Peter Rudolf Schutzverantwortung und humanitäre Intervention · Ethik: Ist ein Staat überhaupt...

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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Peter Rudolf Schutzverantwortung und humanitäre Intervention Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes S 3 Februar 2013 Berlin

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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Peter Rudolf

Schutzverantwortung und humanitäre Intervention Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes

S 3 Februar 2013 Berlin

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Inhalt

5 Problemstellung und Schlussfolgerungen

7 Einleitung: Libyen-Krieg und Schutz-verantwortung

11 Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

12 »Schutzverantwortung« als normatives Prinzip 15 Legitimation eines militanten Moralismus

19 Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politi-schen Ethik humanitärer Interventionen

21 Militarisierte kosmopolitische Moral: Prämissen und Probleme

24 Globale Hilfspflicht versus nationale Verant-wortung: Das Dilemma und seine Folgen

25 Töten, um zu retten: Das Legitimationsproblem humanitär begründeter Kriege

28 Folgenverantwortung – eher ignoriert als nüchtern reflektiert

31 Fazit

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Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow der SWP-Forschungsgruppe Amerika

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

Schutzverantwortung und humanitäre Intervention Eine ethische Bewertung der »Responsibility to Protect« im Lichte des Libyen-Einsatzes

Der Nato-Einsatz gegen das Gaddafi-Regime 2011 war der erste Krieg, der politisch weithin mit dem Prinzip der »Schutzverantwortung« (Responsibility to Protect, kurz R2P) gerechtfertigt wurde. Nach diesem Prinzip hat die internationale Staatengemeinschaft zwar nicht rechtlich, jedoch moralisch eine subsidiäre Verantwortung, massenhafte Menschenrechtsverlet-zungen notfalls auch mit militärischer Gewalt zu verhindern, wenn die Regierung des betreffenden Landes ihrer Schutzverantwortung gegenüber den eigenen Bürgern nicht gerecht wird.

Zwar ist die R2P-Diskussion eine Fortsetzung der alten Debatte um die »humanitäre Intervention«, sofern es um den harten Kern der Problematik geht – die Frage eines militärischen Eingreifens. Doch das R2P-Prinzip hat den Diskurs über den humanitär motivierten Einsatz militärischer Gewalt verändert: Im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen ist nicht mehr eine Intervention begründungspflichtig, sondern der Verzicht darauf. Die Berufung auf R2P begünstigt somit tendenziell einen Moralismus, der die Dilemmata humanitär begründeter Kriege eher ignoriert als in ihrer Vielschichtigkeit ethisch reflek-tiert. Notwendig ist indes eine politisch-ethische Be-wertung, die dem komplexen Problem eines men-schenrechtlich begründeten Einsatzes militärischer Gewalt gerecht wird. Dazu soll diese Studie einen Beitrag leisten. Ihre wichtigsten Ergebnisse lassen sich thesenartig zugespitzt so zusammenfassen:

(1) Dem R2P-Prinzip liegt implizit ein kosmopoliti-sches Verständnis moralischer Verpflichtungen zu-grunde. Selbst wenn man die Imperative eines solchen Ansatzes akzeptiert, der weitreichende, universal gel-tende Hilfspflichten behauptet, so bleibt die Frage: Warum wird im öffentlichen Diskurs vielfach die mili-tärische Nothilfe gegenüber anderen Hilfspflichten privilegiert, etwa der Verpflichtung, Krankheiten zu bekämpfen, die Millionen Menschen den Tod bringen? Dieses Problem stellt sich besonders bei einer an Hand-lungsfolgen orientierten Betrachtung: Ist das Ziel die Rettung einer größtmöglichen Zahl von Menschen, dann kann es unter Umständen weit effizienter sein, jene finanziellen Ressourcen, die ein Militäreinsatz verschlingt, anders einzusetzen.

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Problemstellung und Schlussfolgerungen

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(2) Befürworter eines stringenten Interventions-regimes erwarten davon einen Abschreckungseffekt. Längerfristig, so die Annahme, würden auf diese Weise massenhafte Gewalttaten von Regierungen an der eigenen Bevölkerung zurückgehen. Doch lässt sich nicht einschätzen, ob eine konsistente Interventions-praxis auch auf autoritäre Regime, die um ihr Über-leben kämpfen, einen Abschreckungseffekt hätte. Durchaus ist mit einer gewaltsteigernden Wirkung zu rechnen. Denn Aufständische könnten geradezu er-mutigt werden, massenhafte Gewalt durch das Regime zu provozieren, damit so eine internationale Inter-vention herbeigeführt wird.

(3) Die Pflicht, zur Rettung der Bürger anderer Staa-ten notfalls Krieg zu führen, wird meist in Analogie zur individuellen Nothilfe begründet, wozu jeder nach seinen Fähigkeiten und unter Abschätzung der Eigengefährdung verpflichtet ist. Doch das ist die Ebene individueller Moral. Bei humanitären Militär-interventionen geht es dagegen um Fragen politischer Ethik: Ist ein Staat überhaupt berechtigt, seine Solda-ten – Bürger in Uniform – zu verpflichten, für den Schutz »Fremder« zu töten und dabei das Risiko des eigenen Todes einzugehen? Eine globale militärische Hilfspflicht steht in Widerspruch zur Verantwortung gegenüber eigenen Staatsbürgern. Sie widerspricht auch dem »Vertrag«, den Soldaten mit ihrer Gesellschaft eingegangen sind: notfalls ihr Leben für deren grund-legende Interessen zu opfern. Faktisch wird das Risiko eigener Verluste minimiert durch die Art, wie in den Fällen Kosovo und Libyen humanitär begründete Kriege geführt wurden – nämlich allein mit Luftstreit-kräften. Doch Interventionen unter dem Imperativ, eigene Opfer nahezu vollständig auszuschließen, ent-sprechen nicht dem Ziel, eine möglichst große Zahl von Menschen zu retten. Wenn Gräueltaten zügig unterbunden werden sollen, wie sie meist im Kontext von Bürgerkriegen und gewaltsamen politischen Um-brüchen verübt werden, erfordert dies den mit größe-ren Risiken für die eigenen Soldaten verbundenen Einsatz von Bodentruppen.

(4) Wer eine Interventionspflicht behauptet, setzt voraus, es sei moralisch gerechtfertigt, zu töten, um zu retten – und zwar nicht nur direkte Übeltäter zu töten, sondern auch Soldaten, die nicht selbst an Verbrechen beteiligt sind, und Nichtkombattanten, deren Tod als unvermeidlicher »Kollateralschaden« hingenommen wird. Wenn Interventionsbefürworter sich überhaupt der Frage nach der moralischen Legitimität des Tötens stellen, dann rekurrieren sie auf zwei Argumenta-tionsfiguren. Die eine lautet: Wir müssen den Tod Un-

schuldiger in Kauf nehmen, um eine weit größere Zahl Unschuldiger vor dem Tod zu retten. Doch das Argument ignoriert den Unterschied zwischen Scha-denszufügung und Hilfsverzicht. Die andere Argu-mentationsfigur stützt sich auf das klassische Prinzip der »Doppelwirkung«, mit dem sich die Inkaufnahme von nichtbeabsichtigten, aber gleichwohl vorausseh-baren Opfern legitimieren lässt. Demnach ist der Tod Unschuldiger hinnehmbar, wenn er nicht das Mittel zur Erreichung eines guten Zwecks, sondern vielmehr die nichtintendierte Folge einer gerechtfertigten Handlung ist, die insgesamt mehr gute als schlechte Folgen hat. Doch wenn überhaupt, dann lässt sich vom Anspruch einer humanitären Intervention her das Prinzip nur nach dem restriktiven Verständnis der »Doppelintention« rechtfertigen: Die üblen Wirkun-gen müssen unter Inkaufnahme eigener Kosten so-weit wie möglich verringert werden. Das Risiko, dass eigene Soldaten ihr Leben verlieren, um das Leben Unschuldiger nicht zu gefährden, muss akzeptiert werden.

(5) In der Debatte um humanitäre Interventionen werden die Probleme der Umsetzung, der Erfolgsaus-sichten und der absehbaren Gesamtfolgen weithin ausgeblendet. Die Folgenverantwortung bezieht sich nicht nur darauf, ob die eingesetzten Mittel geeignet sind, die erklärten Ziele zu erreichen. So war 1999 im Kosovo die Luftkriegsführung erkennbar nicht in der Lage, die nach Beginn des Krieges einsetzenden Morde und Massenvertreibungen zu verhindern. Die Folgen-verantwortung erstreckt sich auch auf die absehbaren Gesamtfolgen einer Intervention, die gewöhnlich eine Parteinahme in einem bürgerkriegsartigen Konflikt bedeutet. Das gilt ganz besonders, wenn im Zuge einer humanitären Intervention ein Regimesturz betrieben wird. Denn danach ist mit langfristiger gewalthaltiger Instabilität zu rechnen. Mit dem Postulat einer Ver-antwortung für den »Wiederaufbau« kommt im R2P-Diskurs zwar ein wichtiger Aspekt der Folgenverant-wortung in den Blick. Doch seit sich Ernüchterung eingestellt hat, was das damit verbundene Konzept des »liberal peace building« angeht, ist die Scheu vor langfristigen Verwicklungen politisch nur allzu ver-ständlich.

(6) Die analysierten Probleme und Dilemmata sind so gravierend, dass die Folgerung nur lauten kann: Menschenrechtlich begründete Kriege lassen sich allein in Extremsituationen rechtfertigen. Es sprechen nicht nur pragmatische, sondern eben auch morali-sche Gründe dafür, die Schwelle für eine mit dem R2P-Prinzip begründete Intervention sehr hoch zu legen.

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Einleitung: Libyen-Krieg und Schutzverantwortung

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Einleitung: Libyen-Krieg und Schutzverantwortung

Der Nato-geführte Militäreinsatz in Libyen 2011 war die erste klassische »humanitäre Intervention« nach dem Kosovo-Krieg 1999 – also ein gewaltsames Ein-greifen in einem Staat mit dem erklärten Ziel, massen-hafte Menschenrechtsverletzungen zu beenden, die von staatlichen Akteuren verübt werden.1 Der Libyen-Einsatz war zugleich die erste Intervention dieser Art nach Herausbildung des Prinzips der »Schutzverant-wortung« im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Resolution 1973 des VN-Sicherheitsrates, die das Ein-greifen im März 2011 autorisierte, wird mitunter als Meilenstein auf dem Weg zur Durchsetzung der »Responsibility to Protect« (R2P) gepriesen.2

1 Unter einer »humanitären Intervention« wird gemeinhin Folgendes verstanden: Die militärische Intervention eines oder mehrerer Staaten in einem Land ohne Zustimmung von dessen Regierung bzw. gegen ihren Widerstand – und zwar mit dem erklärten Ziel, massiven Menschenrechtsverletzun-gen Einhalt zu gebieten. Zu dieser Definition siehe etwa Stefan Oeter, »Humanitäre Intervention und Gewaltverbot: Wie handlungsfähig ist die Staatengemeinschaft?«, in: Hauke Brunkhorst (Hg.), Einmischung erwünscht? Menschenrechte in einer Welt der Bürgerkriege, Frankfurt a.M. 1998, S. 37–60 (37). Der tradierte Begriff »humanitäre Intervention« wird im Folgen-den verwendet, auch wenn er sprachlich problematisch ist. Er suggeriert schließlich, eine bestimmte Kategorie militäri-scher Interventionen sei moralisch eo ipso legitim und von politisch motivierten Gewalteinsätzen zu unterscheiden. Manche Autoren sprechen auch von »humanitären Kriegen«, um deutlich zu machen, dass es hier um den organisierten Einsatz militärischer Gewalt geht. Zur Problematik siehe etwa Beate Jahn, »Humanitarian Intervention – What’s in a Name?«, in: International Politics, 49 (2012) 1, S. 36–58; Eric A. Heinze, Waging Humanitarian War: The Ethics, Law, and Politics of Humanitarian Intervention, Albany: State University of New York Press, 2009.

Es fällt jedoch doch auf, dass in der Resolution keineswegs explizit die Verantwortung der internationalen Ge-meinschaft benannt wurde. Der Bezug auf R2P be-schränkte sich auf die Verantwortung der libyschen Regierung zum Schutz der eigenen Bevölkerung. Auch die US-Administration vermied es in offiziellen Begründungen, sich ausdrücklich auf R2P zu berufen. Stattdessen verwies sie auf Werte und Sicherheits-

2 So Catherine Powell, »Libya: A Multilateral Constitutional Moment?«, in: The American Journal of International Law, 106 (April 2012), S. 298–316.

interessen, die ein Handeln erforderlich machten.3 Offensichtlich sollte alles vermieden werden, was Libyen zu einem klaren völkerrechtlichen Präzedenz-fall hätte machen können.4

In der politischen Diskussion bildet R2P jedoch allerorten den Rahmen, um das militärische Eingrei-fen zu legitimieren.

5 Befürworter der Intervention be-grüßen die Durchsetzung der Schutzverantwortung in Libyen und werten das Ergebnis als Erfolg.6

3 Letter from the President Regarding the Commencement of Opera-tions in Libya to the Speaker of the House of Representatives and the President Pro Tempore of the Senate, 21.3.2011; Harold Hongju Koh, Legal Adviser U.S. State Department, Statement Regarding the Use of Force in Libya, American Society of International Law Meeting, Washington, D.C., 26.3.2011.

Kritiker

4 So war Präsident Obama bemüht, die Einzigartigkeit des Falls hervorzuheben, bei dem es möglich sei, Gewalttaten schrecklichen Ausmaßes zu verhindern – legitimiert von der VN, im Rahmen einer breiten Koalition, die eine Lasten-teilung ermögliche, und ohne den Einsatz amerikanischer Bodentruppen. Remarks by the President in Address to the Nation on Libya, National Defense University, 28.3.2011, <www.white house.gov/the-press-office/2011/03/28/remarks-president-address-nation-libya>. 5 Das dürfte auch für die Beratungen der US-Administration gegolten haben. Soweit bekannt, waren es die Befürworter menschenrechtlich begründeter Militäreinsätze in der Regie-rung, die bei Libyen die Notwendigkeit eines Eingreifens und zugleich die Chance sahen, das Konzept »humanitärer Inter-vention« wiederzubeleben. Bei dem konkreten Anlass konn-ten sie in den USA und im Ausland auf breite Unterstützung hoffen. Der Hass auf Gaddafi in der arabischen Welt, die Sor-ge vor regionaler Instabilität, die Unterstützung des »Arabi-schen Frühlings«, das Interesse an einem gesicherten Ölfluss – all diese Faktoren bildeten den Resonanzboden für eine Mission, die der »Responsibility to Protect« und der Verpflich-tung zur humanitären Intervention Geltung verschaffen sollte. Dass über das tatsächliche Ausmaß an Gräueltaten in Libyen wenig Verlässliches bekannt war, spielte keine Rolle. Entscheidend war die Erwartung von Massakern. Siehe Massimo Calabresi, »Why the U.S. Went to War: Inside the White House Debate on Libya«, in: Time, 20.3.2011. 6 So etwa bei Volker Lehmann/Robert Schütte, Die Zukunft der »Responsibility to Protect« nach dem Fall Gaddafis, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung 2011; Stewart Patrick, »Libya and the Future of Humanitarian Intervention«, in: Foreign Affairs (online), 26.8.2011, <www.foreignaffairs.com/articles/68233/stewart-patrick/libya-and-the-future-of-humanitarian-intervention>; Ramesh Thakur, »Realigned Values Help Global Order Evolve«, in: The Japan Times, 10.4.2011.

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Einleitung: Libyen-Krieg und Schutzverantwortung

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dagegen verweisen darauf, wie schwammig diese Norm bleibe und wie sehr sie der politischen Instru-mentalisierung ausgesetzt sei.7 Sehr weit interpretiert wurde im Falle Libyens das Mandat des Sicherheits-rates. Dieses sah eigentlich nur vor, eine Flugverbots-zone einzurichten sowie Zivilisten und von ihnen bewohnte Gebiete zu schützen, die von Angriffen be-droht waren.8 Die USA, Frankreich und Großbritan-nien verstanden Resolution 1973 allerdings im Sinne eines stillschweigenden Mandats zum Regimesturz.9 Allein eine militärische Besetzung des Landes war aus-geschlossen; aber eine solche war ohnehin nicht ge-dacht – hätte man dann doch politische und recht-liche Verantwortlichkeiten übernehmen müssen. In der Endversion der Resolution war zwar die Möglich-keit einer politischen Lösung enthalten, aufbauend auf einem Waffenstillstand. Doch als Gaddafi einen Tag nach Verabschiedung des Dokuments zum Waf-fenstillstand bereit schien, lehnte die Rebellenführung Verhandlungen ab. Und die maßgeblichen Interven-tionsmächte zeigten kein Interesse, eine solche Mög-lichkeit auszuschöpfen. Gefordert wurde der Rückzug der Regierungstruppen aus Bengasi und einigen ande-ren Städten. Auch Vermittlungsversuche der Türkei und später der Afrikanischen Union brachten keine Ergebnisse. Der politische Zweck der Intervention war Gaddafis Sturz – nichts weniger.10

Rechtlich mag strittig bleiben, ob die Interventions-politik der Nato von Resolution 1973 abgedeckt war.

11

7 So etwa Damir Marusic, »Against Humanitarian Inter-vention«, The American Interest (online), 23.3.2011, <www.the-american-interest.com/article.cfm?piece=1145>.

8 Kritisch dazu etwa August Pradetto, »Der andere Preis der Freiheit«, in: Internationale Politik, 66 (2011) 4, S. 53–59; Janet Kursawe, »Pflicht zum Krieg? Der Libyenkonflikt als Testfall für die internationale Interventionspolitik«, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, (2011) 4, S. 573–583. 9 Öffentlich rechtfertigte US-Präsident Obama die Inter-vention als begrenzt und humanitär ausgerichtet. »Regime change« war offiziell nicht Teil der militärischen Mission, sondern sollte mit nichtmilitärischen Mitteln erreicht wer-den, siehe Remarks by the President [wie Fn. 4]. Doch Obama hatte längst deutlich gemacht, welches politische Ziel ver-folgt wurde, als er davon sprach, Gaddafi müsse gehen. Siehe Helene Cooper/David E. Sanger, »Target in Libya Is Clear; Intent Is Not«, in: The New York Times, 20.3.2011; siehe auch Barack Obama/David Cameron/Nicolas Sarkozy, »Libya’s Pathway to Peace«, in: The New York Times, 14.4.2011. 10 Siehe Hugh Roberts, »Who Said Gaddafi Had to Go?«, in: London Review of Books, 33 (2011) 22, S. 8–18. 11 Kritisch dazu Reinhard Merkel, »Die Intervention der Nato in Libyen. Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Über-legungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel«, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 10 (2011), S. 771–783.

