Philippe Lacoue-Labarthe, Künstlerporträt, allgemein (Dudweiler: AQ-Verlag, 1980)

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PHILIPPE�COUE-BTHE •• NSTLERPORTRA ALLGEMEIN eine Studie zu Urs Lüthis »Just another sto about leaving« AQ-VERLAG

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On Urs Lüthi, "Just another Story about Leaving"

Transcript of Philippe Lacoue-Labarthe, Künstlerporträt, allgemein (Dudweiler: AQ-Verlag, 1980)

PHILIPPE�COUE-LABARTHE

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KUNSTLERPORTRAT, ALLGEMEIN

eine Studie zu Urs Lüthis »Just another story about leaving«

AQ-VERLAG

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PHI LIPPE LACOUE-LABARTHE

Geboren 1940 in Tours. Lehrt seit-1967 Philosophie an der Universität Straßburg.

Redaktionsmitglied der Zeitschrift ,Poetique' und der Reihe ,Ia philo­sophie en effet' im Ver�Bg Flammarion. Leitet seit 1976 zusammen mit Mathieu Benezet die Zeitschrift und die Reihe ,Premiere livraison' im Verlag Christian Bourgois.

Copyright 1980 (deutsche Ausgabe): AG-Verlag, Beim Weisenstein 6, D-6602 Dudweiler. Titel der Originalausgabe: Portrait de l'artiste, en general. Copyright: 1979 Christian Sourgois Editeur, 8 rue Garanciere, Paris.

Übersetzung: Erwin Stegentritt Umschlag: Anita Lüdi Satz und Druck: H. A. Theis GmbH, D-6620 Völklingen Printed in W.-Germany

ISBN: 3-922441 -15-7

I

Künstlerporträt, allgemez·n

BAUDELAI RE Mein entblößtes Herz, 25. BI.

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Kann die Kunst identifiziert werden?

So müßte die dringendste und entscheidenste Frage mit der Mehrdeutig­keit ihrer Syntax lauten: die einzige Frage, wenn man diese Frage über­haupt noch stellen könnte. Aber die ganze frage liegt wohlverstanden genau darin zu wissen, ob es noch möglich ist, eine solche Frage zu stel-

·len. Und wer wäre genaugenommen in der Lage, dies zu tun?

Es mag absurd und billig, vollkommen nutzlos erscheinen: nichts ist ein­facher als eine Frage über die Frage selbst und über ihre eigene Möglich­keit endlos zu wiederholen. Nichts ist weniger überraschend oder ist heute sogar überholt. Gleichzeitig existiert der "Kunstmarkt" und es geht ihm zumindest dadurch nicht schlechter .

Ob man es wissen will oder nicht, hier liegt dennoch die notwendigste al­ler Schwierigkeiten.

Wodurch ist das bedingt?

Sicher nicht durch die Weite oder die Allgemeingültigkeit der Frage: Tag für Tag stellen wir schwerwiegendere, weitreichendere oder komplexere Fragen; auch hängt es nicht mehr von ihrer Abnutzung oder ihrer Banali­tät ab, die uns dazu zwingen würde, sie zu ihrer äußersten Grenze zu trei­ben, damit sich ein wenig Interesse an ihr belebt. Es hängt im Grunde davon ab, daß die Frage "Kann die Kunst identifiziert werden" in Wirk­lichkeit die ursprüngliche, inaugurale Frage ist, von der aus sich unser Begriff der Kunst in seiner grundlegenden Unveränderlichkeit unter den Verschiedenheiten an der Oberfläche, der Begriff, den man gezwungen ist als abendländisch -- d. h. philosophisch - zu bezeichnen, definiert hat und noch immer definiert . So daß wir diese Frage, wenn wir sie wieder­holen müssen (sucht gut: wir haben keine andere), wir sie kaum weniger als in aller Unschuld oder in aller Einfachheit wiederholen k9nnen, es sei denn, wir ließen uns im voraus durch eine bereits gegebene Antwort, die unter der einen oder anderen Form immer schon die bereits gegebene Antwort gewesen ist (auch weil sie selbst einfach in der Frage enthalten ist), verleiten: die Kunst läßt sich nur identifizieren als das, was sich nicht identzfizieren läßt. Und daß man nach alldem manchmal Zwang an­wenden muß, um ihre )dentität" zu fixieren, oder daß ein "Kunst­markt" existiert, der Gesetzen unterworfen ist, die bekannt sind (d. h . die nicht bekannt sind), ist wahrscheinlich diesem verwirrenden "Wider­spruch" nicht ganz fremd.

Die Angelegenheit wäre dennoch weniger folgenschwer, wenn es nicht sehr wahrscheinlich wäre, daß diese Frage, die gleiche Frage- vorausge­setzt, sie ist nicht die allererste Frage - zumindest zu den ersten Fragen als solchen gehört, durch die sich die Philosophie, d. h . der allgemein fragende Diskurs: unser Diskurs selbst eigentlich abgrenzt. Ein alter, stets naheliegender Verdacht, der aber nie eingestanden wird: vielleicht könn­ten wir, wenn es die Kunst nicht geben würde, nicht einmal fragen, so unfähig, wie IJI.(ir weniger in Wirklichkeit wären, "Unterschiede zu ma­chen", im Bestehenden zu unterscheiden, als daß wir unfähig wären, den Abgrund des Selbst bis zu einem Schwindelgefühl zu erfahren, in dem allein so etwas wie die Differenz zu zittern beginnen kann. Vielleicht lei­ten wir aus jenem mysterienlosen Wort Kunst die Möglichkeit ab, uns immer wieder zu vergegenwärtigen, daß Dieses, was sich als Jenes wieder­holt, sehr wohl weder Dieses noch Jenes sein könnte, und daß wir darum die Frage stellen: was ist das? Vielleicht ist die Kunst par excellence das, was Fragen aufruft. in diesem Falle wäre es ohne die geringste Schwierig­keit zu verstehen, und es wäre nicht verwunderlich, wenn wir beim Fra-

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gen nicht zu dem zurückkehren könnten, von dem aus wir unsere Fragen befragen - von wo wir das Vermögen zu fragen haben. Es wäre nicht ver­wunderlich, wenn die Kunst immer (ich will sagen: immer noch) nicht unsere Gewißheiten oder unsere Antworten, sondern unsere Fähigkeit zu fragen still zum Erzittern bringen könnte. Wenn wir vor der Kunst­nun, jene endlose und stumme antwortlose Antwort auf eine nie gestell­te Frage, beginnend mit der anonymen, nicht entzifferbaren Einkerbung von irgendwelchen Stöcken oder von einem unbestimmten Oval, irgend­wo auf dem Stein, - nicht nur nie die "richtige" Frage stellen, sondern unser NichteWissen im Grunde unaufhörlich unter Beweis stellen, so machtlos, wie wir angesichts von Tod und Geburt sind.

II

Den Kult der Bilder verherrlichen (meine große, mezne einzige, mezne ursprünglichste Leidenschaft)

BAUDE LAI RE Mein entb lößtes Herz, 38. BI.

Zitat B lanchot

Das Bild spricht zu uns und es scheint uns, daß es auf intime Weise zu uns spricht. Aber , intim' ist noch zu wenig; intim bezeichnet jene Ebene, auf der die Intimität der Person zerbricht und in dieser Bewegung weist das Bild auf die bedrohliche Nähe eines unbestimmten und leeren Aufsen

. hin, das die schäbige Grundlage ist, auf der sie weiterhin die Dinge in ihrem Verschwinden bestätigt. Bezüglich eines jeden Dinges spricht es so zu uns von weniger als diesem Ding, von diesem weniger als nichts, was bleibt, wenn es nichts mehr gibt.

MAU RICE B LANCHOT L'espace litteraire

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Denkt man nach, so scheint es einfach unausweislich zu sein, zu Beginn ein Beispiel zu nehmen. Deshalb 'Nerde ich mich im folgenden auf eine Serie von neun photographischen Selbstp8rträts beziehen, die von Urs Lüthi 1974 unter dem Titel "Just another story about leaving" heraus­gebracht wurden; (ich verstehe kein Englisch, man kann aber ungefähr so übersetzen: einfach eine andere Geschz'chte des Abschz'eds.) Ist es auf­grund der Anführungszeichen- oder aufgrund zweifelhafter Reminiszen­zen, daß ich mich des unbestimmten Eindrucks nicht erwehren kann, daß es ein Zitat ist. Das erklärt es auch für mich, daß es, wenn ich genau darauf acht gebe, entfernt wie ein T i tel von Baudelaire klingt.

Um was handelt es sich?

in Wirklichkeit kann man nur schwerlich von Selbstporträts sprechen. Und zweifellos auch nicht einfach von simplen Photographien; der Ver­dacht kommt schnell, daß diese beiden Schwierigkeiten im Grunde nur eine einzige ist. Doch braucht es-eine gewisse Zeit, um sich dessen zu ver­gewissern.

Denn man könnte annehmen, daß von dem Augenblick an, in dem eine Photographie die deutlichen oder undeutlichen Spuren einer Abschwei­fung von der Finalität, in dem ,ll.,ugenblick, in dem sie innerhalb einer ih­rer im Prinzip zugeordneten Gebrauchswerte (als Dokument, als Erinne­rungsstütze, als Illustration, als Testament, usw.) in ihrer wichtigsten Funktion und in ihrer unheimlichen Kraft pervertiert ist (die ihr zu Recht zustehende endlose und garantielose Reproduktion sowie Dupli­kation), in dem Augenblick, in dem, wenn man es so lieber will, durch irgendein Verfahren sich die Photographie als "Bild" ausgibt, um sich in den Bereich dessen einzuführen, was Benjamin - der ihr zu Recht die Möglichkeit sich als solche dort einzuführen absprach - das "Ausstell­bare" nannte, in diesem Augenblick müßte man jegliche Möglichkeit schwinden sehen, sie immer noch ohne Schwierigkeit als "Photographie"

identifizieren zu können.

Das geschieht jedoch nie. Eine noch so verfremdete, noch so "artiSti­sche" Photographie, die man sich vorstellen kann, bleibt immer "Photo­graphie". Was ganz einfach nicht heißt, daß sie nicht in denjenigen Be­reich eintreten kann, den wir für den Bereich der Kunst halten. Was aber sicherlich heißt, daß ihr Eintritt in diesen Bereich, wenn er sich auf die eine oder andere Art vollzieht, bewirkt, daß wir diesen Bereich nicht mehr ganz als den der Kunst auffassen können. Es braucht dafür in kei­ner Weise der Vermittlung einer Maschine oder eines Apparates, der ange­nommenen Verkleinerung der Arbeit oder des gefürchteten Auslöschens durch die stets mögliche Multiplikation des Selben, eines jeden Originals. Paradoxerweise sind dies nur Folgen. Aber es bedarf gut und gern der Schwäche eines Subjektes - wenn es nicht die des Subjektes im allge­meinen ist. ln der Tat eine Frage der Identzfikation: wir werden uns gleich daran messen.

Daß die Photographie, welche dem Photographischen entrissen ist, nichtsdestoweniger immer "Photographie" bleibt und letzten Endes jeg­liche Diskremini.erung verbietet, ist nicht nur das, was Lüthi sehr genau weiß, sondern es ist ganz eindeutig das, was ihn interessiert und aus dem er, wenn man es so sagen kann, seinen Vorteil zieht. Der Beweis wird im Falle der Serie, mit der ich mich hier beschäftige, geliefert durch das von der Galerie Stad I er herausgegebene Heft, das sicherlich als Katalog dienen soll und das pro Seite eine Photographie der neun "photographischen" Selbstporträts zeigt.* Wichtig ist hierbei nicht, daß der Notwendigkeit ge­horcht werden mußte, die "ausgestellten Werke" zu reproduzieren. Das

*Neudruck 1979, AO-Verlag (A.d.Ü.)

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kann nicht übergangen werden, aber alles hängt von dem Dispositiv ab, das ihm, Lüthi, ermöglicht, die Notwendigkeit zu adoptieren und das nur seil"len Sinn darin findet, den überlegten Gebrauch der Photographie als solcher vorauszusetzen. Dieses Dispositiv hat nur den Sinn, den Unter­schied zwischen der Illustration (hier des Titels) und der einfachen und reinen Duplikation, welcher der reproduktiven Funktion überhaupt inne­wohnt, in die Verwendung des Photographischen als solchem einzube­ziehen.

