Piotr Witek, Geschlossene und offene Geschichtspolitik...

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Piotr Witek Geschlossene und offene Gesch ichtspol itik. Die polnische Dimension des europóischen Ringens mit der Vergangenheit Versuch einer Konzeptualisierung ln einer seiner Arbeiten formulierte Michel Foucault die Ansicht, dass zwischen den Diskursen und Techniken des wissens und den Diskursen und Strategien der Macht keine AuBerlichkeit besteht, auch wenn sie jeweils ihre spezifische Rolle haben und sich von ihrer Differenzierung aus aneinanderftigen,l Die Ceschichte als Diskurs des Wissens befindet sich also in einem bestimmten verhóltnis zum Diskurs der Macht, der Politik. Die klassische Konzeptualisierung der Geschichte verlóuft zweigleisig: in Vogelperspektive, als res gestae, also als Ceschehenes, und in erkennt- nistheoretischer und ósthetischer Perspektive, als historia rerum ge- starum, also als Bericht uber das Geschehene. Geschichte, verstanden als res gestae ist also Gegenstand des lnteresses der historia rerum ge- starum. So wie es sich bei den res gestae gewissermaBen um die kon- kretisierte, vergangene gesel lschaft l iche Wi rkl ichkeit handelt, wi rd d ie historia rerum gestarum, der Bericht 0ber jene Wirklichkeit, meistens als geschichtliche Erzżihlung verstanden, die Produkt bestimmter ge- sellschaftlicher praktiken ist.z Vor dem Hintergrund der fur den vorliegenden Text bertickichtigten ńeoretischen Annahmen, die ihre Quelle in der Tradition des Konstruk- tivismus haben, erscheint Ceschichte im Allgemeinen als ein bestimm- tes, kulturell abhóngiges, kognitives Konstrukt und als ein Komplex unterschiedlicher Formen, sich die Welt anzueignen. Diese óuBern sich in Gestalt bestimmter Vorgehensweisen, wie eine Gemeinschaft - an gegebenem Ort und zu gegebener Zeit - der Vergangenheit, die diese ] łtct et Foucault, sexualitet und Wahrheit. FrankfurVM,: Suhrkamp 1 986, S. 'l 1 9-1 20. 2 Vgl. 1erry Topolski, Metodologia hlstorii [Methodologie der Geschichte], Warchau: PWN 1968, S. 34: Jerzy Topolski, Wprowadzenie do historii IEinfnhrung in die Geschichte], Posen: Wydaw- nictwo Poznańskie'l998, S. l0-12, 23

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Piotr Witek, Geschlossene und offene Geschichtspolitik. Die polnische Dimension des europaischen Ringens mit der Vergangenheit, (Aus dem Polnischen von Sandra Ewers), "Historie" 2009/2010, Folge 3, s. 23-51

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Geschlossene undoffene Gesch ichtspol itik.Die polnische Dimensiondes europóischenRingens mit derVergangenheit

Versuch einer Konzeptualisierung

ln einer seiner Arbeiten formulierte Michel Foucault die Ansicht, dasszwischen den Diskursen und Techniken des wissens und den Diskursenund Strategien der Macht keine AuBerlichkeit besteht, auch wenn siejeweils ihre spezifische Rolle haben und sich von ihrer Differenzierungaus aneinanderftigen,l Die Ceschichte als Diskurs des Wissens befindetsich also in einem bestimmten verhóltnis zum Diskurs der Macht, derPolitik.

Die klassische Konzeptualisierung der Geschichte verlóuft zweigleisig: inVogelperspektive, als res gestae, also als Ceschehenes, und in erkennt-nistheoretischer und ósthetischer Perspektive, als historia rerum ge-

starum, also als Bericht uber das Geschehene. Geschichte, verstandenals res gestae ist also Gegenstand des lnteresses der historia rerum ge-starum. So wie es sich bei den res gestae gewissermaBen um die kon-kretisierte, vergangene gesel lschaft l iche Wi rkl ichkeit handelt, wi rd d iehistoria rerum gestarum, der Bericht 0ber jene Wirklichkeit, meistensals geschichtliche Erzżihlung verstanden, die Produkt bestimmter ge-

sellschaftlicher praktiken ist.z

Vor dem Hintergrund der fur den vorliegenden Text bertickichtigtenńeoretischen Annahmen, die ihre Quelle in der Tradition des Konstruk-tivismus haben, erscheint Ceschichte im Allgemeinen als ein bestimm-tes, kulturell abhóngiges, kognitives Konstrukt und als ein Komplexunterschiedlicher Formen, sich die Welt anzueignen. Diese óuBern sichin Gestalt bestimmter Vorgehensweisen, wie eine Gemeinschaft - angegebenem Ort und zu gegebener Zeit - der Vergangenheit, die diese

] łtct et Foucault, sexualitet und Wahrheit. FrankfurVM,: Suhrkamp 1 986, S. 'l 1 9-1 20.

2 Vgl. 1erry Topolski, Metodologia hlstorii [Methodologie der Geschichte], Warchau: PWN 1968,S. 34: Jerzy Topolski, Wprowadzenie do historii IEinfnhrung in die Geschichte], Posen: Wydaw-nictwo Poznańskie'l998, S. l0-12,

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Cemeinschaft noch in der Cegenwart, in Form unterschiedlich ver-standener historischer Erzóhlungen begleitet, Status, Gestalt und Sinnverleiht. Diese Erzóhlungen nehmen den Charakter wissenschaftlicher,publizistischer, ktjnstlerischer: schriftlicher: mt]ndlicher multimedialer,audiovisueller, theatralischer und óhnlicher Aussagen tjber die Vergan-genheit an, die den historischen Diskurs konstituieren.

Die Politik wiederum, wird in der Regel mit Diskurs und Praxis derMachiausu bu ng assozi iert. Auf u ntersJh ied l ichen l nterpretationsebe-nen beurteilt man sie als Handeln, das auf verschiedenen Formen derEinflussnahme beruht: 1) institutionell, auf Denken, Verhalten undHandeln anderer Menschen durch Anwendung unterschiedlicher For-men von Uberzeugung, Ausschluss und Einbóziehung sowie Bestra-fung, darunter verschiedene Varianten von Cewalt; 2) nicht institu-tionell, auf Denken, verhalten und Handeln anderer Menschen durchBerufung auf die Autoritót der herrschenden Normen und gesell-schaftlichen Regulierungen im Rahmen einzelner Bezugssysteme.3Die Politik erftjllt also eine ganze Reihe von Regulierungsfunktionen:eine organisatorische, stabilisierende, sozialisierende, integrative unddesintegrative, eine enthLjllende und kaschierende, eine progressiveund regressive, eine wertende, abrechnende und andere, Anknilpfenddaran lósst sich sagen, dass die Haupteigenschaft von Politik die Len-kung oder Verwaltung des Prozesses gesellschaftlicher Kontrolle ist,die auf Grenzbestimmung des Móglichen und Unmóglichen im gege-benen gesellschaftlichen System innerhalb eines definierten kulturhi-storischen kontextes beruht.

ln einer seiner Arbeiten kommt der ósterreichische Philosoph Karl R.Popper zu der Uberzeugung, dass politische Macht und soziales Wis-sen komplementar zueinander sind - in der Bedeutung, wie NielsBohr sie dem Begriff gegeben hat. Es geht hierbei um ein Verstandnisder Komplementaritót, in dem: 1) sich zwei Phónomene gegenseitigergónzen; 2) sich zwei Phónomene gegenseitig insofern ausschlieBen,dass je mehr man von dem einen ausgeht, umso weniger von dem an-deren ausgehen kann. Hóufung und Konzentration politischer Machtverhalten sich demnach komplementór zum sozialen Wissen. In derKonsequenz hóngen Qualitót und Entwicklung des Wissens von derfreien Konkurrenz des Denkens und der Freiheit der MeinungsóuBer-ung ab - letalich also, wie man sich unschwer vorstellen kann, vonpolitischen Freiheiten. Das heiBt, je gróBer die zentralisierte politischeMacht, desto geringer die Qualitót des uberwachten Wissens, mangels

3 Vgl. Andrzej W. Jabłoński, PolĘka. tnterpretacje definicyjne IPolitik. Defin itorische lnterpretationen],in: Andrzej W. Jabłoński/Leszek Sobkowiak (Hg.), Kategorie analizy politologicznej [Kategorien poli-tischerAnalyse], Breslau: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 1991, S. 1O; Vgl. auch: jaro-sław Nocoń/Artur Laska, Teoria polĘki. Wprowadzenie [Politische Theorie. Einfi.ihrung], Warschau:Wydawnictwo Wyższej Szkoły Pedagogicznej TWP 2005, S. l0'l ;Vgl. auch: AndrĄ Czajowski,Wtadza polityczna. Analiza pojęcia [Politische Macht. Begriffsanalysej, in: Andrzej W 1abłonski/Leszek Sobkowiak (Hg.), Kategorie analizy politologicznej...,a.a.O., S. 21-35.

