Physikalische Fragestellungen aus der Zellbiologie: Physiker untersuchen steife Biopolymere und...

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Schwerpunkt 63 „What is Life?“ So lautet der Titel eines Buches von Erwin Schrödinger, dessen erste Auflage im Jahr 1944 erschien. Es ist ein kühner Versuch, einige der Wunder des Lebens im Rahmen der Physik, insbesondere der Statistischen Mecha- nik, zu verstehen. Seit diesem visionären Buch haben wir eine revolutionäre Entwicklung in der Molekularbiologie gesehen. Mit faszinieren- den neuen physikalischen Techniken wie der Einzelmolekülspektroskopie lassen sich biologi- sche Systeme inzwischen quantitativ analysie- ren. Ziel dieses Artikel ist es, typische Beispiele physikalischer Fragestellungen in der Zellbiolo- gie zu erläutern. Man kann hoffen, mit einem interdisziplinären Ansatz einer Beantwortung von Schrödingers fundamentaler Frage etwas näher zu kommen. L ebende Zellen sind hochorganisierte adaptive Systeme mit bemerkenswerten mechanischen und dynamischen Eigenschaften [1]. Sie können sehr hohen Spannungen standhalten oder ihre Form in Se- kundenschnelle extrem verändern. Diese Fähigkeit ver- danken Zellen dem Zytoskelett, einem intrazellulären Fasernetzwerk aus Biopolymeren (Filamenten) unter- schiedlicher Länge und Steifigkeit und einem „Zoo“ von assoziierten Regulationsproteinen, die über kom- plexe Signalkaskaden gesteuert werden. Neben ihren mechanischen Aufgaben fungieren die Filamente des Zytoskeletts auch als Schienensystem für molekulare Motoren, die den lebensnotwendigen intrazellulären Transport bewerkstelligen, Mikromuskeln zur Erzeu- gung von Zellbewegung bilden und wesentliche Prozes- se bei der Zellteilung unterstützen. Es ist daher von grundlegender Bedeutung für die Zellbiologie, die die- sen Prozessen zugrundeliegenden physikalischen Prin- zipien zu identifizieren und zu verstehen. Aus physikalischer Sicht bieten die Biopolymere und Motorproteine des Zytoskeletts nahezu ideale Mo- dellsysteme, um grundlegende Fragestellungen aus der Polymerphysik und Nichtgleichgewichtsphysik zu stu- dieren. Gegenüber synthetischen Polymeren gelten für die Filamente des Zytoskeletts deutlich andere Zeit- und Längenskalen; so liegen typische Längen der Bio- polymere im Bereich von mehreren Mikrometern (Abb. 1). Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten für die experimentelle Untersuchung von Polymerlösungen. Man ist nicht nur auf eine Messung der makroskopi- schen mechanischen Eigenschaften und des Fließver- halten der Lösung als Ganzes beschränkt, sondern kann darüber hinaus auch die interne Struktur und Dynamik beobachten. So bietet sich die faszinierende Möglichkeit, einzelne Filamente durch Fluoreszenz- stoffe oder kolloidale Teilchen zu markieren und ihre Bewegung in der Polymerlösung mit hoher Zeit- und Ortsauflösung optisch direkt zu beobachten [2, 3]. Da- durch lassen sich makroskopische mechanische Eigen- schaften auf molekulare Prozesse zurückführen. Mit ausgeklügelten mechano-optischen Methoden [4] kann man inzwischen sogar die Bewegung einzelner Protei- ne untersuchen, etwa von Motorproteinen entlang von Zytoskelettfilamenten. Damit gelingt es immer besser, mikroskopische Einzelheiten bei so komplexen Nicht- gleichgewichtsprozessen wie der Zellbewegung und Zellteilung quantitativ zu vermessen und mit theoreti- schen Modellen zu vergleichen. Physik der Biopolymere Die Biopolymere des Zytoskeletts unterscheiden sich grundlegend von synthetischen Polymeren wie zum Beispiel Polyethylenen. Aufgrund der hohen Flexi- Biophysik Physikalische Fragestellungen aus der Zellbiologie Physiker untersuchen steife Biopolymere und modellieren molekulare Motoren Erwin Frey Dr. Erwin Frey, Lyman Laboratory of Physics, Harvard University, Cambrid- ge, MA 02138, USA und Institut für Theoretische Physik, Physik Department der TU München, 85747 Garching; E-Mail: frey@cmts. harvard.edu Physikalische Blätter 57 (2001) Nr. 2 0031-9279/01/0202-63 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 2001 Abb. 1: Die Anordnung von Biopolymeren in einer halbverdünnten Lösung (c = 0,4 mg/ml) ähnelt zufällig geworfenen Stäben, wie man sie aus einem Mikadospiel kennt. Die Proteinfilamente bilden das Gerüst der Zellen. Sie sind wesentlich steifer als synthetisch hergestellte Polymere. Die Aufnahme mit dem Elektronenmikroskop zeigt so genannte Aktinfilamente mit ei- nem Durchmesser von 8–9 nm. Sie können in vivo bis zu 100 mm lang werden. Die Maschenweite des Netzes liegt bei 0,1–0,2 mm.