DBr Umschlag des fraglichen Heftes wird gänzlich eingenommen von dem Photo einer Landschaft, auf dessen Hintergrund sich Titel, Datum und Name des Künstlers weiß abheben. Sie zeigt eine vom Strand aus am Abend aufgenommenen Bucht: ein dunkler Vordergrund mit Meeres­fläche, die in der ganzen Länge von elektrischen Kabeln durchquert wird, welche die Horizontlinie verdoppeln, und die auf der rechten Seite eine schvvere, mehr oder weniger alte glockenförmige Lampe einer Straßenbe­leuchtung halten, im Hintergrund in nebliger Entfernung Vorgebirge, die sich vage und undeutlich v<;m einem bewölkten, weiten Himmel abheben, der relativ hell ist im Vergleich zum gleichmäßig dunklen Meer (es ist eigentlich eine Gegenlichtaufnahme), ausgenommen eine glitzernde Flä­che ganz links, wo sich die massive und schwarze Silhouette eines Schif­fes deutlich abzeichnet: eine Geschichte des "Abschieds", das ist gewiß, in der Dämmerung, die paradoxerweise oder banalerweise schon nostal­gisch ist und erneut an Baudelaire erinnert, und die folglich an einen Abend (wenn nicht an den Abend) des vergangenen Jahrhunderts erin­nert und an jene Inschriften der Industrie in der abendländischen Land­schaft, die heroisch akzeptiert wurden als Träger einer "modernen"

Poesie. Kurz·, als Träger einer ganzen Mythologz'e - und in keiner Weise ein Dekor, wenn die Illustration ebenso Illustration einer Art von "See­lenzustand", wie sie Illustration des Titels ist, d. h. nicht ohne Ironie (im engen Sinn des Wortes) die Illustration eines Subjektes._

Unter dem vergrößerten und leicht zur Seite verschobenen Abdruck eines zweiten englischen Satzes, der mit der Maschine geschrieben ist (weniger ein Epigraph als eine Anrede, eine Mitteilung, ein Brieffragment, oder eher in Form der Anrede ein Untertitel: you are not the only who is lonely, Du bist nicht der Einzige, der allein ist), trägt der Innentitel sei­nerseits die Signatur des Künstlers, die gleichzeitig Faksimile- Photo­graphie und Photokopie ist, des Autors also, oder desjenigen; den man rechtens dafür halten kann. Noch einmal ein Subjekt, was immer es auch sei. Dasselbe?

Man braucht kein großes Licht zu sein, um zu sehen, daß darin die ganze Frage liegt -die die Photographie (eine derartige Verwendung der Photo­graphie) stellt. Es ist nicht sicher, ob in der Reproduktion, von der Illu­stration zur Duplikation, vom evozierten Subjekt zum "Unterzeichner''

- und um ein heutzutage gebräuchliches Vokabular zu verwenden- : vom Geäußerten (enonce) zum Außernden (enoncant) eine irgendwie geartete Identität garantiert werden kann. Deshalb ist es sicherlich so, daß du (wer?) nicht der Einzige bist, der allein ist, d. h . der Gefahr läuft, "dich"

nicht mehr wiederzuerkennen, wenn in der "wesentlichen Einsamkeit", wie Blanchot sagt, "das Verbergen zu erscheinen beginnt".

Welcher Typ von "Selbstporträt" kann sich nun unter einem solch öff­nenden Umschlag ankündigen? Wessen Gesicht ist tatsächlich "photogra­phiert"?

III

Was ist die philosophische Kunst ( ... )? Es ist eine plastische Kunst, die vorgibt, das Buch zu ersetzen . . . So würde sich die philosophische Kunst ( ... ), wenn sie sich selbst treu bliebe, ( . . . ) dazu zwingen, eben­soviele aufeinanderfolgende Bilder einander gegenüberzustellen, Me zn einem beliebigen Satz, den sie ausdrücken möchte, enthalten sind.

Immerhin zweifeln wir zu recht daran, daß ein hieroglyphischer Satz kla­rer ist, als ein typographischer.

BAUDELAI RE Cu riosites esthetiques, X I X

... ein gutes Porträt erscheint mir immer wie eine dramatisierte Lebens­geschichte, oder vielmehr wie das natürliche Schauspiel, das jedem Men­schen innewohnt.

BAUDE LAI RE Curiosites esthetiques, IX (Salon de 1859 (VII))

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Wenn die Frage so gestellt werden muß, so deshalb, weil die Photogra­phie- schränken wir noch einmal ein: eine bestimmte Verwendung der Photographie - zweifellos dasjenige wesentlich bestimmt, was man als die "Kunst" des Urs Lüthi anerkennt, wenn man sie in die Randzonen der "Body Art" unter die "Travestie" einordnet. Und wenn die "Trave­stierung" trotz allem nur ein Effekt des Photographischen wäre? Lüthi spielt in der Tat mit den Zeichen des sexuellen Unterschieds (Sarduy:

"Die Photos eines Lüthi . . . dessen einziges Objekt Urs Lüthi ist oder vielmehr die programmierte Oszillation zwischen seinem Er und seiner Sie .. . "*). Die große Schwierigkeit bleibt jedoch bestehen, nämlich zu wissen, wer wohl auf diese Weise (photographisches) "Selbstporträt" und

"Travestierung" miteinander verbindet.

"Just another story about leaving" erzählt in der Tat eine Geschichte: diejenige einer fortschreitenden Degradation, eines Alterns (jedoch nicht eines Verwelkens) eines Gesichtes, des "selben" Gesichts. Eine andere Geschichte also, die immer die des "Abschieds" ist (wenn man darunter zumindest das "ein wenig sterben" mitversteht), aber die auch eine Ge­schichte vom Leben (lz'ving), wenn nicht gar letzten Endes die Geschichte eines Lebens ist. Tun wir so, als handelte es sich um eine Autobiogra­phie: das Selbstporträt, welches die Autobiographie verbirgt, dieses ge­horcht lediglich der baudelaireschen Definition des Porträts, um sie mit Hilfe der spiegelnden Umkehrung zu entwickeln oder zu vollenden. Doch es ist unbestreitbar, daß dieses Gesicht (dieses "selbe" Gesicht), zu Be­ginn (beim Abschied)*, wenn ich so sagen kann, das Gesicht einer Frau ist: schön, stolz, unbewegt, erstarrt - eher der Typ des unerreichbaren "Idols". Die deutlich sichtbare, betonte Schminke, die Einrahmung durch das schwere dunkle Haar (der Art eines Zelt von ausgespannten Schatten")*, selbst der Schnitt des Gesichtes (hohe vorspringende Bak­kenknochen, Schatten der Mundwinkel, die die untere Hälfte des Gesich­tes zusammenziehen und wie man sagt, den Mund "glorifizieren"), der Ausschnitt einer Bluse, die man im Hell-Dunkel undeutlich als geöffnet er­ahnt, all dies trägt dazu bei, das überkommene Bild einer Frau zu suggerie­ren. Und daß man weiß, daß es ein Mann ist, oder daß man es aufgrund die-

"beim Abschied", "bei der Abfahrt" bedeuten kann. (A.d.Ü).

einer Bluse, die man im Hell-Dunkel undeutlich als geöffnet erahnt, all dies trägt dazu bei, das überkommene Bild einer Frau zu suggerieren. Und daß man weiß, daß es ein Mann ist, oder daß man es aufgrund die­ser oder jener Einzelheit annimmt (Die Körnung der Haut zum Beispiel, die durch die Schminke, durch das Make-up unterstrichen wird; wahr­scheinlich auch der Blick), daß man das "Zwiespältige" (nicht das grobe

"Zweifelhafte", aber die Übertreibung, der zitternde Exzeß der Osten­tation) aufspürt, all das hat im Grunde nicht die geringste Bedeutung. Da ist zweifellos ein Mann, aber einer, der die Frau in sich sehen läßt. Das kann verwirrend sein und umso verwirrender - wie man weiß -, als es eine vollkommene Schau ist, die unendlich viel mehr entblößt als-die an­gebliche Nacktheit selbst. Das ist übrigens sicherlich, d. h. unfehlbar, obszön. Aber es ist in keinem Fall störend, weil, wie immer man darauf schaut, es sich identzfizieren läßt: es ist ein Mime.

Wenn es eine Verstörung gibt, so ist sie doch nicht unmittelbar, sie wird erst durch die "Erzählung" (mit ihrem "epischen Element", wenn man so will) eingeführt: wenn dieses Gesicht, das "selbe" Gesicht nach und nach verfällt. Die Technik, die Lüthi hier verwendet, ist relativ einfach: es ist die Variation, d. h. analog dem, was in der Musik oder in bestimm­ten sehr alten (oder sehr modernen) literarischen Formen geschieht, die Technik der Wiederholung, die jedesmal eine Differenz zum Identischen einführt. Wiederholung des Selbst folglich, die ganz offenbar durch die Photographie gezwungenermaßen eingeführt wird; durch das, was man

*Art Press, Paris, September-Oktober 197 5.

* Im Französischen: au depart, was sowohl "zu Beginn" als auch "beim Abschied", "bei der Abfahrt bedeuten kann.(A.d.Ü.) * Pavillion de tenebres tendu: Baudelaire. Les Fleurs des Mal: Les Cheveux. Blumen des Bösen: Das Haar. Überset­zung von Stefan George. (A.d .Ü.)

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* Die "Tafelbilder" Lüthis sind als Unikate auf Leinwand ent­wickelte. Photographien. (Dies trifft jedoch nicht mehr auf die neueren Arbeiten, besonders seit 1978 zu.) (A.d.Ü.)

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mangels eines besseren Begriffs die Gegebenheit der Photographie zu nen­nen gezwungen ist. Daraus erklärt sich übrigens auch, daß die schwindel­erregende Feinheit der Metamorphose (\Nir werden sehen, daß Lüthi in Wirklichkeit mit einem doppelten Unterschied spielt: Geschlecht und Alter) paradoxerweise nicht viel den durch die Photographie angebote­nen Möglichkeiten im Bereich von Illusion, Trugbildern oder trompe­l'oeil verdankt. Lüthi verwendet die Photographie auf eine ganz klassi­sche Art, d. h. er benutzt sie ganz "piktural": die Photographie präsen­tiert sich wie ein Bild, das auf klassische (oder neoklassische) Weise ge­macht ist, sie gibt sich offen als ein Ersatz der Malerei aus.* Deshalb blei­ben selbst der Bildausschnitt und der Blickwinkel identisch. Dagegen än­dert sich leicht die Position des "Subjekts" in bezug zum Objektiv: die Schultern, das Gesicht mehr oder weniger im Halbprofi1; sie drehen sich im Verlauf der Serie- für den Betrachter - von rechts nach links und der Blick in entgegengesetzter Richtung; vor allem aber die Schminke. Es wäre zu einfach zu sagen, es handele sich um eine "Enttravestierung", um eine Art illustriertes " Lob des Abschminkens". Im Gegenteil. Oder vielmehr ist es weder das eine noch das andere: weder Schminken noch Abschminken; aber das eine simultan mit dem anderen. Und alles rührt von dorther (kaum daß Lüthi sich in ein oder zwei Fällen der Beleuch­tung bedient, den Hintergrund verdunkelt, um die Körnung der Haut besser hervortreten zu lassen, die Falten des Gesichts zu unterstreichen, den Blick zu verdüstern oder selbst um den Hemdkragen oder die ver­meintliche "Bluse" des Beginns deutlich werden zu lassen.).

IV

Der Mann kann vielleicht nur das Ungeheuer der Frau und die Frau kann nur das Ungeheuer des Mannes sein.

DIDEROT Entretlen avec d'Aiembert

Ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits ge­storben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.