Die Argumentationsfigur, die zugunsten der Legalität des Gaddafi-Sturzes vorgebracht werden kann, lautet wie folgt: Regimewechsel war zwar nach Resolution 1973 vielleicht kein legitimes Ziel, wohl aber ein legi-times Mittel, um das Ziel des Schutzes der Bevölke-rung zu erreichen. Dass sich die Absichten der inter-venierenden Staaten auf den Sturz Gaddafis richteten, sei völkerrechtlich nicht bedeutsam, da Intentionen bei der Beurteilung der Legalität einer Handlung keine Rolle spielten.12

Politisch dürfte die Libyen-Intervention der interna-tionalen Durchsetzung des Schutzverantwortungs-prinzips eher geschadet als genützt haben.

13 Eine ge-wisse Ernüchterung über die interventionslegitimie-rende Funktion von R2P ist deutlich zu erkennen. Ihren Ausdruck findet sie auf diplomatischer Ebene in dem von Brasilien propagierten Konzept der »responsibility while protecting«.14

Doch im Folgenden geht es nicht um die Debatte, wie R2P im Lichte der Libyen-Erfahrung ausgestaltet und weiterentwickelt werden sollte – in diesem Zu-sammenhang wird etwa diskutiert, wie sich die Rechenschaftspflicht intervenierender Staaten gegen-über dem Sicherheitsrat gewährleisten lässt und wel-che Rolle regionalen Sicherheitsorganisationen zu-kommen soll.

Die damit verbundenen Vorstellungen mögen unspezifisch sein. Dennoch ist das Konzept als Mahnung zu verstehen, militärische Gewalt nur als letztes Mittel einzusetzen, nach einer sorgfältigen Abschätzung der Folgen und gemäß Wortlaut und Geist des autorisierenden VN-Mandats – und eine Intervention nicht über den Schutz von Zivilisten hinaus zum Regimesturz zu missbrauchen.

15

12 So Mehrdad Payandeh, »The United Nations, Military Intervention, and Regime Change in Libya«, in: Virginia Journal of International Law, 52 (2012) 2, S. 355–403.

In der vorliegenden Studie geht es

13 »As a result, everywhere outside Western Europe und North America, R2P is losing what little ethical credibility it ever commanded.« David Rieff, »R2P, R.I.P.«, in: International Herald Tribune, 7.11.2011. Kritisch auch Jordan Street, »R2P: Alive and Well or the Road to Hell?«, in: e-ir.info, 22.6.2012. Zu der im Fall Libyens aufgeworfenen Problematik, wie ein Sicherheitsratsmandat interpretiert wird, und der Verbin-dung von humanitärer Intervention mit Regimesturz siehe auch Alex J. Bellamy/Paul D. Williams, »The New Politics of Protection? Cote d’Ivoire, Libya and the Responsibility to Protect«, in: International Affairs, 87 (2011) 4, S. 825–850 (847f). 14 Letter Dated 9 November 2011 from the Permanent Representative of Brazil to the United Nations Addressed to the Secetary-General, 11.11.2011, A/66/551-S/2011/701. 15 Zu dieser Diskussion siehe Lars Brozus, Improving Mass Atrocities Prevention: Guidelines for Effective and Legitimate Imple-

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vielmehr um eine grundsätzliche ethische Bewertung des Prinzips der Schutzverantwortung und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für menschenrecht-lich begründete Militärinterventionen. R2P legitimiert nämlich – so die Kernthese der Studie – einen frag-würdigen militanten Moralismus, der die moralischen Probleme eines humanitär begründeten Gewalteinsat-zes eher ignoriert als in ihrer Vielschichtigkeit prin-zipien- und folgenorientiert reflektiert. Im Wesent-lichen sind dies zwei Typen moralischer Probleme: zum einen das epistemische Problem, in einem be-stimmten Konfliktfall die empirischen Fakten verläss-lich einzuschätzen und die voraussehbaren Folgen bestimmter Handlungsoptionen zu bewerten; zum anderen das normative Problem, zwischen konkurrie-renden Werten oder kollidierenden Prinzipien ent-scheiden zu müssen.16

Befürworter eines humanitären Eingreifens argu-mentieren oft moralisch. Doch dies ist eine Argumen-tation, die die Realität solcher Interventionen aus-blendet. Es handelt sich dabei ja nicht um individuelle Nothilfe oder eine Polizeiaktion, durch die ganz kon-kret Übeltäter von ihrem Tun abgehalten würden. Es geht im Kern vielmehr um eine organisierte militäri-sche Gewaltanwendung. Auf operativer Ebene kann dies unterschiedliche Formen annehmen. Denkbar ist erstens, durch großflächigen Einsatz von Bodentrup-pen Kontrolle über möglichst viel Territorium zu er-langen und so Sicherheit zu gewährleisten (»satura-tion«). Zweitens gibt es den »oil spot«-Ansatz, der auf Sicherung ausgewählter Gebiete zielt, von wo aus dann die militärische Kontrolle auf weitere Regionen ausgedehnt wird. Ein dritter Ansatz ist die Errichtung von Pufferzonen zwischen den Konfliktparteien, ein vierter die Schaffung »gesicherter Gebiete« innerhalb

mentation of the Responsibility to Protect, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2012 (SWP Comments 38/2012); Matthias Dembinski/Densua Mumford, Die Schutzverantwortung nach Libyen. Ohne Einbeziehung der regionalen Sicherheitsorganisationen wird diese wichtige Norm scheitern, Frankfurt a.M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktfor-schung (HSFK), 2012 (HSFK Standpunkte 4/2012); Jennifer Welsh, »The Responsibility to Protect: Dilemmas of a New Norm«, in: Current History, 111 (2012) 748, S. 291–298. 16 Zu den unterschiedlichen Arten moralischer Probleme siehe Kurt Bayertz, »Praktische Philosophie als angewandte Ethik«, in: ders. (Hg.), Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 7–47 (27–38). Bayertz nennt außerdem noch einen dritten Typus, den »Kon-flikt zwischen dem moralisch Gebotenen auf der einen und den außermoralischen Handlungsantrieben auf der anderen Seite« (27).

von Regionen, in denen sich die gefährdete Bevölke-rung konzentriert; ein weiterer der Einsatz von See- und Luftstreitkräften, unter anderem zur Durch-setzung von Flugverbotszonen (»containment«); ein letzter schließlich die militärische Niederschlagung der die Verbrechen begehenden Kräfte.17

Wie auch immer ein humanitär begründeter Einsatz aussehen mag, als eine Form militärischer Gewaltanwendung ist er im Hinblick auf Ziele und Mitteleinsatz moralisch rechtfertigungspflichtig. Das gilt zumindest dann, wenn man die Legitimations-kriterien anlegt, wie sie in der Tradition des »bellum iustum« – des »Gerechten Krieges« – zu finden sind und auf die in der Debatte um humanitäre Interven-tionen auch immer wieder rekurriert wird. R2P stellt die »alte« humanitäre Intervention zwar in einen neuen Rahmen; doch dies ändert nichts an den damit verbundenen substantiellen Problemen und Dilem-mata, die seit langem diskutiert werden.

18

Nicht alle diese Fragen können und müssen in der vorliegenden Studie behandelt werden. Unberücksich-tigt bleibt etwa die – nach dem Kosovo-Krieg intensiv geführte – Debatte um die rechtliche Legalität und moralische Legitimität unilateraler oder multilatera-ler humanitärer Interventionen ohne VN-Sicherheits-ratsmandat. Auch auf die Diskussion um die Selektivi-tät humanitärer Interventionen und ihre Verbindung

17 Die militärischen Ansätze, die für die vorliegende Analyse nicht weiter zu diskutieren sind, werden ausführlich unter-sucht in: Mass Atrocity Response Operations (MARO): A Military Planning Handbook, A Collaborative Effort between the Carr Center for Human Rights Policy, Harvard Kennedy School and the US Army Peacekeeping and Stability Operations Institute, 2010, S. 65–81. 18 Als Überblick zur Problematik humanitärer Interventio-nen siehe etwa Thomas G. Weiss, Humanitarian Intervention: Ideas in Action, Cambridge 2007; Herfried Münkler/Karsten Malowitz (Hg.), Humanitäre Intervention: Ein Instrument außen-politischer Konfliktbearbeitung. Grundlagen und Diskussion, Wies-baden 2008; als Überblick zur ethischen Debatte siehe Amanda Porter, The Ethics of Humanitarian Intervention, Ph.D. Thesis, The University of Western Ontario, Canada 2010; Georg Meggle (Hg.), Humanitäre Interventionsethik. Was lehrt uns der Kosovo-Krieg?, Paderborn 2004; siehe auch John Janzekovic, The Use of Force in Humanitarian Intervention: Morality and Practi-calities, Aldershot 2006; zur Debatte im Lichte des Kosovo-Krieges siehe Gerhard Beestermöller (Hg.), Die humanitäre Inter-vention – Imperativ der Menschenrechtsidee? Rechtsethische Reflexio-nen am Beispiel des Kosovo-Krieges, Stuttgart 2003; Wilfried Hinsch/Dieter Janssen, Menschenrechte militärisch schützen. Ein Plädoyer für humanitäre Interventionen, München 2006; zu den ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln der huma-nitären Intervention siehe Gary J. Bass, Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008.

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mit anderen Zielen als dem Schutz von Menschen muss für die Zwecke dieser Arbeit nicht eingegangen werden.

Die Studie gliedert sich in zwei große Teile. Im ersten Teil wird gezeigt, wie R2P die Diskussion um menschenrechtlich begründete Militärinterventionen verändert hat und zur Legitimation eines militanten Moralismus wurde, wie er in der Libyen-Debatte deut-lich zu vernehmen war. Vor dem Hintergrund dieser Tendenz zur Moralisierung folgt im zweiten Teil eine mehrschichtige ethische Bewertung der moralischen Probleme und Dilemmata, die menschenrechtlich motivierten Militäreinsätzen innewohnen. Abschlie-ßend werden einige Folgerungen im Hinblick auf die Frage gezogen, unter welchen Bedingungen humani-tär begründete Militärinterventionen moralisch legi-tim sind.

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Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

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Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

Das Prinzip der Schutzverantwortung hat den nor-mativen Rahmen für die Debatte über humanitär be-gründete Militärinterventionen verändert. Lange war der wissenschaftliche und politische Diskurs von der Frage nach einem Interventionsrecht beherrscht: Wann ist es gerechtfertigt, zur Verhinderung massiver Men-schenrechtsverletzungen in einem Land gegen den Widerstand der dortigen Regierung militärisch ein-zugreifen? Unter welchen Bedingungen ist es also er-laubt, die Wahrung der Menschenrechte über die Respektierung staatlicher Souveränität zu stellen?19 Nach der Erfahrung mit Ruanda 1994, als eine Inter-vention trotz Genozids unterblieb, rückte die Frage nach der moralischen Interventionspflicht stärker in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei wird – so scheint es – implizit angenommen, dass in jenen Fällen, in denen ein Recht der internationalen Ge-meinschaft auf Intervention begründbar ist, auch eine Pflicht dazu besteht. Das heißt: Wenn Menschen-rechtsverletzungen so massiv sind, dass die Kriterien für eine gerechtfertigte Intervention erfüllt sind, dann sind auch die Voraussetzungen gegeben, die eine Ver-pflichtung zum Eingreifen begründen.20

Im Rahmen des »neuen«, vom Prinzip der Schutz-verantwortung geprägten Diskurses ist eine Interven-tion gegen einen souveränen Staat, dessen Regierung grundlegende Menschenrechte massiv verletzt, nicht mehr ein begründungspflichtiger Ausnahmefall. Viel-mehr gilt externes Eingreifen als eine moralische Pflicht.

21

19 Zum »alten« Diskurs siehe Peter Rudolf, Menschenrechte und Souveränität: Zur normativen Problematik »humanitärer Inter-vention«, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2001 (SWP-Studie 40/2001).

Im neuen Diskurs scheint der traditionelle

20 Zur Unterscheidung zwischen Interventionsrecht und Interventionspflicht und zur Verschiebung des Diskurses siehe Kok-Chor Tan, »The Duty to Protect«, in: Terry Nardin/ Melissa S. Williams (Hg.), Humanitarian Intervention, New York/ London: New York University Press, 2005, S. 84–116. 21 »In contrast to the way in which debates about ›humani-tarian intervention‹ tended to be framed in the 1990s, the extraterritorial protection of populations is posited not merely as a discretionary right but as positive duty borne by all states.« Luke Glanville, »The Responsibility to Protect Beyond Borders«, in: Human Rights Law Review, 12 (2012) 1, S. 1–32 (4).

politisch-ethische Kern des Souveränitätsprinzips, wie ihn die VN-Charta mit den Begriffen der »politischen Unabhängigkeit« und der »territorialen Unversehrt-heit« festgeschrieben hat, fast in Vergessenheit gera-ten zu sein: zum einen die Bewahrung zwischenstaat-lichen Friedens und staatlicher Autonomie, zum ande-ren die Sicherung der Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften und der in ihnen lebenden Indivi-duen.22 Die Intervention, nicht ihre Unterlassung war demnach begründungspflichtig – als exzeptionelles Vorgehen in extremen Fällen. Dies korrespondierte mit dem Ansatz der »bellum iustum«-Tradition, nach dem die Anwendung militärischer Gewalt immer eine rechtfertigungspflichtige Ausnahme ist.23 Insofern R2P dagegen eine »Pflicht zum Krieg« postuliert,24 stehen die beiden Prinzipien Schutzverantwortung und Friedensverantwortung in einem Spannungs-verhältnis zueinander.25 Denn akzeptiert man die subsidiäre Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, so wird es begründungspflichtig, sich einem daraus erwachsenden Handlungspostulat im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen zu ent-ziehen. Damit jedoch wird die Schwelle zum Krieg tendenziell gesenkt.26

22 Siehe Stanley Hoffmann, »Sovereignty and the Ethics of Intervention«, in: ders., The Ethics and Politics of Humanitarian Intervention, Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1996, S. 12–37 (12ff).

23 Zur Diskussion im Rahmen des Just-War-Ansatzes siehe etwa C.A.J. Coady, The Ethics of Armed Humanitarian Intervention, Washington. D.C.: United States Institute of Peace, Juli 2002. 24 So der treffende Titel des Aufsatzes von Kursawe, »Pflicht zum Krieg?« [wie Fn. 8]. 25 Dazu Lothar Brock/Nicole Deitelhoff, »Schutzverantwor-tung und Friedenspflicht«, in: Blätter für deutsche und inter-nationale Politik, 7 (2012), S. 79–88. 26 So wird nicht ohne Grund moniert, R2P habe zu einem »neuen Militarismus« beigetragen. Mary Ellen O’Connell, »Responsibility to Peace: A Critique of R2P«, in: Journal of Intervention and Statebuilding, 4 (2010) 1, S. 39–52 (48). Auch erschienen in: Philip Cunliffe (Hg.), Critical Perspectives on the Responsibility to Protect: Interrogating Theory and Practice, London/ New York 2011, S. 71–83.

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Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

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»Schutzverantwortung« als normatives Prinzip

Selten hat ein Begriff so schnell Eingang in das politi-sche, ethische und völkerrechtliche Vokabular gefun-den wie jener der »Schutzverantwortung«. Wahlweise ist dabei von einem Konzept, einem Prinzip, einer Norm oder einer Doktrin die Rede – schon diese schil-lernde Konnotation verweist auf unterschiedliche Deutungen. Die den Begriff ursprünglich propagie-rende International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) verstand R2P als Prinzip, Regierungen sprechen meist von einem Konzept, und in der akademischen Literatur wird R2P oft als eine (entstehende) Norm bezeichnet.27 Zu unterscheiden ist zwischen der breiten Konzeption von R2P, die der ICISS-Bericht aus dem Jahr 2001 (»R2P 2001«) vorstellt, und der engen, wie sie das Abschlussdokument des VN-Weltgipfels von 2005 enthält (»R2P 2005«).28

Als die ICISS ihre Arbeit 2001 aufnahm, stand da-hinter die Absicht, der Debatte um die humanitäre Intervention nach den Erfahrungen in Ruanda und auf dem Balkan einen neuen diskursiven Rahmen zu geben.

29 Mit der Einrichtung dieser Kommission hatte die kanadische Regierung das Anliegen des damaligen VN-Generalsekretärs Kofi Annan aufgegriffen, einen Konsens in der Frage menschenrechtlich begründeter Militärinterventionen zu schaffen. Der Begriff »huma-nitäre Intervention« wurde bewusst nicht mehr be-nutzt. Stattdessen verwendet der Kommissionsbericht die Begriffe »Intervention« und »militärische Interven-tion«. Damit wurden die Vorbehalte berücksichtigt, die humanitäre Organisationen der ursprünglichen Bezeichnung entgegenbrachten – einer Etikettierung militärischer Gewalt, in der bereits eine positive Kon-notation mitschwingt.30

27 Siehe Alex J. Bellamy, Responsibility to Protect: The Global Effort to End Mass Atrocities, Cambridge 2009, S. 4–7; zur Ent-wicklung der R2P detailliert Gareth Evans, The Responsibility to Protect: Ending Mass Atrocity Crimes Once and For All, Washing-ton, D.C.: Brookings Institution Press, 2008; siehe auch Alex J. Bellamy, »The Responsibility to Protect – Five Years On«, in: Ethics and International Affairs, 24 (2010) 2, S. 143–169; Cristina Gabriela Badescu, Humanitarian Intervention and the Responsibili-ty to Protect: Security and Human Rights, London/New York 2011.

Inhaltlich machte sich die

28 Siehe dazu im Detail Hugh Breakey, The Responsibility to Protect and the Protection of Civilians in Armed Conflicts: Review and Analysis, Institute for Ethics, Governance and Law, Griffith University, Mai 2011, S. 31–37. 29 Siehe Bellamy, Responsibility to Protect [wie Fn. 27], S. 41f. 30 Gareth Evans, einer der Hauptverfechter von R2P, beharrt darauf, dass es zwischen R2P und humanitärer Intervention

Kommission eine Neuinterpretation des Souveränitäts-begriffs zu eigen – Souveränität nicht mehr als Kon-trolle, sondern als Verantwortlichkeit. Die Schutz-verantwortung teilt sich zwar in drei Dimensionen auf: Prävention, Reaktion und Wiederaufbau. Im Mittelpunkt des Berichts steht jedoch der harte Kern der militärischen Interventionsproblematik. In extre-men Fällen ist – so lautet die These – ein militärisches Eingreifen gefordert, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung nicht gerecht werden. Zum einen gilt dies dann, wenn ein Verlust an Men-schenleben in großem Ausmaß (»large scale«) zu be-klagen ist oder droht, ob durch staatliches Handeln oder staatliches Schutzversagen; zum anderen in Fällen »ethnischer Säuberungen« großen Ausmaßes. In beiden Fällen ist eine Intervention nach Meinung der Kommission gerechtfertigt.31

Die Schutzverantwortung in dem Sinne, wie sie unter dem Dach der VN Zustimmung erfahren hat, ist in einigen Punkten enger gefasst. Das Abschluss-dokument des VN-Gipfeltreffens 2005 spricht von der Verantwortung, Bevölkerungen vor Genozid, Kriegs-verbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. R2P 2005 ent-hält somit eine Liste spezifischer Fälle von Verbrechen. Der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch die VN, fällt eine subsidiäre Rolle zu, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung offenkundig nicht nachkommen. Dies umfasst im konkreten Ein-zelfall auch den Einsatz von Zwangsmitteln nach Kapitel 7 der VN-Charta, falls sich friedliche Mittel als unangemessen erweisen.