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„What is Life?“ So lautet der Titel eines Buchesvon Erwin Schrödinger, dessen erste Auflage imJahr 1944 erschien. Es ist ein kühner Versuch,einige der Wunder des Lebens im Rahmen derPhysik, insbesondere der Statistischen Mecha-nik, zu verstehen. Seit diesem visionären Buchhaben wir eine revolutionäre Entwicklung inder Molekularbiologie gesehen. Mit faszinieren-den neuen physikalischen Techniken wie derEinzelmolekülspektroskopie lassen sich biologi-sche Systeme inzwischen quantitativ analysie-ren. Ziel dieses Artikel ist es, typische Beispielephysikalischer Fragestellungen in der Zellbiolo-gie zu erläutern. Man kann hoffen, mit eineminterdisziplinären Ansatz einer Beantwortungvon Schrödingers fundamentaler Frage etwasnäher zu kommen.

Lebende Zellen sind hochorganisierte adaptiveSysteme mit bemerkenswerten mechanischen unddynamischen Eigenschaften [1]. Sie können sehr

hohen Spannungen standhalten oder ihre Form in Se-kundenschnelle extrem verändern. Diese Fähigkeit ver-danken Zellen dem Zytoskelett, einem intrazellulärenFasernetzwerk aus Biopolymeren (Filamenten) unter-schiedlicher Länge und Steifigkeit und einem „Zoo“von assoziierten Regulationsproteinen, die über kom-plexe Signalkaskaden gesteuert werden. Neben ihrenmechanischen Aufgaben fungieren die Filamente desZytoskeletts auch als Schienensystem für molekulareMotoren, die den lebensnotwendigen intrazellulärenTransport bewerkstelligen, Mikromuskeln zur Erzeu-gung von Zellbewegung bilden und wesentliche Prozes-se bei der Zellteilung unterstützen. Es ist daher vongrundlegender Bedeutung für die Zellbiologie, die die-sen Prozessen zugrundeliegenden physikalischen Prin-zipien zu identifizieren und zu verstehen.

Aus physikalischer Sicht bieten die Biopolymereund Motorproteine des Zytoskeletts nahezu ideale Mo-dellsysteme, um grundlegende Fragestellungen aus derPolymerphysik und Nichtgleichgewichtsphysik zu stu-dieren. Gegenüber synthetischen Polymeren gelten fürdie Filamente des Zytoskeletts deutlich andere Zeit-und Längenskalen; so liegen typische Längen der Bio-polymere im Bereich von mehreren Mikrometern(Abb. 1). Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten für dieexperimentelle Untersuchung von Polymerlösungen.Man ist nicht nur auf eine Messung der makroskopi-

schen mechanischen Eigenschaften und des Fließver-halten der Lösung als Ganzes beschränkt, sondernkann darüber hinaus auch die interne Struktur undDynamik beobachten. So bietet sich die faszinierendeMöglichkeit, einzelne Filamente durch Fluoreszenz-stoffe oder kolloidale Teilchen zu markieren und ihreBewegung in der Polymerlösung mit hoher Zeit- undOrtsauflösung optisch direkt zu beobachten [2, 3]. Da-durch lassen sich makroskopische mechanische Eigen-schaften auf molekulare Prozesse zurückführen. Mitausgeklügelten mechano-optischen Methoden [4] kannman inzwischen sogar die Bewegung einzelner Protei-ne untersuchen, etwa von Motorproteinen entlang vonZytoskelettfilamenten. Damit gelingt es immer besser,mikroskopische Einzelheiten bei so komplexen Nicht-gleichgewichtsprozessen wie der Zellbewegung undZellteilung quantitativ zu vermessen und mit theoreti-schen Modellen zu vergleichen.

Physik der BiopolymereDie Biopolymere des Zytoskeletts unterscheiden

sich grundlegend von synthetischen Polymeren wiezum Beispiel Polyethylenen. Aufgrund der hohen Flexi-

Biophysik

Physikalische Fragestellungen aus der Zellbiologie

Physiker untersuchen steife Biopolymere und modellieren molekulare Motoren

Erwin Frey

Dr. Erwin Frey, Lyman Laboratoryof Physics, HarvardUniversity, Cambrid-ge, MA 02138, USAund Institut fürTheoretische Physik,Physik Departmentder TU München,85747 Garching;E-Mail: [email protected]

Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 20031-9279/01/0202-63$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 2001

Abb. 1:Die Anordnung von Biopolymeren in einer halbverdünntenLösung (c = 0,4 mg/ml) ähnelt zufällig geworfenen Stäben, wieman sie aus einem Mikadospiel kennt. Die Proteinfilamentebilden das Gerüst der Zellen. Sie sind wesentlich steifer als synthetisch hergestellte Polymere. Die Aufnahme mit demElektronenmikroskop zeigt so genannte Aktinfilamente mit ei-nem Durchmesser von 8–9 nm. Sie können in vivo bis zu 100 mmmlang werden. Die Maschenweite des Netzes liegt bei 0,1–0,2 mmm.