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-:eiem Cedankenaustausch. Zentralisierung von Macht und Wissen hat:ie Eliminierung kritischer Reflexion zur Folge.4

Zusammenfassend lasst sich sagen, dass sich das AusmaB der Entwick-ungsmóglichkeiten von sozialem Wissen umgekehrt proportional zumĄusmaB der Zentralisierung politischer Macht und direkt proportionalzum AusmaB ihrer Dezentralisierung verhólt. Das AusmaB der Zentra-isierung politischer Macht ist direkt proportional zur Wissensabnahme.lnd umgekehrt proportional zum AusmaB der Entwicklungsmóglich-<eiten von Wissen. Die Wissenstechniken sind also in Beziehung zurMachtstrategie funktional reflexiv. Abhóngig von Crad und Ausma8ler Zentralisierung oder Dezentralisierung von Macht, ist Wissen Ob-jekt oder Subjekt der Politik, In all diesen Fóllen werden Macht undWissen, das sich als Wissenspolitik óuBert und in der Praxis entwedercie cestalt einer holistischen sozialtechnik oder einer sozialtechnikder kIei nen sch ritte an n i m mt, aufeinanderstoBen. s

ln eben dieser Denkweise kann die Konzeption der Ceschichtspolitikihre Begrundung finden. Ceschichtspolitik bedeutet hier ein kulturel-les Spiel, das die Crenzen des Móglichen und Unmóglichen fur denhistorischen Diskurs und das historische wissen in,einem bestimmtenBezugssystem definiert. Abhóngig vom Grad der Macht- und Wissens-zentralisierung erfiillt der historische Diskurs auf unterschiedliche Wei-se kognitive, ósthetische, ethische, bewertende, sozialisierende, inte-grative, legitimierende und delegitimierende Funktionen. Je hóher da-bei der Crad der Macht- und Wissenszentralisierung, desto mehr sinddie kognitiven, ethischen und ósthetischen Funktionen den bewerten-den, sozialisierenden, integrativen, legitimierenden und delegitimie-renden Funktionen untergeordnet. Die Geschichte wird zum Objektund lnstrument der Macht, zu einer amtlichen, verherrlichenden, affir-mativen und gegenUber der Vergangenheit a priori identifikatorischenGeschichte. Die Konstituierung einer amtlichen Ceschichte zieht dasErscheinen ihrer kehrseite, in Form einer revisionistischen und aufstón-dischen Geschichte nach sich, einer Cegen-Geschichte, die Objekt undInstrument der Emanzipation ist. Auch sie charakterisiert ein a prioriidentifi katorisches Verhóltn is zu r Vergangen heit.0 Bei abneh mendemZentralisierungsgrad von Macht und Wissen in einem bestimmten Be-zugssystem, kehren sich die Proportionen der Haupteigenschaften deshistorischen Diskurses um. Die Ceschichte wird zum Subjekt der Politikund zum Objekt und lnstrument der Selbstreflexion - zu einer kri-tischen Ceschichte.z Uber die Ausgestaltung des historischen Bewusst-

j rarl. n. Popper, Das Elend des Histońłismus, Ttibingen: Mohr 5iebeck ZOO:7, S, SO-al.) Ebd., s.56-87: Karl R, Popper, DieoffeneCesellschaftundihreFeinde, Bd. 1, TObingen: Mohrsiebeck 2003ó. s. 1 87-] 92.6 Krzysłof Pomian, Historia - nauka wobec pamięci [Geschichte - Wissenschaft versus Erinnerung],Lublin: Wydawnictwo Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej 2006, s. '|88-195; Zum Thema 6e-gen-Ceschichte vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1 999,s. 76-98.7 Krzyszlof Pomian, Historia - naukawobecpamięci..., a.a,O. S. 195-192.

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seins in einer bestimmten cemeinschaft, an einem bestimmten oft,zu bestimmter Zeit, entscheidet also in groBem MaBe die Geschichts-politik, oder genauer gesagt die Spannung, die aus dem Wechselspielzwischen den die geschichtlichen Beziehungen gestaltenden Króften

- als einem Diskurs von wissen - und der politik - als einem Diskursder Macht - entsteht. ln der Praxis zeigt sich die Geschichtspolitik alsGesel lschaftstechnologie mit zentraler und/oder lokaler Dimension.

Geschichtspolitik als holistische Sozialtechnik erf0llt als starke Lehr-doktrin Aufgaben, die auf einer umfassenden Kontrolle und einem ra-

dikalen gesellschaftlichen Umbau des historischen Bewusstseins, ent-sprechend eines von oben bestimmten radikalen Plans beruhen. Die-ser strebt danach, die einzig richtige, dem aktuellen Bedarf des mitGese l lschaft gleichgesetzten Staats entsprechende, totale Vorstel l ungvon Ceschichte zu bestimmen. Diese artikuliert sich in groBen, mus-terhaften Erzóhlungen und sanktioniert eine relativ neue, zentral pro-grammierte gesellschaftliche Ordnung, die sich auf ein System vonGeboten und Verboten, also auf ein Konzept der reglementierten Frei-heit stutzt und den Aufbau einer geschlossenen mono-historischenCesellschaft nach sich zieht. Wir haben es hier mit Verstaatlichung vonGeschichte zu tun.

Geschichtspolitik als lokale Sozialtechnik erfrjllt als eine schwacheLehrdoktrin die Aufgabe, Móglichkeiten fOr das freie Funktionierenverschiedener Wissenspraktien und -diskurse sowie multimodaler Mi-kro-Erzżihlungen zu schaffen, die verschiedenartige, oftmals mitein-ander nicht vergleichbare, aber einander gegenuber tolerante, lo-kale Varianten gemeinsamer Erinnerung und gesellschaftlichen his-torischen Bewusstseins gestalten. Sie sanktionieren ein gesellschaft-liches System, das auf Kompromiss und Verschiedenartigkeit ba-siert, deren Grundlage eine konsensual regulierte Freiheit ist, Diesewi rd als gesel lschaftl iches E i nverstand n is begriffen, ei nzel ne Besch rón-kungen durch andere zu ersetzen, was den Aufbau einer offenen,polyhistorischen Cesellschaft nach sich zieht. ln diesem Fall haben wires mit der Verantwortung des Staates fur Freiheit und Pluralismus vonErinnerung und Geschichte zu tun,

Die Debatte 2005-2007

Bei dem Versuch, den Argumentationsaustausch zum Thema Ce-schichtspolitik nachzuvollziehen, springt sofort ins Auge, dass derStreit ,,fundamentale" Fragen beruhrt. Wir haben es hier mit zwei sichbekómpfenden Lagern zu tun, 1) den Beftjrwortern der Geschichts-politik und 2) den Cegnern der Ceschichtspolitik. Kurz lżsst sich derKonflikt folgendermaBen zusammenfassen: so wie ihre BefurworterCeschichtspolitik fljr unentbehrlich und notwendig halten, so sinc

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ihre Cegner davon uberzeugt, dass sie schżdlich und daher uberflris-sig und unntitz ist, und dass Geschichte sich so weit als móglich vonpolitik fernhalten sol lte.e

C,eschichtspolitik - der Programmentwurf ihrer Schópfer

lnsbesondere ihre Befurworter halten Ceschichtspolitik fUr unerlóss-lich. Demnach sollte jedwede Anstrengung unternommen werden,um ihre polnische Prżgung bekannt zu machen, vor allem deshalb,weil nach 19B9 in der lnnen- und AuBenpolitik das Phónomen der Re-vanche von E ri n nerung, i n Cestalt revision istischer Cesch ichtsinterpre-Etionen aufgetreten sei, die zu lnstrumenten dieser Politik wt]rden,9Die Konzeption der Ceschichtspolitik entspringt der Uberzeugung,dass der Staat das Subjekt ist, das die Bedingungen fur den Fortbe-stand des kollektiven historischen Gedóchtnisses und die nationaleldentitót schaffe. Deshalb sei dem Staat und den Politikern nicht egal,was die Btirger erinnern und was in Vergessenheit gerót.lo

Daran anschlieBend wird die Ceschichtspolitik konzeptualisiert: a) alsjedes beabsichtigte Handeln von Politikern und Beamten, das dieFortschreibung, Beseitigung oder Umdefinierung bestimmter lnhaltedes gesellschaftlichen Gedichtnisses zum Ziel hat. Diese Umdefinier-ung óuBere sich in der Propagierung von Forschungsergebnissen, de-nen die Staatspolitik Cewicht beimisst, so wie beispielsweise im Falleder Propagierung zeitgenóssischer Kunst; b) als ein weiterer Politik-bereich, neben AuBenpolitik, Wirtschaftspolitik, Arbeits- und Sozial-politik; c) als Stórkung des óffentlichen Diskurses riber die Vergan-genheit im Land selbst, wie auch nach AuBen. Dies geschehe mittelsverschiedener Formen der lnstitutionalisierung dieses Diskurses, aufder Ebene zentraler, staatlicher und lokaler - selbstverwalteter wieauch regionaler - Stellen,l l

Geschichtspolitik richtet sich gegen: a) das liberale Demokratiemodellder 3. Republik'2, das eine eigentumliche Variante der political cor-rectness in Form einer Flucht vor Ceschichte propagiere. Der 3. Re-

8 Vgl. Rufuł Stobiecki. Historycy wobec polityki historycznej [Historiker verus Ceschichtspolitik], in:

Sławomir M. Nowinowski/Jan Pomorski/Rafał Stobiecki (Hg.), Pamięć i polityka hinoryczna |Erinne-rung und Ceschichtspolitik]. Łódź: Wydawnictwo lPN 2008, S. '] 75-193.9 Dariusz Cawin, O pożytkach i szkodliwości historyanego rewizjonizmu [Uber Nutzen und Schadendes historischen Revisionismus], in: Robert Kostro/ Tomasz Merta (Hg.), Pamięć i odpowiedzialność

[Erinnerung und Verantwońung], Krakau/ Breslau: ośrodek Myśli Politycznej 2000, s. 29.|U Marek Cichocki, Czas silnych tożsamości [Zeit starker ldentitaten], in: Polityka historyczna.Hiłorycy - poliEcy - prasa. [Geschichtspolitik. Historiker - Politiker - Presse], Warschau: MuzeumPowstania Warszawskieqo 2004, S. ]5.1l Lech M. Nijakowski Baron Muenchausen czyli o potskiej polityce pamięci [Baron Munchhausenoder óber polnische Geschichtspolitik], in: Przegląd Polityczny, 7612006.5. 54; Dariusz 6awiniPaweł Kowal, Polska polityka hiłoryczna [Polnische Geschichtspolitik] . iff Polityka historyczna. Histo-

rycy - polĘcy - prasa..., a.a.O.. S. 'l 3; Marek Cichocki. PolĘka hiłoryczna - za i pneciw f6e-,ciichtspolitik - Fr]r und Wider]. in: ,,Mówią Wieki", 8/2006, S. 'l0-17.| 2 3. Republik meint die Republik Polen nach dem politischen l.Jmbruch von 1989, in Anknilpfung an dieTraditionen der 1. und 2. Republik (l569-1795 und t918-t939). (Anm. d. Ub.)