32 Bei R2P 2005 ist, wenn es um Zwangsmittel geht, allerdings nicht von »Ver-antwortung« die Rede, sondern von »Bereitschaft«. Von einer Interventionspflicht wird nicht gesprochen.33

klare Unterschiede gebe. Er beklagt zugleich, auch Befür-worter von R2P würden weiterhin den Begriff humanitäre Intervention verwenden und so zur Konfusion beitragen. Gareth Evans, R2P and RWP After Libya and Syria, 23.12.2012, <www.gevans.org/speeches/speech476.html>.

R2P 2005 enthält des Weiteren keinen ausdrücklichen Verweis auf das dritte Element von R2P 2001: die Ver-antwortung für den Wiederaufbau. Auch benennt dieses Dokument keine Kriterien für eine legitime

31 International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa: International Development Research Centre, Dezember 2001. 32 United Nations General Assembly, 2005 World Summit Outcome, 15.9.2005, A/60/L.1, S. 31. 33 Siehe Diana Amneus, »Responsibility to Protect: Emerg-ing Rules on Humanitarian Intervention«, in: Global Society, 26 (April 2012) 2, S. 241–276 (246ff).

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»Schutzverantwortung« als normatives Prinzip

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Intervention, wie sie bei R2P 2001 zu finden sind: gerechtfertigter Grund, rechte Absicht, Ultima Ratio, Proportionalität und vernünftige Erfolgsaussichten. All diese 2001 genannten Merkmale entstammen der »bellum iustum«-Tradition, an die während der 1990er Jahre in der Debatte um die »humanitäre Interven-tion« angeknüpft wurde.34 R2P 2001 wollte mit den Kriterien einen Orientierungsrahmen schaffen, an dem das Handeln von Staaten und VN gemessen wer-den könnte. Offenkundig möchten sich Staaten jedoch durch keinerlei Interventionskriterien in ihrem Ent-scheidungsspielraum einengen lassen.35 So machten die USA unter Präsident George W. Bush sehr deutlich, dass mit dem Abschlussdokument von 2005 keine ge-setzliche Verpflichtung geschaffen werde. Bei der Ver-antwortung der internationalen Gemeinschaft handle es sich um eine moralische, keine rechtliche.36

Gelegentlich ist davon die Rede, das Abschluss-dokument sei als »soft law« zu verstehen. Damit ist eine Art nichtbindendes Recht gemeint, dessen Aus-legung politisch umstritten bleibt, das aber auf eine mögliche Weiterentwicklung des Völkerrechts ver-weist und unter Umständen die Interpretation be-stehenden Rechts beeinflusst.

37 Nach einhelligem Verständnis ist das Prinzip der Schutzverantwortung, genauer die militärische Interventionskomponente, jedoch noch keine völkerrechtlich verpflichtende Norm.38

34 Siehe etwa Mona Fixdal/Dan Smith, »Humanitarian Inter-vention and Just War«, in: Mershon International Studies Review, 42 (November 1998), S. 283–312.

Sicherlich genießt das Schutzverantwortungs-prinzip eine recht breite internationale Zustimmung. In wesentlichen Punkten spiegelt es Verpflichtungen im menschenrechtlichen Bereich wider. Und Men-schenrechte sind schon lange keine rein innerstaat-liche Angelegenheit mehr, wie dies vor 1945 mit Aus-nahme der Minderheitenregelungen in den Zwischen-kriegsjahren der Fall war. Das klassische Souveräni-

35 Bemängelt wird dies etwa von David Fisher, Morality and War: Can War be Just in the Twenty-first Century?, Oxford: Oxford University Press, 2011, S. 233. 36 Siehe Theresa Reinold, »The United States and the Respon-sibility to Protect: Impediment, Bystander, or Norm Leader?«, in: Global Responsibility to Protect, 3 (2011), S. 61–87 (68f). 37 So Jennifer M. Welsh/Maria Banda, »International Law and the Responsibility to Protect: Clarifying or Expanding States’ Responsibilities?«, in: Global Responsibility to Protect, 2 (2010), S. 213–231 (230). 38 Zur breiteren Diskussion der Frage, in welchem Maße R2P als akzeptierte Norm gesehen werden kann, siehe Noha Shawki, »Responsibility to Protect: The Evolution of an Inter-national Norm«, in: Global Responsibility to Protect, 3 (2011), S. 172–196.

tätsprinzip wird eingeschränkt durch Menschen-rechtsregime und -konventionen, die sich zusammen mit völkerrechtlichen Normen für Kriegsverbrechen als Element eines »kosmopolitischen Rechts« verstehen lassen. Staaten mögen die darin eingegangenen Ver-pflichtungen nur unzureichend einhalten; dennoch haben die Menschenrechtsnormen das Verständnis legitimer staatlicher Gewalt verändert – und damit das Verständnis von Souveränität. Gewisse menschen-rechtliche Grundnormen – Recht auf Leben, Verbot von Folter und Sklaverei, Verbot der Diskriminierung – gehören völkerrechtlich zum Ius cogens, zum zwin-genden Recht, das keine Abweichungen erlaubt. Sie sind zugleich Erga-omnes-Verpflichtungen, Pflichten also, deren Einhaltung nicht nur einem bestimmten anderen Rechtssubjekt geschuldet ist, sondern der gesamten Staatengemeinschaft und anderen Völker-rechtssubjekten. Daraus ergibt sich ein Eingriffsrecht bei Verletzung fundamentaler Menschenrechte. Selbst solchen Staaten, die keine menschenrechtlichen Ver-pflichtungen vertraglich anerkannt haben, ist es in solchen Fällen nicht möglich, unter Verweis auf ihre Souveränität eine »domaine réservée« zu beanspru-chen.39

Der eigentlich innovative Kern des Schutzverant-wortungsprinzips, die Interventionspflicht, ist keine bindende Rechtsnorm. Dafür mangelt es dem Prinzip an wesentlichen Voraussetzungen, darunter insbe-sondere Allgemeingültigkeit, Klarheit, Konsistenz – und vor allem auch an einer entsprechenden Rechts-praxis.

Zum Ius cogens gehört allerdings auch das Ge-waltverbot, von dem natürlich die individuelle und kollektive Verteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta ausgenommen ist. Aufgrund des Gewaltverbots ist eine militärische Intervention nur dann unzweideutig erlaubt, wenn der Sicherheitsrat eine Bedrohung des internationalen Friedens konstatiert und Zwangs-maßnahmen nach Kapitel 7 autorisiert. Vor Libyen war dies etwa bei den Interventionen in Somalia, Haiti und Bosnien der Fall.

40

39 Siehe Matthias Pape, Humanitäre Intervention. Zur Bedeutung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1997, S. 64–67; Juliane Kokott, »Der Schutz der Menschenrechte im Völkerrecht«, in: Hauke Brunkhorst u.a. (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt a.M. 1999, S. 176–198 (182f).

Staaten wollen sich nicht rechtlich zu einer

40 So Jutta Brunnée/Stephen J. Toope, »The Responsibility to Protect and the Use of Force: Building Legality?«, in: Global Responsibility to Protect, 2 (2010), S. 191–212; siehe insbeson-dere auch Christian Schaller, Die völkerrechtliche Dimension der »Responsibility to Protect«, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2008 (SWP-Aktuell 56/2008).

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Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

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Intervention verpflichten lassen. Insofern ist R2P in der Frage der Intervention eine Art Neuauflage der vagen Schutzverpflichtung, wie sie schon vor mehr als 60 Jahren in die Völkermordkonvention aufgenom-men wurde.41 Völkerrechtlich hat R2P keine signifi-kanten Folgen, es bleibt vor allem ein politisch-mora-lisches Konzept.42 Im Kern geht es dabei um einen Be-wusstseinswandel, um die Schaffung »einer reflex-haften internationalen Reaktion, dass massenhafte Verbrechen, die stattfinden oder bevorstehen, alle und nicht niemanden etwas angehen«.43

Im R2P-Diskurs hat die alte Idee der humanitären Intervention ihre neue Ausprägung gewonnen.

44 Doch umfasst die Schutzverantwortung weit mehr; denn die militärische Intervention ist nur ein Element der – um den gegenwärtigen VN-Jargon zu benutzen – dritten Säule von R2P, der zeitnahen und entschlossenen Reaktion (»timely and decisive response«).45 Insofern haben die Verfechter des R2P-Prinzips recht, wenn sie gegenüber Kritikern darauf verweisen, es gehe nicht nur um militärische Interventionen.46 Was unter Prä-vention und Wiederaufbau diskutiert wird, fasst im Wesentlichen zusammen, womit die VN und andere Organisationen bereits in den 1990er Jahren intensiv beschäftigt waren und weiterhin beschäftigt sind. Insofern trifft die Einschätzung zu, R2P sei in vielem »alter Wein in neuen Schläuchen«.47

41 So Theresa Reinold, »The Responsibility to Protect – Much Ado about Nothing?«, in: Review of International Studies, 36 (2010), S. 55–78.

Doch der »neue

42 So Mehrdad Payandeh, »With Great Power Comes Great Responsibility? The Concept of the Responsibility To Protect Within the Process of International Lawmaking«, in: The Yale Journal of International Law, 35 (2010), S. 469–516. 43 »The whole point of the R2P doctrine is simply to generate a reflex international response that occurring or imminent mass atrocities are everybody’s business, not nobody’s.« Gareth Evans, »In Defense of ›R2P‹«, in: The New York Times, 11.3.2012. 44 R2P ist zu Recht als die »current incarnation« der Idee einer humanitären Intervention bezeichnet worden: Michael W. Doyle, »International Ethics and the Responsibility to Protect«, in: International Studies Review, 13 (2011) S. 72–84 (73). 45 Als erste Säule wird die Schutzverantwortung des Staates bezeichnet, als zweite die internationale Unterstützung und das »capacity building«. Siehe Implementing the Responsibility to Protect, Report of the Secretary-General, 12.1.2009, United Nations General Assembly A/63/677. 46 So Roland Paris, »R2P Is Not a License for Military Reck-lessness«, Canadian International Council (online), 12.3.2012, <www.opencanada.org/features/r2p-is-not-a-license-for-military-recklessness/>. 47 So etwa Alan J. Kuperman, »R2P: Catchy Name for a Fading Norm«, in: Ethnopolitics, 10 (2011) 1, S. 125–128.

Schlauch« der Moralisierung hat deutliche Auswir-kungen auf den internationalen Diskurs, die nicht zu unterschätzen sind. R2P hat die Parameter der internationalen Debatte verändert.48

Vielfach besteht mittlerweile die Tendenz, R2P vor allem im Sinne der Prävention massenhafter Ver-brechen zu verstehen und das kontroverse Element militärischer Intervention am liebsten auszublen-den.

49 Denn wer könnte, wer wollte die Sinnhaftig-keit von Prävention bestreiten?50 Nur: Wie lassen sich massenhafte Verbrechen an der Zivilbevölkerung tat-sächlich verhindern? Zunächst wäre anhand aussage-kräftiger Indikatoren verlässlich festzustellen, in welchen Ländern das Risiko solcher Verbrechen be-sonders hoch ist. Dann müsste international ein Kon-sens geschaffen werden, dass die auf dieser Grundlage identifizierten Länder besondere Aufmerksamkeit verdienen. Und schließlich müsste eine Palette wirk-samer, zielgerecht zugeschnittener Instrumente ver-fügbar und frühzeitig einsetzbar sein. Diese dreistufi-ge Aufgabe erfordert im Grunde das ganze Spektrum an interventionistischen Maßnahmen, wie man sie seit langem unter Schlagwörtern wie Krisenpräven-tion, Friedenseinsätze und Förderung von »good governance« diskutiert. Einen abgegrenzten Politik-bereich »Verhinderung von Massenverbrechen« gibt es nicht.51 Es kann deshalb nur darum gehen, die existierenden Ansätze zur Verhinderung bewaffneter Konflikte durch eine neue »Linse« zu beurteilen und entsprechend zu justieren – nämlich fokussiert auf die Abwehr von Massenverbrechen.52

48 Wie Befürworter zu Recht konstatieren: »R2P has suc-ceeded in changing the terms of international debate about mass atrocities from questions about whether external actors should be engaged to how they should be engaged.« Paul D. Williams/Alex J. Bellamy, »Principles, Politics, and Prudence: Libya, the Responsibility to Protect, and the Use of Military Force«, in: Global Governance, 18 (2012), S. 273–297 (287).

49 In Europa scheint dies der vorherrschende Trend zu sein. Siehe dazu Matthias Dembinski/Theresa Reinold, Libya and the Future of Responsibility to Protect – African and European Perspec-tives, Frankfurt a.M.: Peace Research Institute Frankfurt 2011. 50 Zu den damit verbundenen Problemen und Herausforderungen siehe I. William Zartman, Preventing Identity Conflicts Leading to Genocide and Mass Killings, New York: International Peace Institute, November 2010. 51 Zu diesen Voraussetzungen und Problemen siehe David Chandler, »The Paradox of the ›Resposibility to Protect‹«, in: Cooperation and Conflict, 45 (2010) 1, S. 128–134 (131). 52 Zu dieser »atrocity prevention lens« siehe Alex J. Bellamy, Mass Atrocities and Armed Conflict: Links, Distinctions, and Impli-cations for the Responsibility to Protect, Muscatine: The Stanley Foundation, Februar 2011 (Policy Analysis Brief), S. 8.

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Legitimation eines militanten Moralismus

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Genozide53 und Politizide – also die gezielte Tötung ethnisch, religiös oder politisch definierter Bevölke-rungsgruppen, sei es durch staatliche oder nichtstaat-liche Gewaltakteure – fanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zeiten von innerstaatlichen Kriegen und gewaltsamen politischen Umbrüchen statt.54 Soll die massenhafte Tötung von Zivilisten ver-hindert werden, dann gilt es vor allem, den Ausbruch von Bürgerkriegen zu unterbinden. Denn Massaker an Zivilisten sind sehr oft ein Element der Aufstands-bekämpfung, wenn ein Staat sich einer starken Gue-rillabewegung gegenübersieht, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen unterstützt wird. Kann die Re-gierung die Guerillabewegung nicht direkt besiegen, richtet sich die Gewalt dann besonders gegen die be-treffenden Teile der Zivilbevölkerung.55

Letztlich läuft die Debatte um die Schutzverantwor-tung fast immer auf die Frage der militärischen Inter-vention hinaus. Dies dürfte auch damit zusammen-hängen, dass es wenig verlässliches Wissen darüber gibt, wie sich massenhafte Gräueltaten frühzeitig ver-hindern lassen.

56

53 Ein Genozid im Sinne der Völkermordkonvention von 1948 liegt dann vor, wenn vorsätzlich Handlungen mit der Absicht unternommen werden, eine ethnische, nationale, rassische oder religiöse Gruppe als solche in Gänze oder teil-weise zu zerstören. Diese Definition, die das Ergebnis eines Kompromisses war, erfasst nicht explizit die Zerstörung politisch definierter Gruppen, wie etwa die Ermordung der Kulaken in der Sowjetunion. Zur Problematik siehe Alain Destexhe, Rwanda and Genocide in the Twentieth Century, New York: New York University Press, 1995.

Und wie gerade im Lichte der Erfah-rung mit Libyen zu betonen ist: Ebenso wenig weiß man darüber, wie sich das Risiko einer solchen Ent-wicklung überhaupt prospektiv einschätzen lässt. Libyen befand sich nämlich auf keiner der einschlä-

54 »All episodes of genocide and political mass murder of the last half-century have been carried out by elites or rival authorities in the context of internal war and regime insta-bility. The motive common to such elites is the destruction, in whole or part, of collectivities that challenge their claim to authority or stand in the way of an ideology-driven desire to create a society purified of undesirable classes or communal groups.« Barbara Harff, »No Lessons Learned from the Holo-caust? Assessing Risks of Genocide and Political Mass Murder since 1955«, in: American Political Science Review, 97 (2003) 1, S. 57–73 (70). 55 Siehe Benjamin Valentino/Paul Huth/Dylan Balch-Lindsay, »›Draining the Sea‹: Mass Killing and Guerilla Warfare«, in: International Organization, 58 (2004) S. 375–407. 56 Siehe Jennifer M. Welsh/Serena K. Sharma, Operationalizing the Responsibility to Prevent, Oxford: Oxford Institute for Ethics, Law and Armed Conflict, 2012.

gigen Frühwarnlisten, die einige Nichtregierungs-organisationen unterhalten.57

Legitimation eines militanten Moralismus

Scheitern Prävention und Diplomatie, dann wird, wie die Fälle Libyen und Syrien zeigen, R2P zum Argu-ment all jener, die nach einer Intervention rufen. In der deutschen Debatte behaupteten Befürworter der Nato-geführten Libyen-Mission, externes Eingreifen zur Verhinderung massiver Gräueltaten sei eine mora-lische Pflicht gewesen, der sich die Bundesrepublik entzogen habe.58 Gegenwärtig wird R2P immer wieder im Sinne eines moralischen Imperativs interpretiert, der die Welt zum Handeln zwinge, wenn eine Situa-tion wie derzeit in Syrien herrsche.59

Militäreinsätze mit dem Ziel, massenhafte Men-schenrechtsverletzungen zu unterbinden, werden zum moralischen Gebot erhoben.

60 Im Moraldiskurs der westlichen Öffentlichkeit scheinen solche Inter-ventionen inzwischen eine privilegierte Position zu genießen. Das Konzept der Schutzverantwortung weckt gleichsam automatisch Zustimmung.61

57 Darauf verweist Alex J. Bellamy, »Libya and the Responsi-bility to Protect: The Exception and the Norm«, in: Ethics and International Affairs, 25 (2011) 3, S. 263–269 (266).