1\!IETZSCHE Ecce homo

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Aus gutem Grund rührt alles daher, daß die Illusion des Alterns (es ist eine vorausgegriffene Geschichte, eine projektierte imaginäre (Auto)­s-iographie) in diesem "selben" Gesicht dessen männlichen und weibli­chen Teil affiziert. Genau gesagt, die Degradation, die man vielleicht auch als ein seltsames Schöner-Werden ansehen sollte (die Haare mehr und mehr zurückgekämmt, geben immer mehr die Ohren und die Stirn frei und werden weiß; der schwermütig werdende, erlöschende B Iiek, eine deutlich gemachte Müdigkeit, usw.); die "Degradation" also, die zunächst das Gesicht männlich (oder wieder-männlich) werden läßt, läßt am Ende durch eine man weiß nicht wie geartete unbewegliche innere Drehung­man muß sich vielleicht einen ]anus unifrons und dennoch doppelt vor­stellen - auch das Gesicht einer alten Frau durchscheinen, die wie man­che alte Frauen in der Tat etwas Männliches an sich hat. Am Vorabend des Todes- die Geschichte bleibt anscheinend "zur rechten Zeit" stehen - ist es so, als würde das Gesicht "des Anderen" zum Vorschein kom­men. Aber der Andere in Bezug zu wem? Und folglich welcher Andere? Das zu entscheiden ist unmöglich.

> 1 o o o o o 0 o o o o o o 0 o o o o 0 o o o o o o o o 0 0 o 0 o o o o o o 0 I o o o o 0 o o o o o 0 o o o o o 0

Am Vorabend des Todes gewiß. Aber das ist auch eine "Träume­rei" über den Tod, und ich glaube sogar eine geradezu "photo­graphische" Träumerei über den Tod. Ich will damit sagen: eine Träumerei, die nur Sinn gewinnt von dem Photographischen als (miserablen, in allen seinen Formen das Mißlingen zeigenden) Er­satz der großen Malerei. Ich lese die Zeilen von Blanchot: sie sa­gen sehr genau, was hier "passiert", oder zumindest was hier pas­sieren könnte, wenn etwas anderes als die Verdoppelung, das Bild vom Bild, das schlimmste der Bilder im Spiel ist:

"Das Bild gleicht auf den ersten Blick nicht dem Leichnam, aber es wäre möglich, daß die leichenhafte Fremdheit auch zum Bild gehört. Was sterbliche Hülle genannt wird, entgleitet den gewohn­ten Kategorien: vor uns ist etwas, das weder das Lebende in Per­son ist, weder irgendeine Realität, weder der Selbe als der Leben­de, weder ein anderer, noch etwas anderes .. .

Es ist eine überraschende Tatsache ( . . . ) , daß in dem Augenblick, in dem die Gegenwart des Leichnams vor uns die des Unbekann­ten wird, der betrauerte Verstorbene sich selbst zu ähneln be­ginnt .

,Sich selbst': ist das nicht ein falscher Ausdruck? Müßte man nicht sagen: der, der er war, als er noch lebte? ,Sich selbst' ist dennoch richtig. ,Er selbst' bezeichnet das entfernte und uner­reichbare unpersönliche Sein, das die Ähnlichkeit von irgend­jemand sein kann, auch ans Tageslicht bringt. Ja, er ist es gewiß, der liebe Lebende, aber er ist dennoch mehr als er, er ist schöner, beeindruckender, er ist bereits Denkmal und so vollkommen er selbst, daß er wie von sich selbst gedoubelt scheint, durch die Ähnlichkeit und durch das Bild vereint mit der feierlichen Un­persönlichkeit des Sich. Dieses großartige, wichtige und hervor­ragende Wesen, das den Lebenden wie die Erscheinung des Ori­ginals, das bislang unbekannt gewesen ist, vorkommt, mit dem Urteilsspruch des Jüngsten Gerichts eingeschrieben in den Grund des Wesens, und das sich mithilfe der Entfernung triumphal zum Ausdruck bringt: vielleicht erinnert es vermittels seines Anscheins an Souveränität an die großen Bilder der Klassik. Wenn dieser Be­zug begründet ist, scheint die Frage nach dem Idealismus in dieser

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* "soll icitation" bedeutet so­wohl , Inanspruchnahme' als auch ,Erschütterung'. {A.d.Ü.)

* Deutsch im Original. Vgl.

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Kunst ziemlich müßig; daß aber der Idealismus letztendlich kei­nen anderen Garant als den Leichnam hat, kann festgehalten wer­den, um zu zeigen, wie sehr das offensichtliche Geistige und die reine formale Unberührtheit des Bildes ursprünglich mit der ele­mentaren Fremdheit und der ungeformten Schwere des in der Abwesenheit anwesenden Wesens verbunden ist.

Man betrachte dieses glänzende, Schönheit ausstrahlende Wesen noch einmal: es ist, wie ich sehe, sich selbstvollkommen ähnlich: es gleicht sich. Der Leichnam ist sein eignes Bild. Er unterhält mit dieser Weit, in der er auftritt, nur noch die Verbindungen eines Bildes, einer dunklen Möglichkeit als ein stets hinter der lebenden Form gegenwärtiger Schatten, der jetzt - weit davon entfernt, sich von der Form zu trennen- diese vollständig in Schatten ver­wandelt. Der Leichnam ist der Reflex, der das reflektierte Leben zu beherrschen sich anschickt, es absorbiert und sich substantiell mit ihm identifiziert, insem er das Leben von seinem Gebrauchs­und Wahrheitswert zu etwas Unglaublichem übertreten läßt -zum Ungewohnten und Neutralen. Und wenn der Leichnam so sehr ähnlich ist, so rührt das daher, daß er in einem bestimmten Moment die Ähnlichkeit par excellence, ganz und gar Ähnlich­keit ist, und er ist auch nichts darüberhinaus . Er ist das absolute, überwältigende und wunderbare Ähnliche. Aber wem ähnelt er? Dem Nichts."

Es ist nicht' möglich, die Frage zu entscheiden, weil das Ähnlichsein stän­dig abnimmt. Deshalb bleibt die Geschichte am Vorabend des Todes stehen, in dem unbezeichenbaren Augenblick, der dem Aufrichten des Leichengesichts als absolutem Ähnlichsein {und sei es im Grunde gleich null), als reine Unpersönlichkeit, als sich selbst identischem Bild und als vollendete Spiegelung vorausgeht; kurz, als Gestalt {im Sinne einer "Pla­stik", wenn man sich diese Redundanz erlauben darf). Das Gesicht, hier dieses "selbe" Gesicht, ist in keiner Weise eine Figur. Noch ist seine Ge­schichte oder sein zumindest doppeltes "Schicksal" in irgendeiner Weise Fiktion. Es handelt sich ganz im Gegentei I um Degradation - was nach­geprüft werden muß, wenn es überhaupt nachprüfbar ist - es handelt sich um die Degradation des "Monumentalen", um den Zusammenbruch des "Typs", um das Auslöschen, als seiner eigenen Inschrift vor all dem, was man sich unter dem Namen des "Epitaphs" vorstellen kann. Und wenn es richtig ist, daß die ersten historisch faßbar�n Autobiographien, wie Reik irgendwo sagt, Grabinschriften sind, wenn es wahr ist, daß das Biographische immer dem Thanato-graphischen gleichkommt, dann kann nichts in dieser "anderen Geschichte" {die vielleicht das Andere jeder Geschichte ist) auf irgendein·e Art auf die Autothanatographie bezogen werden. Der Tod ergibt hier keinen Sinn, er sanktioniert nicht: es gibt keine Sanktion. Das bedeutet, daß sich weder Leben noch Tod hier ent­schlüsseln lassen. Ebensowenig, als sich das eine oder das andere Ge­schlecht hier zu erkennen gibt. Die Inanspruchnahme/Erschütterung* des Seiben und des Sich-Selbst {des Auto-) verwirrt und vermischt die angeblich gesicherte, fixierte und stabile Aufteilung von Gegenwart und Abwesenheit, des Belebten und des Toten, des Männlichen und des Weiblichen.

Daraus müssen die Konsequenzen gezogen werden.

Und man darf sich zunächst nicht überstürzen und hier das sakro-sankte Unheimliche* "identifizieren" - um es sogleich wie es sich gehört auf

die nicht weniger sakro-sankte Kastration zu reduzieren. Nicht, daß es falsch wäre; es wäre im Gegenteil sogar exakt. ln dem Maße, in dem es sicherlich nur geringer Anstrengung bedürfte, um die analytische Proble­matik des Travestismus wieder zu erreichen, der Art, wie sie Sarduy, via Saffouan (Etudes sur l'OEdipe), auf Lüthi oder auf "Travestie-Kunst" im allgemeinen anwendet:

Nie galt es mehr, ein Fantasma zur Schau zu stellen und sogar es der Wirklichkeit aufzudrücken: die Polaraids und die Auslöser mit Zeitverzö- ' gerung ermöglichen es heute, einen der paradoxesten (kaum vorstellba­ren) Züge des Fantasmas zur Darstellung zu bringen: die Gegenwart des Subjekts - wie im Traum -in dem Bild, das das Subjekt vor sich hat. Der Transvestit, oder allgemeiner gesagt, derjenige, der seinen_Körper bearbeitet und ihn ausstellt, investiert die Wirklichkeit seiner Bildhaftig­keit, zwingt sie mithilfe von Arrangement, Umformung, Mischen und Make-up auf die Seite seines Spiels überzuwechseln, und dies nur auf mimetische und ephemäre Weise. Im Bereich des Transvestiten, in dem durch seine Metamorphose magnetisierten Feld, in der Galerie, in der er zum Bild wird, ist alles Phallus: überall, selbst in der Schmiegsamkeit der Boas und des MousseZins gibt es Erektionen. Oder vielmehr ist durch dz'eses kosmetische Abbz'ld hindurch der Phallus, wz'e ein großartiges Ge­schenk, das nicht zurückgewiesen werden kann, allen Dingen hz'nzuge­fügt. Die Zeremonie des öffentlz'chen oder verheimlz'chten Travestis­mus, der stets photographiert wz'rd - wie um über jeden Zwezfel hinweg zu bestätigen, daß sie gewesen ist -feiert, ritualisiert und stellt nur die Chronik eines Augenblickes auf: den Augenblick, in dem die unerträg­liche Abwesenheit des Phallus durch die Wirksamkeit der Schminke zu­grunde ging.

Aber ist Lüthi - zweifellos im Unterschied zu Castelli, Journiac oder einigen anderen - ein Transvestit? Kann er sich als solcher identifizie­ren lassen? Ist das, was in "seinem" ("femininen") Gesicht altert ein Mann oder eine Frau? Und handelt es sich denn um ein Altern? Die Fra­ge bejahen würde bedeuten, ohne mit der I nanspruchnahme/Erschütte­rung des Selbst zu rechnen, d. h. ohne die Konjunktion von Maskerade (das kann, wie es andere Serien zeigen, gelegentlich eine einfache Ver­kleidung sein) und Photographie: ohne die Verdoppelung -die Wieder­holung - des mimetischen Spiels (Mime und Reproduktion, falscher Schein und Cliche, Täuschung und Kopie) oder wenn man will, ohne die verallgemeinernde Instabilität, ctie die Exhibition der Simulation für "sich selbst" durch den Einbruch der Photographie provoziert. Eine Simulation, die sich von da an von keiner Wirklichkeit mehr unterschei­det.

Wollte ich ein Werk schreiben, das wie die anderen Werke mit Sorgfalt ge­schrieben wäre, würde ich mich nicht abmalen, sondern ich würde mich schminken. Hier jedoch handelt es sich um mein Porträt und nicht um ein Buch. Ich werde also sozusagen in der camera obscura arebietn; es ist dazu keine weitere Kunst nötig, als die, genau die Züge nachzuzeich­nen, die ich abgebildet sehe. Ich setze mich als mit dem Stil so ausein­ander, wie ich es mit den Dingen tue. (. . . ) Indem ich mich zugleich der Erinnerung an erfahrene Eindrücke und dem gegenwärtigen Gefühl hin­gebe, werde ich meinen Seelenzustand in zweifacher Weise zeichnen, d. h. einmal in dem Augenblick, in dem mir ein Ereignis zugestoßen ist und zum anderen, in dem Augenblick, in dem ich es beschreibe.

Freud, G. W. Bd. XII. (A.d.Ü.)