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publik wird hierbei vorgeworfen, den Begriff der weltanschaulichenNeutralitAt des Staates auf den Bereich der Erinnerung und der his-torischen ldentitót auszudehnen, auf den Begriff des Volk zugun-sten der Kategorie der Cesellschaft zu verzichten, kollektive Amnesiezu verbreiten und dadurch in polen nach ] 9B9 den romantischen,eine starke nationale ldentitdt konstituierenden wertekanon zu de-montieren, dessen Aufbau und Existenz unter pluralistischen Bedin-gungen weder móglich noch notwendig sei.t:; b) den Revisionismusder kritischen Ceschichtswissenschaft und die Konzeption des kri-tischen Patriotismus von Jan Józef Lipski und seinen Nachfolgerntł;c) den Aufbau einer Cemeinschaft der Scham, die sich auf eine kri-tische Einstellung gegentjber der Vergangenheit stt]tze und durch dasliberale Demokratiemodell der 3. Republik gefórdert werdels; d) dieakademische ceschichtswissenschaft und die Berufshistoriker, da daskollektive Gedóchtnis in Wahrheit ein politisches und kein wissen-schaftliches problem sei, und man die Macht daruber nicht allein his-torischen Forschungsinstituten uberlassen durfe. Man ist der Ansicht,der Anspruch der Historiker, die einzigen Verwalter des kollektivenceddchtnisses in der demokratischen cesellschaft zu sein, sei unan-nehmbar, denn die Erinnerung habe ihren Platz im Zentrum der polis,solle Cegenstand der óffentlichen Debatte mit all den daraus resultie-renden Konsequenzen sein und durfe nicht in der Pathologie der Ce-schichtsinstitute eingesch lossen werden. AuBerdem du rften, i nsbeson-dere in polen, die Berufshistoriker deshalb nicht Treuhdnder deskollektiven historischen Cedżichtnisses sein, weil sie die Aufgaben, dievon der universitóren Wissenschaft gefordert und erwartet werden,nicht erfL]llten,l6; e) eine lnstrumentalisierung der Geschichte undneumodische postmoderne Rhetorik, die Subjektivismus und Relati-vismus propagiere und damit die Objektivitót historischer Forschun-gen abstreitel7; f) die Kategorie des historischen Gedóchtnisses, dasaufgrund seines selektiven, rekonstruktiven und diachronen Chararak-ters und deshalb, weil Ceschichte als menschengemachtes Produkteiner Umgestaltung unterliege, die Relativismus nach sich ziehe, als

]3 Dariusz Cawin, Od romantycznego narodu do liberalnego społeczeńłtwa. W poszukiwaniu nowejtoŻsamoŚci kulturowej w polityce pobkiej po roku l989. [Vom romantischen Volk zur liberaIen cesel|_schaft. Auf der Suche nach einer neuen kulturel|en ldentitat in der polnischen Politik nach 1989'|in: Joanna Kurczewska (Hg.), Ku/tura narodowa i polityka INationalkultur und politik], Warschau:oficyna Naukowa 2000, S. ] 8] -206: Zdzisław Krasnodębski, Zwycięscy i pokonani fcówinner undVerlierer], in: Robeń Kostro/ Tomasz Merta (Hg,), Pamięć iodpowiedzialność..., a.a,o,, S. 68: Zdzi-sław Krasnodębski, Demokracja peryferii [Periphere Demokratie], Danzig: Słowo / obraz Terytoria2oo3. s. 229-27 1 .

14 Dariusz Gawin, O poż}Ąkań i szkodtiwości historycznego rewizjonizmu..., a.a.O., S. ]-29,| ) Zdzisław Krasnodębski. Demokracja peryferii..., a,a.O., S. 264.|6 Marek A, Cichocki, Czas silnych tożsa,mości..., a.a,o,, S. ]5; Siehe auch: Marek A, Cichocki, O po-trzebie pamięci i grozie pojednania [Uber die Notwendigkeit und die Bedrohlichkeit von Versóhnung],In: Piotr Kosiewski (Hg,), Pamlęćjako przedmiotwładzy |Erinnerung als Cegenstand der Machi],Warschau: Fundacja Stefana Batorego 2008, S. 9-1 0; Siehe auch: Marek A. Cichocki, Hiltoria pow-raca [Die Ceschichte kehrt zurtick], in: ,,Rzeczpospolila", 14.12.2oo4., Zdzis|aw Krasnodębski, Roz-mowy istotne inieistotne [Wjchtige und unwichtige Cesprżiche], in: Piotr Kosiewski (Hg.), Pamięć jakoprzedmiotwładzy..., a.a,o,, S. i9; MarekA. Cichocki,,,ozon"']0.11.20O5; Dariusz cawin.opóżyt-kach i szkodliwosci historycznego rewizjonizmu,.., a.a,O,. 5, l -29,|/ Tomasz Merta, Pamięc i nadzieja IErinnerung und Hoffnung], in: Robert Kostro/ Tomasz Meńa(Hg.), Pamięć i odpowiedzialność..., a.a,O., 5, 80

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-hwierig angesehen wird.l8; g) Versóhnungspolitik, in der man die}fahr des Vergessens von Schmerz und Leid sieht, die auf naturliche.'/eise mit ldentitót und Erinnerung verbunden seien.]9

frschichtspolitik spricht sich aus fUr: a) die Rrickgewinnung, Wieder-,lerstellung und Pflege des kollektiven Cedóchtnisses2o; b) eine beja-rende EinsteIlung zur Vergangenheit, die der Uberzeugung entspringt,Cass positive Erfahrungen wichtiger sind als negative und schmach-,łolle, und Helden wichtiger als Verróter und Feiglinge. Dies sei furden gesellschaftlichen Zusammenhalt und die generationenubergrei-;ende kommunikation von fundamentaler Bedeutungzl; c) die schaf-,ung einer bejahenden Cesellschaft auf der Crundlage von Geschichte,als einer Cemeinschaft des Stolzes, die sich auf einen national-pa-riotischen wertekanon der romantischen Tradition beruft und Funda-;nent einer starken nationalen und historischen ldentitót seizz; d) dieKonzeption eines heroischen Patriotismus, der eine Antwort auf denkritischen patriotismus darstellez3; e) die Anwendung wissenschaft-licher Kriterien bei der Vergangenheitsforschung, die eine Uberwin-dung der neumodischen, relativistischen und postmodernen Rhetoriksowie das Streben nach historischer Wahrheit ermógliche, soweit die-se zugónglich sei2a; 0 die Abrechnung mit der Vergangenheit der Volk-republik, Lustration und Entkommunisierung, die eine Befreiung vonder Vergangenheit sicherstellen sollen sowie die Erneuerung und Be-wahrung der, durch den Kommunismus unterbrochenen, historischenKontinuitit mit dem Cenerationenerbe der ]. und 2. Republikzs;g) die Unterordnung des verónderbaren historischen Cedóchtnissesunter die Konzeption eines unverónderlichen anamnestischen und on-tologischen Cedżichtnisses sowie eines axiologischen Gedóchtnisses.Bei genauerer Betrachtung wird Ersteres als ewiger ontologischerCrundsatz verstanden, der Crundlage der gesamten Geschichte ist,sowie als anamnesis, die die Notwendigkeit der Aufhebung menschli-cher, historischer Zeit (die Vorgeschichte, das, was vorzeitig ist) mitdem Phónomen eines Cedżichtnisses verbinde, das die Erinnerung derauBerhalb der Zeit existierenden, ursprUnglichen ldeen darstelle.26; h)ehrendes Cedenken an Helden und Ereignisse, als eine der wichtigs-

l 8 Dariusz Kańowicz, Pamięć aksjologiczna a historia fAxiologisches Gedachtnis und Geschichte], in:Roben Kostro/ Tomasz Meńa (Hg.), Pamięć iodpowiedzialność..., a.a.O., S. 35-4l: Marek A. Ci-chocki, Wladza i pamięć. O politycznej funkcji histoii [Macht und Erinnerung. Uber die politischeFunktion von Ceschichte], Krakau: Ośrodek Myśli Politycznej 2005, S. l52-'|64|9 Marek A, Cichocki, O potżebie pamięci igrozie pojednania..., a.a.O., S. 9-12ZU Robeń Kostro, Kazimierz M. Ujazdowski, Odzyskać pamięć [Die Zuriickgewinnung von Erinne-ru,ng], in: Robeń Kostro/Tomasz Merta (Hg.), Pamięći odpowiedzialność..., a.a,O., S,43-53!] Tomasz Meńa, Pamięć i nadzieja..., a.a.O., S, 7322 Zdzisław Krasnodębski, Demokracja peryferii..., a.a.O., S. 264: Dariusz Gawin, Od romantycznegonarodu do liberalnego społeczeństwa..., a.a.O., S. l8'|-206: Marek A. Cichocki, Czas silnych tożsa-mości..., a.a,O., S. l5-2'|]] Oariusz Gawin, O pożytkach i szkodliwości historycznego rewizjonizmu..,, a.a.O., 5. 20.24 Karol Mazur Polityka'hiłoryczna - za i pzeciw..,., a.a.O.

|| Zdzlsław Krasnodębski, De mokracja peryferii..., a.a.O., S. 247 -25 6.Żb Dariusz Karłowicz, Pamięć aksjologiczna a histońa, a.a.O., S. 35-4l; Marek A. Cichocki, Władzai pamięć..., a.a.o., S. 152-164