58 Im Falle Libyens, so argumentierte etwa Harald Müller unter Verweis auf die Schutzverantwortung, habe es eine Pflicht zur Intervention gegeben: »Aber man muss intervenie-ren, wenn man soll, darf und kann. Man soll, wenn ein großes Übel verhindert werden muss. Man darf, wenn die erforderli-che Legalität und Legitimität gewährleist ist. Man kann, wenn Optionen vorhanden sind, die Erfolg in Aussicht stellen und vermutlich weniger Übel anrichten, als sie verhindern. In diesem Fall sollte, durfte und konnte man. Also musste man auch.« Harald Müller, Ein Desaster: Deutschland und der Fall Libyen, Frankfurt a.M.: Hessische Stiftung Friedens- und Kon-fliktforschung (HSFK), 2011 (HSFK Standpunkte 2/2011), S. 1; siehe auch ders., »Vereinte Nationen rufen, Deutschland hört weg. Die Zurückhaltung Berlins im Fall Libyen ist moralisch und politisch nicht zu rechtfertigen«, in: Süddeutsche Zeitung, 29.4.2011, S. 2. 59 So deutlich bei James P. Rudolph, »›Responsibility to Protect‹: The Moral Imperative to Intervene in Syria«, in: The Christian Science Monitor, 8.3.2012. 60 Zu dieser Einschätzung siehe etwa Tahira Mohamad Abbas, »The Shifting Discourse of the ›Responsibility to Protect‹«, in: e-ir.info, 23.8.2012. 61 Siehe die anfänglich unkritisch positive Resonanz bei den großen Kirchen, dazu Esther D. Reed, »Responsibility to Protect and Militarized Humanitarian Intervention: When and Why the Churches Failed to Discern Moral Hazard«, in: Journal of Religious Ethics, 40 (2012) 2, S. 308–334.

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Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

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Schließlich erscheint die Pflicht, Menschen zu schüt-zen, unmittelbar plausibel. Dabei ist es im Grunde bei jedem bürgerkriegsähnlichen Konflikt möglich, sich auf die Schutzverantwortung zu berufen, will man die Forderung nach militärischer Intervention legitimie-ren. Denn im Rahmen von R2P gibt es keine klaren Schwellenkriterien. Dass R2P 2005, wie erwähnt, vier Tatbestände nennt, ist in dieser Hinsicht keine wirk-liche präzisierende Eingrenzung gegenüber R2P 2001.62

Den Kritikern einer Intervention wird die Moralität abgesprochen; ihnen mangele es – so heißt es dann – an Mitgefühl für die absehbaren Opfer einer humani-tären Katastrophe. Wer sich dem Ruf nach Interven-tion verweigert, wer zweifelt und zögert, der entlarvt sich als Zyniker, ja als Komplize des Verbrechens.

63

Deutlich zeigte sich dies im Zuge des Libyen-Kon-flikts. Unbestreitbar ist, dass Gaddafis Kräfte brutal gegen die Aufstandsbewegung vorgingen. Doch Berich-te über Luftangriffe gegen unbewaffnete Zivilisten er-wiesen sich später als falsch. Ins Reich von Phantasie und Hysterie gehörten offenbar auch die weitverbrei-teten Berichte über Massenvergewaltigungen durch Gaddafis Soldaten, an die angeblich Viagra ausgeteilt worden war.

Da niemand vorherzusagen vermag, wie hoch die Opfer-zahlen sein könnten, ist die Tür weit offen für medial manipulierte Größenordnungen aller Art.

64 Wie ein Report von Amnesty Interna-tional später feststellte, gab es weder für Massenver-gewaltigungen noch für Luftangriffe gegen Demons-tranten hinreichende Belege.65

62 Darauf verweist zu Recht Robert A. Pape, »When Duty Calls: A Pragmatic Standard of Humanitarian Intervention«, in: International Security, 37 (2012) 1, S. 41–80 (51). Das gilt auch für den gerade im amerikanischen Diskurs verbreite-ten Begriff »atrocity crime«, der versucht, die in R2P 2005 genannten Tatbestände auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es bedürfte eines Kriteriums, um zu bestimmen, ab welcher Größenordnung ein solches Verbrechen eine mili-tärische Reaktion rechtfertigt. Zum Konzept des »atrocity crime« und dem notwendigen »substantiality test« siehe David Scheffer, »Atrocity Crimes Framing the Responsibility to Protect«, in: Richard J. Cooper/Juliette Voïnov Kohler (Hg.), Responsibility to Protect: The Global Moral Compact for the 21st Century, Houndsmills 2009, S. 77–98.

Das Bild, das die inter-

63 So im Falle der Libyen-Intervention der Tenor von Ber-nard-Henri Lévy, »Answers to Three Questions about Libya«, in: The Huffington Post, 28.3.2011. 64 Siehe Maximilian C. Forte, »The Top Ten Myths in the War against Libya«, in: Counterpunch, 31.8.2011. 65 Siehe Patrick Cockburn, »Amnesty Questions Claim that Gaddafi Ordered Rape as Weapon of War«, in: The Independent, 24.6.2011.

nationale Medienberichterstattung gezeichnet hatte, war in manchem falsch und einseitig – auch deshalb, weil es den Eindruck einer ausschließlich friedlichen Protestbewegung vermittelte, die den Massakern des Regimes ausgesetzt sei.66

Vielfach war von einem drohenden Genozid die Rede. Bewusst schürten Vertreter der Aufständischen die Sorge, es könnte zu einem solchen Verbrechen kommen, sollten Truppen des Regimes die Hafenstadt Bengasi im Nordosten des Landes einnehmen. Gad-dafis Drohung, »keine Gnade« walten zu lassen, schien die Erwartungen zu bestätigen – auch wenn diese Worte gegen jene Aufständischen gerichtet waren, die sich weigerten, ihre Waffen niederzulegen. In den Fällen, in denen Regierungstruppen bereits Städte zurückerobert hatten, ließ sich – trotz aller Brutalität – keine Politik der gezielten Tötung von Zivilisten oder gar genozidale Gewalt erkennen. Doch Gaddafi wurde fast alles zugetraut, und die Rhetorik des Diktators verstärkte diesen Eindruck noch. So überrascht es nicht, dass immense Zahlen von Menschen genannt wurden, deren Tötung die Intervention verhindert habe.

67 Dabei fehlte eine verlässliche Grundlage, um Mutmaßungen über zu erwartende Opfer in der Zivil-bevölkerung anzustellen.68 Ohnehin wurde in der ganzen Diskussion um die Notwendigkeit eines Ein-greifens nicht unterschieden zwischen bewaffneten Aufständischen und Zivilisten, die keine Kombattan-ten sind.69

Befürworter der Intervention argumentierten, angesichts dessen, was Gaddafi bislang schon getan und weiter angekündigt habe, sei die unmittelbare Gefahr von Massenverbrechen nicht zu bestreiten ge-

66 Der Nachrichtensender Al Jazeera meldete am 21. Februar 2011, friedliche Demonstranten seien aus der Luft massa-kriert worden. Der Bericht, der sich später als falsch heraus-stellte, verhalf der Forderung nach einer Flugverbotszone zu breiter Zustimmung. Siehe Roberts, »Who Said Gaddafi Had to Go?« [wie Fn. 10]. 67 Dennis Ross, damals im Weißen Haus für den Nahen und Mittleren Osten zuständig, soll angeblich von 100 000 Menschen gesprochen haben, die möglicherweise vor einem Massaker bewahrt worden seien. Siehe Steve Chapman, »Obama’s ›Bloodbath‹: Can We Believe the Hype?« in: Real Clear Politics, 3.4.2011; Alan J. Kuperman, »5 Things the U.S. Should Consider in Libya«, in: USA Today, 22.3.2011; Alan J. Kuper-man, »False Pretense for War in Libya?«, in: Boston Globe, 14.4.2011. 68 Siehe Ross Douthat, »100,000 Libyan Casualties?«, in: The New York Times, 24.3.2011. 69 Siehe Thom Shanker/Charlie Savage, »Nato Warns Rebels Against Attacking Civilians«, in: The New York Times, 31.3.2011.

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Legitimation eines militanten Moralismus

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wesen.70 Auch wenn es keine absolute Sicherheit, son-dern nur eine begründete Wahrscheinlichkeit gebe, dass eine humanitäre Katastrophe bevorstehe, sei eine frühzeitige Militärintervention zu präventiven Zwecken geboten.71 Was jedoch unterblieb, war eine Gesamtabschätzung der Folgen im Falle einer Inter-vention und im Falle anderer Optionen, die sich nicht auf Nichtstun hätten beschränken müssen. Eine sol-che Prognose – so lässt sich wiederum argumentieren – ist allzu sehr mit Ungewissheiten behaftet; entschei-dend ist das Handeln zur Abwehr bevorstehender Gräueltaten, die als sicher gelten.72 Kritiker der Inter-vention sehen sich daher immer dem Argument aus-gesetzt, viel Schlimmeres sei verhindert worden, auch wenn das militärische Eingreifen beträchtliche Opfer und unerwünschte Wirkungen mit sich gebracht habe. Doch was wirklich geschehen wäre und was tat-sächlich verhindert wurde, lässt sich nicht sagen. Viel-leicht hätten es die meisten Aufständischen geschafft, aus Bengasi zu fliehen, wären sie entsprechend unter-stützt worden. Zu einem gewaltigen Massenmord wäre es dann nicht gekommen, wohl aber zu einer brutalen Unterdrückung der Aufstandsbewegung.73 Doch hätte dies mehr Opfer gefordert als ein sich län-ger hinziehender Bürgerkrieg?74

70 So Bellamy, »Libya and the Responsibility to Protect« [wie Fn.

Niemand vermag eine solche Frage zu beantworten. Wie die Debatte im

57], S. 265. 71 Es handelte sich um eine präventive Intervention nach dem Prinzip, das ein Vertreter von Human Rights Watch so umschrieb: »It is better to act sooner when there is good rea-son to believe that extremely grave and widespread human rights abuses are likely to unfold.« Tom Malinowski, Washing-ton Director, Human Rights Watch, Stellungnahme vor dem Senate Foreign Relations Committee, 6.4.2011. 72 Zu dieser Problematik siehe kritisch »Taking Humani-tarian Justification Seriously«, in: The Economist, 23.5.2011; Paul R. Pillar, »The Morality Trap«, in: The National Interest, 11.5.2011; Glenn Greenwald, »The Manipulative Pro-War Argument in Libya«, in: Salon, 22.3.2011. 73 Das war die Einschätzung von Michael Walzer. Er sah in dem Libyen-Einsatz keine humanitäre Intervention, um ein Massaker zu stoppen; ein extremer Fall wie in Ruanda oder in Darfur habe nicht vorgelegen. Bei der Auseinandersetzung um eine mögliche Intervention ging es aus seiner Sicht dar-um, ob man einen Aufstand, der zu scheitern drohte, unter-stützen sollte oder nicht. Für Walzer hat die jeweilige Bevöl-kerung selbst die Aufgabe zu leisten, einen Tyrannen zu stür-zen und eine Demokratie aufzubauen. Von außen solle sie dabei nur mit nichtmilitärischen Mitteln unterstützt werden. Siehe Michael Walzer, »The Wrong Intervention«, in: Dissent, 21.3.2011. 74 Siehe Stephen Kinzer, »Libya is Not ›Another Rwanda‹«, in: Boston Globe, 1.4.2011.

Falle Libyens deutlich macht, argumentieren sowohl Befürworter als auch Kritiker präventiver Interventio-nen mit prospektiven Einschätzungen – mit Zukunfts-aussagen, denen unterschiedliche Annahmen und kontrafaktische Argumente zugrunde liegen.75

Sicher ist nur: Die Berufung auf eine moralische Pflicht, die aus der Schutzverantwortung abgeleitet wird, begünstigt und stärkt einen moralisierenden Interventionismus. Dieser blendet die komplexen Probleme eines militärischen Eingreifens eher aus, als dass er sie nüchtern reflektiert.

76 Einem solchen moralisierenden Interventionismus erscheint alles machbar, solange sich nur frühzeitig der politische Wille zum militärischen Handeln mobilisieren lässt. Es ist ein Moralismus, der stark von der Erfahrung geprägt wird, dass die »internationale Gemeinschaft« beim Völkermord in Ruanda 1994 versagt hat. Sicher hätte eine militärische Intervention damals viele Menschenleben retten können, doch bei genauerer Betrachtung der logistischen Herausforderungen keineswegs so viele, wie das oft in Geringschätzung militärischer Probleme vermutet wird.77 Es ist ein Moralismus, der mitunter die ethische Relevanz einer Folgenabschätzung schlicht verneint, wenn er die Pflicht zur Verhinderung von Gräueltaten postuliert.78

75 Grundsätzlich zu dieser epistemischen Problematik siehe Olaf L. Müller, »Chaos, Krieg und Kontrafakten. Ein erkennt-nistheoretischer Versuch gegen die humanitären Kriege«, in: Barbara Bleisch/Jean Daniel Strub (Hg.), Pazifismus. Ideen-geschichte, Theorie und Praxis, Bern/Stuttgart/Wien 2006, S. 223–263.

76 Zu den Vertretern einer solchen Position, der sich auf die Schutzverantwortung bezieht, gehört Bernard-Henri Lévy. Zum Fall Syrien siehe sein Plädoyer »Die Sache ist gerecht«, in: Die Zeit, 16.8.2012. Darin propagiert Lévy, in Syrien »no-flight zones«, »no-drive zones« und »no-kill zones« einzurich-ten. Was dies militärisch konkret bedeuten würde, wie viele Opfer ein Luftkrieg fordern könnte, der nötig wäre, um sol-che Zonen durchzusetzen, und wie sich nach einem Erfolg der Aufständischen massive Vergeltung verhindern ließe – solche Fragen bleiben bei Lévy unbeantwortet oder werden heruntergespielt. 77 Siehe Stephen Wertheim, »A Solution from Hell: the United States and the Rise of Humanitarian Interventionism, 1991–2003«, in: Journal of Genocide Research, 12 (2010) 3–4, S. 149–172 (166f). 78 So schrieb ein Autor im Zuge der Libyen-Debatte: »Einer-seits ist es im Falle Libyens schlicht unmöglich vorherzu-sagen, ob das internationale Eingreifen langfristig mehr Leben kostet, als es kurzfristig rettet. Andererseits kann ein Eingreifen unter Umständen selbst dann gerechtfertigt sein, wenn durch die Folgen mehr Menschen sterben als durch die Intervention gerettet werden.« Robert Schütte, »›Just War or just War?‹ Die Lehren der Libyenintervention und ihre Kon-

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Schutzverantwortung und die Moralisierung militärischer Interventionen

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Ein Moralismus, der wenig darüber reflektiert, was nach einer Intervention kommt, wie die politischen und ethnischen Konflikte dauerhaft lösbar oder zumindest einzudämmen sind, wie sich ein Land be-frieden und stabilisieren lässt. Die von der Erfahrung des Völkermords in Ruanda geprägte Sicht – hier die Bösen, da die Guten, hier die grausamen Täter, da die unschuldigen Opfer – wird der Komplexität mancher Konfliktlagen nicht gerecht und kann unter Umstän-den die Chance verbauen, die jeweilige Konfrontation politisch zu überwinden.79

Bei einer solchen Position – die hier gewiss ideal-typisch skizziert wird – handelt es sich um Moralisie-ren und nicht um moralische Politik.

80 Staaten kön-nen sich sehr wohl aus moralischen Gründen der angeblichen Pflicht zur militärischen Intervention entziehen. Das Moralverständnis, das R2P zugrunde liegt, kann keinen Monopolanspruch auf ethisch be-gründetes Handeln erheben.81 Denn die Probleme, die mit einer humanitär ausgerichteten Militärinterven-tion einhergehen, sind so groß, dass im Einzelfall eine Vielzahl normativer Erwägungen zu berücksichtigen und abzuwägen ist, gerade auch mit Blick auf Erfolgs-aussichten.82 Was die Frage der militärischen Inter-vention angeht, bedarf das Prinzip der Schutzverant-wortung einer tieferen verantwortungsethischen Reflexion.83

sequenzen für die Schutzverantwortung«, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, (2011) 4, S. 715–733 (723).

Dazu soll im Folgenden ein Beitrag ge-leistet werden.

79 Siehe Philip Cunliffe, »Dangerous Duties: Power, Pater-nalism and the ›Responsibility to Protect‹«, in: Review of Inter-national Studies, 36 (2010), S. 79–96 (94); Alex de Waal, »How to End Mass Atrocities«, in: The New York Times, 9.3.2012. 80 Dies wurde zu Recht als »moralism of unbalanced focus« beschrieben. Ignoriert oder heruntergespielt würden dabei »the horrors that even well-motivated war usually involves. In just war terminology, the militant humanitarians focus obsessively upon the just cause, and ignore the weighty moral considerations encapsulated in the conditions of prospect of success, last resort, and proportionality.« C.A.J. Coady, Messy Morality: The Challenge of Politics, Oxford 2008, S. 34. 81 Darauf verweist Aidan Hehir, The Responsibility to Protect: Rhetoric, Reality and the Future of Humanitarian Intervention, Houndsmills 2012, S. 137f. 82 Siehe Christine Chwaszcza, Moral Responsibility and Global Justice: A Human Rights Approach, Baden-Baden 2007, S. 129–139 (133). 83 In der Diskussion der R2P-Community geht es meist um eher praktische Fragen. Symptomatisch für das Fehlen einer grundsätzlichen Reflexion sind die Beiträge in W. Andy Knight/Frazer Egerton (Hg.), The Routledge Handbook of the Re-sponsibility to Protect, London/New York 2012.

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Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politischen Ethik humanitärer Interventionen

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Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politischen Ethik humanitärer Interventionen

Im R2P-Diskurs spielt der Begriff »Verantwortung« eine zentrale Rolle im Sinne eines moralischen Postulats; doch eine präzise Bestimmung des Terminus unter-bleibt gewöhnlich.84 Verantwortung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Leitbegriff ethischer Dis-kussionen geworden. In seiner »retrospektiven« Bedeu-tung – als Rechenschaftsverantwortung – verweist er auf das, was traditionell eher unter dem Begriff der Schuld abgehandelt wurde; in seiner »prospektiven« Bedeutung auf das, was herkömmlich unter den Be-griff der Pflicht fiel. Zu den in ethischen Diskussionen schwierigsten Fragen gehört die nach Reichweite und Grenzen der Verantwortung: Wie ist Verantwortung mit Blick auf die von unserem Handeln Betroffenen abzustufen? Ist zu unterscheiden zwischen der Verant-wortung für beabsichtigte und jener für nur in Kauf genommene, aber doch voraussehbare Handlungs-folgen? Wann und wie muss man differenzieren zwi-schen der Verantwortung für die Folgen eigenen Tuns und den Folgen von Unterlassungen?85

Doch wer hat überhaupt eine solche Verantwor-tung, wenn es darum geht, massiven Gräueltaten jen-seits der eigenen Grenzen Einhalt zu gebieten? Meist ist schwammig von der »internationalen Gemein-schaft« die Rede.