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bilität der C-C-Bindungen entlang des Rückgrats kannman synthetische Polymere sehr gut als Gliederkettenmit frei drehbaren Scharnieren beschreiben. Nimmtman an, dass keine Korrelationen zwischen den Orien-tierungen der einzelnen Kettenglieder bestehen und so-mit jedes Kettenglied mit gleicher Wahrscheinlichkeitin alle Raumrichtungen zeigen kann, so entsprechendie verschiedenen Konfigurationen der Kette der räum-lichen Kontur von Zufallswegen. Mit dieser scheinbareinfachen Grundannahme lassen sich schon eine Viel-zahl von Phänomenen in der Polymerphysik erklären.Die Filamente des Zytoskeletts sind hingegen aufgrundihrer kompakten Bauweise relativ steife stäbchenförmi-ge Gebilde (Abb. 1). Man unterscheidet Aktinfilamente,Mikrotubuli und Intermediärfilamente. Aktinfilamente(F-Aktin) sind doppelsträngige helikale Filamente, diewiederum aus vielfach gefalteten linearen Proteinen, so genannten globulären Proteinen, aufgebaut sind(Abb. 2a). Mikrotubuli sind Nanoröhren (Abb. 2b), diesich ebenfalls aus gefalteten Proteinen (Tubulin) zu-sammensetzen. Diese kompakte Bauweise führt dazu,dass die Filamente über relativ große Längen eine ge-streckte Form einnehmen, d. h. starke Korrelationen inder Orientierung der Filamentsegmente aufweisen. Die-se – als Persistenzlänge lp bezeichnete – Längenskalaliegt für synthetische Polymere in der Regel bei einigenNanometern und ist damit um Größenordnungen klei-ner als die Gesamtlänge L. F-Aktin besitzt hingegen ei-ne Persistenzlänge von etwa 17 mm, bei Mikrotubuliliegt sie sogar bei mehreren Millimetern. Die Protein-filamente des Zytoskeletts gehören damit zu einer all-gemeinen Klasse von Polymeren, die eine intermediäreStellung zwischen flexiblen synthetischen Polymerenund völlig steifen Stäben einnehmen und daher häufig

auch als semiflexibel bezeichnet werden. Wie wir nochsehen werden, zeigen Lösungen und Netzwerke semi-flexibler Polymere neuartige Materialeigenschaften, diefür ihre zelluläre Funktion wesentlich sind. Diese Er-kenntnisse sind auch für das Design neuer Werkstoffeinteressant.

Von Balken und BiopolymerenDie Physik semiflexibler Polymere wirft auch 50 Jah-

re nach den Pionierarbeiten von Kratky und Porod im-mer noch viele spannende Fragen auf [5]. Für einetheoretische Beschreibung verwendet man gewöhnlichdas Modell der wormlike chain (siehe Infokasten„Semiflexible Polymere“). Im Wesentlichen stellt mansich dabei das Filament als einen homogen elastischenSchlauch vor. Im Gegensatz zu unserer Alltagserfah-rung mit solchen Objekten ist in der Mikrowelt derBiopolymere allerdings zu berücksichtigen, dass typi-sche Energien für das Biegen der Filamente mit ther-mischen Energien vergleichbar sind. Studiert man eineinzelnes Filament unter dem Mikroskop [3], so beob-achtet man eine unregelmäßige Zappelbewegung derFilamente (ganz ähnlich wie bei der Brownschen Mole-kularbewegung) um ihre im Mittel gestreckte Form.

Ein eindrucksvolles Beispiel für den Unterschied zwi-schen flexiblen und semiflexiblen Polymeren ist die me-chanische Antwort auf kleine äußere Kräfte. Währendflexible Polymere isotrop (mit einer zur Temperatur pro-portionalen Federkonstante) auf äußere Kräfte reagie-ren, findet man mit abnehmendem Verhältnis zwischenLänge und Persistenzlänge eine immer ausgeprägtereAnisotropie in der elastischen Antwort. In Abb. 3 ist einmit einem Ende fest verankertes Polymer skizziert, andessen anderem Ende eine Kraft F angreift. In der Tatkann man dieses Experiment mit Methoden der Moleku-larbiologie für DNA in etwa so realisieren [4]. Für Kräf-te senkrecht zur Stabachse (Biegen) ist die effektiveFederkonstante proportional zur Biegesteifigkeit k. BeiKräften parallel zur Stabachse (Kompression oder Deh-nung) ergibt sich eine Federkonstante, die quadratischin k und invers proportional zur Temperatur ist. Damitdivergiert die longitudinale Federkonstante im Grenzfallverschwindender Temperatur. Dieses Verhalten in derlinearen Antwort semiflexibler Polymere kann als eineReminiszenz der klassischen Euler-Instabilität steiferStäbe verstanden werden: Ein Stab unter Kompressionbiegt sich erst oberhalb einer kritischen Kraft durch. AnStelle dieses nichtlinearen Verhaltens steifer Stäbe zei-gen semiflexible Polymere aufgrund thermisch induzier-ter Biegemoden eine lineare Antwort auf longitudinaleäußere Kräfte. Dies erklärt offensichtlich den inversenZusammenhang zwischen Federkonstante und Tempera-tur. Dieses Verhalten steht auch im starken Kontrastzum rein entropischen Verhalten flexibler Polymere: dafür eine frei verbundene Gliederkette alle mikroskopi-schen Konfigurationen gleichwahrscheinlich sind, wer-den die Eigenschaften der Kette nur durch die Häufig-keit bestimmter Makrozustände, also allein durch dieEntropie bestimmt. Noch deutlicher wird der Unter-schied zwischen flexiblen und semiflexiblen Polymeren,wenn man die Verteilungsfunktion des End-zu-End-Abstandes betrachtet [6]. Diese grundlegenden Unter-schiede wirken sich drastisch auf die Eigenschaften vonLösungen semiflexibler Polymere und letztlich auf diefür zelluläre Prozesse wesentlichen Materialeigen-schaften des Zytoskeletts aus.