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ten Formen, in der das kollektive cedachtnis zum Ausdruck komme.Durch Erinnerung werde die ldentitót der Cesellschaft immer wiederneu konstituiert. Eine groBe Rolle hierbei spielten óffentliche 6edenk-feierlichkeiten, die die Bedeutung der verehrten Helden und Ereignisserituell bestótigten und dank derer die Cemeinschaft ihrer ldentitat inForm einer musterhaften Erzóhlung, der Zeremonie, erinneft werde.Dabei sei das Ritual jedoch nicht nur Tagebuch oder Aufzeichnung.Die musterhafte Erzóhlung des Rituals stelle vor allem einen in seinerBedeutung bestótigten Erinnerungskult dar. Der wóhrend der rituellenZeremon ie praktizierte E ri n n eru n gsku lt bes itze pararel igiósen Charak-ter. Als Form der Sakralisierung von Erinnerung bekunde er zugleichdie Akzeptanz der Wahrheit dessen, was gerade erinnert wird.27

Ceschichtspolitik - Kritik ihrer Cegner

Die Ceschichtspolitik ist nach Meinung ihrer Kritiker ein Rżitsel. Bekanntsei weder was sie ist, noch worauf sie beruhen soll. Es gebe einigeElemente, die sie beschreiben, nicht aber definieren. Diese sind: Be-jahung der nationalen Geschichte, Ablehnung des kritischen Patrio-tismus, Ceschichtskontrolle durch Staat und Regierung, Anerkennungdes erzieherischen Werts der Abrechnung mit der kommunistischenVergangenheit, besonders im Rahmen juristischer Prozesse, sowie dieNotwendigkeit der Kodifizierung einer Ceschichtsvision. Alle dieseElemente seien zweifelhaft und bedenklich.zs

Die Geschichtspolitik, die abwechselnd die Begriffe Ceschichte, Erinne-rung kol lektives Gedóchtn is, gemeinschaftl iches Cedóchtn is, geschicht-liches Cedżichtnis usw. verwendet, scheine einerseits Erinnerung mitCeschichte gleichzusetzen und andererseits die Kategorie Ceschichtedurch den Begriff Erinnerung zu verdrżingen und zu ersetzen. Gleich-zeitig handle es sich hier um zweiverschiedene Bereiche gesellschaftli-cher Erfahrungen. Erinnerung und Oral History erft]llten andere Auf-gaben und Funktionen als forschende Ceschichte.z9 Hinzu komme dasproblem der kontrolle der staatsmacht uber ceschichte und Erinne-rung.

Eine solche Geschichtspolitik neige dazu, mittels staatlicher lnstitu-tionen, wie dem lnstitut fur Nationales cedenken oder dem Museumdes Warschauer Aufstands, einen bejahenden, eindimensionalen undinstrumentalisierenden Umgang mit Ceschichte zu propagieren, der

2_! Zdzisław Krasnodębski, Demokracja peryferii.... a.a.O., 5.. 243-24928 Niemand lehnt den Sinn einer Po|itik gegen0ber Ceschichte generell ab, sondern |ediglich dieForm, die ihr von ihren Befurwortern Anfang des 21. _Jahrhunderts gegeben wurde. Vgl, RobenTraba, Hstoria - przestrzeń dlalogu [Ceschichte - Raum des Dialogs], Warschau: lnstytut Studióy,Politycznych PAN 2006, S. 1 0, Andrzej Romanowski, Majsterkowicze naszej pamięci [Bastler unserer

Ęrinnerung],,,Gazeta Wyborcza", 0 i,-02.03.2008.Ż9 Adam Pomorski. Dyskusp IDiskussion], in: Piotr Kosiewski (Hg.), Pamięć jako pnedmiotwładzya.a.O,. 5. 39-40.

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-s einzig richtige Ceschichtsbild hervorbringe, das Eingang in Leben,l,,lnnerung und Bewusstsein der Cesellschaft finden soll, Es sei uber--i8ig auf das Eigene konzentriert, das als separat, einmalig und:.l8ergewóhnlich wahrgenommen wird, und so als eine Form der Ka--hierung eigener Komplexe erscheine.30 Dies ziehe ein Handeln nach; :h, das nationalen GróBenwahn, Stolz auf die nationale Ceschichte-nd in ihrer Konsequenz eine unkritische Selbstuberschótzung des Po-entums propagiere. Aller Realitót zum Trotz werde hier die Bedeutsam-<eit der nicht vorhandenen, polnischen Errungenschaften verktjndet-nd ein durchschnittliches, an der Peripherie gelegenes und rezep-:ves Land wie Polen, als den schópferischsten Kulturen Europas eben-:Ortig dargestellt, was kompromittierend, dumm und peinlich sei.:l

]as Betreiben von ceschichte im nationalen ceist zu fórdern, lasseJie Ceschichtspolitik, selbst bei der wohlwollenden Annahme, ihr Ziel-i die Verbreitung n icht-national istischer Einstel lungen, schód l ich er-scheinen, da das durch sie verbreitete Geschichtsbild ein nationalesGeschichtsbild sei. ln der internationalen Geschichtsschreibung sei dieKategorie der Nation dagegen seit langem schon keine wesentliche,Jen historischen Diskurs organisierende Metapher mehr. Man suchehier eher nach neuen analytischen Kategorien, die es erlauben, sichaus dem Diktat der Geschichte, verstanden als Nationalgeschichte, zubefreien,:z

lndem sie einen bejahenden Zugang zur Vergangenheit propagiereund der Ceschichtswissenschaft gegenuber miBtrauisch sei, neige Ce-schichtspolitik dazu, historisches Wissen zu manipulieren. Dieses óuBe-re sich als: 1) suggestio falsi, die darauf beruhe, eine offenkundig fal-sche Ceschichtsdarstellung zu unterstLjtzen; 2) suppressio veri, die sichdarauf beschrónke, jene Aspekte der Nationalgeschichte zu unter-drtjcken, auf die man nicht unbedingt stolz sein kónne,33 Dies habezur Folge, dass Ceschichtspolitik, indem sie ausgewóhlte Ereignisse derVergangenheit, insbesondere aus Zeiten der 'l. und 2. Republik, be-jahe, Ausdruck historischer Realitótsflucht sei.:ą Durch Betonung und

30 Marcin Kula, Polrryka historyczna - za i przeciw..., a.a.O.; Siehe auch: Maciej Janowski, Politykahiłoryczna. Między edukacją a propagandą [Ceschichspolitik. Zwischen Bildung und Propaganda],in: Sławomir M. Nowinowski/ Jan Pomorski/ Rafał Stobiecki (Hg.), Pamięć i polityka hiłoryczna...,a.a.O., S. 234.31 Maciej .Janowski, PoliĘka historyczna. Między edukacją a propagandą.,., a.a.O., S. 234: AndrzejWerner, Polityka historyczna-zaipzeciw..., a,a.O,; Marcin Kula, PolMa historyczna-zaiprzeciw...,a.a,O.

]] macie; Janowski, Polityka historyczna. Między edukacją a propagandą.,., a.a,O., S. 235.5J Joanna Tokarska-Bakir, Nędza polityki historycznej [Das Elend der Ceschichtspolitik]. in: Piotr Ko_siewski (Hg,), Pamięć jako pzedmiot władzy..., a.a.O., 5. 29; Siehe auch: Jerzy Kochan, Zycie co-dzienne w matńksie. Filozofia społeczna w ponowoczesności [Alltag in der Matrix, Cesellschaftsphiloso-phie im Postmodernismus], Warschau: Wydawnictwo Naukowe Scholar 2007, S, 95-108; 5ieheauch: Alekander Smolar: Wladza i geografia pamięci [Macht und Geographie der Erinnerung], in:Piotr Kosiewski (Hg.). Pamięć jako pnedmiot..,, a.a.o., s. 50-54,Ja Maciej Janowski. Pamięćto nie domena państwa [Erinnerung ist nicht die Domźine des staates],in: Piotr Kosiewski (Hg.). Pamięć jako pnedmiot..., a.a,o., S. l4-1 5: Andrzej Romanowski, Majster-kowicze naszej pamięci..., a.a.O.; Robert Traba, Hrstorla - pzestneń dialogu..., a.a.O., S.. 64;Alekander Smolar, Władza i geografia pamięci..,, a.a.O., S. 5l

3]

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Hervorhebung der angenehmen Zeiten und Strange der Vergangen-heit und die Tabuisierung unangenehmer und moralisch zweifelhaf-ter Ereignisse, fixiere und mythologisiere CeschichtspoIitik die Vorstel-lung von Ceschichte und konserviere das historische Bewusstsein, wasim Widerspruch zum Erkenntnistrieb stehe.:s

zudem verstórke das unwesen einer durch die staatsmacht kontrol-lierten Ceschichtsmanipulation, die Kodifizierung der Wissenschaft,bei der die Forschungspraxis gesetzlichen Regelungen untergeordnetwerde. Die gesamte Doktrin der Ceschichtspolitik gehe davon aus,dass Funktionen des Rechtsapparats und wissenschaftliche Verfahrenmiteinander verbunden werden kónnen bzw. austauschbar sind. Dieklassischen methodologischen Grundsótze von Umfragen, wie vonQuellenkritik und -interpretation, mit denen wir es in der Ceschichts-wissenschaft zu tun haben, wtirden durch Artikel des Strafgesetz-buchs ergónzt. Ein Beispiel dieser Praxis war Artikel 132a des pol-nischen StCB, der 2007 verabschiedet und im September 2008 vompolnischen Verfassungsgericht aufgrund der Unvereinbarkeit mit derVerfassung auBer Kraft gesetzt wurde. Dieser Artikel drohte mit Frei-heitsstrafe bis zu drei Jahren f0r Verleumdung des polnischen Volk.Folge sei die Ungleichberechtigung der unterschiedlichen Einstellun-gen zur Vergangenheitsforschung gewesen.36

Nach Auffassung der Kritiker der Ceschichtspolitk ist es nicht zulóssig,monolithische lnstitutionen zu schaffen, die eine bestimmte, einzigzulóssige und gultige Art von Ceschichte fórdern und alle anderenFormen wissenschaftlichen Nachdenkens uber Vergangenheit intellek-tueller Achtung anheimstellen. Es sollte keine lnstitutionen geben,deren Erzeugnisse priviligierten Status besitzen und die historischeWissenschaft darauf reduzieren, gesetzliche Urteile zu formulieren.Cesetzlicher Urteilsspruch und historiographische Hypothese seiengrundverschieden und drjrften nicht vermischt werden.3z

Die bejahende Betrachtungsweise der eigenen Ceschichte sei strengpolitisch und propagandistisch, sie missachte zeitgenóssische histo-rische Erzóhlungen, die darauf ausgerichtet seien, die kompliziertenBeziehungen der Vergangenheit zu verstehen. ln der Folge werde dieCemeinschaft gegeneinander aufgebracht und unbequeme Widersa-cher aus ihr ausgeschlossen.38

Die ldee, dass die Staatsmacht fijr die Ausgestaltung des kollektivencedóchtnisses verantwortlich sein soll, halten die kritiker der ce-

] | Rnarzej Werner, Po/ityka historyczna - za i pneciw, a.a.O.