ROUSSEAU: Ebauche des Confessions (Ent­wurf der Confessions) .

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Es wäre deshalb an der Zeit, daraufzurückzukommen, daß die offensicht­liche autobiographische Antizipation (es kann auch eine autothanato­graphische Antizipation sein, es ist ganz gleichgültig: in jedem Fall han­delt es sich um eine Allographie) ebensosehr eine Art identifikatorische, aber ihrerseits doppelte Projektion ist, wie sie auch unmerklich auf den Vater oder auf die Mutter verweist. Anders ausgedrückt, die Antizipation ist ebensosehr Regression: es ist ebenso Lüthi, der "seinen" Tod träumt oder andererseits "seine" Geburt mimt; der "sich" als alte Frau vollendet oder als geschlagenes Genie (es gibt etwas Versteinertes oder Halluzinier­tes, Verschlossenes über einem unnennbaren Schmerz, was an bestimmte DagiJerrotypien von Baudetaire in seinen letzten Jahren erinnert); oder es ist Lüthi, der mit den Mitteln einer Art künstlicher und fabrizierter (un­möglicher) Archäologie "seines" Ursprungs, "seiner" ursprünglichen Ge­staltung oder "seiner" ererbten Hinterlassenschaft daran arbeitet, seine Mutter wieder zu erschaffen. Oder seinen Vater. Seine eigene Mutter oder sein eigener Vater, das ist nicht zu leugnen, aber von wem er (oder sie) sein eigenes Geschlecht oder irgendeine Ähnlichkeit hat, das vermag man nicht zu sagen. Die Enteignung ist hier (aber wo in Wirklichkeit, an welchem Ort?) allgemein und endlos: kein Diskurs und keine Analyse kann die Definition dessen fixieren, den oder die " Lüthi" photogra­phiert, wenn er "sich" photographiert. Das Selbstporträt - das heißt in diesem Fall das "Photoporträt" (man mag darunter verstehen, was man will) - ist in Wirklichkeit Alloporträt: niemandes "Porträt" oder auch das Porträt desjenigen, den Blanchot in seinen Texten über das Bild "den gestaltlosen Jemand" nennt: derjenige, der genau nur in der "Zeit der Abwesenheit von Zeit"

"auftaucht", in dem unaufhörlichen, bevorste­henden und immer wieder hinausgeschobenen Kommen des Todes, dort wo (das Hier, das im Nirgendwo, hier, zusammenfällt) "dasjenige, was gegenwärtig ist, nichts präsentiert, sich repräsentiert, von Anfang an und für immer der Rückkehr angehört": in der Einsamkeit. Deshalb ist Photo­graphie schon zuviel gesagt. Besser wäre letzten Endes, die "Sk iagra­phie", - so etwas wie "Einschreiben des Schattens" - ins Griechische wiedereinzuführen, wo es das Wort "Zoographie" nachahmt, um die Ma­lerei zu bezeichnen. Doch das wäre zu einfach: denn es gibt hier nicht mehr Identität des "Genres" oder des "Werks" oder gar der verwendeten Technik, als daß sich nicht eine bestimmte Identität des "Subjekts" aus­stellt oder aufdeckt. Die Diskriminierung verbietet sich. Und wenn das Selbstporträt im allgemeinen für eine Variante der Erfahrung des Spiegels gelten kann (was nicht ganz richtig ist, nicht weil ein Spiegel fehlt, son­dern weil das Bild den Blick einfängt und fixiert, was ein Spiegel nie er­möglicht), so verliert :;ich in jenem seltsamen "Spiegelstadium", welches das Alleporträt ist, jede Chance, das Subjekt und sein Anderes (es selbst und sein Fehlen) zu identifizieren oder nicht zu identifizieren. Wie sich jede theoretische, d. h. spekulative Hoffnung verliert, Leben und Tod, Eros und Thanatos zu trennen oder nicht zu trennen. Anders gesagt, den Unterschied zu machen, die Wahrheit herzustellen. Nichts deckt sich "hier " auf, was nicht unendlich verschoben ist.

Antizipierende Anamnese, genaue Verdoppelung des falschen Scheins, Trauer über keinen· Tod, der der zerreißendste der möglichen Trauerfälle ist, Feiern von niemand, in der die narzißtische Verehrung den Höhe­punkt findet, ein Mann, der beschwert ist, sich als Frau zu zeigen, unbe­stimmte Mutter und atypischer Vater, umso weniger Ödipus- Roman, je mehr Familien- Roman, Travestierung, die umso unbefleckter ist, als sie sich als solche zeigt - in einem Wort zusammengefaßt: die fehlerlose Darstellung des Nicht-Darstellbaren: dies würde die Mimesis sehr gut

"selbst" definieren, wenn man eine Definition davon geben könnte oder wenn es per definitionem nicht unmöglich wäre, sie zu identifizieren. Man stelle sich vor, wie die Reaktion Platons vor "dem da" gewesen wä-

re.- Oder die Reaktion von irgendjemand sonst ...

Vielleicht wäre er fasziniert gewesen?

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V

Das Bild ist das, was uns durch einen Kontakt auf Distanz gegeben ist und dz·e Faszz"nation zst die Leidenschaft nach dem Bz"ld ( ... ).Man kann über den, der fasziniert ist, wer immer er auch sein mag, sagen, daß er keinen wirklz"chen Gegenstand erkennt, denn das, was er sieht, gehört nz"cht zur wirklichen Welt, sondern zur unbestimmten Mitte der Faszz"na­tion. Zur sozusagen absoluten Mitte. Die Entfernung ist daraus nicht aus­geschlossen, aber sie zst exorbitant, weil sie die grenzenlose Tz"efe hinter dem Bild z"st, jene leblose Tiefe, die nicht handhabbar zst, die - obgleich nz"cht gegeben - absolut dort gegenwärtz"g zst, wo sich die Gegenstände verlieren, wenn sie sich von ihrem Sz"nn entfernen, wenn sz·e im Bild zu­sammenstürzen. Diese Mitte der Faszination, wo das, was man sieht, das Sehen erfaßt und es unendlz"ch werden läßt, wo der Blick im Licht er­starrt, wo das Licht das absolute Leuchten eines unsz"chtbaren Auges ist, das man dennoch stets sieht, da es unser eigener gespiegelter Blick ist, dz"ese Mitte ist par excellence anzz"ehend und faszinierend: Lz"cht, das auch Abgrund ist, ein erschreckendes, anziehendes Licht, in dem man zugrun­degeht.

B LANCHOT L'espace littE3raire

Daß man mitunter Gesichter verwechselt, hat seinen Grund darin, daß das wirkHche Bz"ld verdunkelt wird von dem gez"stzgen Bild, das ihm ent­springt.

BAUDE LAI RE Raketen, 6. BI.

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So ungenügend das Vorangegangene auch sein mag, ich möchte doch nun zwei Dinge davon festhalten. in Wirklichkeit ist-es ein doppeltes Paradox. Oder vielmehr, allerdings weniger approximativ: zwei Seiten eines zu­künftigen Paradoxes, d. h. ein Paradox, das noch zu erstellen ist, dessen Gliederung man jedoch bereits erahnt.

Es gibt zunächst all das- und vielleicht wird es schließlich dri�li.ch wer­den, davon ein Wort zu sagen - was man die "baudelairesche" Seite bei Lüthi nennen könnte. Und zwar trotz allem, d. h. trotz der Photographie, des- ostentatarischen - Gebrauchsder Photographie. Wenn ich von An­fang an giaubte, vielfältig die gegebenenfalls widersprüchlichen Verweise auf Baudelaire machen zu können, geschah dies weder aus einer Neigung für die "Collage" oder für das "Dekorative", noch unter dem Einfluß ir­gendeines unbestimmten "Analogismus", sondern gerade deshalb, weil der fundamentale Widerspruch, den Baudelaire darstellt, strenggenom­men nicht aufhört, sich in Lüthi zu wiederholen, um sich in ihm aufzu­lösen. Der Widerspruch, den Baudelaire darstellt: weniger der eines rela­tiv oberflächlichen "Heroismus der Dekadenz", Widerspruch - und hier bestätigt und verbietet sich zugleich jede Kunstkonzeption (wenn es nicht die Konzeption der Kunst selbst ist) - eines extatischen und tod­bringenden, erschreckenden Narzißmus - worin sich übrigens die nahe

"Sterilität" Mallarmes abzeichnet, die sicherlich ihren stärksten Aus­druck in dem Bild findet, wenn der Blick blitzartig den des "Anderen" (der Frau), im "Spiegel" trifft (vgl. A une passante). Unter diesem B Iiek­winkei könnte "Just another story . . . " zusammen Mein entblößtes Herz und die Lust zu Malen (Le desir de peindre) sein, das eine über das ande­re gekreuzt, nach dem unmöglichen Chiasmus eines Künstler-Seins oder eines Dandyturns ("Der Dandy muß sein ganzes Streben darauf richten, ohne Unterbrechung erhaben zu sein; er muß leben und schlafen vor einem Spiegel"),* der durch die Verinnerlichung des weiblichen Blickes gehen würde ("Die Frau ist das Gegenteil des Dandy")*.

Erinnern wir uns:

"ünglücklich viellez'cht der Mensch, doch glücklich der Künstler, den dz'e Sehnsucht zerrezßt.

Ich brenne darauf, sie zu malen, die mir so selten erschienen und so bald entflohen ist, wie ein schönes, schmerzlich vermzßtes Ding; hinter dem in die Nacht entführten Reisenden. Wie lange schon ist es her, daß sie entschwunden ist!

Sie ist schön und mehr als schön; sie ist voll von Uberraschungen. Schwarz wiegt in ihr vor: und alles, was sie einem offenbart, ist nächtlich und tief Ihre Augen sind zwei Höhlen, in denen, wie durch Nebel, das Geheimnis glitzert, und ihr Blick leuchtet auf wie derBlitz: ein Feuerausbruch in der Finsternis.

Ich würde sie mit einer schwarzen Sonne vergleichen, wenn man sich ein schwarzes, das Glück und das Licht ausgießendes Gestirn vorstellen könnte ...

Es gibt Frauen, die man besiegen und derer man sich in Liebe er­freuen möchte; aber bei ihr sehnt man sich danach, unter ihrem

B Iiek langsam zu sterben.

*BAUDE LAI RE: Mein entblößtes Herz, 3. BI.

BAUDE LAI RE: Prosadichtungen: Sehnsucht zum Malen (XXXVI)

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INäre ein "Photograph Baudelaire" nicht denkbar?

Das bringt zumindest ein Problem mit sich; und es ist umso schwieriger, als der Gebrauch, den Lüthi von der Photographie macht, seinerseits weit davon entfernt ist, klar zu sein. Zweites Paradox oder zweite Seite des Paradoxes: es schien mir offensichtlich - allerdings ist dies eine schreck­liche Offensichtlichkeit- daß Lüthi durch die Photographie die "große Malerei" nachahmt. Doch ist es nicht weniger sicher, daß es die Photo­graphie allein ist (und wiederholen wir es, daß Lüthi dies sehr wohl weiß), die diese Präsentation oder diese Darstellung des Nicht-Darstell­baren von Darstellbarem, der Abgrund des Spiegelhaften und des Imagi­nären sowie des mimetischen Chaos (d�r Öffnung) erlaubt, die durch eine solche Handhabung des "Selbstporträts" sichtbar wird, sofern man die Dinge etwas genauer untersucht. Was bedeutet dies bezüglich der Photographie? Bezüglich der Funktion der Photographie? Interessiert Lüthi die Photographie für sie selbst (Was heißt das überhaupt?). Oder ist sie nur ein Mittel? Ein Mittel wozu?

VI

Was an der Daguerrotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Töd­liche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Herein­blicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen auf­nimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt.

BENJAMI N Über einige Motive bei Baudelaire

Sich im Spiegel betrachten z"st das nicht an den Tod denken? Erkennt man darin nicht sein Vergängliches? Das Unsterbliche sieht darin Sterb­liches.