86 Sind keine konkreten Adressaten der Verpflichtung benennbar, so bleibt die Pflicht eine »unvollkommene«, wie es in Anlehnung an die Kant’sche Begrifflichkeit oft heißt.87

84 Zu Recht wurde »Verantwortung« als einer der »most slippery and confusing terms in the lexicon of moral and political philosophy« bezeichnet. So David Miller, National Responsibility and Global Justice, Oxford: Oxford University Press, 2007, S. 82.

Aber wie lassen

85 Zu diesen Unterscheidungen und zur Begrifflichkeit siehe Micha H. Werner, »Verantwortung«, in: Marcus Düwell/ Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, S. 541–548. 86 Doch diese ist, wie zu Recht bemerkt wurde, »a political, economic, cultural, and religious mosaic«. Und dies bedeute: »fellow feeling and shared obligation are feeble at best ...« Rajan Menon, »Pious World, Puny Deeds: The ›International Community‹ and Mass Atrocities«, in: Ethics and International Affairs, 23 (2009) 3, S. 235–245 (237). 87 Ob die Unterscheidung zwischen einer »unvollkomme-nen« und einer »vollkommenen« Pflicht, wie sie in der De-batte um die humanitäre Intervention zu finden ist, dem Ver-ständnis bei Kant immer entspricht, muss hier nicht disku-

sich konkrete Adressaten einer Interventionspflicht näher bestimmen? In der Diskussion werden zwei Möglichkeiten angeführt. Demnach betrifft das Hand-lungspostulat zum einen Staaten, die sich durch eine besondere – politisch, historisch, geographisch oder kulturell bestimmte – Beziehung zu jenem Staat aus-zeichnen, in dem eine Intervention geboten ist. Zum anderen sind solche Staaten angesprochen, die über die militärischen Fähigkeiten zum Eingreifen verfü-gen. Die Begründung dafür erfolgt analog zu den be-sonderen Pflichten, die Personen mit einer besonderen Nähe zu einem Rettungsbedürftigen haben bzw. den besonderen Fähigkeiten, die eine Person in die Lage versetzen, die Rettung durchzuführen.88

Doch die grundsätzliche Frage, ob und unter wel-chen Bedingungen ein humanitär begründeter Einsatz militärischer Gewalt für bestimmte Staaten moralisch geboten ist, stellt sich überhaupt erst dann, wenn man weitreichende moralische Verpflichtungen über natio-nale Grenzen hinaus akzeptiert. Das ist keineswegs selbstverständlich, und zumindest das Ausmaß der Verpflichtungen ist überaus strittig. Im Rahmen der »realistischen« Sicht internationaler Politik, deren Ver-treter ja keine zynischen Machtstrategen sind, bleibt die Spannung unauflösbar, die zwischen der Verpflich-tung auf das nationale Interesse und den Ansprüchen einer universalen Moral besteht. Aus dieser Perspek-tive ist in einer Welt begrenzter Selbstbehauptungs-systeme das nationale Interesse ein moralischer Wert, Selbstbehauptung die vorrangige moralische Ver-pflichtung.

89

tiert werden und kann Kant-Interpreten überlassen bleiben. Siehe Carla Bagnoli, »Humanitarian Intervention as a Per-fect Duty: A Kantian Argument«, in: Terry Nardin/Melissa S. Williams (Hg.), Humanitarian Intervention, New York/London: New York University Press, 2005, S. 117–140; eine andere Sicht im Lichte Kants findet sich bei H.M. Roff, »A Provisional Duty of Humanitarian Intervention«, in: Global Responsibility to Protect, 3 (2011), S. 152–171.

88 So Tan, »The Duty to Protect« [wie Fn. 20]; zur Frage, wer intervenieren sollte, siehe auch James Pattison, Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect: Who Should Intervene?, Oxford: Oxford University Press, 2010. 89 So exemplarisch Hans Morgenthau, »The Mainsprings of American Foreign Policy«, abgedruckt in: G. John Ikenberry (Hg.), American Foreign Policy: Theoretical Essays, New York 1989,

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Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politischen Ethik humanitärer Interventionen

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Erst innerhalb des liberalen, einen ethischen Indi-vidualismus implizierenden Paradigmas internatio-naler Politik gewinnt das Problem der »Pflichten über Grenzen hinaus« seine volle Schärfe.90 Die Frage nach grenzüberschreitenden moralischen Verpflichtungen, nach dem Ausmaß einer Verantwortung für Fremde, wird in der breiten Denkschule des Liberalismus durchaus unterschiedlich bewertet. Entscheidend ist dabei, ob man eher dem Kosmopolitismus oder dem Partikularismus zuneigt, ob man also einen moralischen Universalismus vertritt, in dem die Grundrechte eines jeden Menschen von gleicher Bedeutung sind, oder ob man einen Vorrang für die Rechte der eigenen Mit-bürger anerkennt und moralische Verantwortung in abgestuftem Sinne versteht.91 In partikularistischer Sicht wird unterschieden zwischen globalen Pflichten und besonderen Pflichten für die Bürger in einer poli-tischen Gemeinschaft, die sich durch eigene Identität und spezifische Loyalitäten auszeichnet. Ein solches Verständnis politischer Ethik gibt nationalen Ver-pflichtungen nicht grundsätzlich Vorrang vor globa-len; auch jenseits der eigenen Grenzen gilt die »nega-tive« Pflicht, elementare Menschenrechte nicht zu verletzen. Geringer ist jedoch das Maß an »positiven« Pflichten.92

R2P als Prinzip ist einer liberalen kosmopolitischen Moral verpflichtet, die staatliche Grenzen geringach-tet und transnationale Verpflichtungen zwischen Indi-viduen in den Mittelpunkt stellt.

93

S. 624–644 (640–644). Zu den unterschiedlichen Schulen siehe auch Joseph S. Nye, Jr., »Ethics and American Foreign Policy«, in: Robert J. Myers (Hg.), International Ethics in the Nuclear Age, Lanham: University Press of America, 1987, S. 39–83.

Denn R2P postu-

90 Stanley Hoffmann, Duties Beyond Borders: On the Limits and Possibilities of Ethical International Politics, Syracuse: Syracuse University Press, 1981; ein Überblick über realistische und liberale Positionen zur Interventionsfrage findet sich bei Michael W. Doyle, Ways of War and Peace: Realism, Liberalism, and Socialism, New York/London 1997, S. 389–420 (Chapter 11). 91 Grundsätzlich zu diesen beiden Ansätzen (ohne direkten Bezug zur Frage von Schutzverantwortung und humanitä-rer Intervention) siehe Christoph Broszies/Henning Hahn, »Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext«, in: dies. (Hg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwi-schen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin 2010, S. 9–52. 92 Ein prominenter Vertreter einer solchen Ethik zwischen radikalem Kosmopolitismus und der Verneinung von Pflich-ten jenseits staatlicher Grenzen ist David Miller, siehe ders., National Responsibility and Global Justice [wie Fn. 84]. 93 Der reine Kosmopolitismus enthält drei Elemente: »In short, cosmopolitanism emphasizes the moral worth of per-sons, the equal moral worth of all persons and the existence of derivative obligations to all to preserve this equal moral

liert faktisch – ohne dass ihre Verfechter dies näher begründen – eine allgemeine Verpflichtung, über-all auf der Welt notfalls mit militärischen Mitteln schwere Gewalttaten zu unterbinden und im Dienst der Humanität Krieg zu führen, wenn sich dadurch schlimme Übel beenden lassen. In der politischen Debatte wird diese moralische Pflicht eher voraus-gesetzt als explizit diskutiert. In der philosophisch-ethischen Diskussion dagegen gibt es Versuche, eine solche Pflicht und die sich daraus ableitende Norm zu begründen – eine Norm, die im Wesentlichen besagt: »Massive Menschenrechtsverletzungen sollen durch humanitäre Interventionen der internationalen Staa-tengemeinschaft verhindert werden, sofern keine friedlichen Mittel mehr zur Verfügung stehen und die erwartbaren Opfer in einem vernünftigen Verhält-nis zum guten Zweck stehen.«94

Nimmt man die Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte ernst, dann ist konsequenter- und konsistenterweise in jenen Fällen, in denen der Schutz der Menschrechte Vorrang vor staatlicher Souveräni-tät beanspruchen kann, sozusagen auch das Recht anderer Staaten außer Kraft gesetzt, sich neutral zu verhalten. So ließe sich begründen, warum eine ge-rechtfertigte Intervention auch eine moralische Ver-pflichtung darstellt. Doch überzeugt ein solches Argu-ment? Eine humanitäre Intervention ist erlaubt, weil ein Staat durch Verbrechen an der eigenen Bevölke-

Eine solche Norm sei universal »zustimmungswürdig«, da jeder Mensch an einem Schutz vor Gräueltaten interessiert sei.

worth of persons.« Roland Pierik/Wouter Werner, »Cosmo-politanism in Context: An Introduction«, in: dies. (Hg.), Cosmo-politanism in Context: Perspectives from International Law and Poli-tical Theory, Cambridge: Cambridge University Press, 2010, S. 1–15 (3). Eine klare kosmopolitische Perspektive zur Frage humanitärer Interventionen findet sich in der ethischen Debatte bei David Luban, »Just War and Human Rights«, in: Charles R. Beitz (Hg.), International Ethics, Princeton: Princeton University Press, 1985, S. 195–216. Eine ausführliche Grund-legung des kosmopolitischen Ansatzes bietet Charles R. Beitz, Political Theory and International Relations, Princeton: Princeton University Press, 1979. 94 Peter Schaber, »Humanitäre Intervention als moralische Pflicht«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 92 (2006) 3, S. 295–303 (298). Eine sich als philosophische Interpretation der R2P verstehende Begründung des Rechts und der Pflicht zu humanitär motivierten Militärinterventionen, bei der in Analogie zur individuellen Verteidigung eines anderen gegen einen ungerechtfertigten Angriff argumentiert wird, findet sich bei Alexander Christoph Leveringhaus, Killing to Rescue? Liberal Political Theory, Non-Consequentialist Ethics and Military Humanitarian Intervention, Doctoral Thesis, London School of Economics and Political Science, Dezember 2010.

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Militarisierte kosmopolitische Moral: Prämissen und Probleme

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rung sein Recht auf Souveränität verwirkt hat. Doch damit haben andere Staaten keineswegs in irgend-einer Form ihr Recht verwirkt, sich neutral zu verhal-ten. Sie sind es, die Kosten, Risiken und Konsequenzen eines etwaigen Eingreifens bedenken müssen.95 Dies gilt zumal dann, wenn ein kostspieliges und lang-andauerndes militärisch-politisches Engagement not-wendig sein könnte. Die Pflicht zur humanitären Intervention wird zwar oft in Analogie zur individu-ellen Nothilfe begründet; doch einem Ertrinkenden oder einem auf der Straße Angegriffenen zu helfen, wenn dies ohne Gefahr für das eigene Leben möglich ist, bleibt ein punktueller Akt.96 Wenn aber ein Staat militärisch in einem anderen Land eingreift, über-nimmt er Verantwortung für die Folgen dieser Inter-vention; er wird zum direkten Teilnehmer des Kon-flikts und mitverantwortlich für dessen Regelung.97

Nicht nur die sich aus dem Schutzverantwortungs-prinzip ergebende Hilfspflicht bedarf einer kritischen Analyse ihrer Reichweite und Dilemmata. Auch unter dem Aspekt der »Folgenverantwortung«

Eine solche Sichtweise vertrat ja auch R2P 2001 mit der »Verantwortung zum Wiederaufbau«.

98

95 Ich folge hier dem Einwand von Jeff McMahan. Er ver-neint zwar keine Verpflichtung, gibt aber keine genauen Kriterien dafür an, wann eine erlaubte Intervention zu einer verpflichtenden wird. Jeff McMahan, »Humanitarian Inter-vention, Consent, and Proportionality«, in: N. Ann Davis/ Richard Keshen/Jeff McMahan (Hg.), Ethics and Humanity: Themes from the Philosophy of Jonathan Glover, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 44–72 (56f, 62). Zur Problematik siehe auch Jovana Davidovic, »Are Humanitarian Military Interventions Obligatory?«, in: Journal of Applied Philosophy, 25 (2008) 2, S. 134–144.

sind einige grundsätzliche Bewertungen angebracht.

96 Siehe Terry Nardin, »The Moral Basis of Humanitarian Intervention«, in: Ethics and International Affairs, 16 (2002) 1, S. 57–70 (69f). 97 Damit wird eine Verantwortung übernommen, die es in diesem Maße nicht gibt bei Konfliktfällen, in denen nicht interveniert wird. Siehe dazu Ross Douthat, »War and Re-sponsibility«, in: The New York Times, 15.3.2011. 98 Verantwortung im Sinne von »Folgenverantwortung« bedeutet, verantwortlich zu sein für »die zu erwartenden Folgen insofern, als wir mit der Entscheidung für eine Hand-lung auch die durch die Handlung verursachte Wahrschein-lichkeitsverteilung für Folgen akzeptieren. Wir müssen gute Gründe haben, diese Wahrscheinlichkeitsverteilung ihrer Folgen zu akzeptieren. Unsere Verantwortung äußert sich darin, dass wir Gründe angeben können, warum wir diese Risiken und Chancen, die mit der Handlung verbunden sind, akzeptiert haben. Ein Teil der Abwägung von Gründen für Handlungen besteht in der Abwägung ihrer Folgen, der posi-tiven (Chancen) wie der negativen (Risiken). Da wir anderen Menschen immer Gutes antun dürfen, ist für die moralische

Militarisierte kosmopolitische Moral: Prämissen und Probleme

Warum eigentlich wird so viel von Verantwortung gesprochen, wenn es um militärische Interventionen geht? Warum genießt im öffentlichen Diskurs – dieser Eindruck drängt sich auf – die Verpflichtung, Genozid und Massenmord notfalls mit militärischen Mitteln zu verhindern, einen Vorrang gegenüber der Pflicht, etwa die Verbreitung von Malaria und anderen Krankheiten zu verringern? In beiden Fällen geht es um die morali-sche Pflicht zu globaler Gerechtigkeit.99 Offenbar ist jedoch im Falle von massenhaften Verbrechen und Gräueltaten die moralische Intuition, zu handeln und zu helfen, ausgeprägter als in anderen Fällen von Un-gerechtigkeit und Leid. Das mag damit zu tun haben, dass es um dramatische Ereignisse mit emotionaler Medienberichterstattung geht – vielleicht auch damit, dass eine militärische Intervention die Aura des Heroi-schen umgibt und es um den Kampf gegen das Böse geht. Sachlich begründen lassen sich die unterschied-lichen moralischen Intuitionen und Reaktionen je-doch schwerlich.100

Wenn eine positive Pflicht zur humanitären Inter-vention begründbar ist, weil sich jeder aus unparteii-scher Abwägung heraus eine Welt wünschen müsste, in der ihm als Opfer gewaltsamer Menschenrechts-verletzungen geholfen würde, dann lassen sich aus einer solchen Perspektive auch andere Verpflichtun-gen zu humanitärer Hilfe ableiten – zur Bekämpfung von Armut, Krankheit, Hunger.

101

Bewertung der Schaden, den wir mit unserer Handlung mög-licherweise anderen zufügen, relevanter als der Nutzen.« Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011, S. 113.

Wie also können Verfechter der Pflicht zur humanitären Militärinter-vention begründen, dass hierfür große Summen ein-zusetzen sind, ohne gleichzeitig korrespondierende

99 Siehe Catherine Lu, Just and Unjust Interventions in World Politics: Public and Private, Houndsmills/New York 2006, S. 163f. 100 Siehe McMahan, »Humanitarian Intervention, Consent, and Proportionality« [wie Fn. 95], S. 58–62. 101 Hier und im Folgenden stütze ich mich auf die Überle-gungen von Walter Pfannkuche, »Humanitäre Interventionen und andere Hilfspflichten«, in: Meggle, Humanitäre Interven-tionsethik [wie Fn. 18], S. 133–145; zur kritischen Auseinander-setzung mit der Position, die Verhinderung von Völkermord sei moralisch gebotener als die Bekämpfung von Hunger und Krankheit, siehe aus einer kosmopolitisch-utilitaristischen Perspektive Peter Singer, »Bystanders to Poverty«, in: N. Ann Davis/Richard Keshen/Jeff McMahan (Hg.), Ethics and Humanity: Themes from the Philosophy of Jonathan Glover, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 185–201.

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Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politischen Ethik humanitärer Interventionen

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Pflichten zu postulieren?102

Insofern darf man die Opportunitätskosten eines humanitären Eingreifens nicht ignorieren. Die Soma-lia-Intervention der 1990er Jahre etwa, so wird ge-schätzt, kostete die USA 7 Milliarden Dollar und ret-tete das Leben von 10 000 bis 25 000 Menschen. Das heißt, für ein Menschenleben wurden zwischen 280 000 und 700 000 Dollar ausgegeben. Mit solchen Summen wären weit mehr Menschen zu retten, wür-den sie in Gesundheitsinitiativen fließen, etwa für Impfungen gegen Masern oder die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Malaria. Nun ließe sich einwenden, mit humanitären Interventionen seien nicht allein humanitäre Ziele verbunden, sondern sie mischten sich immer mit anderen Anliegen, etwa dem, Flücht-lingsströme zu verhindern. Doch solche sekundären Ziele kann man auch mit Maßnahmen zur internatio-nalen Gesundheitspolitik und zur Katastrophenhilfe erreichen.

Und wie können sie be-gründen, dass die Pflicht, eine massenhafte aktive Ver-letzung von Menschenrechten zu unterbinden, stärker wiegen soll als jene zur Milderung struktureller Bedin-gungen, unter denen grundlegende Menschenrechte ebenfalls nicht gegeben sind? Es ist bezeichnend für die Diskussion, dass solche Kriterien bei den Befürwor-tern einer Interventionspflicht keine Rolle spielen. Wenn man positive Pflichten zur Durchsetzung der Menschenrechte und zur Verhinderung von Men-schenrechtsverletzungen akzeptiert und in einer Welt begrenzter Ressourcen eine Abwägung der Pflichten treffen muss, dann kann die Schlussfolgerung unter Umständen lauten, die Mittel dort einzusetzen, wo sie den meisten Nutzen bringen – und nicht dort, wo die Rettung von Menschen nur durch die Tötung oder eine Inkaufnahme der Tötung anderer Menschen mög-lich ist. Doch Interventionsverfechter lassen in der Regel die Frage außer Acht, die in einer konsequentia-listischen Bewertung eine Rolle spielen sollte: ob näm-lich nicht mehr Menschen gerettet werden könnten, wenn die finanziellen Ressourcen, die eine militäri-sche Intervention verschlingt, anderweitig eingesetzt würden.

103

102 Unter den wenigen Autoren, die sich überhaupt mit diesem Einwand auseinandersetzen, argumentiert Schaber, der moralischen Pflicht zur humanitären Intervention in außergewöhnlichen Notsituationen entspreche in der Tat eine Beistandspflicht, aber nur in analogen »extremen Not-situationen«. So Schaber, »Humanitäre Intervention als moralische Pflicht« [wie Fn.