]! Rndrzej Romanowski, Majsterkowicze naszej pamięci..., a.a.O.3/ Andrzei Skrzypek, Dyskus;a [Diskussion], in: Piotr Kosiewski (Hg.), Pamięć jako pzedmiot...,a.a.O., S.40-41: Halina Bońnowska, IDiskussion], in: Piotr Kosiewski (Hg.), Pamięćjakopzed-miot.... a.a.O., S.38; Daria Nałęcz, Dyskusla, [Diskussion], in: Piotr Kosiewski (Hg.), Pamięćjakoprzedmiot..., a.a.O., 5. 38.38 Robe.t Traba, Historia - pnestzeń dialoqu,.., a,a.O., S. ] 07.

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Ceschlossene und offene Geschichtspolitik. Die polnische Dimension .,,

:.:T ichtspolitik fur erstaunlich und absurd. Es sei geradezu unverstand-::l, dass Erinnerung in einem freien, demokratischen Land lnteres-

-lsgegenstand der Amtsgewalt sein soll. Es heiBt sogar, der Versuch:er Cedóchtnisbildung durch die Amtsgewalt fuhre zu intellektuell-;ulosen Ergebnissen. Das lnteresse, das die Staatsgewalt an der Fór-:€rung einer bestimmten Vorstellung von Erinnerung haben kónnte,:sse sich daher schwer definieren und begrunden.:e

]iese Ansicht beruht auf der Uberzeugung, dass Erinnerung eine derŁrmen von Freiheit sei. Als eines der Menschenrechte musste sie also_nter Schutz gestellt sein, sowohl als Recht von lndividuen, wie auch alsiecht der durch sie geschaffenen Cemeinschaft. Wenn man bedenkt,:ass das definitorische Charakteristikum europóischer Cesel lschaften:in Pluralismus der Erinnerungen ist, erscheine e5 naturlich, dass keineŁlitik von oben in diese Ordnung ingerieren sollte. Man dt]rfe dieirinnerung nicht in einen einheitlichen Pflichtritus verwandeln, der:urch die Amtsgewalt oder einen anderen Cewaltakt auferzwungenłird. Der Wandlungsprozess der Erinnerung, ihre Umgestaltung in<ollektive Erinnerung, musse freiwillig erfolgen.ło Eine emphatischeiorderung der Kritiker der Geschichtspolitik ist deshalb, dass nicht dieSnatsmacht das historische Cedóchtnis gestalten sollte. Wie viele an-;ere, móchten natljrlich auch sie, dass bestimmte Vorstellungen tiberJie Vergangenheit sich mehr verbreiten und andere weniger, da einigeArten uber Vergangenheit nachzudenken erwunschter sind als andere.Trotzdem sollten sie sich auf dem freien Markt der ldeen ,,aneinander:,eiben".ąl

Ein weiteres kontroverses Problem, das der Kritik unterzogen wurde,ist der Begriff des heroischen Patriotismus und der starken nationalenldentitót.

Nach Meinung ihrer Kritiker erkennt Geschichtspolitik den sogenann-ten modernen patriotismus nur in einer Form, als unkritische variante,an, einer Variante also, die sich selbst dazu bekennt, dass positive Er-

fahrungen wichtiger sind als negative und schmachvolle und Heldenrvichtiger als Verróter und Feiglinge. Der so verstandene ,,Patriotismusvon morgen" grunde sich auf die Werte des ethnischen Patriotismusdes 19. Jahrhunderts: auf Traditionen, Ceschichte und kulturelle Er-

rungenschaften. Der nationale Stolz der Polen und die Uberzeugungvon der eigenen Uberlegenheit uber die Nachbarn speise sich de-mentsprechend nicht aus konkreten Errungenschaften, sondern eheraus dem Clauben an das polnische Blutopfer und die Aufopferungftjr andere. Deshalb gebuhre den Polen Respekt, Genugtuung und dasRecht auf moralische Uberlegenheit. Jede Form des kritischen oderreflektierenden patriotismus werde als fehlender patriotismus beur-

3| maciej Janowski, Pamięć to nie domena państwa..., a.a.O., S. 13.40 Halini-Bortnowska, Dyskusja..., a.a.O.. Ś.38: Daria Nałęcz, Dyskusja..., a.a.O., S.324l Maciej Janowski, Pamięćtóniedomenapaństwa..., a.a.O., S, l:.

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teilt.ąz Auf Crundlage des ,,Patriotismus von morgen" und der beja-henden Betrachtung der eigenen Vergangenheit entwerfen die Befur-worter der 6eschichtspolitik die Konzeption einer starken nationalenIdentitdt, indem sie sich auf das ethnische Zusammengehórigkeitsge-fuhl berufen, das sich auf die Dichotomie - wir: die Unsrigen - sie: dieFeinde - st0tzt. Dies fuhre zu einem Sensibilitótsverlust gegenuber derSubjekthaftigkeit anderer Cesellschaften und zur Neigung sich von ih-nen abzugrenzen, so dass Polen zu einer belagerten Festung werde.a3Eine weitere Konsequenz der Verbreitung dieser Konfrontationslogiksei mangelndes Verstóndnis fur eine Logik und ldentitót der Versóh-nung sowie die Ablehnung einer auf Versóhnung zielenden Politik.ąą

Nach Uberzeugung der Kritiker der Ceschichtspolitik ist dieses Vorge-hen, das auf der Konzeption des ,,Patriotismus von morgen" und einerbejahenden Betrachtung der eigenen Vergangenheit beruht und beidem einer auf Stolz basierenden Vorstellung der Cemeinschaft eineandere Konzeption von Gemeinschaft entgegengestellt wird, die sichauf die kritische Geschichte und die ldee des kritischen patriotismusberuft und auf ein ceftjhl von scham und schande baut, falsch undpopulistisch. Die aus der Bejahung der eigenen Vergangenheit resul-tierende unreflektierte stolze Haltung sei infantil und kennzeichneeine kindische im Cegensatz zu einer reifen Gesellschaft, die es in ei-nem prozess der selbstreflexion schaffe, sich zu schuld und Fehlernihrer vorfahren zu bekennen.a5 Deshalb sprechen sich die kritikerder Ceschichtspolitik, die Konzeption des ,,Patriotismus von morgen"und die Konzeption einer starken nationalen ldentitót im ethnischensinne ablehnend, fur die ldee eines kritischen patriotismus aus, einesburgerlichen Patriotismus also, der einen monolithischen, nationalenBlick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit verwirft.a6

Auch die Diagnose, die die ldeologen der Ceschichtspolitik dem libe-ralen Demokratiemodell der 3. Republik stellten, ist nach Meinungder Kritiker der Doktrin fehlerhaft. Sie halten den Vorwurl die 3. Re-publik fliehe vor der Ceschichte und fórdere eine Amnesie als eigen-artige Form der political correctness, fur ungerecht, da es in Polen,gerade in den l990er Jahren, eine Renaissance des lnteresses fur Ce-schichte gegeben habe. Es wóren tauchten Themen aufgetaucht, dievorher tabuisieft waren und insbesondere kommunistische verbre-chen betrafen. Es hótte eine symbolische Abrechnung mit der Volksre-publik Polen gegeben u.a. durch Schaffung einer neuen lkonosphóre- Wappen, lnsignien, Denkmóler; die alten Nationalfeiertage des 3.Mai und ] l, November wurden wiederbelebt; Staatsnamen, StraBenund Plótze wurden umbenannt, die He|den der Vollsrepublik wurden

42 AndrzeiWerner, Polityka historyczna-zaipzeciw..., a.a.O.; Siehe auch: RobertTraba, Historia-przestrzeń dialoqu..., a.a,O., S, l 0- I 9, 78-] 08.43 Robe,t Trabi, Historła - przestrzeń diatogu.... a.a.O,, 5. 16-11, 94-97.44 Andrze,1 Romanowski. ńajsterkowicze nŹszej pami ęci..,, a. a.O.

]j Joanna Tokarska-Bakir, Nędza poliĘki historycznej, a.a,O., S, 30.qo Robert Traba, Historia - przestzeń dialoqu..., a.a.O., S. 97-1 03.

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Cesch]ossetle uncl offene Ceschichtspolitik, Die poInische Dinrension .,,

:m Sockel gesturzt, die Ceschichtslehrplóne fur Schulen umgestaltet,e in politischen Prozessen Verurteilten rehabilitiert, und im Jahre-C0 wurde das lnstitut fur Nationales Cedenken ins Leben gerufen.