VALE RY Cahiers

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Wenn man solche Fragen stellen muß, so geschieht das wohlverstanden, weil sie sich hier von selbst stellen; aber auch, weil sie in verallgemeiner­ter Form seit nunmehr über einem Jahrhundert die "Kunstkritik" be­schäftigen. Es gibt ein Schlagwort, daß mit dem Auftauchen der Photo­graphie dem Kunstwerk die Stundegeschlagen habe und sie seiAen Nie­dergang beschleunigt habe. Sie habe zumindest die Kunst gezwungen, zu Jeagieren" bis in unsere Tage hinein, wo sie gezwuf1gen war-trotz hun­dert "heroischen" Jahren -die Waffen zu strecken. Doch dieses Schlag­wort selbst, und heute umgekehrt und mit einem positiven Wert behaftet (die Kunst muß abgeschafft werden, nicht wahr?) ist nicht befriedigend, was für ein Schlagwort auch normal ist. Warum stellt sich letzten Endes die Frage in diesen Begriffen? Warum sollte, andersherum (?), nicht ein gewisser Niedergang der Kunst auf die eine oder andere Art das Auftau" chen der Photographie provoziert haben? Und was versteht man genau unter "Niedergang der Kunst"?

Obwohl man jeder Versuchung einer " Reduktion" mißtrauen muß, be­sonders in Bezug auf Benjamin, so findet sich dennoch die bei weitem strengste Darstellung des Problemkreises bei ihm. Was kann man also bei ihm finden? Wenn ich trotz allem vereinfache, folgendes: daß die Re­produktion die Authentizität zerstört. Gewiß weiß Benjamin, daß )m Prinzip selbst, das Kunstwerk stets reproduktionsfähig gewesen ist"; und das, was er andererseits Authentizität nennt und obgleich es sich um einen, wie man sagt, "philosophisch überladenen" Begriff handelt (es ist das "hz"c et nunc des Kunstwerks, die Einzigartigkeit seiner Gegenwart dort, wo es ist"), ist es anscheinend nicht so einfach: denn wie man weiß, verweist es auf das, was Benjamin als Aura bezeichnet, wovon die Authentizität lediglich eine profane Ableitung ist, eine banale Säkulari­sierung, ja sogar das einfache "Substitut". Die Aura ihrerseits jedoch, durch die sich der Kult (das Religiöse) definiert in Gegensatz zum Aus­stellbaren (was das Artistische im eigentlichen Sinne ist, worauf ich noch zurückkommen werde) - die Aura also ist in ihrer Struktur·selbst unre­duzierbar auf das klassische Schema der Gegenwart oder der Wahrheit, selbst wenn ihre Definition alle ihre Elemente notwendigerweise daraus entleiht (beginnend mit dem Verschleiern und dem Verbergen). Da dies sich ungefähr zur gleichen Zeit bei Heidegger vollzieht (ich glaube, daß dieser Vergleich skandalös erscheinen mag, aber für wen, genaugenom­men?), -seine Vorlesungen über die Kunst (Der Ursprung des Kunst­werks) sind sozusagen mit Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ( 1936) zeitgleich, unterhöhlt mit neuem Anspruch (ganz) gegen und nahe bei Hege!, der Bezug auf das Religiöse und das Ritual in der Kunst, unwiderbringbar die "metaphysische" Bestimmung der Wahrheit. Und vielleicht ist es keinesfalls zufällig, wenn sich die Aura ganz nah zur heideggerschen Entfernung als "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" definiert.

Dennoch bleibt es nicht weniger wahr, daß das entscheidende Moment des Niedergangs der Kunst, oder zumindest einer wesentlichen Mutation innerhalb der Kunst, eines beispiellosen Wandels ihrer Konstitution der Verlust der Authentizität ist: die Reproduktion (Wiederholung) stürzt die Funktion der Kunst um: "Von der photographischen Platte zum Bei­spiel ist eine Vielzahl von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. ln dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundie­rung auf Politik.* Was ist nun aber der tatsächliche Grund für einen sol­chen Umsturz?

* Benjamin, Die Kunst im Zeit­alter der technischen Reprodu­zierbarkeit.

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* Benjamin, Die Kunst im Zeit­alter der technischen Reprodu­zierbarkeit.

* Benjamin, Die Kunst im Zeit­alter der technischen Reprodu­zierbarkeit.

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Hier bereitet Benjamins Antwort Schwierigkeiten. Wenn man von der Kunst spricht, von der Kunst im eigentlichen Sinne, so spricht man strenggenommen vom Ausstellbaren: die Kunst, als solche, und vom Kult befreit, ist das Ausstellbare: "Mit der Emanzipation der einzelnen Kunst­übungen aus dem Schoße des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Aus­stellung ihrer Produkte. Die Ausstellbarkeit einer Porträtbüste, die dahin und dorthin verschickt werden kann, ist größer als die einer Götterstatue, die ihren festen Ort im lnnern des Tempels hat. Die Ausstellbarkeit des Tafelbildes ist größer als die des Mosaiks oder Freskos, die ihm vorangin­gen. Und wenn die Ausstellbarkeit einer Messe von Hause aus vielleicht. nicht geringer war als die einer Symphonie, so entstand doch die Sym­phonie in dem Zeitpunkt, als ihre Ausstellbarkeit größer zu werden ver­sprach als die der Messe.* Die Photographie jedoch (die Reproduktion) tut nichts anderes, als das Ausstellbare zu vollenden, indem sie es ver­stärkt:

Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion des Kunstwerks ist dessen Ausstellbarkeit in so gewaltigem Maß ge­wachsen, daß die quantitative Verschiebung zwischen seinen bei­den Polen ( .. . ) in eine qualitative Veränderung seiner Natur um­schlägt. Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das abso­lute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk ge­wissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem J:..usstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag. Soviel ist sicher, daß gegenwärtig die Photographie und weiter der Film die brauchbarsten Handhaben zu dieser Erkenntnis geben.*

Daraus muß geschlossen werden, daß die Photographie gleichzeitig die Kunst, in der sie sich vollendet, zerstört. Oder auch anders ausgedrückt, die Kunst (definiert als das Ausstellbare) enthält selbst ihre eigene Zer­störung und ihren eigenen Tod: nämlich das Ausstellbare selbst. Und die Geschichte der Kunst muß folglich a!s die Geschichte der Selbstzerstö­rung der Kunst konzipiert werden (was trotz allem nichts Absurdes an sich hat). Oder aber - und das ist eine Hypothese, die man zu Unrecht als ihr Gegenteil aufzufassen sich beeilt- es geht alles darauf zurück, daß man auf eine im Grunde sehr hegelsche Art und Weise denkt, daß dasje­nige, was in der Kunst am künstlerischsten ist (das Wesen der Kunst), nicht die Kunst, sondern das Religiöse ist. Streng genommen läuft das auf das Gleiche hinaus, nämlich: die Kunst existiert nicht . Sie setzt sich nur in den Vordergrund, um sich unendlich zu versetzen: sie stellt sich aus und ist stets in und außer sich unbezeichenbar. Besteht darin irgend­eine Beziehung zu der Mz"mest"s, die "selbst" unbezeichenbar ist und die jeder Identifikation entgleitet? Muß man- über dasjenige hinausgehend, was Benjamin determiniert, allerdings gemäß eines ganz klassischen Be­griffs der Reproduktion als der prinzipiellen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks - vermuten, daß das Kunstwerk in einem nichtabgeleiteten Sinn von Anfang an und immer schon Reproduktion ist? So etwas wie der Verfall jeden Originals? Zwingt das Kunstwerk dazu, jenes " Undenk­bare" zu denken: eine ursprüngliche Wiederholung?

Diese Fragen sind noch verfrüht, aber sie sind dennoch notwendig und sie erlauben uns zumindest vage zu erkennen, weshalb Benjamin das mensch� liehe Gesicht zur letzten Verschanzung des Kultes - der Kunst über­haupt? - macht - was uns, die wir " Lüth1" betrachten, in keiner Weise

erstaunt.

ln der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Porträt im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Men­schengesichts wirkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht.*

Und in der Tat ist ein solches Überleben der Aura unleugbar bei " Lüthi"

spürbar, es wäre jedoch oberflächlich, würde man dabei stehen bleiben: wie Sarduy es erkennt, setzt dies nicht nur eine ganze rituelle Verarbei­tung, eine obskure Zeremonie voraus, die mit einer gewissen "heiligen Prostitution" vergleichbar ist (Schminke, T ravestierung, usw.). Aber es gibt das Idol bei " Lüthi". Oder zumindest richtet die Photographie das auf diese Weise, wie für ein Opfer vorbereitete Gesicht als Idol auf und fixiert und heiligt es. Aber gerade: wie für ein Opfer- das des Gesichtes "selbst" - wodurch sich das Idol auflöst. Ein wenig als ob " Lüthi" ver­mittels einer Art Rückbezug der religiösen Besessenheit auf sich selbst (die jedoch nicht akzentuiert, sondern im Gegentei I sie entfernen würde) den Mythos der Photographie überprüft, der der "materialistische" und "phantas(ma)tische" Mythos der Produktion des Doppelgängers, des Einfangens des ",dols" auf Film ist - des eidolon (ich denke an Balzacs Aberglaube, der sich fürchtete, sich photographieren, sich - wortwört­lich - porträtieren zu lassen, aus Angst, eines wiederholten Verlustes seines "Abbildes"): es ist fast so, als ob " Lüthi" mit der selben Gebärde die " photographische Idolatrie" zeigen und auseinandernehmen würde.

"Ein großer Dichter und Philosoph unserer Welt", sagte ich ihm, "hat nach Epikur, und der wiederum nach Demokrit, von jenen kleinen Körpern gesprochen, die fast wie Ihr selbst sind; deshalb überraschen Sie mich nicht durch Ihre Rede und ich bitte Sie, wenn Sie darin fortfahren, mir zu sagen, wie Sie mithilfe dieser Prinzipien die Art und Weise erklären, mit der Sie sich in einem Spiegel malen?"

"Das ist ganz leicht", antwortete er mir, "denn stellen Sie sich vor, daß das Feuer Ihres Auges, wenn es den Spiegel durchquert hat und auf der Rückseite auf einen undurchlässigen Körper ge­troffen ist, der es zurückwirft, es das, durch das es hergekommen ist, wieder durchquert; und da das Feuer jene kleinen Körper trzfft, die sich auf einer ebenmäßigen Oberfläche auf dem Spiegel bewegen, werfen sie es in unsere Augen zurück; und unsere Ein­bildung, die lebhafter ist als die anderen Fähigkeiten unserer Seele, zieht das Feinste davon an sich und macht daraus ein ver­kleinertes Porträt.

Sollte man es bei " Lüthi" mit einer gewissen Perversion des Rituals zu tun haben, mit einer langsamen und systematischen Profanation eines

"Geheimnisses"? Mit einem sorgfältig vorbereiteten Attentat gegen die Kunst - oder gegen den "Kult"?

* Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Re­produzierbarkeit.

CY RANO DE BE RGERAC: I' Autre Monde, les Etats et Em­pires de Ia Lune.

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VII

Das Opfer ist nur vollkommen durch das sponte sua des Geopferten.

BAUDE LAI RE Mein entblößtes Herz, 12. BI.

Der Mensch kann sein eigenes Porträt nicht ertragen. Das Bild seiner Grenze und seiner eigenen Bestimmung bn"ngt ihn zur Verzwezflung und läßt ihn verrückt werden.

VALE RY Cahiers

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Ja und Nein. V ie l eher ja, wenn es einem dennoch gel i ngt , den Sinn des E indringens des Photograp h ischen präz iser zu bestimmen. Was auch die unüberwindbare Schwierigke i t ist , die Benjamin angeht , so ist er doch fast am Z ie l , wenn er s ich zweima l nache inander ( in Das Kunstwerk . . . und im Baudelaire, die nur wenige Jahre ause inander l iegen) mit der i r. jedem Fal l unumgängl ichen Frage des Subjekts beschäftigt. Zum Beisp ie l bezüg l ich des F i lms , des F i lmschausp ie lers : "Das Befremden des Darste l­lers vor der Apparatur, w ie P irande l lo es sch i ldert , ist von Haus aus von der g le ichen Art w ie das Befremden des Menschen vor seiner E rschei­nung im Sp iege l. Nun aber ist das Sp iege lb i ld von i hm ab iösbar , es ist transportabe l geworden. Und woh in wird es transportiert? Vor das Pub l i­kum. * Das gesch ieht auch auf nicht weniger notwend ige Weise, um so­g leich d iese Unheimlichkeit auf den Verlust der Aura zurückzuführen (vermittels der a l le in s ich die pol it ische Analyse, die Benjamin interes­s iert, engagieren kann): "zum erstenma l- und das ist das Werk des F i lms - kommt der Mensch in die Lage , zwar mit seiner gesamten lebend igen Person, aber unter Verz icht auf deren Aura 'vVirken zu rnüssen. Denn die Aura ist an sein H ier und Jetzt gebunden. Es gibt ke in Abb i ld von i hr. * l n demjenigen, der i hn fortdauernd insp ir ierte (zumindest ebenso wie Valery , Proust und P irandel lo), d . h. in Baudelaire, gab es dennoch etwas, was dazu zwingt, die Dinge unter e inem etwas anderen B l ickwinke l zu sehen.