Abb. 2: Aktinfilamente (a) und Mikrotubuli (b) bilden das Grundgerüstder Zellen. Die Motorproteine Myosin und Kinesin sorgen fürden Stofftransport und vermitteln Muskelbewegungen. Wäh-rend Kinesine häufig als einzelne Dimere Lasten entlang vonMikrotubuli transportieren, sind Myosine in den Mikrofibrillendes Muskelgewebes zu Filamenten (hier als Federn angedeutet)aggregiert (grün: gebundener Kopf, gelb: ungebundener Kopf).In (b) ist auch ein typisches in-vitro-Einzelmolekülexperimentskizziert. Mit Kinesinmolekülen dekorierte Mikrokugeln wan-dern entlang von Mikrotubuli. Die Verschiebung der Kugel ineiner optischen Falle (×) erlaubt die Messung von Kräften impN-Bereich.

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Kollektive Eigenschaften von PolymerlösungenDie mechanische Stabilität von Zellen und ihre

Fähigkeit zur Fortbewegung erfordern vom Zytoskeletthohe Variabilität in den Materialeigenschaften. Je nachAmplitude oder Frequenz von Scherspannungen musses in angemessener Form reagieren. Das Zytoskelettliegt als Polymerlösung zwischen Flüssigkeiten undFestkörpern. Das Fließverhalten einer einfachenFlüssigkeit lässt sich durch seine Viskosität, dieProportionalitätskonstante zwischenSpannung und Scherrate, charakte-risieren. Die Mechanik eines ge-wöhnlichen Festkörpers wird hinge-gen durch einen (Scher)modul, dieProportionalitätskonstante zwischenSpannung und Deformation, be-schrieben. Weiche Materialien wiePolymerlösungen vereinen beideMaterialeigenschaften. Man bezeich-net sie als viskoelastisch, da sie ingewissem Sinne sowohl viskoseFlüssigkeiten als auch elastischeFestkörper sind. Je nach Frequenzder angelegten Scherdeformation istdie eine oder andere Materialeigen-schaft ausgeprägter.

Was ist nun die Ursache für die-ses scheinbar paradoxe Verhalten? Um diese Frage zubeantworten, muss man sich zunächst ein Bild von derräumlichen Anordnung der (semiflexiblen) Polymeremachen (siehe Abb. 1) und die relevanten Längenska-len identifizieren. Für die strukturelle Charakterisie-rung der Lösung ist es durchaus zutreffend, sich zufäl-lig im Raum verteilte Mikadostäbe vorzustellen, dieaber nicht aus Holz, sondern einem weicheren Materi-al bestehen. Bei typischen Dichten sind nun sowohl diePersistenzlänge als auch die Gesamtlänge der Polymeresehr viel größer als der mittlere Abstand zwischen denPolymeren, sodass jedes Polymer von einer großen An-zahl anderer Polymere umgeben und dadurch in derBewegungsfreiheit transversal zu seiner Kontour starkeingeschränkt ist. Wie in Abb. 4 dargestellt, kann mansich diese Einschränkung als zylindrische „Käfige“ miteinem mittleren Durchmesser d vorstellen. Es ist be-merkenswert, dass man mittels Videomikroskopie flu-oreszenzmarkierter Filamente nicht nur die Existenzdieser Röhren nachweisen kann, sondern auch direktbeobachten kann, wie sich die Polymere durch Diffu-sion entlang ihrer eigenen Kontour aus den Röhrenherausschlängeln („Reptation“) [3]. Der wesentlichePunkt ist nun, daß die Filamente durch thermischeFluktuationen alle erlaubten Lagen und Formen in denKäfigen eingenommen haben (d. h. in einem quasi-sta-tionären Gleichgewicht sind), bevor sie auch nur merk-lich aus der Röhre herausdiffundieren. Die charakteri-stischen Zeitskalen bezeichnet man als entanglement-bzw. disengagement-Zeit. Für F-Aktin-Lösungen liegtdie entanglement-Zeit im Bereich von wenigen Sekun-den, während die disengagement-Zeit bereits in derGrößenordnung von einer Stunde liegt.

