Parteinahme für

Serbien, in: Neue Zürcher Zeitung, 17./18. Juni 2006. 117 Wirtz, FAZ, 5. Juni 1999.

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barkeit, „den vielleicht einzig wahren poetischen Zustand“,118

ernst mache.

Wirtz zufolge entsprach der Dämonisierung Miloševićs „die reflexhafte

Verurteilung von Peter Handke“,119

der, gäbe es einen Internationalen

Gerichtshof in der Literatur, kaum auf einen fairen Prozess hätte hoffen

können. Diesem Verdikt entsprach weiterhin der Spiegel, wenngleich Volker

Hage immerhin den Versuch unternahm, Werk und Äußerungen des Autors

getrennt zu bewerten.120

Die taz kritisierte ebenfalls am 7. Juni Handkes

Bericht seiner jugoslawischen Karwochenreise, welcher in der Wochenend-

beilage vom 29./30. Mai in der Süddeutschen Zeitung erschienen war. Die

unterschiedliche Beschreibung beispielsweise eines serbischen Botschafts-

angestellten mit Attributen und Nebensätzen im Vergleich zu den

Namenskürzeln westlicher Diplomaten, die Anführungszeichen beim Begriff

‚Vertreibungen’ im Kosovo, aber auch die Unterscheidung zwischen Serben

als Jugoslawen und Albanern als ‚Bewohner des Kosovo’ lasse keine andere

Schlussfolgerung zu, als dass der Reisebericht selbst zur Propaganda

verkommen sei.121

Jörg Lau meinte unter Anspielung auf die Verwendung

der „andersgelben Nudelnestern oder –kronen“122

aus ‚Gerechtigkeit für

Serbien’, der ganze Text sei „Selbstzitat und Selbstbestätigung“.123

Der

Dichter habe bloß Menschen getroffen, die ihn in seiner Meinung bestärkten.

Norbert Mappes-Niediek konstatierte, die Parteinahme für die serbische

Seite sei die Trauer „über die Zerstörung von Menschen, auch über den

Zerfall Jugoslawiens. [...] Politisch aber ist Handke ein Idiot“.124

Dies zeige

sich in den Irrtümern des Dichters, der übersehe, dass die Verwestlichung

auch in Belgrad nur eine Frage materiellen Wohlstandes sei. „Fuhr Arkan

einen Zastawa?“125

Handke habe bloß die eigene Kulturkritik auf ein anderes

Volk projiziert. Diese Sehnsucht nach vorkapitalistischer Idylle war dem

Schriftsteller bereits im Streit um ‚Gerechtigkeit für Serbien’ bescheinigt

118 Ebd. 119 Ebd. 120 Volker Hage, Das Zittern des Grobians. Pünktlich zur Premiere seines neuen Theaterstücks

über Jugoslawien, Journalismus und Krieg meldet sich Peter Handke erneut eifernd zu Wort,

in: Der Spiegel, 7. Juni 1999. 121 Unterm Strich, in: taz, 7. Juni 1999. 122 Handke, Winterliche Reise, S. 71. 123 Jörg Lau, Ein lieber Gast. Peter Handke findet in Serbien andersgelbe Nudelnester und

redet seinen Freunden nach dem Mund, in: Die Zeit, 10. Juni 1999. 124 Norbert Mappes-Niediek, Mit dem Blick eines serbischen Papalagi. Peter Handkes neuer

Roman ‚Unter Tränen fragend’ über den Krieg auf dem Balkan krankt an seiner Parteinahme

für die ‚serbische Sache’, in: Freitag, 5. März 2000. 125 Ebd.

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worden.126

Iris Radisch hatte Ende April in der Zeit bemerkt, Handkes

Provokation bestehe vor allem darin, dass er die alte überlegene Geltung des

literarischen Erzählens zurückfordere „und dieses hochfahrende ästhetische

Programm auf eine Kriegswirklichkeit“127

übertrage. Dem Politikwissen-

schaftler und Friedensforscher Theodor Ebert zufolge war es hingegen das

Ziel des Autors, in seinen Reiseberichten „die Feindbilder, die von Serbien

und den Serben existieren, aufzulösen. [...] Ihn interessieren in erster Linie

Land und Leute, weil diese letzten Endes auch Träger einer neuen

Friedenspolitik sein müssten.“128

Handkes poetische Methode bestehe nicht

aus Thesen oder Antithesen, sondern in der Suche nach dem Dritten, dem

Versöhnenden.129

Schon in der ‚winterlichen Reise’ beruft sich der

Schriftsteller auf „das Verbindende, das Umfassende – den Anstoß zum

gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die

zweite, die gemeinsame Kindheit“.130

Einem Konflikt könne man, so Ebert,

allerdings nicht mit der poetischen Methode allein ‚gerecht’ werden, sondern

müsse ebenso das politische System analysieren.131

Mit dem Ende der Luftangriffe wurde es auch um den österreichischen Autor

ruhiger. Zwar berichtete Handke 2002 für die Süddeutsche Zeitung über den

Milošević-Prozess in Den Haag,132

doch so richtig tauchten die alten

Vorwürfe erst aufgrund der geplanten Verleihung des Heine-Preises 2006

wieder auf. Die Düsseldorfer Lokalpolitikerin Marie-Agnes Strack-

Zimmermann (FDP) unterstellte dem Dichter, „‚Mord, Vertreibung,

Massenfolter und Vergewaltigung’“133

relativiert zu haben. Und während

Düsseldorfs Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) für die Verleihung