94], S. 302. 103 Die Überlegungen und Fakten in diesem Abschnitt stützen sich auf Benjamin A. Valentino, »The True Costs of

Was also spricht für die Privilegierung humanitär begründeter Militärinterventionen gegenüber anderen Hilfspflichten, die sich aus einer kosmopolitischen Moral ableiten lassen? Befürworter eines starken humanitären Interventionsregimes, das auch eine Bestrafung der Verursacher umfasst, erhoffen sich davon, das Ausmaß gravierender Menschenrechts-verletzungen reduzieren zu können. In Analogie zum staatlichen Rechtssystem erwarten sie nämlich einen abschreckenden Effekt.104 Eine ähnliche Hoffnung ließ sich vor Jahrzehnten auch in der Debatte um ein kol-lektives Sicherheitssystem finden. Ein rational han-delnder potentieller Aggressor würde sich – so die Annahme – durch die Aussicht auf überlegene Gegen-macht von einer Aggression abhalten lassen. Die Hoff-nung auf den Abschreckungseffekt eines Systems kol-lektiver Sicherheit stützt sich auf die Annahme eines »Lernprozesses«: Die Bestrafung tatsächlicher Aggres-soren soll potentielle Aggressoren abschrecken; zwi-schenstaatlicher Krieg wird damit – so die Erwartung – immer unwahrscheinlicher.105

Einer solchen Logik entsprechend wird begrüßt, dass mit R2P eine neue, wenn nicht rechtliche, so doch moralische Norm entsteht, die in Fällen schwe-rer Menschenrechtsverletzungen eine humanitäre Intervention nicht nur legitimiert, sondern geradezu zur Pflicht macht. Befürworter eines Rechts und zu-gleich einer Verpflichtung zur Intervention mögen dabei die besten Abschreckungsabsichten verfolgen, wenn sie möglichst klare und strikte Interventions-

Humanitarian Intervention: The Hard Truth About a Noble Notion«, in: Foreign Affairs, November/Dezember 2011. 104 Zu dieser Sicht siehe die zitierten Stimmen in Jide Nzelibe, »Courting Genocide: The Unintended Effects of Humanitarian Intervention«, in: California Law Review, 97 (2009), S. 1171–1218 (1177ff); zum erhofften Abschre-ckungseffekt eines Kriterien und Prinzipien definierenden Rahmens für humanitäre Interventionen siehe zudem Daphné Richemond, »Normativity in International Law: The Case of Unilateral Humanitarian Intervention«, in: Yale Human Rights and Development Law Journal, 6 (2003), S. 45–80 (51ff); in der deutschen Diskussion siehe Christoph Lumer, »Ethik humanitärer Intervention – Eine konsequentialisti-sche Konzeption«, in: Christoph Fehige/Christoph Lumer/ Ulla Wessels (Hg.), Handeln mit Bedeutung und Handeln mit Gewalt. Philosophische Aufsätze für Georg Meggle, Paderborn 2009, S. 324–347. Lumer führt die abschreckende Wirkung als ein Argument an, um zu begründen, warum humanitäre Inter-ventionen effizienter seien als Entwicklungshilfe. 105 Arnold Wolfers, »Collective Defense versus Collective Security«, in: ders., Discord and Collaboration: Essay on Interna-tional Politics, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, 1962, S. 181–204 (184).

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Militarisierte kosmopolitische Moral: Prämissen und Probleme

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normen entwickeln. Doch in der langfristigen Konse-quenz könnte dadurch die Gewalt sogar noch gestei-gert werden. Regierungen setzen »genozidale Gewalt« in den meisten Fällen gegen Bevölkerungsgruppen ein, wenn aus deren Reihen ein bewaffneter Aufstand erwächst. Substaatliche Rebellen könnten daher zur gewaltsamen Auflehnung geradezu ermutigt werden, wenn sie erwarten können, dass massive staatliche Menschenrechtsverletzungen eine internationale Intervention auslösen, die ihrem ansonsten chancen-losen Aufstand zum Erfolg verhilft. Sie haben daher einen »perversen Anreiz«,106

Jene Autoren, die dieses Problem identifiziert haben, nennen als Beleg die Fälle Bosnien und vor allem Kosovo. Der Führung der bosnischen Muslime – so wird argumentiert – sei 1992 größtenteils bewusst gewesen, dass die von ihnen erklärte Sezession zu mas-siver Gewalt und Tausenden von Toten führen würde; doch die serbische Gewalt gegen die bosnische Bevöl-kerung habe man in Kauf genommen, um internatio-nale Anerkennung zu erringen und die militärische Unterstützung der Staatengemeinschaft zu bekom-men. Das gleiche Kalkül lag wohl wenige Jahre später der Politik der militanten kosovarischen Nationalis-ten zugrunde. Man mag einwenden, der Balkan der 1990er Jahre stelle eine Ausnahme dar und humani-täre Interventionen seien zu selten, als dass die Hoff-nung darauf gewaltauslösende Rebellionen ermutigen könnte. Doch ist zu bedenken: Seit 1990 wurden in mehr als 20 Fällen Truppen entsandt, um Zivilisten zu schützen.

staatliche Repressalien großen Ausmaßes zu provozieren und die Dimension staatlicher Gewalt sogar noch zu übertreiben, damit sie um internationale Unterstützung werben können. Das Kalkül, die eigenen Ziele über externe Hilfe durch-zusetzen, kann dabei die Kompromissfähigkeit verrin-gern und die Regelung eines Konflikts verbauen – zu-mal dann, wenn externe Akteure mit ihrer deklarato-rischen oder tatsächlichen Politik die Erwartung näh-ren, es käme zur Intervention, sobald die staatliche Gewalt ein erhebliches Ausmaß annähme.

107

106 Der Kern dieses Konzepts des »moral hazard« ist die An-nahme »perverser Anreize«, die unerwünschtes Verhalten fördern, weil es belohnt wird. Timothy Crawford, »Moral Hazard, Intervention and Internal War: A Conceptual Analy-sis«, in: Timothy W. Crawford/Alan J. Kuperman (Hg.), Gam-bling on Humanitarian Intervention: Moral Hazard, Rebellion and Civil War, New York 2006, S. 26–44.

107 Siehe hierzu Alan J. Kuperman, »The Moral Hazard of Humanitarian Intervention: Lessons from the Balkans«, in: International Studies Quarterly, 52 (2008), S. 49–80.

Nun ist strittig, wie weit die Erklärungskraft des beschriebenen »moral hazard«-Theorems reicht. An-wendbar scheint es immerhin auf das Verhalten der Kosovarischen Befreiungsarmee108 oder auch auf das Handeln der Aufständischen in Darfur. Nach manchen Analysen provozierten diese Akteure Vergeltungsmaß-nahmen gegen die eigene Bevölkerung, um internatio-nales Eingreifen zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe zu bewirken.109 Kritiker wenden ein, in den Fällen Bosnien und Kosovo hätten die Vertreter dieses Erklärungsansatzes die Strategie, die verfolgt wurde, mit der Ursache für die Zuflucht zur Gewalt verwechselt. Zurückzuführen seien diese Aufstände auf politische Gründe – und nicht auf die Erwartung einer Intervention. Das Theorem des »moral hazard« reduziere die Komplexität konfliktdynamischer Pro-zesse.110

Dies mag richtig sein, und der Ansatz kann gewiss nicht alles erklären.

111

108 Siehe die Beiträge in: Crawford/Kuperman, Gambling on Humanitarian Intervention [wie Fn.

Doch grundsätzlich muss der Anreiz in Rechnung gestellt werden, einen Konflikt über Bilder massenhafter Gewalt gegen Zivilisten zu internationalisieren und die Staatengemeinschaft zum Eingreifen zu bewegen. Ob dieser Anreiz länger-fristig eher gewaltverschärfend wirkt, lässt sich nicht wirklich sagen. Genauso wenig aber ist klar, ob eine von der Schutzverantwortung motivierte konsistente Interventionspraxis wirklich derart abschreckend wirkt, dass am Ende massenhafte Gewalt gegen Zivi-

106]. 109 So Valentin Robiliard, »The Darfurian Rebellion and the Moral Hazard of Humanitarian Intervention«, in: McGill International Review, 1 (2011) 1, S. 18–26; eine gewisse Evidenz für diese These sieht auch Kelly Whitty, »Darfurian Rebel Leaders and the Moral Hazard of Humanitarian Intervention«, in: Paterson Review, 9 (2008), S. 19–34. 110 So Alex J. Bellamy/Pazil D. Williams, »On the Limits of Moral Hazard: The ›Responsibility to Protect‹, Armed Conflict and Mass Atrocities«, in: European Journal of International Rela-tions, 18 (2011), 3, S. 539–571. 111 Das Theorem kann zwar ein risikoreiches Verhalten Aufständischer erklären, nicht aber die Anwendung genozi-daler Gewalt von staatlicher Seite. Offen bleibt auch, weshalb die Aussicht auf eine Intervention die betreffende Regierung nicht kompromissbereiter gegenüber den Rebellen macht; siehe Arman Grigorian, »Third-party Intervention and Escala-tion in Kosovo: Does Moral Hazard Explain It?«, in: Crawford/ Kuperman, Gambling on Humanitarian Intervention [wie Fn. 106], S. 45–63. Plausibel ist das eher dann, wenn Staaten nicht über die Kapazität zu gezielter Gewalt verfügen und/oder Kom-promissbereitschaft als Zeichen der eigenen Schwäche ver-standen wird, die andere Oppositionsgruppen mobilisieren könnte, Nzelibe, »Courting Genocide« [wie Fn. 104], bes. S. 1183, 1194ff.

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Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politischen Ethik humanitärer Interventionen

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listen immer seltener wird. Wie der Fall Libyen zeigt, kann das Kalkül von Rebellen aufgehen, einen Kon-flikt zu internationalisieren. Doch die Intervention in Libyen demonstriert ebenso: Eine daraus erwachsende Abschreckungswirkung auf das um sein Überleben kämpfende Regime in Syrien ist offensichtlich aus-geblieben.

Globale Hilfspflicht versus nationale Ver-antwortung: Das Dilemma und seine Folgen

Oft ist, in Analogie zur individuellen Nothilfe, zu hören: Wer nicht interveniere, um massenhafte Gräueltaten zu verhindern, mache sich moralisch der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Nun mag man postulieren, jeder Mensch sei verpflichtet, über-all auf der Welt ungerecht Notleidenden zu helfen. Doch das ist die Ebene individueller Verantwortung, die sich nicht ohne weiteres auf die staatliche Ebene übertragen lässt. Staaten als Selbstbehauptungs-gemeinschaften dienen zuallererst den Interessen ihrer Bürger. Die Soldaten, also die Bürger in Uniform, die einen solchen gewaltsamen Einsatz durchführen, ja den Krieg führen müssen, kommen als Träger von Rechten kaum in den Blick; die Verantwortung des Staates für sie bleibt in der Debatte um die Schutz-verantwortung merkwürdig unterbelichtet. Doch darf ein Staat seine Soldaten überhaupt zu einer humani-tären Intervention verpflichten?112

Selbst wenn man die Analogie von individueller und staatlicher Verantwortung akzeptiert, folgt dar-

112 Hierzu und zum Folgenden siehe Daniel Brooks Baer, »The Ultimate Sacrifice and the Ethics of Humanitarian Intervention«, in: Review of International Studies, 37 (2011), S. 301–326. Baer setzt sich hier mit Allen Buchanan aus-einander. Dieser hatte argumentiert, das vorherrschende liberale Verständnis des Staates als Instrument zur Sicherung der Interessen seiner Bürger könne faktisch keine moralische Verpflichtung zur humanitären Intervention anerkennen; militärische Interventionen ohne ein breites demokratisches Mandat seien nach dieser Sicht nicht erlaubt. Buchanan setzt dem ein Verständnis des Staates entgegen, das diesen als ein »Instrument der Gerechtigkeit« betrachtet. Siehe Allen Buchanan, »The Internal Legitimacy of Humanitarian Inter-vention«, in: The Journal of Political Philosophy, 7 (1999) 1, S. 71–87; abgedruckt in: ders., Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 201–217. Zur Problematik der »internen« Legitimation siehe zudem James Pattison, »Representativeness and Humanitarian Inter-vention«, in: Journal of Social Philosophy, 38 (2007) 4, S. 569–587; Ned Dobos, »Justifying Humanitarian Intervention to the People Who Pay for It«, in: Praxis, 1 (2008) 1.

aus nicht, dass es eine Pflicht gibt, sein Leben im Dienst ungerechtfertigt Notleidender zu opfern. Jeder mag sein Leben zur Rettung eines anderen einsetzen, aber das ist seine eigene Entscheidung; eine vollkom-mene Pflicht zum Einsatz des Lebens gibt es nicht. Aber genau dies wird im Extremfall erwartet, wenn ein Staat eigene Bürger zur Rettung Fremder in den Kampf schickt. Wenn man eine moralische Pflicht zur humanitären Intervention unter bestimmten Voraus-setzungen anerkennt, ergibt sich daraus auch die Verpflichtung, geeignete militärische Kräfte vorzu-halten und diese Soldaten unter Umständen in den Tod zu schicken – wenn es nicht genügend Freiwillige gibt, dann ebenso Wehrpflichtige. Wer eine Verpflich-tung zur humanitären Intervention behauptet, muss daraus Konsequenzen ziehen, die den Bürgern des eigenen Staates mehr abverlangen, als von ihnen ge-fordert werden darf.113

Moralisch ist eine rein humanitäre Intervention gegenüber den eigenen Soldaten – so lässt sich argu-mentieren – allenfalls dann gerechtfertigt, wenn diese mit der Bereitschaft in das Militär eingetreten sind, ihr Leben notfalls für humanitäre Zwecke zu op-fern.

114

113 »The ultimate sacrifice ought not be coerced, and for a state to accept a duty of military intervention, or to embark on such an intervention with a military that does not consist of soldiers who have volunteered knowing that they may be asked to risk their lives for humanitarian ends, is morally illegitimate.« Baer, »The Ultimate Sacrifice« [wie Fn.

Ein solcher Einsatz, bei dem Politiker eigene

112], S. 307. In Deutschland, wo diese Problematik kaum disku-tiert wird, hat der Philosoph Robert Spaemann die daraus folgende Konsequenz in aller Radikalität einmal so formu-liert: »Es gehört zu den edelsten Taten eines Menschen, sein Leben zu riskieren, um Fremden das Leben zu retten oder ihre Rechte zu verteidigen. Es ist aber eine große Ungerech-tigkeit, andere Menschen und gar Untergebene dazu zu nöti-gen. Das Vaterland gehört zur Identität des Menschen, und es notfalls mit Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen gehört seit dem Bestehen der Demokratie zu den Bürgerpflichten, wie immer man darüber denken mag. Und da Bündnisse das eigene Land sichern, gilt das auch für die Verteidigung der Bündnispartner. Es kann jedoch keine Rechtspflicht für Men-schen geben, ihr Gut und ihr Leben für die Verteidigung von Gut und Leben fremder Menschen ohne Gegenleistung zu opfern.« Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 328–332 (331). 114 Baer stimmt Tesóns Meinung zu, dass der »enlistment contract« der US-Streitkräfte die Zwecke von Einsätzen so weit fasst, dass dies humanitäre Intervention einschließt, »The Ultimate Sacrifice« [wie Fn. 112], S. 307. Siehe Fernando A. Tesón, »The Liberal Case for Humanitarian Intervention«, in: J.L. Holzgrefe/Robert A. Keohane (Hg.), Humanitarian Inter-vention: Ethical, Legal, and Political Dilemmas, Cambridge: Cam-bridge University Press, 2003, S. 93–129 (126f).

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Töten, um zu retten: Das Legitimationsproblem humanitär begründeter Kriege

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Staatsbürger aus humanitären Motiven dem Risiko des Todes aussetzen, ist aus Verantwortung gegenüber den eigenen Soldaten auf extreme Fälle zu beschrän-ken. Nicolas Wheeler, einer der wenigen entschiede-nen Befürworter humanitärer Intervention, die sich überhaupt dieser Frage stellen, hat auf Michael Wal-zers Argument der »supreme emergency« zurück-gegriffen.115 Bei Walzer geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen – nämlich wenn Freiheit und Überleben einer politischen Gemeinschaft auf dem Spiel stehen – die gezielte Tötung von Nichtkombat-tanten entschuldbar sein könnte. Die analoge Argu-mentation lautet: In außergewöhnlichen Fällen einer »supreme humanitarian emergency« sollten Staats-männer und -frauen das Risiko akzeptieren, dass eige-ne Bürger zur Rettung Fremder den Tod finden.116

Nun mag man einwenden, dies alles sei ein theore-tisches Problem. Denn humanitär begründete Inter-ventionen würden – wie in den Fällen Kosovo und Libyen – als Luftkrieg geführt, der eine solche militä-rische Überlegenheit gewährleiste, dass eigene Opfer kaum zu erwarten seien. Tatsächlich hatten die inter-venierenden Kräfte sowohl beim Kosovo- als auch beim Libyen-Einsatz keine Verluste zu beklagen. Die militär-technologische Entwicklung hat das Risiko für die ein-gesetzten Soldaten minimiert. Damit wurde zugleich das moralische Problem entschärft, dass im Falle einer humanitären Intervention eigene Bürger unter Um-ständen sterben müssen, ohne dabei grundlegende nationale Interessen zu verteidigen – und nur wenn man einer rein kosmopolitischen Moral verpflichtet ist, die das »Prioritätenprinzip«

117

Militärinterventionen unter dem Imperativ, eigene Verluste weitestgehend zu vermeiden, erhöhen jedoch keineswegs die Erfolgswahrscheinlichkeit humanitä-rer Interventionen.

negiert, zählt das Leben eigener und fremder Staatsangehöriger in glei-chem Maße.