: ^e Abrechnung mit der Philosophie und ldeologie des Kommunis--ls hdtten Leszek Kołakowski,.Jacek Kuroń, AndrzejWalicki und Józef-;chner vorgenommen.ąz Ebenfalls ftir ungerecht wird die Anschul-: 3ung gehalten, das liberale Demokratiemodell propagiere eine aus-,::iieBlich kritische und revisionistische ceschichte, und die kritische]eschichte fórdere ein schwarzes und negatives Bild von Polens Ver-::,lgenheit. So deutlich die abrechnende oder anti-verherrlichendei:,ómung im geschichtlichen Diskurs der 3, Republik auch war, so..:l, sie nach Meinung der Kritiker der Ceschichtspolitik nicht domi--:it und bemóchtigte sich der polnischen Gemuter auch nicht voll-,:ndig. Neben offen revisionistischen Texten habe es auch heroisch--:nyriologische Veróffentlichungen gegeben, die jedoch nicht den_-:,rakter von Kriegserzóhlungen hatten und verschiedene Stand-: _rkte darstellten. BeispieIe und Titel solcher Veróffentlichungen fin-::l sich beispielsweise in der ,,Cazeta Wyborcza".ł8 Andererseits be-::-,:te der kritische Blick auf die Vergangenheit des eigenen Volls ledig-:- die Fóhigkeit, fur sich selbst eine gewisse emotionale Distanz zu

_,:-affen, was nicht gleichbedeutend sei mit der Propagierung einer. :riori negativen Haltung, die auf Anschwórzung und Herabwurdi-:-:g der eigenen Ceschichte zielt. Kritische Ceschichte sei lediglich. - Cegenmittel gegen Erzóhlungen uber die polnische CroBartigkeit,--3ergewóhnlichkeit und Unschuldigkeit, mit denen die polnische Be-. : kerung seit der Romantik genóhrt wurde, und ein Cegengift gegen:=,l Chauvinismus der kommunistischen Ceschichtspropaganda, die:=3enwórtig unkritische 6edankenlosigkeit zur Folge habe,a9

- : Kritiker der Geschichtspolitik lehnen die Doktrin der Ceschicht-::litik also aus mehreren prinzipiellen Crunden ab. Sie halten sie.:, allem fur einen Ausdruck von paternalismus, der sich in einem: ::en Misstrauen gegenLiber der Cesellschaft auBert und sich auf die_:erzeugung grtindet, dass die Polen Objekt eines stóndigen Erzieh-

--.qsprozesses sein mussen, Ceschichtspolitik sei ihrer Meinung nach- ::lt uneigennritzig und behandle die Ceschichte als Dienstmagd der:: itik, wenn sie sich unter dem vorwand der Redlichkeit und der.::antwortung fur die historische Wahrheit auf die Notwendigkeit der- ::ionalen ldentitótsbildung und des richtigen historischen Bewusst-.= rs berufe, nutze sie soziotechnische Mittel, die es erlaubten im ln-

- - d Ausland eine bestimmte, fertige Vorstellung von Ceschichte zu pró-.-=r, die wiederum lnstrument politischen Handelns sei, Die Doktrin

- :. eksander 5molat, Władza i geografia pamięci..., a.a,O., 5. 62: Robert Traba, Historia - pzestrzeń: , _.!..., a,a.O., S. 65: Paweł Machcewicz, Dwa mity twórców polityki historycznejlV RP [Zwei My--.:- Jer Schópfer der 6eschichtspolitik der 4. RepubIik], ,,6azeta Wyborcza", 29,08.2008.-: łndrzej Romanowski, Majsterkowicze naszej pamięci..., a,a.O,; Paweł Machcewicz, Dwa mity

-":,:ów polityki historycznej /Y RP.,,. a.a.O,; Andrzej Kaczyński, Pustynia historyczna? [Historische,.-;:s?]. ..Cazeta Wyborcza", 26,08.2008.

-- '.iaciej Janowski, Politykahistoryczna. Międzyedukacjąapropagandą,.., a.a.O,, S. 232-233.

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der Geschichtspolitik werde durch den Diskurs der politischen Rech-ten dominiert, was zur Folge habe, dass andere Traditionen, wie diesozialistische, verschwiegen wurden, und die nationalistische Tradi-tion vollstóndig verwische. Mittels logischer Verdrehungen ziele Ge-schichtspolitik auf Vagheit und Verschwommenheit, was ihren Anhón-gern vollkommen beliebige, die Bedurfnisse der aktuellen Politik be-friedigende, lnterpretationen der Vergangenheit erlaube. Sie sei einWerkzeug der GeiBelung und des Ausschlusses aus der nationalen Ce-meinschaft. Sie zeige sich als Keule, mit der politische Cegner geschla-gen und vernichtet wOrden, sie sei Feind des kognitiven Pluralismus,sakralisiere die Vergangenheit, und sie korrumpiere die Geschichte, indem sie aus ihr einen fertigen, gleichfórmigen und eindeutigen, nichtzur Diskussion stehenden Brei mache, Aus methodologischer Sicht ver-seże die Geschichtspolitik die Reflexion tiber Vergangenheit zuruckin das '|9.

Jahrhundert. Sie stehe mitunter im Widerspruch zur polni-schen Staatsróson. SchlieBlich sei Geschichtspolitik bedenklich, weilsie Politik, ein Historiker aber kein Politiker sei und nicht in irgend-eine Art der Politisierung hineingezogen werden wollen kann,50

kommentar

Geschichtspolitik, in der durch ihre Befijrworter verbreiteten Variante,zeigt sich als paradigmatisches Beispiel einer holistischen Sozialtech-nik. oberstes, von den Befijrwortern einer holistischen sozialtechnikverbreitetes 6ebot, ist der Monismus von Grundsżitzen, zielen undArten ihrer Umsetzung. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Umge-staltung und Kontrolle der Erzóhlung Llber Vergangenheit und auf einemoralische Revolution, die eine Umgestaltung und Vereinheitlichungdes Wertesystems anstrebt. Sie propagieren die Konzeption einer ge-schlossenen Gesellschaft als homogene politische Cemeinschaft miteinheitlichen und unverinderbaren werten und einem mono-histo-rischen Diskurs, der sich der Ceschichte Anderer verschlieBt. Sie spre-chen sich also fijr eine mono-historische 6esellschaft und eine natio-nale und mórtyrerhafte, apologetische Geschichte aus, die sich auf dieGrundsótze der Sakralisierung von Vergangenheit und auf ehrendes6edenken stt]tzt.

Die holistische Sozialtechnik verfolgt zwei grundlegende Hand-lungsstrategien, die Ergebnis eines von oben umrissenen zentralenPlans sind, und die Alekander Smolar als Strategie der Unterwerfungund Strategie des kalten Brirgerkriegs bezeichnet. Beide verhalten sichkomplementór zueinander und beruhen daraufl dass die Herrschen-den der Cesellschaft ihre Vorstellung von Geschichte, Patriotismus,

50 Marcin Kula, Polityka historyczna-zai pzeciw..., a,a.O.: Andrzej Werner, Po/ityka historyczna- zai pneciw..., a.a,O.; Andrzej Romanowski, Majsterkowicze naszej pamięci..., a.a,O.; Robert Traba,Historia - pżestżeń dialogu..., a.a.o., S. 9-'l08,

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Ceschlossene und offene Ceschichtspolitik. Die polnische Dimension .,.

:Ę--_itat, der Beziehung zum Staat und der wichtigsten Werte, denen:i -ationale Cemeinschaft dienen soll, gewaltsam aufzwingen.51

_-,t khópfer der Geschichtspolitik jonglieren im Kampf um die Macht:ę. Seelen gern mit den Begriffen Erinnerung und Geschichte, die siet -,:ch Bedari entweder als Kategorien mit unterschiedlichen Bedeu---iien oder als synonyme verwenden, Eine solche strategie ist im_c,tl um das gesellschaftliche historische Bewusstsein, das die Schópfer:r Geschichtspolitik betreiben, uberaus bequem und nrltzlich, denn -!,€ wir gleich sehen werden - findet sie, anscheinend und paradoxer-lę se, eine intellektuelle Basis in der zeitgenóssischen Philosophie un-cnventioneller Ceschichte (in der Bedeutung, wie Ewa Domańska sie:€5€m Begriff gab). Bei der Umsetzung ihres Programms scheinen die3<hichtspolitiker also auf ziemlich perfide Weise, vielleicht sogarrłissentlich, Argumente und Denkweisen heranzuziehen, die wir inr-rr Gru nd lagen der Eri n nerungsph i losoph ie fi nden, deren wichtigster.€ftreter und Verfechter Pierre Nora ist.

].eser Autor vertritt in seinen Texten die Ansicht, dass die Zeit deriinnerung gekommen sei, was verschiedenste Formen der Kritik an

-r offiziellen Geschichtsdarstellung nach sich ziehe. Er propagiert ein,|fi edererwachen der verd róngten Antei l e des h istorischen ceschehens,jie Einforderung der Spuren einer zerstórten und beschlagnahmten.€rgangenheit, die Pflege der Wurzeln (roots) und die Entwicklung derłtnenforschung, das Aufbluhen aller móglichen Arten des Ceden-ćns, die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit, die Eróffnungłerschiedenster Museen und eine erhóhte Aufmerkamkeit frjr Archiv-rstónde. Diese Welle der Erinnerung, suggeriert Nora, verbindet dieTreue zur,,realen" oder imaginóren Vergangenheit mit dem Zugehórig-łeitsgeftih l, das Kol l ektivbewusstsei n m it dem i nd ivi d uel len Sel bstge-fuhl und das Cedóchtnis mit ldentitót auf engste Weise.52 lm Verhólt-nis zur Geschichte, die sich immer in den Hónden der Macht und an-gesehener Historiker befand, hat sich das Cedżchtnis mit neuen Privi-legien geschmUckt. Es erschien als Rache der Erniedrigten, Beleidigtenund Unglticklichen, als ,,kleine" Ceschichte derer schlieBlich, die vonder ,,groBen" Geschichte nicht wahrgenommen wurden.53 Das Auftre-ten einer Ordnung von Gedżchtnis hat zur Folge, dass dem Historikerdie Kontrolle Uber die Vergangenheit und das Monopol die Vergan-genheit zu interpretieren entzogen wird. Der Historiker ist so einer vonVielen, der Vergangenheit produziert und sich diese Funktion mit Rich-tern, Zeugen und Medien teilt.s+

Wie wir sehen, entspringt Noras Geschichtskritik der Uberzeugung,dass Ceschichte, die sich die politischen und intellektuellen Salons der

37

!] łleksander Smolar, Wladza i geografia pamięci,.., a.a.O., S. 55-56.52 pierre Nora, cedechtniskoniuńktir, Transit 22l2OO2, S. ] 8.53 ebd.. s. zo.54 rbd,, s. :o.