Er innern wir uns an den berühmten Text von 59 über d ie P hotograph ie :

Im Bereich der Malere i und der B i ldhauerei ist das aktue l le Credo ( . . . ) das fo lgende: ", ch g laube an die Natur und ich g laube nur an die Natur ( . . . ). Ich g laube , daß die Kunst d ie exakte Reprodukt ion der Natur ist und nur dies sein kann ( . . . ). So wäre d ie Industr ie, die uns e in der Natur identisches Resultat l iefern würde, die abso lute Kunst. " E in Rachegott hat d ie Wünsche dieser Menge erfü l l t . Daguerre war se in Mess ias. Und nun sagt s ie s ich: "Da uns d ie Photograph ie a l le wünschenswerten Exaktheits­garant ien l iefert (sie g lauben daran, d iese Wahnsinn igen !) so ist d ie Kunst die P hotograp h ie." Von diesem Augenb l ick an stürzte s ich diese dreckige Gese l lschaft wie ein e inz iger Narz iß darauf, i hr tr iviales B i ld auf e inem Stück Meta l l zu betrachten. Wahnsinn und außergewöhn l icher Fanatis­mus überwält igte a l l d ie neuen Sonnenanbeter . Sch l imme Abscheu l ich­keiten ereigneten s ich. Man schme ichelte s ich, tragische und I iebi iche Sze­nen der a lten Gesch ichte darzuste l len , indem w ie Sch lachter und Wäsche­r innen im Karneva l aufgemöbelte Dummköpfe zusammengeste l lt und grupp iert wurden und man d iese Helden bat , sie mögen, solange die Ope­rat ion dauert , i hre diesbezügliche Gr immasse be ibehalten. Irgendein demokrat ischer Schriftste l ler mußte dar in die b i l l ige Mög l ichke it sehen, im Volke den Gefal len an der Gesch ichte und der Malerei zu verbre iten, wobei er auf d iese Weise e in doppeltes Sakr i leg beging, da er zug le ich die gött l iche Malerei und die erhabene Kunst des Schausp ie lers be leidigte. Kurze Zeit später waren tausende g ierige Augen über die Guck löcher des Stereoskops wie über die Fenster zum Unend l ichen gebeugt. Die L iebe zur Obszönität , d ie in dem einfachen Herzen des Menschen ebenso leben­dig ist wie d ie Se lbst l iebe, l ieß eine so lche günst ige Ge legenheit, s ich zu befr ied igen, nicht ungenutzt vorübergehen . . .

Man ste l lt fest und jeder weiß es auch , daß Baude laire h ier gegen das "E inbrechen" der Industrie in die Kunst protest iert, d. h. gegen das, was er eine "Verwechs lung der Funkt ionen" nennt. Ich lasse die ökonomi­schen und po l it ischen lmp l ikat ionen beiseite , denn sie s ind immer noch (trotz Benjamin) v ie l zu komp lex, und ich beschränke m ich darauf, zu betonen, daß erwartungsgemäß das Einbrechen der Industr ie g le ichbe­deutend mit dem Einbrechen des Le ichten und des Bi l l igen, der Ver-

* Benjamin, Das Kunstwerk im Zeita lter der techn ischen Re­produz ierbarkeit.

* Benjamin, Das Kunstwerk im Zeita lter der techn ischen Re­produz ierbarkeit.

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* Wortspiel im Original: Schmutz = immonde, Handels­welt = monde marchand. (.A .. d.Ü.)

BAUDE LA I RE: Mein entblößtes Herz, 25. BI .

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vielfältigung und also der Trivialität ist. Der Schmutz, das ist wie seit jeher die "Handelswelt",* und die Verdammung ist im Grunde nur so heftig in Bezug auf die Deklassierung, auf d ie mitleiderregende und ser­vile Degradation der "Subjekte". Ich betrachte nur den elementarsten Punkt: Baude la lre reagiert oder kämpft im Namen einer bestimmten De­finition (Wesen oder Eigenschaft) von Kunst. Folglich im Namen einer bestimmten Identität der Kunst (eigentlich der Malerei), die sich zumin­dest negativ durch das ihr auferlegte Verbot begrenzen läßt, nicht im allgemeinen zu imitieren (diese Funktion oder diese Aufgabe hat Baude­l aire nie verworfen und es ist auch schwer zu begreifen, wie er es hätte tun sollen), sondern v ielmehr die Natur zu imitieren oder zu kopieren, d. h. wie er etwas weiter schreibt, die "äußerliche Wirklichkeit" darzu­stellen. Und wie wiederum jeder weiß, geschieht das unter der Forderung des Rechts auf das Imaginäre und unter dem Anspruch auf das, wenn man so will, "Geistige in der Kunst',' nicht ohne die "Kreativität" selbst einzusetzen: der produktiven Freiheit des "wahren Künstlers", der Fruchtbarkeit des Genies. "Wer würde es wagen", sagt er anderswo, "der Kunst die sterile Funktion zuzuweisen, die Natur zu imitieren?"

Das scheint vollkommen klar zu sein und bedarf in anbetracht der end­losen Wiederholungen, zu denen diese Art von Texten Anlaß gegeben hat, keines weiteren Kommentars.

Dennoch möchte ich gern die Frage stellen : wie kommt es, daß das erste (und einzige) Beispiel der lmz'tation der Natur, auf die Baudelaire hier stößt, die der Repräsentation des menschlt'chen Subjektes ist : Porträt, Genreszene, "tableau vivant"? Und wie kommt es, daß ein solches Bei­spiel vermittels des brutalen aber traditionellen Mißtrauens, das sich beim Zusammentreffen mit dem "Narzißmus" zeigt, die doch bei Baudelaire überraschende Anklage des Abbildes des Künstlichen, der Maske und der Travestie mit sich bringt? Man wird darauf antworten: das sei einfach die Frage der " Haltung" oder der Vulgarität: die verkleidete Maske gegen­über der erhabenen Kunst des Komödianten, der Kult des (artistischen) I chs gegenüber - um es in einem Wort zu sagen - der obszönen Selbst­liebe, mehr noch, um auf gleicher Ebene zu bleiben, die Erotik gegenüber der Pornographie. Das ist "politisch". Zweifellos, aber nicht nur. Nicht mehr, als es das ln- Frage-Stellen der Begabung und der Arbeit ist (die Photographie als Zuflucht für gescheiterte Maler und als Revanche der Mittelmäßigen). Für Baude !aire sind die beiden Fragen irgendwie mitein­ander verbunden : die der I dentität der Malerei und die der Identität des Subjekts. Die Photographie berührt sowohl die eine als auch die andre. Und dies gerade erschreckt Baudelaire, denn darin zeigt sich dasjenige, was er weiß, nackt, das, was ihm zugleich Abscheu einjagt und ihn faszi­niert: nämlich, daß Kunst "Prostitution" ist ("Was ist die Kunst? Prosti­tution."- Raketen) . Das heißt in Wahrheit : Exposition.

Das ist übrigens nicht möglich, ohne in jedem Sinn zu recht an die " Reli­gion des Künstlers" zu rühren. Oder an die Liebe, was auf das gleiche hinausläuft.

Was ist Liebe? Das Bedürfnis, aus sich selbst herauszugehen. Der Mensch ist ein anbetendes Tier. Anbeten heißt sich opfern, sich prostituieren. Daher ist jede Liebe Prostitution .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ficken, das heißt danach streben, in einen anderen einzudringen, der

Künstler hingegen geht niemals aus sich selbst heraus .

Analyse der Gegen-Religionen, Beispiel: d ie Tempel-Prostitution. Was ist das Wesen der Tempel-Prostitution? ( . . . ) Der Mystizismus , Mittelglied zwischen Heidentum und Christentum. Heidentum und Christentum beweisen sich gegenseitig.

Das allerprostituierteste Wesen ist das Wesen aller Wesen, das heißt Gott, ( . . .) denn er ist der allen gemeinsame unerschöpfliche Brunnquell der Liebe.

Mein entbößtes Herz, 39. BI.

Mein entblößtes Herz, 4 . BI.

Mein entblößtes Herz, 25. BI.

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VIII

In ihr (= d�r Malerei) nämlich bricht sich das Prinzip der (. . . ) Subjekti­vität, das Prinzip unseres Daseins und Lebens, zum erstenmal Bahn, und wir sehen in ihren Gebilden das, was in uns selber wirkt und tätig ist.

HEGE L Aesthetik, 1 1 1 , 3 , 1

. . . die Fortschritte der Malerei ( . . . ) eben darin bestanden haben, sich zum Porträt hinzuarbeiten.

HEGE L Aesthetik, II I, 3, 1

Wenn ein Kind sez'nem Vater auffällz'g glez'cht, so muß dieser bald sterben, da das Kind sein Abbz'ld oder Sc.hattenbild an sich gezogen hat.

Hz'er fügen sz'ch die interessanten mythologz'schen Uberlz'eferungen an, welche den Glauben an die befruchtende Wz'rkung, die dem Schatten zu­geschrieben wird, auch beim Spiegelaberglauben zeigen.

OTTO RANK Der Doppelgänger

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Daher rührt be i Baudelai re das Verlangen, d ie Photograph ie e inzudäm­men und sie d ienstbar zu machen . Es handelt sich dabei zweifellos weni­ger um einen "Kompromis", \Nie Benjamin annimmt, als v ielmehr um einen r ichtigen - und selbstverständlich ehrlosen -Exorz ismus. Die Photographie bedroht trotzdem die Malerei zu sehr: "Wenn es der Photo­graphie erlaubt ist, d ie Kunst in e inigen ihrer Funkt ionen zu ersetzen, so w ird sie s ie dank der 1latürlichen Unterstützung, die sie in der Dummheit der Massen f indet, bald völl i�rsetzt oder verdorben haben. Sie muß des­halb zu ihrer wahren Aufgabe zurückkehren, die dar in besteht, D iener in der Wissenschaften und der Künste zu sein, e ine ergebene D ienerin je­doch, w ie die Druckkunst und d ie Stenograph ie, die weder d ie L iteratur geschaffen noch ersetzt haben. "

Dies ist e ine furchtbare Log ik der Stellvertretung und des Ersatzes : als se i d ie Photograph ie für die Malere i das, was d ie Druckkunst für d ie L ite­ratur ist. Aber es g ilt, das Subjekt zu retten -die Seele, w ie Baudela ire sagt, d. h. d ie gute Ergänzung : "Wenn es ihr jedoch erlaubt ist, den Be­re ich des Unberührbaren und des Imag inären, dessen, was nur dadurch e inen Wert erhält, daß der Mensch se ine Seele hinzufügt, zu betreten, dann wehe uns !"

Das Subjekt retten. Aber genaugenommen, wen oder was?

Hier b in ich versucht, ganz e infach zu antworten : das Subjekt der Male­rei, was übr igens nichts Einfaches ist, wenn man in d ieser Formul ierung die doppelte Bedeutung des Genetivs m itverstehen w ill. Und wenn man be i d ieser Gelegenheit zu verstehen beg innen will, daß das Selbstporträt nach alldem v ielle icht nichts anderes ist als das Paradigma der Malerei . Ihr Beispiel.