Mit dem Röhrenmodell lässt sich das viskoelastischeVerhalten von Polymerlösungen relativ anschaulich ver-stehen. Die Lösung verhält sich wie eine Flüssigkeit,wenn die Scherdeformationen langsamer als die disen-gagement-Zeit erfolgen. Dann bleibt dem Polymer sozu-sagen genügend Zeit, um während der Deformation derLösung aus seinem Käfig zu entkommen. Elastisches

Verhalten wird nur in dem Zeitfenster zwischen entan-glement und disengagement beobachtet. Eine vonaußen angelegte Scherspannung äußert sich dann mi-kroskopisch in einer Deformation der Röhren, die ih-rerseits die möglichen Konfigurationen der Filamenteeinschränkt. Mit dieser Reduktion an Freiheitsgradenist eine Erniedrigung der Entropie verbunden, also„Kosten“ an Freier Energie. Das hieraus resultierendephysikalische Bild für den Schermodul von Lösungen

semiflexibler Polymere unterschei-det sich grundlegend von dem ent-sprechenden Modell für flexible Po-lymere. Während wir hier die Beto-nung auf die Deformation (fiktiver)Käfige gelegt haben, geht man beiLösungen flexibler Polymere davonaus, dass die Polymere bei Scher-deformationen zwischen Verkno-tungen (entanglements) unter denFilamenten gestreckt oder gestauchtwerden. Es zeigt sich nun aus demVergleich mit dem Experiment, dassdas Röhrenmodell sowohl die Kon-zentrationsabhängigkeit als auchden Absolutwert der Schersteifig-keit richtig beschreiben kann [5, 7].

Diese fundamentalen Unter-schiede zwischen Lösungen flexibler und semiflexiblerPolymere spielen eine entscheidende Rolle für die Bio-logie. Es ist zum Beispiel äußerst bemerkenswert, dassLösungen von Aktinfilamenten schon bei 0,1 % Volu-menbruchteilen Polymermaterial deutlich viskoelas-tisch sind. Lösungen synthetischer Polymere verhaltensich bei solch niedrigen Konzentration im Wesentli-chen wie eine Flüssigkeit. Ohne diesen effizienten Ge-brauch von molekularen Bausteinen wäre die Zellewohl nicht in der Lage, genügend chemische Energiefür die Synthese von Biopolymeren aus molekularenBausteinen zur Verfügung zu stellen. Es erscheint da-her naheliegend, diese effizienten Konstruktionsprinzi-pien biologischer Systeme für das Design neuer Mate-rialien nachzuahmen. Dieser Ansatz der „Biomimetik“könnte sich zu einem sehr wesentlichen Forschungs-zweig in den Materialwissenschaften herausbilden. DieAnalogien zwischen Materialwissenschaften und der

Zur mathematischen Formulierung desModells einer „wurmartigen Kette“stellt man das Filament durch einenicht dehnbare Raumkurve r�(s) dar(Abb. 3). Im einfachsten Fall lässt sichdie Energie einer bestimmten Konfor-mation r�(s) durch ein Kurvenintegralüber die Quadrate der lokalen Krüm-mungen beschreiben, gewichtet mitdem Biegemodul k:

(1)

Biopolymere sind mathematisch vielschwieriger zu beschreiben als flexibleFilamente. Das liegt an der lokalenNichtdehnbarkeit der Biofilamente mitder Zwangsbedingung t�2(s) = 1 für dieTangentenvektoren t�(s). Relativ ein-fach kann man noch zeigen, dass Kor-relationen in den Tangenten exponen-

tiell zerfallen. Folglich macht sich dieBiegesteifigkeit nur auf Längenskalenbemerkbar, die vergleichbar oder klei-ner als die Persistenzlänge sind. Aufgrößeren Skalen sind die Tangenten-vektoren dagegen völlig unabhängigvoneinander, sodass man die statisti-schen Eigenschaften der Filamentedurch ein gröberes Modell beschreibenkann. Man betrachtet die Polymeredann als frei verbundene Gliederkette,wobei in der Zustandssumme jedeKonformation das gleiche statistischeGewicht besitzt. Betrachtet man dieTangenvektoren als magnetische Mo-mente, so kann man die diskrete Versi-on von Gl. (1) mit einer klassischenHeisenberg-Spin-Kette identifizieren.Das Modell einer frei verbundenenKette entspricht in diesem Bild einemParamagneten.

H dsr

s

L

= ∂∂

FHG

IKJz

0

2

2

2

2k

!

.

Semiflexible Polymere (wormlike chain-Modell)

Abb. 3: Skizze eines an einem Ende fest veran-kerten semiflexiblen Polymers, an dessenanderem Ende eine Kraft F angreift. Rbezeichnet den End-zu-End-Abstand.

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Physik des Zytoskeletts werden noch deutlicher, wennman F-Aktin-Lösungen mit speziellen Proteinen be-trachtet, die permanente Verknüpfungen zwischen denFilamenten herstellen [5] (siehe Abb. 4, rechts). Dannfindet man bereits in der Struktur große Ähnlichkeitenzu Faserwerkstoffen.