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westlichen Welt gewisserma8en zu eigen machte, zu einem bestimm-ten Zeitpunkt zu einem offiziellen, privilegierten Diskurs wurde. ln de-ren Folge dróngt sie den Beherrschten ein bestimmtes Bild historischerEreignisse aul eine Art, die Vergangenheit zu verstehen, wobei jenenicht nur nicht zu Wort kommen, sondern oftmals auch vergessenwerden. ln diesem Zusammenhang erscheint die von dem franzósi-schen Forscher bevgrzugte Kategorie von Gedóchtnis als Werkzeug imKampf gegen die Dominanz von Geschichte, und dies im doppeltenSinne: politisch, denn sie tritt fur die Ausgeschlossenen ein und holtsie in den SchoB des gesellschaftlichen Cedżichtnisses zuruck, undepistemologisch, denn sie schlógt philosophisch und theoretisch neue,fremde Ceschichten vor - Móglichkeiten, mit Vergangenheit zurecht-zukommen. Gedóchtnis zeigt sich hier als ,,kleine", (im Verstóndnisvon Krzysztof Pomian) revisionistische Geschichte gegenuber unter-schiedlichen Historismen der Hauptstrómung der ,,groBen", akademi-schen Geschichte, die als offiziell angesehen wird und demzufolge dieentscheidende Stimme hat, wenn es darum geht, mit Vergangenheitzurechtzukommen. Die Behauptung, dass ,,kleine" und ,,groBe" Ce-schichte einander entgegen gestellt werden, ist in der Konsequenzgleichbedeutend mit der Behauptung, dass Gedóchtnis und ,,groBe"ceschichte miteinander konfrontiert wurden. Es bedeutet auch, dassdie Begriffe Cedóchtnis und Geschichte in unterschiedlichen Kontex-ten, abhóngig von dem verwendeten Bezugssystem und der Subtilitatder Reflexion, synonym oder antonym gebraucht werden.

wie unschwer zu erkennen ist, hat Nora, ob er wollte oder nicht, undobwohl er von ihnen nicht zitiert wird, den Schópfern der Ceschichts-politik eine hervorragende geistige Vorlage, Argumente und gedank-liche Werkzeuge geliefert. Genau wie er denken jene, dass der domi-nierende Diskurs die Ceschichtswissenschaft ist, die das gesellschaftli-che Gedóchtnis der Beherrschten und ihre Version der Vergangenheitausklammert. 6enau wie er verwenden jene den Cedóchtnis-Begriffzum Kampf mit der Dominanz der Geschichtswissenschaft. Ahnlichwie er meinen jene, dass das Cedóchtnis unsere Beziehung zur Vergan-genheit anders organisiert, als es die Geschichtswissenschaft tut. Beioberflóchlichem Vergleich kónnte man meinen, die Doktrin der Ce-schichtspolitik sei eine Kopie der Erinnerungsphilosophie von Nora.Unterdessen ist sie eine Philosophie der Erinnerung a rebours. Das liegtdaran, dass die Geschichtspolitiker, wenn sie eine parallele Rhetorik zuder, auf Grundlage der Erinnerungsphilosophie angewandten Rhetorikbenutzen, sie zur Realisierung vollkommen anderer Ziele verwenden,als die, die den Verkt]ndern der Konzeption einer unkonventionellenGeschichte vorschwebt. Daher haben Denkart und verwendete kate-gorien, auch wenn sie sich formal óhneln, vollkommen unterschiedli-che Bedeutungen.

Die Geschichtspolitiker sehen die offizielle Geschichte, also die, diesich in den intellektuellen und politischen Salons der 3. Republik

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Ceschlossene und offene Geschichtspolitik. Die polnische Dimension ...

:urchgesetzt hat, als kritische 6eschichte, im Sinne einer Praxis, die:uf die Betonung schmachvoller Begebenheiten der Vergangenheitlnd Auslassung oder Ausblendung der positiven oder heldenhaftenSrónge konzentriert ist. lhrer Uberzeugung nach hat die kritische Ce-schichte die herrschende ceschichtsversion uberdeckt und damit denTeil der Cemeinschaft mit einer anderen als der offiziellen Vorstellung.on Vergangenheit aus dem historischen Cedóchtnis der Cesellschaftausgeschlossen. Die Ausgeschlossenen, Beherrschten und daher Cede-:ltitigten und UnglLicklichen sind die Schópfer der Ceschichtspolitik.:nd ihre Sympathisanten selbst, wóhrend die vorherrschende, abge-ehnte Vorstellung von Vergangenheit, die auBerhalb des offiziellenCeschichtsdiskurses nur in der Ordnung des kollektiven Gedóchtnisses

'unktioniert, die von ihnen propagierte, bejahende Geschichte ist. lmZusammenhang mit dem Cesagten gewinnt die kritische Ceschichterier den Status der dominierenden, ,,groBen" Ceschichte, wóhrendJie bejahende Ceschichte den Status einer revisionistischen, ,,kleinen"óeschichte erhólt. wir haben es hier auBerdem mit einer ldentifizie-,ung der bejahenden Ceschichte mit Erinnerung und der kritischenceschichte mit ceschichtswissenschaft zu tun. Damit verschafft sichJie Geschichtspolitik ein philosophisches und epistemologisches Alibi:ur das eigene Vorgehen im Diskurs der Erinnerungsphilosophie. Es er-

,aubt ihr, unter dem Vorwand des Kampfes gegen die DominanzJer Geschichtswissenschaft, mit der kritischen Geschichte abzurechnen-lnd unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Dominanz der kri-rschen Ceschichte, die bejahende Geschichte von der potentiell me-:hodologischen und inhaltlichen, hegemonialen Vormundschaft derCeschichtswissenschaft, unter dem Deckmantel des Erinnerungsdis-rurses, zu befreien. Dies fuhrt in der Konsequenz dazu, dass die beja-:lende Ceschichte, die sich auf die Legende der Erinnerungsphiloso-phie, als ein von wissenschaftlichen Begrenzungen vollkommen freiesund flexibles lnstrument der Aneignung von Vergangenheit stużenrann, ein hervorragendes Werkzeug politischer und historiosophi-scher Manipulation wird, das die Autoritót der Erinnerungsphiloso-phie ausnutż, um deren Grundsótzen widersprechende, eigene Zielezu erreichen.

Noras Konzeption ist eine Strategie, die sich die Kategorien Cedżcht-;lis und 6eschichte als Werkzeug im Kampf um Pluralisierung und De-mokratisierung der Reflexion uber die Vergangenheit sowohl in poli-:ischer als auch in epistemologischer Hinsicht zunutze macht. Sie istein Appell dafrjr, dass ein jeder seine eigene Geschichte erzóhlen und,.róumen kann, nichts und niemand sie sich einverleibt, sie verzerrtoder dominiert, und sie genauso wichtig ist wie andere Erzóhlungen,Ceren Vielzahl und Verschiedenheit einem besseren wechselseitigenSich-Óffnen der eigenen Andersartigkeit gegenuber und gegenseiti-gem Verstżndnis nur dienen kann, Die Ceschichtspolitik, die sich in zy-nischer Weise die Rhetorik und die geistige Vorlage der Erinnerungs-philosophie zunutze macht, zielt Ęingegen nicht auf Demokratisie-

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rung und Pluralisierung des historischen Diskurses ab. lhre Aufgabeund ihr Ziel ist es, der Konzeption der bejahenden Ceschichte mit-tels einer Nationalisierung des historischen Diskurses Celtung zu ver-schaffen und ihr den Status einer dominierenden Staatsgeschichte, diesich selbst die Autoritót und das Prestige der Ceschichtswissenschaftzuschreibt, zu sichern, Diese ist intellektuell gefangen, un-dialogischund un-reflektierend, wodurch sie sich als Ceschópf des mythischenBewusstseins erweist.

lm Falle der Ceschichtspolitik haben wir es mit einer Logik zu tun, diefur mythisches Bewusstsein charakteristisch ist, und deren Hauptei-genschaft darin besteht, der Cemeinschaft ein Cefuhl der Ordnungund des sinns in der welt zu versichern und deren kohórenz anzu-streben. Dies befreit sie davon, das Nicht-Widerspruchsprinzip oder,wenn man so will, das Recht der ausgeschlossenen Mitte zu respektie-ren, Das mythische BewuBtsein ist durch bestimmte Annahmen uberdie Welt gekennzeichnet, die spontan, oder infolge der Zuerkennungdurch politische, gesellschaftliche oder andere Krófte, einen Statusfaktografischer symbolischer, unverifiziefter und fixiefter sowie mehroder wen iger sakral isierter Wahrheiten erh ielten,ss Als eigentum l icheForm der Aneignung der Welt und musterhafte, geheiligte Erzóhlunguber sie, bestimmt der Mythos also ein fur die Cemeinschaft konstitu-tives Tabu, ein Wertesystem und mit ihm eine Auswahl paradigma-tischer Modelle fur alle Arten von Brżuchen und fur die wesent|ichenTótigkeiten des Menschen, ln religióser Hinsicht liefert er der Cruppeeinen Claubens- und Verehrungsgegenstand. Er fuhrt eine mythische,geheiligte Zeit ein, die sich qualitativ von der weltlichen, historischen,chronologischen, unumkehrbaren, vergónglichen und fortlaufendenZeit unterscheidet, Jene Zeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie on-tologisch und ,,parmenideisch" ist, und damit keiner Verdnderung un-terliegt und unerschópflich ist. Sie zeigt sich in Cestalt symbolischerBróuche und Rituale, in denen sich unverónderliche wefte manifes-tieren. Der Mythos offenbart das, was wirklich und nutzlich ist undbestimmt die absolute wahrheit, Das heiBt, der Mensch wird danntatsdchlich Mensch, wenn er sich der in den Mythen dargelegten Leh-re anpasst.56