Anders ausgedrückt, die metaphys ische Kunst par excellence. Descartes : Antwort des Verfassers auf die fünften Einwände, Med itat ionen :

" Wenn Du aber fragst, " woher ich denn beweisen könnte, daß die Idee Gottes in uns sei wie ein dem Werke aufgeprägtes Kennzei­chen, und welches die Art der Einprägung sei, und welches die Form dieses Kenn-zeichens", so ist das ebenso, wie wenn ich auf einem Gemälde so große künstlerische Vollendung vorfinde, daß z"ch es unbedingt und ausschließlich für ein Werk des Appelles er­kläre und jene unnachahmbare Kunst gewissermaßen für ein Kennzeichen erkläre, das Apelles allen seinen Gemälden zur Un­terscheidung von anderen aufgeprägt hat, Du dann aber fragen wolltest, welches die Form jenes Kennzeichens oder welches die Art der Aufprägung sei. Sicher würdest Du eher verdienen, ausge­lacht zu werden, als eine Antwort zu erhalten."

Wenn Du, um zu bestreiten, "daß wir nach dem Bilde Gottes ge­schaffen sind", sagst, "also sei Gott von lvlenschengestalt ", und die Punkte zusammenträgst, in denen sich die menschliche Natur von der göttlichen unterscheidet, zeigst Du da mehr Scharfsinn, als wenn Du, um zu bestreiten, daß einige Gemälde des Apelles in Anlehnung an die Züge des Alexander gemacht worden sind, sa­gen würdest, also wäre Alexander eine Art Gemälde gewesen, Ge­mälde sind aber aus Holz und Farbstoffen zusammengesetzt,

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* dt. i. Original (A.d.Ü.)

Hege i , Aesthetik, l l, 3, 1 46

nicht aus Fleisch und Knochen, wie Alexander. Es liegt doch nicht in der Natur des Bildes, daß es in allen Punkten dasselbe ist, wie das Ding, dessen Bild es ist, sondern nur daß es jenes in eini­gen Punkten nachahmt. ( . . . ) Wenn Du aber vorziehst, den Schöpfungsakt Gottes mit der Arbeit ez"nes Handwerkers zu ver­glet"chen, lieber als mt"t der Zeugungstätigkeit et"nes l<"aters, so tust Du das ohne jede Uberlegung. Wenn auch nämlich jene drei Arten der Tätigkeit ihrer ganzen Art nach verschieden sind, so liegt es doch näher, von der natürlichen Zeugung auf die göttli­che, als von der künstlichen Erzeugung aus Schlüsse zu zt"ehen. Doch weder habe ich behauptet, daß so große .ifhnlichkeit zwi­schen uns und Gott bestehe, wt·e zwt"schen Söhnen und Vätern, andererset"ts fehlt auch nicht z"mmer jede .ifhnHchket"t zwischen dem Werk et"nes Handwerkers und dem Handwerker selbst, was der Fall z. B. ist, wenn ein Maler sein Selbstbildnis gemacht hat, das ihm gleicht.

( Und wenn die ganze Arbeit "Lüthis" dan·n bestehen würde, das Selbstporträt abzubauen, das Subjekt der Malerei wieder t·ns Spt·el zu bringen, um es auseinanderzunehmen, bis zu welchem Punkt wäre es mir dann, "denkt man nach", noch möglich, zu behaup­ten, ich hätte ihn nur als Beispiel gewählt?)

Es bleibt sicherlich abzuwarten, was man unter dem Motiv : das Subjekt der Malerei genau verstehen kann.

Die Antwort scheint sogleich zu kommen: das Subjekt. Das wenigstens ist in Hegels .ifsthetik zu lesen und man wüßte nicht, daß man in diesem Punkt seither weit vorangekommen sei. Was ist die Malerei eigentlich? Der erste Augenblick der romantischen (der christlichen) Kunst. Was ist die romantische Kunst? Die Aufhebung* der Kunst im eigentlichen Sinn in der Kunst allgemein: die Aufhebung der Kunst par excellence, die für Hege! die klassische griechische Kunst, die Kunst der griechischen Plastik ist: die Kunst der sinnlichen Erscheinung des Geistes in der schönen menschlichen Gestalt:

( . . . ) die Vollendung der Kunst erreichte gerade dadurch ihren Gipfel, daß sich das Geistige vollständig durch seine äußere Er­scheinung hindurchzog, das Natürliche in dieser schönen Eini­gung idealisierte und zur gemäßen Realität des Geistes in seiner substantiellen Individualität selber machte. Dadurch wird die klassische Kunst die begriffsmäßige Darstellung des Ideals, die Vollendung des Reichs der Schönheit. Schönres kann nichts seyn und werden.

Dennoch giebt es Höheres, als die schöne Erscheinung des Geistes in seiner unmittelbaren, wenn auch vom Geist als ihm adäquat er­schaffenen, sinnlichen Gestalt. Denn diese Einigung, die sich im Elemente des Aeußeren vollbringt, und dadurch die sinnliche Realität zum angemessenen Daseyn macht, widerstrebt ebenso­sehr wieder dem wahren Begriff des Geistes, und drängt ihn aus seiner Versöhnung im Leiblichen auf sich selbst, zur Versöhnung seiner in sich selber zurück. (. . . ) Der Geist, der die Angemessen­heit seiner mit sich, die Einheit seines Begriffs und seiner Reali­tät zum Prinzip hat, kann sein entsprechendes Daseyn nur in sei­ner heimischen, eigenen Welt der Empfindung, des Gemüths, überhaupt der Innerlichkeit finden.

Dad urch erklärt es sich, daß die romantische Kunst, die Kunst der Verin­nerlichung und des Geistigen im allgemeinen mit der Malerei beginnt als sinnlicher Darstellung der Subjektivität in ihrem ersten Moment (der Subjektivität, die immer noch allein in sich liegt: dem Gefühl ) . Oder wenn man es lieber will, beginnt sie mit der Malerei als Darstellung der Vergeistigung selbst, d. h . als Repräsentation der "Passion" des fleischge­wordenen Geistes und seiner Auferstehung, seiner Rückkehr zu seiner wahren Natur, die darin besteht, Subjekt zu sein. Was immer die Malerei darstellt, sie hat nur ein Sujet: das Subjekt*.

( . . . ) daß die Malerei das Gemüth zum Inhalt ihrer Darstellungen ergreift. Was im Gemüth lebt, ist nämlich in subjektiver Weise vorhanden, wenn es seinem Gehalt nach auch das Objektive und Absolute als solches ist . ( . . . ) Dem scheint zwar der Umstand zu widersprechen, daß wir auch die äußere Umgebung des Men­schen, Gebirge, Thäler, Wiesen, Bäche, Bäume ( . . . ) u. s. f. viel­fach von den berühmtesten Malern zum Gegenstande von Gemäl­den vorzugsweise ausgewählt sehen, doch was in solchen Kunst­werken ihres Inhaltes ausmacht, sind nicht diese Gegenstände selbst, sondern die Lebendigkeit und Seele der subjektiven Auf­fassung und Ausführung, das Gemüth des Künstlers, das sich in seinem Werke abspiegelt, und nicht nur ein bloßes Abbild äußerer Objekte, sondern zugleich sich selbst und sein Inneres liefert.

Von den Folgen bezüglich dessen, was mich hier interessiert, nenne ich willkürlich drei Punkte:

1 . Die Malerei ist theoretischer Natur (d. h. sie ist spiegelhaft) :

In der Malerei liegt die Befriedigung nicht im wirklichen Seyn, sondern in dem bloß theoretischen Interesse an dem äußern Wie­dererscheinen des lnnern, und sie entfernt damit alle Bedürftig­keit und Anstalt zu einer räumlichen, totalen Realität und Orga­nisation.

2. Die Malerei hat auf gewisse Weise (worauf ich noch zurückkommen werde) ihren Höhepunkt im Porträt :

Indem nun die Malerei unter den bildenden Künsten am meisten der besonderen Gestalt und dem partikularen Charakter das Recht ertheilt, für sich herauszutreten, so liegt ihr vornehmlich der Uebergang in das eigentliche Porträtmäßige nahe . Man hätte deshalb sehr Unrecht, die Porträtmalerei, als dem hohen Zwecke der Kunst nicht angemessen, zu verdammen.

3 . Die Malerei ist im wörtlichen S inn photographischer Natur :

Das Prinzip des Lichts ist das Entgegengesetzte der zu ihrer Ein­heit noch nicht aufgeschlossenen schweren Materie. Was man auch vom Licht sonst noch aussagen möge, so steht doch nicht zu leugnen, das es absolut leicht, nicht schwer und Widerstand lei­stend, sondern die reine Identität mit sich und damit die reine Beziehung auf sich, die erste Idealität, das erste Selbst der Natur ist. Im Licht beginnt die Natur zum erstenmal subjektiv zu wer­den ( . . . ) . Nach dieser Seite der ideelleren Qualität des Lichts wird es zum physikalischen Prinzip der Malerei.

Man wird dennoch bemerkt haben, daß Hegel gegenüber dem Porträt als solchem (wenn man wi II : im engeren Sinne) und obgleich er es fast ent-

* Das französische Wort ,sujet' bedeutet sowohl Stoff, Inhalt, ,Sujet', als auch Subjekt. Die folgende Argumentation spielt mit beiden Bedeutungen. (A.d.Ü.)

Hege I, Aesthetik, 1 1 1 , 3 , 1

Hege I, Aesthetik, 1 1 1 , 3 , 1

Hege I, Aestheti k, 1 1 1 , 3 , 1

Hegel, Aesthetik, 1 1 1 , 3 , 1

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Hegel, Aesthetik, 1 1 1 , 3 , 1

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gegen jeder Tradition zu den "hohen Zielen" der Kunst zählt, eine leich­te Zurückhaltung zeigt und ein gewisses Unbehagen zu verspüren scheint. Der Grund dafür scheint zunächst einfach zu sein : weil das "Subjekt der Malerei" sich trotz allem (d. h. trotz der notwendigen Inkarnation der Innerlichkeit, des Ichs oder der Seele) nicht mit dem empirischen Sub­jekt selbst zu vermischen vermag. Das wahre Subjekt der Malerez', sein ideal bestimmter Inhalt und sein Wesen in seiner eigenen Wahrheit ist das Gefühl als solchem.

Das Gefühl jedoch - und darauf wollte ich hinaus- ist die Lt'ebe, denn die Malerei ist eine christliche Kunst. Das heißt, erläutert Hegel, die Ver­söhnung, die reine Befriedigung, durch die die Seele sich mit der Inner­lichkeit im allgemeinen (mit der Innerlichkeit in Gott) vereinigt und sich in Gott wiederfindet, indem sie auf sich selbst verzichtet. Wenn, anders ausgedrückt, das Subjekt der Malerei das Gefühl in Form der Liebe ist, so ist es zumindest doppelt: damit die Seele sich wiederfindet,setzt es voraus, daß die Seele sich in einem ,,Anderen" als sie selbst wiederfindet. Die Liebe bringt also die Identifikation mit sich weiter voran, nur unter der Bedingung, daß sie auf ein Anderes, wenn nicht gar das Andere be­zieht. Die Liebe "fordert die Verdoppelung der geistigen Persönlichkeit" , wie Hege! es ausdrückt. Das Subjekt ist keinesfalls einzig.

Das ist aber der Grund dafür, daß das Subjekt der Malerei in Wirklichkeit die Mutterliebe ist:

(Da die Malerei) auch den geistigen Gehalt in Form menschlicher, leiblicher Wirklichkeit darzustellen hat, (darf der Gegenstand der Malerei) kein bloßes geistiges Jenseits bleiben, sondern (muß) wirklich und gegenwärtig sein. Hiernach können wir die heilige Familz'e und vornehmlich die Liebe der Madonna zum Kinde, als den schlechthin gemäßen idealen Inhalt dieses Kreises bezeich­nen, (wie schon bei der Betrachtung der romantischen Kunst­form auseinandergesetzt ist) .