des Heine-Preises an Peter Handke eingetreten war, opponierte sein

Parteikollege Jürgen Rüttgers, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident,

dagegen mit der Behauptung: „Die Landesregierung ist der Meinung, dass

126 Vgl. Kurt Gritsch, Eine Frage des Blickpunkts? Peter Handkes ‚Gerechtigkeit für Serbien’

in der Rezeption deutschsprachiger Printmedien, in: Zeitgeschichte Januar/Februar 2003, Heft

1, S. 3-18. 127 Iris Radisch, Peter Handkes Unfall. Wie der Dichter eine geopolitische Ästhetik suchte

und sich in Serbien verirrte, in: Die Zeit, 27. April 2000. 128 Theodor Ebert, Die poetische Methode und ihre Grenzen – oder Peter Handkes

Reiseberichte aus Jugoslawien als Friedenstexte, in: Ulrich Albrecht/Jörg Becker (Hg.),

Medien zwischen Krieg und Frieden (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens-

und Konfliktforschung e.V. 29), Baden-Baden 2002, S. 247-266, S. 250. 129 Ebd., S. 254. 130 Handke, Winterliche Reise, S. 133. 131 Ebert, Die poetische Methode und ihre Grenzen, S. 256. 132 Peter Handke, ‚Und wer nimmt mir mein Vorurteil?’, in: Süddeutsche Zeitung Magazin

40, 4. Oktober 2002, S. 8-32. 133 Thomas Steinfeld, Handke und kein Preis. Die Selbstinszenierung der üblen Nachrede, in:

Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2006.

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für den Heine-Preis nicht preiswürdig ist, wer den Holocaust relativiert“.134

Dazu passend rief der ‚neue Philosoph’ Bernard-Henry Levy den

‚Verhaspler’ über die Juden und die Kategorien von 1999 in Erinnerung, um

seiner Empörung Nachdruck zu verleihen. „So kommt einiges zusammen:

fehlende Sachkenntnis, Mangel an Anstand und Urteilsvermögen,

Opportunismus“,135

fasste Thomas Steinfeld, Literaturchef der Süddeutschen

Zeitung, die Vorwürfe zusammen. Handkes Richtigstellungen waren bei

seinen Kritikern schon früher auf taube Ohren gestoßen,136

2006 war dies

nicht anders.137

Im Gegensatz zur Süddeutschen hatte die FAZ wenig

überraschend die beschlossene Vergabe des Preises als „unerhört“138

kritisiert. Marcel Reich-Ranicki nannte den Beschluss der Düsseldorfer Jury

„‚eine empörende Beleidigung und Verhöhnung des Dichters Heine’“.139

Alice Schwarzer hingegen meinte, Handkes Mut hätte Heine „‚vermutlich

imponiert’“.140

Der Schriftsteller selbst fügte die Bitte an, man möge seine

Schriften zu Jugoslawien sorgfältig lesen. Dann würde man auch, so Thomas

Steinfeld, darin ‚viel Dichtung’ und ‚auch viel Wahres’ finden. Allerdings

würden Handkes Texte und Gesten dann kritikwürdig, „wenn sich in ihnen

in die Zuneigung zu den Serben und ihrem Land eine, wenn auch subjektiv

vorgetragene Treue zum serbischen Staat und zur Politik der Jahre von 1990

bis 2000 mischt“.141

Abzulehnen sei aber der als gängiges Credo über

Handke kursierende „faule Kompromiss“,142

der zwischen dem Werk und

den politischen Äußerungen des Dichters trenne. Mit der Anschauung, der

134 dpa, Rüttgers kritisiert Handke, in: taz, 1. Juni 2006. 135 Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2006. 136 So z.B. ARD-Balkan-Korrespondent Detlef Kleinert, der Bezug nehmend auf seine Kritik

an ‚Gerechtigkeit für Serbien’ (vgl. Detlef Kleinert, Billig und infam. Wider die

Verharmlosung – Antwort auf Peter Handkes Journalistenschelte, in: Das Sonntagsblatt, 19.

Januar 1996) fünf Jahre später sagte: „Ich habe doch recht konziliant versucht, die Dinge

wieder einigermaßen zurechtzurücken. Wenn ich gewusst hätte, wie Herr Handke reagiert,

hätte ich meine Kritik weit schärfer formuliert.“ (12. Februar 2001, 9 Uhr 30, Zeitungsarchiv

Innsbruck, Telefongespräch mit dem Verfasser). Dies tat Kleinert dann in seinen Antworten

auf meinen Fragebogen am 13. September 2001, wobei er sich als ungenauer Leser erwies:

„Nach ‚Gerechtigkeit’ und den primitiven Beschimpfungen kritischer Frager ist H. für mich

als Intellektueller nicht mehr existent. [...] Die Balkan-Pamphlete Hs. haben mit Literatur

absolut nichts zu tun. [...] Die kritiklose Wiedergabe der Propaganda der Diktatur Miloševićs

mach ernsthafte Auseinandersetzung mit H. unmöglich. [...] H. hatte Scheuklappen auf – und

er hat sie wohl noch immer.“ Brief im Besitz des Verfassers. 137 Zu den Richtigstellungen vgl. Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2006. 138 Hubert Spiegel, Heine wird verhöhnt. Blinde Provokation: Düsseldorfs Ehrung für Peter

Handke, in: FAZ, 27. Mai 2006. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2006. 142 Ebd.