Molekulare MotorenNeben den passiven mechanischen und viskoelasti-

schen Eigenschaften des Zytoskeletts spielen für biolo-gische Vorgänge innerhalb einer Zelle vor allem auchkoordinierte Transportprozesse eine ganz entscheiden-de Rolle [1]. Diese beruhen auf dem Wechselspiel derProteinfilamente mit einer bestimmten Klasse von En-zymen, den Motorproteinen. Trotz ihrer stark unter-schiedlichen biologischen Funktion scheinen alle Mo-torproteine ein allgemeines Bauprinzip aufzuweisen.Zwei identische, etwa 10–20 nm große, globuläre Pro-tein-Köpfe (die tatsächlich mehr als „Beine“ dienen)sind über ein Scharnier mit einem Stiel zu Homodime-ren verbunden (Abb. 2). Die Motorproteine unterschei-den sich in der jeweiligen Feinstruktur und Größe derKöpfe und Stiele. Man klassifiziert die Motorproteinedes Zytoskeletts nach ihrer Wechselwirkung mit denProteinfilamenten in drei Familien: Myosine bindennur an Aktinfilamente, während sich Kinesine undDyneine entlang von Mikrotubuli bewegen (Abb. 2).Motorproteine scheinen auch ein allgemeines Funk-tionsprinzip zu besitzen. Sie wandeln die aus der Hy-drolyse von Adenosintriphosphat (ATP) gewonnenechemische Energie in einem isothermen stochastischenProzess in mechanische Arbeit um. Ein wesentlichesCharakteristikum dieses Nichtgleichgewichtsprozessesist die enge Kopplung zwischen chemischen und me-chanischen Zyklen. Einige der grundlegenden Fragenlauten: Was genau sind die physikalischen Prinzipien,die eine Umwandlung von chemischer in mechanischeEnergie ermöglichen? Wie sind chemische und mecha-nische Zyklen miteinander verknüpft?

Von Erasistratus zur EinzelmolekülspektroskopieDie Frage nach dem Ursprung der Bewegung von

und in lebenden Organismen gehört wohl zu einem derältesten Gebiete der Naturwissenschaften. Im 3. Jh. v.Chr. hat der Anatom und Arzt Erasistratus von Ceosversucht, den Ursprung der Bewegung einem „SpiritusAnimalis“ zuzuordnen, einem im Gehirn erzeugten„Pneuma“, das über die Nervenbahnen durch den Kör-per geleitet wird. Die Idee, einen Muskel als eine iso-therme chemische Maschine aufzufassen, wurde zumersten Mal von Hermann von Helmholtz in seinerberühmten Arbeit „Über die Erhaltung der Kraft“ imJahr 1847 formuliert. In den letzten zehn Jahren hatdas Gebiet eine enorme Entwicklung erfahren. Dieshat vor allem damit zu tun, dass neben den etabliertenphysiologischen und biochemischen Methoden eineReihe von neuartigen in-vitro-Verfahren entwickelt

wurde [4] und es gelungen ist, die Struktur dieser Pro-teine aufzuklären [8]. Insbesondere die Verwendungvon optischen Pinzetten und anderen mikromechani-schen Techniken haben zu neuen Einsichten in dieWirkungsweise molekularer Motoren geführt (Abb. 2b).Mit ausgefeilte optischen Verfahren lassen sich sowohlKräfte von wenigen pN messen als auch Bewegungeneinzelner Moleküle unter einem Lichtmikroskop unter-suchen [4]. Mit dieser Art von Einzelmolekülspektro-skopie konnte man zum ersten Mal die 8 nm langenSchritte einzelner Kinesinmoleküle entlang von Mikro-tubuli beobachten [9]. Die Schrittweite stimmt mit demAbstand der Heterodimere entlang der Mikrotubuliüberein und beweist damit, dass sich Kinesine auf ei-nem periodischen Gitter von Bindungsstellen bewegen.In letzter Zeit werden immer raffiniertere Technikenzur Erhöhung der Messgenauigkeit entwickelt. Mole-kulare Kraftklemmen („force clamps“) [10] ermögli-chen es zum Beispiel, das Verhalten von Motorprotei-nen unter einer festen äußeren Kraft zu studieren unddamit neue Erkenntnisse über die mechanochemischeKopplung zu gewinnen.

Minimale theoretische ModelleVon einer abstrakten theoretischen Warte aus gese-

hen, sind molekulare Motoren mikroskopische Syste-me, die getrieben von chemischen Reaktionen eine ge-richtete Bewegung entlang eindimensionaler periodi-scher und polarer Schienen ausführen. Eine für vieleFragestellungen in der Physik typische Vorgehensweisebesteht darin, nach einfachen theoretischen Modellenzu suchen, die aber noch die wesentlichen Merkmaledes ursprünglichen Systems enthalten. In diesem Sinnist auch das von A. F. Huxley vorgeschlagene Modellzur Erklärung der Muskelkontraktion zu verstehen[11]. Es idealisiert die in Filamente eingebetteten Myo-

sinköpfe als harmonische Federn mit zwei Zuständen.Im gebundenen Zustand bilden die Motoren Quer-brücken (crossbridges) zwischen den Myosin- und Ak-tinfilamenten, während sie im ungebunden Zustandfrei um ihre Gleichgewichtslage fluktuieren können(Abb. 2b). Gerichtete Bewegung wird über die ad-hoc-Annahme erklärt, dass Bindung bevorzugt bei in Vor-wärtsrichtung gespannter Feder und Ablösung nachgetaner Arbeit erfolgt, d. h. bei ungespannter oder inRückwärtsrichtung gespannter Feder.

Diese räumlich asymmetrischen An- und Abkopp-lungsraten führen zu einem Gleichrichtungseffekt für

Abb. 4: Skizze einer Lö-sung semiflexiblerPolymere ohne(links) und mit(rechts) Vernetzer-molekülen. DiePfeile deuten einevon außen erzeug-te Scherdeformati-on der Probe an.