IX

Daß uns unsere Kindheit fasziniert, geschieht deshalb, weil die Kindheit der Moment der Faszination und sie selbst fasziniert ist ( . . . ) Vielleicht nimmt die Kraft der Mutterfigur ihren Glanz aus der Kraft der Faszina­tion selbst und man könnte sagen, daß die Mutter diese faszinierende Anziehung ausübt, weil sie dem Kind erscheint, wenn es völlig im Bann der Faszinatz'on lebt, und folgHch konzentriert sie in sich die ganze Kraft der Verzauberung. Weil das Kind fasziniert ist, fasziniert auch die Mutter, und deshalb besitzen die Eindrücke der Kindheit so viel Festigkeit, die von der Faszination herrührt.

MAU RICE B LANCHOT L'Espace l i tteraire

Bei unserem Typus hingegen hat die Libido auch nach dem Eintritt der Pubertät so lange bei der Mutter verweilt, daß den später gewählten Lie­besobjekten die mütterlichen Charaktere eingeprägt bleiben, daß diese alle zu leicht kenntHchen' Muttersurrogaten werden. Es drängt sich hier der Vergleich mit der Schädelformation des Neugeborenen auf; nach protrahierter Geburt muß der Schädel des Kindes den AusgJI-ß der müt­terlichen Beckenenge darstellen.

SIGMUND F RE UD Beiträge zur Psychologie des Liebes lebens

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Letztes Bild.

Und letzter Haltepunkt: wahrscheinl ich der "Haltepunkt" selbst. Das

"Gleiten", in das uns " Lüthi" mit s ich führte und bei der unmöglichen Liebe des "Selbst" zu e inem unbestimmten Narzißmus beginnend, wobei er das Subjekt der Malerei pervert ierte, dieses Gleiten führt unfehlbar zur Mutter zurück, und sei es in ihrer Verunstaltung. So ti.ef " Lüthi" auch die Ident ität berührt, "seine" Identität ebenso wie die Identität desjenigen oder derjenigen, in dem I in der er (s ie) "s ich" erkennt (er/sie findet , .sei­ne/ihre" Ähnlichkeit) oder wie sehr er auch altert (w ie sehr er ahnt, daß "er" wird sterben müssen), er verh indert nicht, daß das Unternehmen zu einem Endpunkt gelangt, und wie sehr es auch, ob man will oder nicht, vom- Narzißmus, von der Travest ierung usw. beherrscht wird, verhindert er n icht, daß es dort an dem Ort zum Halt zu kommen scheint- an dem Ort des letzten (oder ersten?) Bildes der letzten Seite, des e inzigen Bil­des, das isoliert ist und kein Gegenüber hat : das Bild, könnte man trotz­dem sagen, einer rätselhaften Mater dolorosa.

Wenn aber nun die Kunst, dasjenige, was wir noch so bezeichnen müssen, dasjenige wäre, was h ier zum Halt zwingt?

Wenn aber nun " Lüthi" e in " Ursprungsmythos" der Kunst wäre?

Es wäre in der Tat e ine andere Geschichte der Identifikat ion.

Wenn ich hierbei zunächst an den Sinn denke, den dieses Wort- das ich nun zum letzten Mal gebrauche- bei Freud hat, so geschieht das nicht, um auf irgende ine "Psychologie des Künstlers" zu verwe isen. Man könn­te Ffeud auf Lüthi "anwenden". Man könnte zum Beispiel im Kapitel 7 der Massenpsychologie und Ich-Analyse eine Theorie der Identifiz ierung ·suchen. Man würde sie auch dort finden, d. h. man würde unter anderen Dingen (die sehr schnell zu überlesen sind, wobe i man sich r) icht an dem aufhalten darf, was auf diesen Se iten die gesamte Psychoanalyse bedroht) finden, daß die "Identifikat ion" die ursprünglichste Form der affektiven

"Bindung" ist, daß s ie "möglich ist, vor jeder Wahl des Objekts" (des Wunsches), und daß s ie s ich, obwohl "von Anfang an ambivalent", schließl ich nach dem Schema des Ödipus-Szenariums anordnet, es sei denn, es f indet eine Regression statt. Man sieht dort, daß die Identifika­tion e ine doppelte ist ( Lacan spricht von symbolischer Identifikation -mit dem Vater- und imaginärer Ident ifikation- mit der Mutter): daß s ie sich als "neurot ische" Ident ifikat ion um eine isolierte Gemeinsamkeit organisiert ( Lacan sagt:

"trait unaire": Charakterzug), zum Beispiel der

Husten des Vaters bei Dora; daß sie als "

psychot ische" Ident if ikation eine massive M imetik voraussetzt. Und daß diese ihrerse its wiederum eine doppelte ist, oder daß man dafür zumindest zwei Be ispiele nennen kann: die männliche Homosexual ität und die Melancholie. Wohlverstanden wird man s ich auf das erste stürzen und denken: das ist der "ganze Lüthi":

D ie Genese der männlichen Homosexualität ist in e iner großen Reihe von Fällen die fblgende: Der junge Mann ist ungewöhnl ich lange und intensiv im Sinne des Öulipuskomplexes an se ine Mut­te.r f ixiert gewesen. Endlich kommt doch nach vollendeter Puber­tät die Zeit, die Mutter gegen e in anderes Sexualobjekt zu vertau­schen. Da geschieht eine plötzl iche Wendung; der Jüngl ing ver­läßt nicht se ine Mutter, sondern identifiziert sich mit ihr, er wan­delt sich in sie um und sucht jetzt nach Objekten, die ihm sein Ich ersetzen können, die er so lieben und pflegen kann, wie er es von der Mutter erfahren hatte. ( . . . ) Auffällig an dieser ldentifi-

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Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse

Freud, Massenpsycholog ie und Ich-Analyse

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z ierung ist ihre Ausg iebigkeit, s ie wandelt das Ich in e inem höchst w icht igen Stück, im Sexualcharakter, nach dem Vorbild des b is­her igen Objekts um.

Wenn man aber aus Vors icht die Lektüre noch e in wenig fortsetzt? N ach dem h ier notwendigen H inwe is auf den Mechanismus der " Introjektion des Objektes", d ie durch die ident if ikator ische Regress ion hervorgerufen wird, kann man folgendes f inden: immer noch Lüth i :

E i n anderes Be isp iel von solcher Introjekt ion des Objekts hat uns d ie Analyse der Melanchol ie gegeben, welche Affekt ion ja den realen oder affekt iven Verlust des geliebten Objekts unter ihre auffäll igsten Veranlassungen zählt. E in Hauptcharakter d ieser Fälle ist die grausame Selbstherabsetzung des Ichs in Verb indung m it schonungsloser Selbstkr it ik und b itteren Selbstvorwürfen. Analysen haben ergeben, daß diese E inschätzung und d iese Vor­würfe im Grunde dem Objekt gelten und die Rache des Ichs (Hervorhebung Ph. L .-L.) an d iesem darstellen. ( .. . ) D iese Melan-chol ien zeigen uns aber noch etwas anderes ( . . . ) . S ie ze igen uns das Ich (Hervorhebung Ph. L.- L.) gete ilt, in zwe i Stücke zerfällt, von denen das e ine gegen das andere wütet. D ies andere Stück ist das durch Introjekt ion veränderte, das das verlorene Objekt e in­schl ießt.

All das br ingt uns n icht v iel we iter. Man könnte die Beisp iele, d ie Refe­renzen, d ie Z itate verv ielfält igen, man würde dennoch immer w ieder auf

" Lüth i " stoßen. Überall dort, wo es Identif ikat ionen, N arzißmus, Maso­ch ismus und Trauer g ibt - überall dort also, wo das "Primäre" als sol­ches, das Archa ische, all das, was auf den Tod und auf den Todestr ieb zurückführt, im Spiel ist, kann " Lüth i " se in. Und se ine Mutter, d ie Be­g ierde nach se iner Mutter.

Was uns n ichts über " Lüth i " sagen würde, aber alles über d ie Kunst selbst.

Denn die Ident if ikat ion, sagt Freud, ist in der Tat das, womit d ie Kunst beginnt. Und womit das Subjekt in Wirkl ichke it se inen Anfang n immt. Es handelt s ich um e inen Mythos- um einen "wissenschaftl ichen My­thos", wie man we iß: als s ich lange nach dem kollekt iven Mord am Vater der Urhorde und lange nach Konst itution und Zerstörung des Matr i ar­chats, das Patr i archat "def in it iv" organis iert hatte, entfernte s ich das In­div iduum von der Masse und aus der T iefe der "Massenpsycholog ie" re ißt s ich die " Indiv idualpsycholog ie" los. D ies ist der Augenbl ick der Geburt der Kunst, d. h. des Mythos. Freud stellt es wie folgt dar :

Damals mag die sehnsücht ige Entbehrung e inen E inze lnen bewo­gen haben, s ich von der Masse loszulösen und s ich in d ie Rolle des Vaters zu versetzen. Wer d ies tat, war der erste epische D ich­ter, der Fortschritt wurde in se iner Phantas ie vollzogen. Der D ichter log d ie W irkl ichke it um im S inne se iner Sehnsucht. Er erfand den hero ischen Mythus . Heros war, wer alle in den Vater erschlagen hatte ( . . . ). D ie Anknüpfung an den Heros bot wahr­sche inl ich der jüngste Sohn, der L iebling der Mutter, den sie vor der väterl ichen E ifersucht beschützt hatte und der in Ur horden­ze lten der N achfolger des Vaters geworden war. In der lügenhaf­ten Umd ichtung der Urzeit wurde das We ib, das der Kampf­pre is und die Verlockung des Mordes gewesen war, wahrsche in­l ich zur Verführerin und Anst ifter in der Untat.

Der Mythus ist also der Schr itt, mit dem der E inzeine aus der Massenpsychologie austritt. Der erste Mythus war sicher ! ich der psychologische, der Heroenmythus; ( . . . ) . Der D ichter, der d iesen Schritt getan (. . . ) hatte, weiß ( . . . ) doch in der Wirklichkeit die Rückkehr zu ihr zu finden. Denn er geht h in und erzählt d ieser Masse die Taten dieses Helden, die er erfunden hat. Dieser Held ist im Grunde kein anderer als er selbst.

E in Subjekt, oder anders gesagt, das Subjekt als Subjekt der Kunst, des tv1ythos und der Erzählung (was g ibt es darüberhinaus?), das noch nicht exist iert, gewinnt seine Identität und konst ituiert sich, taucht in der Vor­stellung auf und ident ifizi ert s ich mit einem "heroischen Phantasma", welches nichts anderes als das der L iebe ist, ich wi II sagen, der mütterli­chen Bevorzugung, die es ihm erlaubt hat, den Vater zu ersetzen, d. h . . . . s ich mit ihm zu identifizieren. Die Ident ifikation mit dem Vater , durch d ie s ich das Subjekt erhebt, organ is iert s ich erst nach der Identif i­kation mit der Mutter: d ie Liebe zur Mutter ist die Identifikation mit dem Vater. D . h. der "Mord am Vater", an demjen igen, der den "absolu­ten Narzißmus" im Namen eines anderen "absoluten Narzißmus" dar­stellt - desjenigen, so sagt Freud, des K indes in utero. Von der Geburt b is zum Tod, und in entgegengesetzter Richtung, das ist der Weg des spie­gelhaften Erkennens und der Identifizierung: der ruhelose Wechsel zwe i­er Gesichter, in dem das Subjekt "sein" Ges icht sucht.

Am anderen Ende der Geschichte, vielleicht an ihrem äußersten Punkt, erzählt " Lüthi" jenen Ursprung - als ihr Ende: Darstellung der Kunst/ des Künstlers, allgemein. Hier konstituiert und h ier zerlegt, h ier (de)kon­st ituiert sich endlos zwischen Vater und Mutter das Subjekt der Kunst. Wahrscheinl ich deshalb, weil das Subjekt der Kunst s ich nicht reflekt iert. Aber (sich) fasziniert.

Die Faszination ist wesentlich verbunden mit der neutralen, un­persönlichen Gegenwart, dem unbestimmten Man, dem unendli­chen gesichtslosen Jemand. Sie ist die Verbindung, die der Blz'ck, selbst neutrale unpersönHche Verbindung, mit der blick- und konturlosen Tiefe unterhält, mit· der Abwesenheit, die sichtbar ist, da sie blendet.

5. März 1976

S igmund Freud: Massenpsycho­logie und Ich-Analyse, Nach­träge.

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