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Kritisierte sei „ein wunderbarer Autor [...] aber in seinen politischen

Überzeugungen [...] gleichsam nicht zurechnungsfähig“,143

entbinde man

sich von der Verantwortung, nach den Motiven des Handelns zu fragen.

Nachdem der Schriftsteller der Posse durch Ablehnung des Preises

schließlich ein Ende bereitete, schwoll die Empörung wieder ab.

Versöhnlicher reagierte das Feuilleton auf Peter Handkes letztes Werk zu

Jugoslawien. ‚Die morawische Nacht’,144

so Hubert Spiegel in der FAZ, sei

„der Versuch eines Dichters, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen.

Für jemanden, der den Streit oft mehr zu lieben schien als den Frieden, ist

das erstaunlich gut gelungen.“145

Und Andreas Breiteinstein meinte in der

NZZ, Handkes jüngstes Buch „nimmt den entspannten Ton auf und führt ihn

weiter in Richtung Revision und Versöhnung, deren Ausmass überrascht“.146

2. Fazit

Peter Handkes eigenwilliges Jugoslawien-, später Serbien-Engagement

isolierte den Schriftsteller in den 1990er Jahren zunehmend, bis er sich

schließlich eingestehen musste, sich verrannt zu haben.147

Die intellektuelle

Debatte verselbständigte sich im Laufe der Zeit mehr und mehr. Standen am

Anfang noch das Kosovo und die Legitimationsfrage der Luftangriffe im

Fokus, so drehte sich bald alles um den österreichischen Schriftsteller und

seine pointierten Äußerungen. Schlussendlich lenkte die Aufregung um

Handke von der Frage nach Recht- und Verhältnismäßigkeit des NATO-

Einsatzes ab und wirkte dadurch beruhigend auf zweifelnde Interventions-

befürworter. In seiner dezidierten Parteinahme für Serbien fand der Dichter

bei den hier analysierten Zeitungen keine Zustimmung. Verständnis wurde

seinem poetischen Anliegen entgegengebracht, ebenso gab es Versuche, die

provokanten Interviewaussagen vom literarischen Werk zu trennen. Am

meisten Ablehnung kam von Spiegel, FAZ und taz. Die Zeit ließ immerhin

auch Handke-Verteidiger zu Wort kommen, und die dem Rechtfertigungs-

diskurs der NATO-Propaganda erlegene Süddeutsche Zeitung veröffentlichte

zumindest den Reisebericht des Dichters. Seine Medienkritik lehnten jedoch

143 Ebd. 144 Handke, Die morawische Nacht. 145 Hubert Spiegel, Der Prinz von Nirgendwo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Januar

2008. 146 Andreas Breitenstein, Die grosse Versöhnungstour. ‚Die morawische Nacht’ – Peter

Handke zieht eine selbstironische Bilanz (s)eines Dichterlebens, in: Neue Zürcher Zeitung,

15. Januar 2008. 147 „Aber jetzt ist alles versperrt, oder ich bin versperrt?“ Peter Handke in einem Brief vom

22. Januar 2000 an den Verfasser. Elf Monate später erneuerte der Schriftsteller seine

Ablehnung, von mir als Zeitzeuge befragt zu werden. „Und verstehen Sie, daß ich mit einem

‚Interview’ nichts im Sinn habe.“ Brief an den Verfasser, 25. November 2000.

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alle hier untersuchten Zeitungen ab. Der Autor selbst ließ Hinweise auf

seiner Meinung nach positiven Journalismus in seinen Interviews vermissen

und konzentrierte sich nur auf die von ihm schon 1996 kritisierten

„Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines

Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und, über die

Jahre immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem

Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie

jene im Kampfgebiet“.148

Obwohl damit Journalisten in den westlichen Redaktionen und nicht die

Kriegsberichterstatter vor Ort gemeint waren, fühlten sich auch letztere

angesprochen. ARD-Balkan-Korrespondent Detlef Kleinert meinte: „Als

betroffener ‚Fernfuchtler’ – ich war während der Balkan-Kriege in fast

jedem Schützengraben – kann ich nur sagen: H. weiß gar nicht, wovon er

schreibt.“149

Durch die obgenannte Handke’sche Formulierung konnte der

Eindruck einer Pauschalverurteilung entstehen, ein von vielen Zeitungen

erhobener Vorwurf, der dazu benutzt wurde, sich die Reflexion der eigenen

Berichterstattung zu ersparen. Dies geschah durch die Unterstellung, der

Kärntner Autor richte sich prinzipiell gegen alle Journalisten sowie auf der

stillschweigenden Annahme, dass er damit falsch liegen müsse – denn alle

können sich nicht irren. Dadurch wurde schließlich das Gegenteil suggeriert

– Handke täusche sich und ‚die’ Journalisten hätten Recht. Dabei hatte der

Schriftsteller drei Jahre zuvor seine Haltung differenziert und – ebenfalls in

der ‚winterlichen Reise’ – auch den positiven Typus definiert:

„Nichts gegen so manchen – mehr als aufdeckerischen – entdeckerischen

Journalisten, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des

Ortes verwickelt), hoch diese und andere Feldforscher!“150

Was aber hat Peter Handke dazu bewogen, sich solcherart gegen die

‚humanitäre Intervention’ und für Serbien zu verwenden? Neben den bereits

in der ‚Gerechtigkeit-Debatte’ geäußerten Vermutungen, er habe seine

Jugoslawien-Nostalgie auf Serbien übertragen,151

dürften drei Gründe dafür

verantwortlich gewesen sein: Erstens seine Ablehnung, „dass Journalisten

148 Handke, Winterliche Reise, S. 122f. 149 Detlef Kleinert am 13. September 2001 in seinem Antwortbrief auf meine Fragen. Im

Besitz des Verfassers. 150 Handke, Winterliche Reise, S. 122. 151 Vgl. Gritsch, Eine Frage des Blickpunkts?

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meinen, Geschichte schreiben zu dürfen“152

, zweitens die dazu verwendete

Sprache, die „Knüppelwörter“,153

und drittens die Bildkritik:

„Ich spüre manchmal, dass ein neuer Bildersturm an der Zeit wäre. Es geht

nicht so weiter, es ist eine Beleidigung, eine Entseelung, eine

Entleiblichung, was die Bilder mit uns machen.“154

Kaum einmal wurde versucht, Handkes Motivation zu verstehen – Man

zweifelte im Gegenteil seine Glaubwürdigkeit und Integrität an. Frauke

Meyer-Gosau meinte 1999 in der Literaturzeitschrift Text und Kritik gar,

beim Dichter einen Komplex auszumachen. Dieser setze sich zusammen aus

„Relativierungsstrategien, die Manier der Abwehr von Schuld und Mitschuld

und schließlich dann die Zuflucht zu den Kinder-Bildern, die alle

Jugoslawien-Texte von Peter Handke prägen“.155

Hinzu geselle sich noch der

Narzissmus des Schriftstellers, der selbst in Aussagen wie ‚was die Serben

[...] durchmachen, [...] dafür gibt es keine Kategorien [...] das ist eine

Tragödie ohne Grund’ vor allem von ihm selbst spreche – „der für das, was

er ‚durchmacht’, ‚keine Kategorien’ sieht und keinen ‚Grund’ – ‚eine

Tragödie’, wahrhaftig“.156

Wie bereits in ‚Gerechtigkeit für Serbien’ zog sich Handke auch in der

Kosovo-Debatte auf den Standpunkt des Dichters und Sprachkritikers zurück

und unterließ es beispielsweise beim Thema Medien, auf Fakten und

wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu verweisen, die seine Position

unterstützen.157

Ein anderer Kritikpunkt, die mediale Inszenierung realen

152 Martin Meyer/Andreas Breitenstein, Der lange Abschied von Jugoslawien. Peter Handke

über den Untergang des Vielvölkerstaates und seine umstrittene Parteinahme für Serbien, in:

Neue Zürcher Zeitung, 17./18. Juni 2006. 153 Ulrich Greiner, Ich komme aus dem Traum. Ein Zeit-Gespräch mit dem Schriftsteller Peter

Handke über die Lust des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den

Wäldern, in: Die Zeit, 1. Februar 2006. 154 Ebd. 155 Frauke Meyer-Gosau, Kinderland ist abgebrannt. Vom Krieg der Bilder in Peter Handkes

Schriften zum jugoslawischen Krieg, in: Text und Kritik 24 Peter Handke, Juni 1999, S. 3-20,

S. 17. 156 Ebd., S. 18. 157 Dabei war Kritik an stereotypen Mustern und einseitigen Berichten im Jugoslawien-Krieg

für die deutschen Zeitungen Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter

Rundschau und tageszeitung bereits 1994 wissenschaftlich nachgewiesen worden. Vgl.

Gabriele C. H. Vollmer, Polarisierung in der Kriegsberichterstattung. Inhaltsanalytische

Untersuchung bundesdeutscher Tageszeitungen am Beispiel des Jugoslawienkrieges, Univ.-

Diss., Münster 1994, S. 223-226. Kritische Berichte stammten von Journalisten wie den

Amerikaner David Binder und Peter Brock, dem Engländer Misha Glenny, den Deutschen

Thomas Deichmann und Martin Lettmayer oder dem Franzosen Jacques Merlino. Auch

Aussagen internationaler Vermittler widersprachen einer einseitigen Sichtweise, wie jene von

Peter Carrington, Cyrus Vance, David Owen oder der UNO-Generäle Michael Rose und

Lewis MacKenzie. Diese Stimmen stammten aus verschiedenen Lagern und standen keiner

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Leids,158

wurde als ‚Verhöhnung der Opfer’159

ausgelegt, obwohl es dies-

bezüglich in der Medienwissenschaft Bestätigung gibt.160

Die postum

geführte Diskussion über die Rolle der deutschen Massenmedien während

des Krieges zeigte zudem ob ihrer selbstkritischen Töne, dass der

Schriftsteller mit seinem Standpunkt so falsch nicht lag.161

Angesichts des in

den deutschen Printmedien weit verbreiteten pro-interventionistischen

Standpunkts musste Handkes Meinung auf Ablehnung stoßen. Dass der

Dichter dabei auch noch die Moral für seine Argumentation in Anspruch

nahm, enthielt, wie erwähnt, blasphemische Züge, denn die Moral war

innerhalb der Kriegserzählung ausschließlich Interventionisten vorbehalten.