118

115 Michael Walzer, Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Illustrations, New York 32000, S. 251–268.

Der Einsatz von Luftstreitkräf-ten unter größtmöglicher Vermeidung von Risiken für die eigenen Soldaten entspricht nicht den Zielen einer

116 Nicolas J. Wheeler, Saving Strangers: Humanitarian Inter-vention in International Society, Oxford: Oxford University Press, 2000, S. 48–51 (50). 117 Friedrich V. Kratochwil, »Vergeßt Kant! Reflexionen zur Debatte über Ethik und internationale Politik«, in: Christine Chwaszcza/Wolfgang Kersting (Hg.), Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frankfurt a.M. 1998, S. 96–149 (99). 118 Siehe Martin L. Cook, »›Immaculate War‹: Constraints on Humanitarian Intervention«, in: Ethics and International Affairs, (2000) 14, S. 55–65.

humanitär begründeten Intervention. Soll Massen-, ja Völkermord im Rahmen sogenannter ethnischer Konflikte verhindert oder zumindest in seinem Aus-maß begrenzt werden, erfordert das den zügigen (und in manchen Fällen dauerhaften) Einsatz von Streit-kräften auf dem Boden. Nur so lässt sich dem Wüten paramilitärischer Banden Einhalt gebieten, wie sie während des jugoslawischen Bürgerkriegs oder beim Genozid in Ruanda das Geschehen in starkem Maße bestimmten.119 Im Falle Ruandas ist zwar strittig, wie viele Leben eine rechtzeitige Militärintervention hätte retten können.120 Klar ist jedoch, dass eine frühe Ent-sendung von Bodentruppen die wirkungsvollste Op-tion gewesen wäre. Wie auch immer die Intervention britischer Truppen in Sierra Leone im Jahr 2000 und das Eingreifen australischen Militärs 1999 in Osttimor jeweils zu bewerten sind – beide Fälle zeigen doch, wie wichtig der robuste Einsatz von Bodentruppen ist, um Gewalt zu unterbinden.121

Töten, um zu retten: Das Legitimations-problem humanitär begründeter Kriege

Befürworter humanitärer Intervention argumentieren moralisch, aber sie blenden dabei oft die Realität des-sen aus, um was es bei einer militärischen Interven-tion geht. Es handelt sich nicht um eine Nothilfe- oder Polizeiaktion, sondern um organisierte militärische Gewaltanwendung. Wer eine Verpflichtung zur huma-nitär ausgerichteten Militärintervention postuliert, setzt implizit voraus, in bestimmten Fällen sei ein sol-cher Gewalteinsatz gerechtfertigt, auch wenn damit unausweichlich die Tötung von Menschen erforderlich wird – und zwar eben nicht nur die Tötung der direk-ten Übeltäter, sondern auch die von Soldaten, die nicht unmittelbar an Gewalttaten beteiligt sind, und aller Erfahrung nach immer auch von Unschuldigen, deren Tod in Kauf genommen wird, um größere Übel zu verhindern. Zu Recht wurde darauf hingewiesen,

119 Siehe John Mueller, »The Banality of ›Ethnic War‹«, in: International Security, 25 (2000) 1, S. 42–70. 120 Siehe Alan J. Kuperman, »Rwanda in Restrospect«, in: Foreign Affairs, 79 (2000) 1, S. 94–118; Scott R. Feil, Prevent-ing Genocide: How the Early Use of Force Might Have Succeeded in Ruanda, A Report to the Carnegie Commission On Preventing Deadly Conflict, New York: Carnegie Corporation of New York, April 1998. 121 Siehe Joshua G. Smith, »The Responsibility to Reflect: Learning Lessons from Past Humanitarian Military Inter-ventions«, in: The Journal of Humanitarian Assistance, 26.3.2006.

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dass sich damit die Debatte verschiebt: »Es wird nicht mehr vorrangig diskutiert, ob und unter welchen Um-ständen eine Ausnahme vom Tötungsverbot gerecht-fertigt sei, sondern welche Arten von Menschenrechts-verletzungen zu einer Intervention verpflichten, selbst unter Inkaufnahme von unschuldig Getöteten.«122

Meist beschränkt sich die Frage nach der Legitimi-tät humanitär begründeten Tötens auf die unschuldi-gen Opfer eines solchen Einsatzes: jene also, die weder an Massakern beteiligt sind noch gemäß humanitä-rem Völkerrecht als Kombattanten gelten. Soldaten bilden, so scheint es aus dieser Sicht, per se legitime Ziele, auch wenn sie nicht in Gräueltaten involviert sind. Sie haben – so ließe sich argumentieren – ihr Recht, nicht angegriffen und nicht getötet zu werden, allein durch den Umstand verwirkt, dass sie, ob frei-willig oder gezwungen, Soldaten eines Staates sind, dessen Regierung Verbrechen begeht. Dass es ein moralisches Problem sein könnte, sie zu töten, scheint Verfechtern menschenrechtlich begründeter Militär-operationen nicht in den Sinn zu kommen.

123 Der Tod gegnerischer Soldaten, zu denen etwa im Falle Libyens auch eingezogene Jugendliche gehörten, lässt Inter-ventionsbefürworter in der Regel erstaunlich un-berührt.124 Doch ein moralisches Problem ist zumin-dest dann gegeben, wenn gegen autoritäre Regime interveniert wird, die keine Massaker großen Stils ver-üben, oder wenn die Intervention nicht allein dem Schutz vor massenhaften Verbrechen dient, sondern auch einem Regimesturz.125

Den Krieg gegen das Gaddafi-Regime begründete man zwar als Intervention zum Schutz von Zivilisten; doch wurde nicht präzisiert, wie das Mandat konkret umzusetzen sei. Daher war es in den militärischen Konsequenzen sehr weit gefasst und von verschiede-

122 Barbara Bleisch, »Humanitäre Intervention zwischen Erlaubtheit und Gebotenheit«, in: Jean-Daniel Strub/Stefan Grotefeld (Hg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerech-tem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007, S. 133–141 (137). 123 Zu dieser Problematik siehe David R. Mapel, »Military Intervention and Rights«, in: Millennium: Journal of International Studies, 20 (1991) 1, S. 41–55 (47–52). 124 Ein Kommentator brachte dies so auf den Punkt: »West-ern hearts bleed for Libyan civilians but are unmoved when a Qaddafi conscript – who likely had no say in whether to fight – is incinerated in a tank.« David Bosco, »Humanitarian Inquisition«, in: Foreign Policy (online), 1.9.2011. 125 Inspiriert wurden diese Überlegungen von Richard W. Miller, »Respectable Oppressors, Hypocritical Liberators: Morality, Intervention, and Reality«, in: Deen K. Chatterjee/ Don E. Scheid (Hg.), Ethics and Foreign Intervention, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 2003, S. 215–250 (224ff).

nen Akteuren unterschiedlich deutbar. Es existierte keine Vorgabe, die militärischen Aktionen auf den Schutz unmittelbar bedrohter Personen zu beschrän-ken. Ein solch flexibel interpretierbares Mandat er-laubte es, im Zuge der Intervention den Umfang an Zielobjekten auszuweiten.126 Bei den kontinuierlichen Luftangriffen auf Gaddafis Truppen ging es eben nicht nur um den Schutz der Zivilbevölkerung; vielmehr wollte man das regierungstreue Militär vor die Alter-native stellen, mehr und mehr zerstört zu werden oder aber Gaddafi zu stürzen.127

Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stel-len, die Tötung von Soldaten stelle grundsätzlich kein moralisches Problem dar, und im Falle Libyens habe sie überdies dem Schutz der Bevölkerung vor mögli-chen künftigen Angriffen gedient. Doch bei einer Intervention wie im Kosovo oder in Libyen töten die intervenierenden Streitkräfte unvermeidlich auch Unschuldige. Die Luftangriffe im Kosovo-Krieg forder-ten rund 500 Opfer unter der Zivilbevölkerung.

128

126 Siehe die Zusammenfassung der Ergebnisse und Einschätzungen der Konferenz Learning from Air Operations in Libya: Operationalizing the »Civilian Protection« Mandate, A U.S. Naval Warfare Conference, co-sponsored by the Office of the Secretary of Defense and National Defense University, with support from the MARO Project, o.O. o.J., <www.hks. harvard.edu/var/ezp_site/storage/fckeditor/file/pdfs/centers-programs/centers/carr/programs/MARO/Libya%20Conference %20Quick%20Look_29June2012.pdf>.

Über die zivilen Opfer der Nato-Luftangriffe in Libyen liegen keine verlässlichen Gesamtdaten vor. Sicher stimmen die inflationären Zahlen nicht, die das Gaddafi-Regime verbreitete. Doch die offizielle Nato-Sprachregelung, es gebe keine »bestätigten« zivilen Opfer – wie Generalsekretär Rasmussen im November 2011 sagte –, geht an der Realität vorbei. Ohnehin betrachtet die Nato nur solche Fälle als bestätigt, die von ihr selbst überprüft wurden, und beim Libyen-Einsatz hat sie gar keine Untersuchungen angestellt. Recherchen der »New York Times«, durchgeführt an einigen ausgewählten Orten von Luftangriffen in Libyen, legen nahe, dass es mindestens 70 Todesopfer

127 Dieses Kalkül sprach US-Verteidigungsminister Robert Gates sehr deutlich an. Siehe Greg Jaffe/Karen DeYoung, »In Libya Mission, War Blurs Humanitarian Focus«, in: The Washington Post, 31.3.2011. 128 Siehe The Independent International Commission on Kosovo, The Kosovo Report: Conflict, International Response, Lessons Learned, Oxford: Oxford University Press, 2000, S. 94. Die dort zu findenden Angaben stützen sich auf eine Untersuchung von Human Rights Watch.

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gab.129 Der VN-Menschenrechtsrat untersuchte 20 Luft-angriffe der Nato; bei fünf davon starben demnach insgesamt 60 Zivilisten; 55 wurden verwundet.130 Amnesty International berichtet von identifizierbaren zivilen Toten in ähnlicher Größenordnung. Mit Blick auf einige weitere Angriffe, bei denen Tote unter der Zivilbevölkerung gemeldet wurden, weist Amnesty International darauf hin, dass sich nicht immer ver-lässlich unterscheiden lasse, ob die Opfer Kombattan-ten oder Zivilisten waren.131

Die wirkliche Zahl durch Nato-Angriffe getöteter Zivilisten dürfte also höher liegen. Dass sie nach aller Wahrscheinlichkeit nicht so hoch war wie im Kosovo oder bei den Irak-Kriegen von 1991 und 2003, hängt mit einer veränderten Luftkriegsführung zusammen. Die Nato-Streitkräfte setzten in Libyen nur zielgenaue laser- oder satellitengesteuerte Bomben ein, aber keine Streubomben (cluster munition), und sie vermieden Angriffe gegen Infrastruktureinrichtungen. Eine Tak-tik hat sich indes als problematisch erwiesen: Folge-angriffe gegen Ziele. Denn offenbar wurden dabei Zivilisten getroffen, die Verwundeten nach einem ersten Angriff zu Hilfe kommen wollten.

132 Aus Nato-Sicht spielen die Opfer des Einsatzes jedoch keinerlei Rolle; die Libyen-Mission wird ohne jeden erkenn-baren Zweifel als Erfolg gefeiert.133

Dem moralischen Problem, dass bei einer humani-tären Intervention auch Unschuldige leiden und ge-tötet werden, können Befürworter solcher Einsätze nur dadurch ausweichen, dass sie auf zwei problema-tische Argumentationsfiguren zurückgreifen. Die eine

129 Diese Angaben sind zu finden bei C.J. Chivers/ Eric Schmitt, »In Strikes on Libya by Nato, an Unspoken Civilian Toll«, in: The New York Times, 17.12.2011. 130 United Nations Human Rights Council, Report of the International Commission of Inquiry on Libya, Advance Unedited Version, 2.3.2012, S. 17. 131 Amnesty International, Libya: The Forgotten Victims of Nato Strikes, London, März 2012. 132 Diese Angaben stützen sich auf Chivers/Schmitt, »In Strikes on Libya by Nato« [wie Fn. 129]. 133 »By any measure, Nato succeeded in Libya. It saved tens of thousands of lives from almost certain destruction. It con-ducted an air campaign of unparalleled precision, which, although not perfect, greatly minimized collateral damage. It enabled the Libyan opposition to overthrow one of the world’s longest-ruling dictators. And it accomplished all of this without a single allied casualty and at a cost – $1.1 bil-lion for the United States and several billion dollars overall – that was a fraction of that spent on previous interventions in the Balkans, Afghanistan, and Iraq.« Ivo H. Daalder/James G. Stavridis, »Nato’s Victory in Libya: The Right Way to Run an Intervention«, in: Foreign Affairs, März/April 2012.

lautet: Gewiss müssen wir im Verlauf einer humanitä-ren Intervention in Kauf nehmen, dass Unschuldige getötet werden. Doch wenn nicht eingegriffen wird, kommen ebenfalls Unschuldige zu Tode. »Das ethische Problem kann also nicht darin bestehen, dass der Tod Unschuldiger in Kauf genommen werden muss. Wenn wir uns entscheiden, nichts zu tun, nehmen wir in Kauf, dass Unschuldige sterben bzw. getötet wer-den.«134 Das Argument, in beiden Fällen werde der Tod von Menschen »in Kauf genommen«, verdeckt allerdings den Unterschied zwischen Schadenszufü-gung und Hilfsverzicht – zwei Verhaltensweisen, die je nach Situation moralisch unterschiedlich zu bewerten sind.135

Die andere Argumentationsfigur, die Befürworter humanitärer Interventionen heranziehen, um die Tötung Unschuldiger moralisch zu rechtfertigen, ist die klassische, der scholastischen Moralphilosophie entstammende Doktrin der »Doppelwirkung«.

136 Nach diesem Grundsatz ist der Tod Unschuldiger hinnehm-bar, wenn er nicht das Mittel zur Erreichung eines guten Zwecks, sondern vielmehr die nichtbeabsich-tigte Folge einer gerechtfertigten Handlung ist, die insgesamt mehr gute als schlechte Folgen zeitigt. Doch dieses Prinzip ist in einem grundsätzlichen Sinne problematisch, weil es die Verantwortung für die unbeabsichtigten, aber voraussehbaren Folgen des Handelns ignoriert.137

Das Prinzip der Doppelwirkung eröffnet einen wei-ten Spielraum für die Inkaufnahme nichtintendierter, aber gleichwohl absehbarer Opfer unter Nichtkombat-tanten – ein Spielraum, der, wie kritisiert wurde, im Falle humanitär begründeter Interventionen zu groß ist. Diese sollen ja dem Schutz von Menschen dienen. Vorherzusehende Opfer unter der Bevölkerung, die durch das Handeln der Intervenierenden herbeige-führt werden, sind daher zu vermeiden, auch wenn sie unter dem Prinzip der Doppelwirkung legitimier-

134 Schaber, »Humanitäre Intervention als moralische Pflicht« [wie Fn. 94], S. 299. 135 Hierzu und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Doppelwirkung siehe Kirsten Meyer, »Die moralische Bewertung humanitärer Interventionen. Deontologische Positionen zum Prinzip der Doppelwirkung«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 97 (2011) 1, S. 18–32. 136 So bei Tesón, »The Liberal Case for Humanitarian Inter-vention« [wie Fn. 114], S. 114ff. 137 Zur kritischen Auseinandersetzung siehe Richard Nor-man, Ethics, Killing and War, Cambridge: Cambridge University Press, 1995, S. 83–93.

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bar wären.138 Bei einer humanitär begründeten Inter-vention lässt sich von ihrem eigenen Anspruch her der Tod von Nichtkombattanten nicht einfach als un-beabsichtigter und indirekter »Kollateralschaden« legi-timer Kriegsführung hinnehmen. Das dem Argument der »Kollateralschäden« zugrundeliegende moralische Prinzip einer »Doppelwirkung« muss deshalb nach jenem restriktiven Verständnis angewandt werden, wie es Michael Walzer hinsichtlich der Verpflichtun-gen gegenüber den Rechten von Nichtkombattanten formuliert hat.139 Demnach reicht es nicht aus, dass die üble Wirkung nicht beabsichtigt und auch nicht Mittel zur Erreichung des moralisch akzeptablen Ziels ist. Vielmehr müssen die voraussehbaren üblen Wir-kungen – im Sinne einer »Doppelintention« – unter Inkaufnahme eigener Kosten soweit wie möglich mini-miert werden.140

Das heißt: Bei einer humanitären Intervention ist das Risiko zu akzeptieren, dass eigene Soldaten ihr Leben verlieren, um das Leben von Nichtkombattan-ten nicht zu gefährden. Die Risiken für beide, für die eigenen Soldaten und für Unschuldige, lassen sich militärisch nicht notwendigerweise zusammen redu-zieren.

141

138 Pattison, Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect [wie Fn.

Diesem moralischen Dilemma lässt sich nicht entgehen, auch wenn es Befürworter humani-tärer Interventionen gern ausblenden.

88], S. 119f. 139 Siehe Walzer, Just and Unjust Wars [wie Fn. 115], S. 152ff. Siehe auch David Luban, »Risk Taking and Force Protection«, in: Itzhak Benbaji/Naomi Sussman (Hg.), Reading Walzer, London (i.E.), vorab erschienen als Georgetown Public Law and Legal Theory Research Paper No. 11–72 (2011). 140 Doch auch dann bleibt das Problem, dass hier bei Un-schuldigen das Grundrecht auf Leben verletzt wird – was ethisch begründungspflichtig bleibt, sei es in einer konse-quentialistischen Beweisführung, sei es in einer als »wert-rational« bezeichneten Argumentation, nach der die Verhin-derung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen so hohe moralische Werte darstellten, dass auch die unbeabsich-tigte Tötung Unschuldiger hinnehmbar sei. Siehe Barbara Merker, »Was leistet die Theorie des gerechten Krieges heute?«, in: Jean-Daniel Strub/Stefan Grotefeld (Hg.), Der ge-rechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007, S. 117–131 (127f). 141 Siehe Steven Lee, »Double Effect, Double Intention, and Asymmetric Warfare«, in: Journal of Military Ethics, 3 (2004) 3, S. 233–251.

Folgenverantwortung – eher ignoriert als nüchtern reflektiert

Generell ist zu beobachten: In der normativen Debatte über menschenrechtlich begründete Militärinterven-tionen erfahren die Probleme der Umsetzung, der Erfolgsaussichten und der zu erwartenden Folgen nur geringe Beachtung.142 In einer konsequentialistischen Betrachtung aber müssen die absehbaren Gesamt-folgen einer Intervention gegenüber den Folgen eines Nichthandelns abgewogen werden. Eine humanitär begründete Intervention kann erhebliche Negativ-folgen nach sich ziehen, wie der Kosovo-Einsatz zeig-te. Dazu gehörte eine beträchtliche Zahl durch Nato-Angriffe getöteter Zivilisten, aber auch die massive »ethnische Säuberung«, die sich durch Luftkriegs-führung nicht abwenden ließ.143

Die Frage ist natürlich, ob es auch ohne die Luft-angriffe der Nato zu den Massenvertreibungen und den Morden in großer Zahl gekommen wäre, die statt-fanden, nachdem die Intervention eingesetzt hatte.

Mit ihrer Strategie waren die Interventionskräfte erkennbar unfähig, die nach Beginn des Krieges einsetzenden Massenvertrei-bungen und Morde zu unterbinden.