Abb. 5: Muskelkontraktionen lassen sich durch ein „Ratschen“-Modellbeschreiben. In einer „Ratsche“ wird mechanische Arbeit durchGleichrichtung der Brownschen Bewegung gewonnen. Im Zwei-Zustands-ratchet-Modell repräsentieren die beiden PotentialeW1 und W2 den gebundenen bzw. ungebundenen Zustand [12].Die gelb schattierten Gebiete markieren Gebiete erhöhter Über-gangsraten vom gebundenen in den ungebundenen Zustand.Die rote Kugel symbolisiert die Motoren.

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die thermische Fluktuation der Motorköpfe. In diesemSinne ist Huxleys Modell der Prototyp eines thermalratchet. Man kann Huxleys Modell aber auch als einpower stroke-Modell interpretieren, indem man vonräumlich symmetrischen Raten mit einer anschließen-den Strukturänderung in den Myosinköpfen ausgeht.Dieser Kraft erzeugende Schritt (power stroke) ent-spräche dann einer Verschiebung der Ruhelage der Fe-der (siehe die unterschiedliche Struktur der gebunde-nen und ungebundenen Motorköpfe in Abb. 2a). Nahe-zu alle später vorgeschlagenen crossbridge-Modellesind im Wesentlichen Variationen oder Verfeinerungenvon Huxleys Zwei-Zustands-Modell. Als Alternative zudiesen traditionellen crossbridge-Modellen wurden inden letzten Jahren so genannte ratchet-Modelle vorge-schlagen [12]. Diesen Modellen ist gemeinsam, die Mo-toren als Teilchen aufzufassen, die in asymmetrischen,periodischen Potentialen frei diffundieren können. Me-chanische Arbeit wird dabei durch Gleichrichtung derBrownschen Bewegung gewonnen. Dies kann auf viel-fache Art und Weise geschehen. Eine Möglichkeit ist inAbb. 5 dargestellt. Der gebundene und ungebundeneZustand der Motorproteine entspricht den PotentialenW1 bzw. W2. Gerichtete Bewegung wird dadurch er-reicht, dass Übergänge vom Zustand 1 nach 2 bevor-zugt in den Minima von W1 erfolgen [12]. Dieser ad-hoc-Annahme liegt ihrem Wesen nach die gleiche Ideezugrunde, wie sie bereits von Huxley formuliert wurde.Trotz vieler Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichenModellierungen sind auch einige wesentliche Unter-schiede festzuhalten. So müssen etwa in ratchet-Mo-dellen alle Abstände rein diffusiv überwunden werden,während sie in power-stroke-Modellen instantan erfol-gen. Mit zunehmender Verbesserung der Orts- undZeitauflösung in der Einzelmolekülspektroskopie wer-den diese Unterschiede in Zukunft durchaus von Be-deutung sein, sodass man in enger Zusammenarbeitzwischen Experiment und Theorie zu immer realisti-scheren Modellen gelangen kann.

Reaktionszeiten der MotorproteineDer funktionale Unterschied zwischen verschiede-

nen Motoren kann über das Konzept des duty ratioverstanden werden. In einem Zwei-Zustands-Modellerfolgen die Übergänge zwischen dem gebundenen (on)und ungebundenen (off) Zustand stochastisch mit Ra-ten t–1

on und t–1off . Diese Raten geben an, wieviel Zeit die

Motorproteine im gebundenen/ungebundenen Zustandverbringen. Dieser chemische Reaktionszyklus ist miteinem mechanischen Zyklus (d. h. mit Strukturände-rungen der Motorenzyme) verknüpft. Den Bruchteil r = ton/(ton + toff) des chemomechanischen Zyklus, indem die Motoren Arbeit verrichten, nennt man dutyratio. Motordimere, die den größten Teil des chemome-chanischen Zyklus im gebunden Zustand verbringen,wie zum Beispiel Kinesin [9] oder Myosin V [13], kön-nen lange Strecken zurücklegen, ohne sich von derSchiene abzulösen. Man spricht in diesem Fall vonprozessiven Motoren. Nicht prozessive Motoren mitkleinem duty ratio können nur dann makroskopischeBewegung erzeugen, wenn sie in größeren Gruppen ar-beiten; dies ist für das in Muskeln auftretende Myosin-II der Fall. Unterschiede im duty ratio haben wichtigeKonsequenzen [14]. So ermöglicht zum Beispiel daskleine duty ratio von Myosin die schnelle Reaktion derSkelettmuskulatur auf Änderungen in der Belastung.

Eine Aufgabe der Theorie besteht nun darin, aus

diesen einfachen Modellvorstellungen die relevantenKontrollparameter zu identifizieren und charakteristi-sche Eigenschaften der Motoren zu berechnen. Dazugehören die Abhängigkeit der mittleren Geschwindig-keit von der Größe der transportierten Last oder derKonzentration an Kraftstoff (ATP). Da aber an den fürdie Motoraktivität relevanten, biochemischen Reaktio-nen immer nur wenige Moleküle beteiligt sind undfolglich große Fluktuationen zu erwarten sind, spielenneben Mittelwerten auch die Verteilung der Geschwin-digkeiten eine bedeutende Rolle für die Charakterisie-rung der Motoraktivität. Auf all diese Fragen im Detaileinzugehen erfordert Konzepte aus der Theorie stocha-stischer Prozesse und der Nichtgleichgewichts-Thermo-dynamik. Man kann sich jedoch ein Gefühl für dieFunktionsweise der Motoren verschaffen, wenn manetwas mit den Parametern spielt. Dazu verweisen wirauf ein Java-Applet zur Simulation einer endlichenGruppe elastisch gekoppelter Motoren im Internet[15].