Den Krieg als unmoralisch darzustellen, musste damit zum Ausschluss aus

der Erzählgemeinschaft führen.162

Inhaltlich gibt es ebenfalls Parallelen zu ‚Gerechtigkeit’. Hier wie dort

existieren Fakten, die Handkes Meinung plausibel und nachvollziehbar

erscheinen lassen.163

Durch ihre Weigerung, die Ereignisse auf dem Balkan

von verschiedenen Seiten zu betrachten, bestätigten viele Journalisten das

Handke’sche Vorurteil. Die Einseitigkeit hielt aber auch über den Krieg

hinaus an, womit sich eine neue Parallele offenbart, jene zur veröffentlichten

Kriegspartei nahe. Der deutsche Fernsehjournalist Lettmayer war beispielsweise nicht nach

Bosnien gereist, um die Unschuld der serbischen Seite zu beweisen, sondern die These der

serbischen Vergewaltigungslager zu dokumentieren. Vgl. Martin Lettmayer, Da wurde

einfach geglaubt, ohne nachzufragen, in: Klaus Bittermann (Hg.), Serbien muß sterbien.

Wahrheit und Lüge im jugoslawischen Bürgerkrieg, Berlin 41999, S. 37-50. 158 In ‚Gerechtigkeit’ steht der kritisierte Satz über die mediale Darstellung von Opfern:

„Diese, so war es jedenfalls nicht selten zu sehen, ‚posierten’ zwar nicht, doch waren sie,

durch den Blick- oder Berichtswinkel, deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend,

wurden sie gezeigt in einer Leidenspose.“ Handke, Winterliche Reise, S. 41. 159 So Franz Bogen, österreichischer Botschafter in Sarajevo a.D. Vgl. Carl Gustaf Ströhm,

Wo eine Dichterlesung Politik ist. Österreichs Konservative streiten über Handkes Auftritt im

Parlament, in: Die Welt, 5. Juni 1996. 160 Ignacio Ramonet, der damals in Paris an der Denis-Diderot-Universität Theorie der

audiovisuellen Kommunikation lehrte, konstatierte 1999 bezüglich der opferzentrierten

Krisenberichterstattung: „Frauen, Kinder und Alte werden genüsslich in allen erdenklichen

Posen des Leidens dargestellt“. Ignacio Ramonet, Die Kommunikationsfalle. Macht und

Mythen der Medien, Zürich 1999, S. 125. 161 Vgl. Kurt Gritsch, ‚Die Rolle der Massenmedien in Kosovo-Konflikt und ‚humanitärer

Intervention’’, unveröffentlichtes Manuskript. 162 Georg Seeßlen, Kriegsnovelle oder: Wie eine Erzählgemeinschaft für einen moralischen

Krieg erzeugt wird, in: Klaus Bittermann/Thomas Deichmann, Wie Dr. Joseph Fischer lernte,

die Bombe zu lieben. Die SPD, die Grünen, die Nato und der Krieg auf dem Balkan (Critica

Diabolis 86), Berlin 1999, S.169-184, S. 175. 163 Vgl. Kurt Gritsch, ‚Kosovo im 20. Jahrhundert: Vorgeschichte und die Ereignisse

1998/1999’, unveröffentlichtes Manuskript. Kritisch zum Jugoslawien-Krieg vgl. Klaus

Bittermann (Hg.), Serbien muß sterbien. Wahrheit und Lüge im jugoslawischen Bürgerkrieg,

Berlin 41999.

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Debatte über die Heine-Preis-Verleihung 2006.164

Unter der kollektiven

Ablehnung stechen zwei Zeitungen hervor, die FAZ und der Spiegel.

Angesichts des seit Längerem angespannten Verhältnisses zwischen ihnen

und dem Schriftsteller165

konnte die klare und bisweilen harsche

Zurückweisung nicht überraschen. Während der Spiegel bei einer

durchgehend deutlich negativen Berichterstattung blieb, druckte die FAZ

zumindest Handkes Gegendarstellung zu seinem ‚Verhaspler’ sowie einen

längeren abmildernden Artikel gegen Kriegsende.166

Dessen Verfasser,

Thomas Wirtz, ließ Ende April 2000 noch eine insgesamt wohlwollende

Besprechung der serbischen Reiseberichte folgen, worin er zwischen der

Literatur und den Interviewaussagen differenzierte.167

Von den an Handke herangetragenen Vorwürfen möchte ich nur auf den

meiner Meinung nach zentralen eingehen. Es ist dies die Insinuation, durch

sein Infragestellen der westlichen Kosovo-Berichterstattung „das Niveau

eines Holocaust-Verharmlosers in irgendeiner rechtsradikalen Hetzschrift“168

erreicht zu haben. Dabei ist Handke trotz aller Parteinahme für Serbien kein

Srebrenica-Leugner, und selbst dann wäre er noch nicht automatisch ein

Auschwitz-Leugner oder Shoa-Relativierer. Der Hintergrund ist folgender:

Die Annahme eines Genozids an den bosnischen Muslimen im ‚Bosnien-

Krieg,’ das von der US-amerikanischen PR-Agentur Ruder Finn verbreitete

Synonym ‚Serben = Nazis’ sowie das in Den Haag als Genozid bezeichnete

Massaker von Srebrenica spielen in der Jugoslawien-Debatte vor allem unter

Befürwortern westlicher Interventionspolitik eine zentrale Rolle.

Problematisch ist neben der UN-Definition von Genozid, die auf zahlreiche

Kriegsverbrechen weltweit anwendbar wäre,169

dass die Bezeichnung

‚Völkermord’ gerade im deutschen Sprachraum mit der planmäßigen

Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten assoziiert

wird. Nicht der Vergleich, sondern die suggerierte Gleichsetzung der realen

Völkermorde des Zweiten Weltkriegs oder, in anderer und auch zahlenmäßig

abgeschwächter Form, von Ruanda 1994 mit dem behaupteten Völkermord

164 Vgl. die ablehnende Haltung der FAZ und den positiven Kommentar der Süddeutschen

Zeitung. Spiegel, FAZ, 27. Mai 2006; Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2006. 165 Vgl. beispielsweise Handkes Angriffe auf den ‚großmäulig-ahnungslosen’ Spiegel, dessen

‚frechen Unsinn’ zum Thema Zerfall Jugoslawiens (‚Völkergefängnis Jugoslawien’) der

Autor Anfang der 90er Jahre scharf kritisierte. Die ‚erfahrungslosen Maulhelden’ sowie die

‚Finstermännerriege der deutschen Frankfurter Allgemeinen’ bekamen ebenfalls ihr Fett weg.

Vgl. Wolfgang Reiter, Der Unvernünftige stirbt nicht aus, in: profil, 31. Mai 1999. 166 Wirtz, FAZ, 5. Juni 1999. 167 Thomas Wirtz, Wem die Standuhr schlägt. Die vielen Töne des Peter Handke, in: FAZ, 29.

April 2000. 168 Rauscher, Der Standard, 14. Mai 1999. 169 http://www.un.org/millennium/law/iv-1.htm, update 19. Januar 2008.

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an den bosnischen Muslimen sowie dem Massaker von Srebrenica führte erst

zu jenen fragwürdigen Revisionismus-Unterstellungen, die in der Handke-

Debatte bei Kritikern allgegenwärtig sind. Wer den bosnischen Genozid

leugnet, leugnet Srebrenica, und wer das abstreitet, leugnet also auch den

deutschen Völkermord, lautet die Schlussfolgerung. Dabei hat Peter Handke

wiederholt und mit Ausnahme seiner Interviewaussage über ‚Juden und

Kategorien’, wofür er eine glaubhafte Erklärung präsentierte, auf die Gefahr

der Relativierung der Shoa hingewiesen. Ihm vorzuwerfen, er habe „den

Holocaust relativiert“,170

ist absurd. Des Weiteren hat der Schriftsteller

weder in der ‚winterlichen Reise’ noch im ‚sommerlichen Nachtrag’ noch in

irgendeinem Interview die Massenerschießungen durch bosnisch-serbische

Truppen in Frage gestellt. Srebrenica bleibe „eine ewige Schande“,171

meinte

er 2006. Zutreffend ist hingegen, dass Handke die seiner Meinung nach

übertrieben negativ dargestellte Rolle Serbiens relativiert hat. Und indem er

‚dem großen Leiden Bosniens’ „die serbischen Wehwehchen“172

gegenüber-

stellte, störte er durch Differenzierungen das vielerorts medial erzeugte Bild

des serbischen Bösewichts empfindlich. Durch mikrohistorische Tatsachen

ein makrohistorisches Bild revidieren zu wollen, gehört dabei jedoch in der

Tat zu den Techniken, denen sich auch Holocaust-Leugner bedienen.

Entscheidend bleibt aber, dass Serbien erstens nicht Hitler-Deutschland und

zweitens Handke kein Neonazi ist. Während der Schriftsteller seine mit

Bedacht gewählten Fragen reflektiert und Versöhnung anstrebt, geht es NS-

Revisionisten um Hass, Ausgrenzung und Intoleranz sowie um die

Reinwaschung Deutschlands von seiner historischen Schuld. Wo letztere

Fakten abstreiten, stellt Handkes Relativierung der angeblichen Alleinschuld

Serbiens eine Differenzierung in der Wahrheitssuche dar. Serbische

Verbrechen waren und sind weder qualitativ noch quantitativ mit den

nationalsozialistischen vergleichbar. Vor allem aber sind die Vorfälle

juristisch nicht annähernd so akribisch untersucht worden wie der deutsche

Genozid. Wogegen sich Handke stellt, ist die Vorverurteilung, und dort

leistet sein Werk Wesentliches für den Anspruch auf Gerechtigkeit.