142 Zur Notwendigkeit einer sorgfältigen Folgenabschät-zung siehe Berthold Meyer, »Konfliktfolgenabschätzung – Ist die ›humanitäre Intervention‹ tatsächlich humanitär?«, in: Thomas Bruha/Sebastian Heselhaus/Thilo Marauhn (Hg.), Legalität, Legitimität und Moral. Können Gerechtigkeitspostulate Kriege rechtfertigen?, Tübingen 2008, S. 133–148; zur Vernach-lässigung der Umsetzungsprobleme und zur Bedeutung der Erfolgsaussichten im Rahmen einer normativen Bewertung siehe Karsten Malowitz, »Zum Erfolg verdammt, zum Schei-tern verurteilt? – Zur pragmatischen Komplexität humanitä-rer Interventionen«, in: Münkler/Malowitz, Humanitäre Inter-vention [wie Fn. 18], S. 143–174. 143 Die Legitimität des Kosovo-Krieges wird rückblickend nicht weniger kontrovers beurteilt, als es 1999 der Fall war. Strittig ist, ob das Maß an Menschenrechtsverletzungen wirklich so außergewöhnlich war, um einen Krieg zu recht-fertigen. Strittig ist auch, ob militärische Gewalt wirklich die Ultima Ratio war oder ob nicht vielmehr USA und Nato den Spielraum für eine nichtmilitärische Lösung früh eingeengt hatten, indem sie Partei für die Kosovarische Befreiungs-armee ergriffen und Drohpolitik gegenüber Belgrad betrie-ben. Und die Kriegsführung selbst war sehr bedenklich; sie setzte in manchem die »coercive diplomacy« fort und zielte daher auf zentrale Infrastruktureinrichtungen. Als kritische Analysen siehe Michael Haspel, Friedensethik und humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen-Vluyn 2002; Owen Michael Godfrey, Humanitarian War in Theory and Practice: A Case Study of the Nato Intervention in Kosovo, Thesis submitted to the University of Nottingham for the degree of Doctor of Philosophy, Mai 2007.

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Folgenverantwortung – eher ignoriert als nüchtern reflektiert

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Rund 863 000 Flüchtlinge verließen von diesem Zeit-punkt an den Kosovo, rund 590 000 blieben als Vertrie-bene im Kosovo. Schätzungen zur Zahl der Getöteten variieren. Die Unabhängige Internationale Kommis-sion zum Kosovo, die – eingerichtet auf Initiative Schwedens – im Jahr 2000 einen umfassenden Bericht vorlegte, ging von 10 000 Todesopfern nach Beginn der Luftangriffe aus; dem Internationalen Strafge-richtshof gegenüber wurden für diese Zeit 4400 Fälle dokumentiert. Das heißt: Sollten diese Angaben zu-treffen, dann wurden in den zehn Wochen, in denen die Bombenangriffe andauerten, weit mehr Kosovaren getötet als im Jahr davor, als rund 2000 Menschen serbischer Gewalt zum Opfer gefallen waren. Gewiss lagen der serbischen Offensive vorherige Planungen zugrunde; sonst hätte sie nicht so schnell anlaufen können.144 Doch die Frage ist, ob sich das serbische Vorgehen nicht im Zuge der Bombenangriffe änderte – von einer brutalen Aufstandsbekämpfung hin zur Vertreibung der gesamten Bevölkerung. Die Kosovo-Kommission kam zum Schluss, der Rückzug der un-bewaffneten OSZE-Beobachtermission und die Bom-benangriffe hätten eine Umgebung geschaffen, die den massiven Gewalteinsatz möglich gemacht habe.145

Die Verantwortung für die Folgen einer Interven-tion bezieht sich nicht nur darauf, ob die eingesetzten Mittel die Ziele erreichen können. Sie geht darüber hinaus. Denn jede Intervention, auch eine rein huma-nitär begründete, ist eine Parteinahme in einem Kon-flikt.

146 Wer interveniert und in einem Bürgerkrieg Partei ergreift, der übernimmt Verantwortung für die absehbaren Gesamtfolgen. Und dazu gehören in Bür-gerkriegen erfahrungsgemäß Racheakte und Massaker auf jeder Seite. Deshalb muss alles Mögliche getan werden, um die unterstützte Seite von solchen Verbre-chen abzuhalten. Diese sind in der Summe vielleicht geringer als die staatlichen Gewaltakte, die zur Inter-vention führten, dennoch gilt die übernommene Schutzverantwortung auch für solche absehbaren Opfer. Insofern sind Berichte über Massaker, die an Anhängern und Kämpfern Gaddafis verübt wurden, moralisch beunruhigend.147

144 Siehe dazu Godfrey, Humanitarian War in Theory and Practice [wie Fn.

Die längerfristige Verant-wortung wird im Fall Syriens von den Befürwortern

143], S. 180–191. 145 Independent International Commission on Kosovo, Kosovo Report [wie Fn. 128], S. 88f. 146 Siehe Richard K. Betts, »The Delusion of Impartial Inter-vention«, in: Foreign Affairs, 73 (1994) 6, S. 20–33. 147 Siehe United Nation Human Rights Council, Report of the International Commission [wie Fn. 130].

einer wie auch immer gearteten militärischen Inter-vention eher heruntergespielt als ernsthaft erwogen. Gerade die Erfahrung mit der Entwicklung in Libyen zeigt, dass es zu Anarchie kommen kann, wenn staat-liche Strukturen zerstört werden – und unter Umstän-den zu einem Krieg aller gegen alle, in dem besonders Minderheiten gefährdet sind.148 Massaker an einem Teil der Bevölkerung zu verhindern, aber mit der Intervention gleichzeitig den Weg zu Massakern an einem anderen Teil der Bevölkerung zu ebnen, ist keine verantwortungsvolle Politik.149

Humanitäre Interventionen mit dem Ziel, Men-schenleben zu retten, werden oft als schnelle Opera-tion zu geringen eigenen Kosten dargestellt. Tatsäch-lich aber stehen die Intervenierenden schon bald vor der Entscheidung, zügig wieder abzuziehen und das betroffene Land in Instabilität, vielleicht sogar Bürger-krieg zurückzulassen oder langfristig engagiert zu bleiben, Staatsaufbau zu betreiben und eine ganze Gesellschaft zu transformieren.

150 Als bloße Kurzzeit-therapie können humanitäre Interventionen kaum erfolgreich sein, geschehen die Menschenrechts-verletzungen doch in einem Kontext, der eine dauer-hafte Befriedung verlangt. Und das erfordert, wie in Bosnien oder dem Kosovo, eine beständige Form inter-nationaler Präsenz und Governance. Deren Erfolgs-chancen wiederum sind nach bisherigen Erfahrungen eher skeptisch zu bewerten.151

Denn Konflikte, wie sie während der letzten Jahr-zehnte beispielhaft etwa in Bosnien und im Kosovo aufbrachen, lassen sich eben nicht rasch lösen. Hier handelt es sich um einen Konflikttypus, der in der einschlägigen Literatur als »communal conflict« oder »communal civil war« bezeichnet wird. Von ideolo-gisch motivierten Bürgerkriegen unterscheidet er sich in einem wesentlichen Punkt: der Selbstdefinition der

148 Siehe Michael Walzer, »Syria«, in: Dissent, 9.3.2012; Peter Beaumont, »One Year On: Chaotic Libya Reveals the Perils of Humanitarian Intervention«, in: The Guardian, 19.2.2012. 149 So David Roberts, Arguments against Military Intervention in Syria, London: Royal United Services Institute (RUSI), 8.2.2012 (RUSI Analysis), <www.rusi.org/analysis/commentary/ref: C4F328B3696A01/#.UJfJhO1FSts>. 150 Siehe George Friedman, »The Problem With Humanita-rian Wars«, Real Clear World, 5.4.2011, <www.realclearworld. com/articles/2011/04/05/immaculate_intervention_the_wars_of_humanitarianism_99466.html>. 151 Siehe dazu Michael Newman, Humanitarian Intervention: Confronting the Contradictions, New York: Columbia University Press, 2009, S. 138–180 (Chapter 5: After Intervention).

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Menschenrechte und Militärgewalt: Zur politischen Ethik humanitärer Interventionen

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Gruppen, die sich antagonistisch gegenüberstehen.152

Militärische Einsätze, wie sie seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder durchgeführt wurden, sind meist Interventionen in Staaten, über deren Kultur und Ge-sellschaftsverhältnisse nur ein sehr begrenztes Wissen auf Seiten der extern Eingreifenden besteht. Interven-tionen sind daher mit einem weit größeren Maß an Ungewissheit behaftet, als es Versuche sind, Politik und Gesellschaft im eigenen Staat zu beeinflussen und zu steuern.

Bei ideologischen Konfrontationen sind Gruppen-zugehörigkeit und Gruppenantagonismus nicht durch gemeinsame Abstammung, ethnische Zugehörigkeit und historisch gewachsene Identität geprägt, sondern durch weltanschauliche Überzeugungen und Partei-nahmen. Sie sind damit zu einem gewissen Grad flexi-bel und veränderbar. Anders ist dies bei »kommuna-len« Auseinandersetzungen – jenem Konflikttypus, der in den Bürgerkriegen seit Ende des Ost-West-Gegen-satzes vorherrscht; dort fehlt diese Durchlässigkeit. Das hat im Verlauf eines gewaltsamen Konfliktaus-trags erhebliche Konsequenzen: Identitäten verfesti-gen sich, das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung wächst, es kommt zu Vertreibungen (»ethnischen Säu-berungen«), und eine Konfliktlösung durch politische Machtteilungsarrangements ist äußerst schwer. Das heißt auch, dass externes Eingreifen in der klassischen Form – nämlich durch militärische Intervention zur Gewaltbeendigung, Ausarbeitung einer politischen Lösung, humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau – längerfristig keineswegs erfolgreich sein muss.

153 Der anfängliche technokratische Opti-mismus, wie er sich im Anspruch des »liberal peace building« – des Aufbaus demokratischer Staaten mit marktwirtschaftlicher Ordnung – niedergeschlagen hatte, ist mittlerweile allgemeiner Skepsis gewichen; Erfolgsaussichten und Effektivität von Interventionen werden eher kritisch bewertet.154

152 Hier und im Folgenden stütze ich mich auf Daniel By-man/Taylor Seybolt, »Humanitarian Intervention and Com-munal Civil Wars: Problems and Alternative Approaches«, in: Security Studies, 13 (Herbst 2003) 1, S. 33–78 (besonders S. 38–42).

153 Zur Problematik siehe Rory Stewart/Gerald Knaus, Can Intervention Work?, New York/London, 2011, S. XXf. 154 Siehe Isabelle Duyvesteyn, »The Effectiveness of Inter-vention Instruments in Armed Conflict: Conflict Resolution Is the Only Solution?«, in: Gelijn Molier/Eva Nieuwenhuys (Hg.), Peace, Security and Development in an Era of Globalization. The Integrated Security Approach Viewed from a Multidisciplinary Perspective, Dordrecht 2009, S. 99–128; zur Auseinander-setzung mit der Kritik am »liberal peacebuilding« siehe

Die Libyen-Mission spiegelte diese Ernüchterung wider. Es handelte sich um eine Intervention ohne die Bereitschaft, längerfristig Verantwortung zu überneh-men. Wenn aber ein Regime gestürzt wird, können Anarchie und Bürgerkrieg die Folge sein – mit dem Ergebnis vielleicht weit größerer Opferzahlen, als sie durch die Intervention verhindert wurden.155 Eine Untersuchung von 100 Fällen eines »foreign-imposed regime change« zwischen 1816 und 2008 kommt zum Ergebnis, dass in den Fällen, in denen mit externer Unterstützung eine neue Führung an die Macht ge-langt, das Risiko eines Bürgerkriegs in der unmittelbar danach folgenden Phase (Zeitraum von zehn Jahren) signifikant steigt.156

Optimistische Erwartungen, die sich an einen von außen durchgesetzten Regimesturz knüpfen mögen, sind empirisch nicht gedeckt. Gerade weil eine Invention zur Beseitigung eines Regimes mit langfristigen Risiken verbunden ist, lässt sie sich im Sinne der »Schutzverantwortung« nur schwer legiti-mieren.

Roland Paris, »Saving Liberal Peacebuilding«, in: Review of International Studies, 36 (2010), S. 337–365. 155 Siehe die kritische Position von Benjamin H. Friedman, »Intervention in Libya and Syria Isn’t Humanitarian or Liberal«, in: The National Interest, 5.4.2012. 156 Das gilt nicht für jene Fälle, in denen mit externer Unter-stützung eine alte, zuvor gestürzte Führung an die Macht zurückgebracht und somit der Status quo ante wiederherge-stellt wird. »Foreign-imposed regime change« wird verstanden als die Entfernung einer politischen Führung durch die ange-drohte oder ausgeübte Intervention eines anderen Staates, sei es durch offene militärische Gewalt, sei es durch verdeck-te Operationen. In den meisten Fällen geschieht dies durch ausländische Truppen oder durch ausländische Truppen im Verein mit Aufständischen. So das Ergebnis von Alexander B. Downes, Catastrophic Success: Foreign-Imposed Regime Change and Civil War, Department of Political Science: Duke University, Durham (North Carolina), unveröffentlichtes Papier o.J. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine andere Untersu-chung. Demnach erhöhen »foreign-imposed regime changes« im Gefolge zwischenstaatlicher Kriege, die die staatliche Infrastruktur zerstört haben, die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs beträchtlich. So Goran Peic/Dan Reiter, »Foreign-Imposed Regime Change, State Power and Civil War Onset, 1920–2004«, in: British Journal of Political Science, 41 (2010), S. 453–475.

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Fazit

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Fazit

Deutlich geworden sein sollte: Das Prinzip der Schutz-verantwortung begünstigt einen militanten Moralis-mus, der die ethischen Probleme humanitär begrün-deter Militärinterventionen eher ignoriert als reflek-tiert. Die mit solchen Militäreinsätzen verbundenen Dilemmata verschwinden nicht einfach, weil der R2P-Diskurs den alten, vielfach kontroversen Begriff der humanitären Intervention vermeidet. Der Verantwor-tungsbegriff im R2P-Diskurs ist konzeptionell verengt und wird in seiner gesinnungsethischen Ausrichtung den komplexen Problemen nicht gerecht, die mit dem Einsatz militärischer Gewalt verbunden sind. Entgegen einer moralisierenden Haltung gilt es, die Dilemmata anzuerkennen, die mit jeder Entscheidung für oder gegen eine Intervention verbunden sind.157

In der Summe legen die analysierten Probleme und Dilemmata den Schluss nahe: Menschenrechtlich be-gründete Militärinterventionen sind nur in Extrem-situationen moralisch zu rechtfertigen. Wenn die menschlichen Kosten einer solchen Intervention im Vergleich zum Nutzen unverhältnismäßig groß sind und/oder es unwahrscheinlich ist, dass die angestreb-ten humanitären Ziele erreicht werden, dann ist im Sinne einer konsequentialistischen Bewertung die Intervention moralisch falsch. Dies gilt auch dann, wenn der Einsatz militärischer Gewalt das Kriterium der Ultima Ratio erfüllt.

158

Das heißt: Es sprechen nicht nur pragmatische, sondern gerade auch moralische Gründe dafür, die Schwellenkriterien für eine mit dem Prinzip der Schutzverantwortung begründete Militärinterven-tion sehr hoch anzusetzen. Der amerikanische Politik-wissenschaftler Robert Pape hat als Kriterium, das eine Intervention rechtfertigen würde, den Tatbestand einer »mass homicide campaign« vorgeschlagen. Wenn eine Regierung in koordinierter, massiver Form inner-halb kurzer Zeit Tausende von Zivilisten töte und der

In beiden Fällen – Propor-tionalität und Erfolgsaussichten – handelt es sich um eine prospektive Bewertung, die mit etlichen Un-gewissheiten behaftet ist.

157 Zum Fall Syrien siehe hier Josef Joffe, »Der Westen steckt in einem schrecklichen Dilemma«, in: Handelsblatt, 9.8.2012. 158 Siehe Ned Dobos, »Rebellion, Humanitarian Interven-tion, and the Prudential Constraints on War«, in: Journal of Military Ethics, 7 (2008) 2, S. 102–115.

Tod Tausender weiterer zu erwarten sei, dann werde die Schwelle überschritten, die eine Intervention und damit die Verletzung der Souveränität rechtfertige.159 Ein hoch angesetztes Schwellenkriterium würde auch dem Problem des »moral hazard« entgegenwirken – dass man nämlich ein unverantwortliches Handeln von Aufständischen fördern könnte, die davon aus-gehen, ihr Risiko sei von externer Seite abgesichert.160

Ein weiteres Erfordernis, das Robert Pape in seinem Konzept der »pragmatic humanitarian intervention« nennt, lässt sich ebenfalls ethisch rechtfertigen: dass militärisch die Rettung einer beträchtlichen Zahl von Menschen möglich ist – und zwar zu niedrigen Kosten (in der Zahl eigener Verluste) für die eingreifenden Staaten. Und eine dritte Voraussetzung ist nach Pape erforderlich: Es muss die Aussicht bestehen, dauer-hafte Sicherheit schaffen zu können, ohne dass dies einer langfristigen militärischen Präsenz bedarf (in der Praxis ist das dann möglich, wenn Opfer und Täter territorial getrennt werden können – sei es durch eine autonome Zone oder einen neuen Staat – oder wenn sich eine politische Regelung mit weit-gehender Demilitarisierung erreichen lässt).

161 Das bedeutet auch, humanitäre Interventionen auf das direkte Ziel zu konzentrieren, Menschenleben zu retten. Entkoppelt werden sollten sie dagegen von Regimesturz und dem dann gebotenen kostspieligen, aller Erfahrung nach schwierigen und selten erfolg-reichen Nation-Building.162

Der Vorschlag, solche ethisch begründbaren prag-matischen Standards völkerrechtlich zu kodifizie-ren, dürfte gewiss nur geringe Realisierungschancen haben.

163

159 Pape, »When Duty Calls« [wie Fn.

Doch diese pragmatischen Standards sind es

62], S. 53ff. 160 Siehe Alan J. Kuperman, »Rethinking the Responsibility to Protect«, in: The Whitehead Journal of Diplomacy and Interna-tional Relations, (Winter/Frühjahr 2009), S. 19–29. 161 Siehe Pape, »When Duty Calls« [wie Fn. 62], S. 55–61. 162 So Amitai Etzioni, »The Case for Decoupled Armed Interventions«, in: Global Policy, 3 (2012) 1, S. 85–93. 163 Der Vorschlag nach Pape: »Overall, a new treaty against mass homicide would reinforce the proposed new standard and its guiding intuition: humanitarian intervention can have an important place in international foreign policy with-out creating moral obligations beyond the capacity of states to fulfill.« Pape, »When Duty Calls« [wie Fn. 62], S. 80.

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Fazit

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wert, in einer viel zu häufig moralisierten Debatte offensiv unterstützt zu werden. Denn angesichts der Probleme, die mit menschenrechtlich begründeten Interventionen einhergehen, sind sie ethisch über-zeugender als der schnelle Ruf nach einem militäri-schen Einsatz, wie ihn das Prinzip der Schutzverant-wortung zu legitimieren scheint.