AusblickWir haben uns in diesem Artikel auf einige elemen-

tare physikalische Fragestellungen in zellulären Syste-men beschränkt. Dabei haben wir zwangsläufig vielekomplexere Fragen nicht behandeln können. Dazugehören vor allem kollektive Phänomene in multikom-ponentigen Systemen bestehend aus Biopolymeren,Motorproteinen und assozierten Proteinen. Hier spie-len zusätzlich zu den strukturellen und mechanischenEigenschaften auch Regelmechanismen eine wichtigeRolle. Die Kooperativität der einzelnen Komponentenführt zu so faszinierenden Phänomenen wie Zellbewe-gung, Zellteilung und dem Prozess der Transkriptiongenetischer Information. Um die diesen Prozessen zu-grunde liegenden Prinzipien zu entschlüsseln, wird esnotwendig sein, Teilsysteme oder rekonstituierte Mo-dellsysteme mit wenigen Komponenten zu untersu-chen. Diese Vision scheint aufgrund einer Reihe von

Glossar� Monomer: Kleiner molekularer Bau-

stein, der sich mit anderen zusammen-lagern kann, um größere Moleküle zubilden. Je nach Anzahl n der Baustei-nen bezeichnet man die Aggregate alsDimere (n = 2), Trimere (n = 3) oderallgemein als Polymere. Mit der Vor-silbe Homo oder Hetero gibt man an,ob die Bausteine identisch oder ver-schieden sind.

� Zytoskelett: Ein Polymernetzwerk, be-stehend aus einer Reihe von Biopoly-meren (Mikrotubuli, Aktinfilamentenund Intermediärfilamenten), das sichdurch den gesamten Innenraum derZelle (Zytoplasma) erstreckt.

� Aktin: Ein Protein, das in allen eu-karyotischen Zellen Aktinfilamente bil-det. Das Monomer wird als globuläresoder G-Aktin, das entsprechende Poly-mer als filamentöses oder F-Aktin be-zeichnet.

� Mikrotubulus: Eine lange zylindrischeRöhre, die sich aus dem Protein Tubu-lin zusammensetzt.

� ATP: Adenosintriphosphat (ATP) ist derwichtigste Träger von chemischer Ener-gie in Zellen. Es handelt sich dabei umein Nukleotidtriphosphat, das sich ausAdenin, Ribose und drei Phosphatgrup-pen zusammensetzt.

� ADP: Adenosindiphosphat ist ein Nu-kleotid, das bei der Hydrolyse der ter-minalen Phosphatgruppe von ATP pro-duziert wird.

� Motorprotein: Ein Protein, das in le-benden Organismen Transportaufgabenwahrnimmt.

� Kinesin: Ein Motorprotein, das chemi-sche Energie aus der ATP-Hydrolyseverwendet, um sich entlang von Mikro-tubuli zu bewegen.

� Myosin: Ein Motorprotein, das chemi-sche Energie aus der ATP-Hydrolyseverwendet, um sich entlang von Aktin-filamenten zu bewegen. Myosin II bil-det im Skelettmuskel die dicken Fila-mente, die während der Muskelkon-traktion relativ zu den Aktinfilamentengleiten.

Page 6: Physikalische Fragestellungen aus der Zellbiologie: Physiker untersuchen steife Biopolymere und modellieren molekulare Motoren

Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 268

Schwerpunkt

neuen experimentellen Techniken und enormen Fort-schritten in der Molekularbiologie und Biochemiedurchaus realisierbar. Man kann mit einiger Berechti-gung hoffen, dass aus der interdisziplinären Zusam-menarbeit zwischen Biologen und Physikern wichtigeBeiträge zum Verständnis komplexer Prozesse in leben-den Organismen entstehen werden.

DanksagungMein besonderer Dank gilt Klaus Kroy, Franz

Schwabl, Andrej Vilfan und Jan Wilhelm, die maßgeb-lich an vielen der hier dargestellten Arbeiten beteiligtwaren. Eine nicht versiegende Quelle der Inspirationund Motivation, auch als Physiker über komplexe bio-logische Fragestellungen nachzudenken, waren überdie letzten Jahre hinweg die Experimentierkunst undKreativität von Erich Sackmann und seinen Mitarbei-tern. Die Arbeiten wurden finanziell durch die Deut-sche Forschungsgemeinschaft unterstützt.

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jari und J. Prost, Rev. Mod. Phys. 69, 1269 (1997).[13] M. Rief et al., PNAS 97, 9482 (2000).[14] J. Howard, Nature 389, 561 (1997).[15] A. Vilfan, E. Frey und F. Schwabl, Eur. Phys. J B 3,

535 (1998); Europhys. Lett. 45, 283 (1999); Java-applets der Modellsimulationen kann man imInternet (http://www.ph.tum.de/~frey) finden.