Peter Handke hat sich in seinem Engagement für Jugoslawien und Serbien

dem gängigen Bild entgegen gestellt. Ein durchgehendes, wenngleich nicht

geschlossenes Gegenbild zu kreieren – „Serbien wurde nie erzählt, und ich

habe nur erzählt, was ich in Serbien gesehen habe“173

–, war auch seine

Absicht. Seine Haltung führte zu heftigen Reaktionen, weil er damit gegen

die political correctness verstieß. Das phasenweise wie ein Gegensatzpaar

170 dpa, Rüttgers kritisiert Handke, in: taz, 1. Juni 2006. 171 Meyer/Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 17./18. Juni 2006. 172 Handke, Winterliche Reise, S. 132. 173 Greiner, Die Zeit, 1. Februar 2006.

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anmutende ‚Handke – Journalisten’ entstand auch durch die grundsätzlich

unterschiedliche Herangehensweise an die Thematik. Während Journalisten

von ‚Brennpunkten’174

berichten (müssen), erforschte der Dichter das Dritte,

„dieses Nebendraußen, jenes neben den Brennpunkten des Kriegstheaters

Existierende“.175

Auf der literarischen Ebene eckten seine um Nuancen

bemühten Worte, die er der mehrheitlich stereotypen Sprache vieler

Journalisten gegenüberstellte, schon deshalb an, weil sie zu Relativierungen

führten, wo in den Medien Absolutheit herrschte. Seine der Eindeutigkeit

journalistischer Erzählung entgegengehaltene Mehrdeutigkeit stellte lieb

gewonnene Sicherheiten in Frage und kratzte am Selbstverständnis jener, die

mit Entschlossenheit an einer Politik festhielten, die in Serbien und

Milošević das alleinige Übel erblickte. Des Weiteren provozierte der

Schriftsteller durch seine zugespitzten Interviewaussagen, in denen er sich

bisweilen dem sachlichen Gespräch entzog und stattdessen mit Polemik,

Ironie und Sarkasmus reagierte. Für zusätzliche Aufregung sorgten seine

Handlungen, angefangen bei seinen Reisen nach Serbien über sein Auftreten

als Trauzeuge eines in Deutschland als Kriegsverbrecher verurteilten

Serben176

bis zu seiner Rede beim Begräbnis von Slobodan Milošević im

Mai 2006. Damit und mit manchen polemischen Äußerungen fügte der

Dichter sich und seinem Anliegen letzten Endes mehr Schaden als Nutzen

zu. Trotzdem entband dies niemanden von einer fairen Beurteilung. Handke

hat, was ihm zu Recht angekreidet wurde, in einem Konflikt Gerechtigkeit

postuliert, ohne das politische System zu analysieren und zu beurteilen. Sein

politischer Standpunkt wurde vielleicht auch deshalb, obwohl plausibel, in

der Debatte nicht geteilt. Verteidigt wurde maximal sein Werk, und auch

dies nur manchmal und zaghaft und eher durch Schriftstellerkollegen denn

durch Journalisten. Im Unterschied zu seinen anderen Werken wurden seine

Texte zu Serbien mehrheitlich abgelehnt. Dies hat den Kärntner Autor im

Februar 2006 angesichts der Tatsache, dass viele Buchhandlungen seine

Bücher nicht mehr führten, zur Aussage veranlasst:

174 Ebert, Die poetische Methode und ihre Grenzen, S. 260. 175 Ebd., S. 254. 176 Allerdings wurde der Angeklagte Novislav Djajic 1997 nicht wegen eines Völkermord-

Delikts verurteilt, sondern wegen Beihilfe zum Mord und versuchtem Mord. Von Kritikern

als ‚Bauernopfer’ der deutschen Justiz, „die ein Exempel statuieren zu müssen glaubte“,

bezeichnet, wurde Djajic wegen guter Führung frühzeitig entlassen. Hauptbelastungszeuge

war ein langjähriger Jugendfreund Djajics gewesen, die guten Beziehungen zwischen den

Familien des angeklagten bosnischen Serben und des muslimischen Belastungszeugen

wurden verschwiegen. Es war der erste Fall, in dem jemand von einem deutschen Gericht als

Kriegsverbrecher verurteilt wurde. Vgl. Thomas Deichmann, Hochzeit des Waldläufers. Peter

Handke setzt seine serbische Mission fort – als Trauzeuge des in Deutschland als

Kriegsverbrecher verurteilten Novislav Djajic, in: profil, 30. Oktober 1999.

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„Daran seid auch ihr Kritiker schuld. Auf der einen Seite macht ihr im

Feuilleton, wenn ich jetzt mal im Plural reden darf, einen Text wie den über

meinen Besuch bei Milošević oder über meine Reise zu den Flüchtlingen in

Serbien nieder, noch bevor ihr ihn gelesen habt, ihr blockt ab; und auf der

anderen Seite, wenn Gestern unterwegs erscheint, seid ihr ganz offen und

zeigt euch als feine, aufmerksame, sprachbewusste Leser.“177

Um über Handke in Bezug auf seine pro-serbische Haltung zu einer

fundierten Einschätzung zu gelangen, empfiehlt es sich, seine Reiseberichte

sowie seinen Bericht vom Milošević-Prozess aus Den Haag178

zu lesen. Was

die öffentlichen Äußerungen betrifft, so stehen sich über die Kosovo-Debatte

hinaus exemplarisch das durchgängig ironisch-sarkastisch geführte Interview

im österreichischen Magazin News vom November 2001179

einerseits und

ein über die Thematik Jugoslawien hinausgehendes Zeit-Interview anfangs

2006180

sowie ein sich über fast zwei Seiten erstreckendes Gespräch in der

NZZ vom Juni 2006181

andererseits gegenüber. Zum vertieften Verständnis

empfiehlt sich zudem an dieser Stelle ein Blick zurück in die 1990er Jahre.

Viele der 1999 erhobenen Vorwürfe waren nichts anderes als die

Fortsetzung der Beurteilung von ‚Gerechtigkeit für Serbien’. Schon damals

diskutierte man in den Feuilletons mehr über Handke denn über Serbien

diskutiert, 1999 verhielt es sich ähnlich. Seine Gegner konnten sich erneut

auf der ‚richtigen’ Seite wähnen, weil der Standpunkt des Dichters als

Verstoß gegen die political correctness fast einhellig abgelehnt wurde.

177 Greiner, Die Zeit, 1. Februar 2006. 178 Handke, ‚Und wer nimmt mir mein Vorurteil?’, S. 8-32. 179 Heinz Sichrovsky, In der Fremde. Interview mit Peter Handke, in: News, 46/2001. 180 Greiner, Die Zeit, 1. Februar 2006. 181 Meyer/Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 17./18. Juni 2006.

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Propaganda und der Balkankrieg (konkret texte 12), Hamburg 1997, S. 232-248.

Seeßlen, Georg, Kriegsnovelle oder: Wie eine Erzählgemeinschaft für einen moralischen

Krieg erzeugt wird, in: Klaus Bittermann/Thomas Deichmann, Wie Dr. Joseph

Fischer lernte, die Bombe zu lieben. Die SPD, die Grünen, die Nato und der Krieg

auf dem Balkan (Critica Diabolis 86), Berlin 1999, S.169-184.

Vollmer, Gabriele C. H., Polarisierung in der Kriegsberichterstattung. Inhaltsanalytische

Untersuchung bundesdeutscher Tageszeitungen am Beispiel des

Jugoslawienkrieges, Univ.-Diss., Münster 1994.

Page 27: Peter Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt am Main 2008. · 1 Peter Handke, Die morawische Nacht, Frankfurt am Main 2008. 2 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen

Zum Autor:

Kurt Gritsch, geb. 1976 in Meran (Südtirol/Italien), Studium der Geschichte und

Germanistik in Innsbruck und Rom; Promotion zum Doktor der Neueren Geschichte

in Hildesheim 2009 bei Professor Michael Gehler (Zeitgeschichte) und Professor

Jörg Becker (Politikwissenschaften/Konfliktforschung) mit ‚summa cum laude’.

[email protected]

Wissenschaftliche Publikationen:

- Peter Handke und ‚Gerechtigkeit für Serbien’. Eine Rezeptionsgeschichte,

Innsbruck/München/Wien 2009.

- Peter Handke und der ‚totalitäre Populismus’, in: ide (Zeitschrift für den Deutsch-

unterricht in Wissenschaft und Schule) 04/01, Wien/München 2001, S. 82-89.

- Eine Frage des Blickpunkts? Peter Handkes ‚Gerechtigkeit für Serbien’ in der

Rezeption deutschsprachiger Printmedien, in: zeitgeschichte 01/03, Wien/München

2003, S. 3-18.

- Balkan-Bildern auf der Spur (Rezension des Buches ‚Hotel Jugoslavija’ von

Martin Sexl/Arno Gisinger, Innsbruck/München/Wien 2008), in: Der Standard, 18.

April 2009.

Zeitungsartikel:

- Populismus oder warum Handke ein würdiger Heine-Preisträger ist, in: Tiroler

Tageszeitung, 7. Juni 2006.

- ‚Ruhig, aber instabil’. Kurt Gritsch über seine Reise durch die unter UN-

Verwaltung stehende Krisenprovinz Kosovo, in: Novo 7/8 2007, S. 50.

- „Waren die Medien die Kriegshetzer?“, in: Die Südostschweiz am Sonntag, 22.

März 2009.

- „Albaner-Schutz Nebensache“. Warum NATO Jugoslawien angriff, in: Dolomiten,

24. März 2009.

- „Bomben für den Frieden?“, in: Bündner Tagblatt, 24. März 2009.

- „Südtirol ist nicht Kosova“, in: Dolomiten, 9. Mai 2009.

- Kosovo und Südtirol: Selbstbestimmung durch Autonomie oder

Eigenstaatlichkeit?, in: der vinschger wind 16, 27. August 2009.

in Vorbereitung:

- Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der ‚Kosovo-

Krieg’ 1999, Hildesheim (voraussichtlich 2010).