Die Welt der Ceschichtspolitik wird durch eine neue mythische Er-zóhlung auf der Grundlage einer erwunschten sakralen Ordnung be-

55 Jerzy TopoIski , Jak się pisze i rozumie historię. Tajemnice narracji historycznej [Wie man Ceschichtes,c|reibt und Versteht, Geheimnisse der historischen Erzżihlung]. Warschau: Rytm 1996, S. 2O4.56 Mircea Eliade, Das Hei/ige und das Profane, FrankfurVnn, t-SaZ:, S.21-99': Mircea Eliade, EwlgeBilder und Sinnbilder. }ber die magisch-religióse Symbolik, FrankfurVM,: lnsel Vedag l 982, S, 63-1 04;Henryk Samsonowicz, O,,historii prawdziwej" [Uber,,wahre Ceschichte"], Danzig: Novus Orbis1997, S. 5-25 Erich Fromm, Haben oder Sein,Stuttgart 1 996, 5. 1 34-1 35; Leszek Kotakowski. DleCegenwertigkeitdes Mythos, MLinchen: Piper 1973; Siehe auch: Marek Woźniak, Doświadczanie hi-storii. Kulturowy i społeczny wymiar mitu rewolucji IDas Erleben von Ceschichte, KultureIIe und ge-sellschaftliche Dimension des Revolutionsmythos], Lublin: Wydawnictwo UMCS 2003, S, ]8-38;.]ózef Niżnik, Mit jako kategoria metodologiczna [Mythos als methodologische Kategorie], ,,Kulturai Społeczeństwo" [,,Kultur und Cesellschaft"], Bd, XXl|, l 978, Nr 3, S. 163-174.

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Geschlossene und offene Ceschichtspolitik. Die polnische Dimension ...

- -,]mt. Die neue Erzóhlung, die auf einer bejahenden Einstellung zur:.enen Ceschichte beruht, kodifiziert einen Kanon verpflichtender,_-:ntastbarer Tabus. Sie fórdert ein Bild von Polen als einem auBer-r:.,.óhnlichen Land mit einer auBergewóhnlichen Ceschichte und von::- polen als auserwóhltem volk, im Sinne eines durch die ceschichte:-3ergewóhnlich gepruften und gebeutelten Volk. Somit wird Polen,..; auBergewóhnliches Land, sowie seine auBergewóhnliche Geschich--: und Erinnerung an ein auBergewóhnlich gepruftes Volk zum Ce-.=rstand der Verehrung und einer spezifischen Art von Kult. Die Ver-

-rgenheit verwandelt sich in einen Claubensgegenstand und wird_-- etwas Heiligem, das man nicht verlieren darf. Als solche unterliegt.:ęangenheit nicht mehr der Erinnerung und historischen Reflexion,: e durch Vergónglichkeit und Unumkehrbarkeit zu Verżnderung und]-aos fuhrt. lndem sie sich von Historizitót, Chronologie, Vergóng-:hkeit und Unumkehrbarkeit befreit, ist die Vergangenheit in der Ce-

l-?llwdlt in Cestalt einer transzendenten, ontologischen und axiolo-łschen Erinnerung fortwóhrend prósent. Diese gibt den Ereignissen:er Vergangenheit einen Sinn, indem sie sie in Bezug zu etwas setzt,:as auBerhalb dieser Ereignisse liegt - durch Rituale im Einklang mit:em liturgischen Kalender, durch unterschiedliche Feierlichkeiten, ausĄnlass weiterer Jahrestage gutgeheiBener Ereignisse der Vergangen--eit, als Nationalfeiertage, oder auch in Form von Ritualen, bei denen:en Vorfahren symbolische Opfer dargebracht werden, indem man:nrijhmliche Helden der Vergangenheit vor Gericht stellt oder ihre)enkmóler sturzt. Rituale, die Reflexion und Handeln ersetzen und;c alle unerwt]nschten Verónderungen unterdrLicken, die Verdorben-ieit, Niedergang und Verfall nach sich ziehen wLirden. Der Kult deririnnerung wird an speziell zu diesem Zweck geschaffenen Orten or-

3anisiert, aufrechterhalten und realisiert: in Orden - dem lnstitut furNationales 6edenken, in Tempeln - dem Museum des Warschauer Auf-stands, und in Stra8enkapellen, in Form von Tafeln oder DenkmólernauBergewóhnlicher Helden, oftmals Mórtyrer einer gerechten Sache,Jie auf den Altar der Erinnerung gehoben wurden und die Rolle vonNational heil igen einnehmen. Die Orthodoxie des Erinnerungsku lts be-aufsichtigen die - von Politikern, in ihrer Rolle als herrschender Stam-i"nesrat, speziell fUr diese Aufgabe berufenen und in den Orden undTempeln angestellten - Priester-Richter, die die von den Propheten inprogrammatischen Katechismen niedergeschriebenen Richtlinien alseinzige offenbarte und absolute Wahrheit andóchtig umsetzen. Der Pa-triotismus besitzt hier Stammescharakter und ist das bedingungslose,von Verehrung gekennzeichnete Glaubensbekenntnis an die geheiligteVergangenheit und die Nationalheiligen. Er zeigt sich in Ritualen undBróuchen, die die ldee des idealen mono-historischen staates unduralten Wertesystems der Vorfahren in wiederkehrenden Zeremonienimmer wieder reaktualisiert. Wahrer Patriot und wahres Mitglied derGemeinschaft ist hier der, der den verehrten Helden der Vergangen-heit ohne zu Zógern nacheifen und sich ihnen anpasst sowie die inmusterhaften Erzóhlungen dargelegten Lehren respektiert, sich also

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vollkommen und unmissverstóndlich mit dem reaktualisierten kanonewiger, nationaler Werte identifiziert. Dadurch existiert und verharrtdie Cemeinschaft in einer unverónderten Form, die ein immer dege-nerierteres kostu m wechsel hafter 6esch ichte darstel lt.

Zusammen mit der Religion der Erinnerung und ihren musterhaften,kanonisierten Erzóhlungen erlaubt das mythische Bewusstsein denCeschichtspolitikern, sich von Zufólligkeit, Chaos und Verfall der Ce-schichte, von eigener Schuld und Versóumnissen, von Verantwortungfur ergriffene und nicht ergriffene MaBnahmen frt]herer Cenerationensowie von kritischer Reflexion uber die eigene Vergangenheit zu be-freien und sich in der imaginóren, in der Cegenwart permanent ak-tualisierten, gegldtteten, romantischen, mytho-historischen Welt derVorfahren zu verstecken, wo der Leitspruch - ja heiBt ja, und neinheiBt nein - und das 6ebot - denk daran, deine geheiligte Vergangen-heit und das Cedenken an sie bedingungslos zu ehren - gelten.

lndem sie mal vor der Ceschichtswissenschaft in die Erinnerung fliehtund ein anderes Mal der Erinnerung den Status von Ceschichte ver-leiht, versucht die Geschichtspolitik in der hier dargestellten Form,die Geschichtsphilosophie durch eine Ceschichtsmythologie und dieCeschichtsepistemologie durch eine Ceschichtstheologie zu ersetzen.lndem sie jedoch Geschichte mit Erinnerung gleichsetzt und zugleichnicht gleichsetzt, ruft sie die Mytho-Ceschichte ins Leben. Die Mytho-Geschichte ist durch weltanschaulichen Monismus sowie durch eineEinstellung gekennzeichnet, die sich a priori mit der eigenen Vergan-genheit identifiziert. Als Geschópf des gesellschaftlichen, mythischenBewusstseins ist sie dadurch gekennzeichnet, dass in ihr Elementeversch iedener, u nvergleich barer Trad itionen u nd Strategien zur Anei g-

nung der Vergangenheit harmonisch nebeneinander bestehen. Sie

wird durch magische, eschatologische, theologische, religióse und phi-losophische Gedankenstrónge begrundet, die, wenn nótig, hervorra-gend m it Motiven der łl n konventionel len Gesch i chte korrespond ieren,oder mit lnhalten, die sich aus der akademischen ładition, also aus

einer traditionell ventandenen wissenschaftlichen Weltanschauungherleiten, wenn sie im Ergebnis nur das Gefijhl von Sinn und Ord-nung in der Welt und deren Kohżirenz ermóglichen.

Der Standpunkt der Cegner von 6eschichtspolitik in der hier darge-stellten Form, erweist sich, wenn auch nicht eindeutig, als paradigma-tisches Beispiel einer lokalen Sozialtechnik. Trotz der vielen, sich vonjedweder Art der Ceschichtspolitik distanzierenden Aussagen, habenwir es in diesem Fall also mit einem schwachen Programmentwurf zutun, der meistens indirekt, als Negation der starken Doktrin artikuliertwird. Die Ziele, die sich die schwache Ceschichtspolitik setzt, und dieAufgaben, die sie realisiert, lassen sich auf einige Forderungen zuruck-ftjhren. Der wichtigste von den Vertretern der lokalen Sozialtechnikpropagierte Grundsatz, ist ein Pluralismus von Prinzipien, Zielen und

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Ceschlossene und offene 6eschichtspolitik. Die polnische Dimension .,.

łrten ihrer Verwirklichung. Sie fórdern die Konzeption einer offenen

-esellschaft und eines dialogischen, demokratischen und pluralisti-<hen historischen Diskurses, der offen ist fur die Geschichten Anderer.S e sprechen sich also fUr eine poly-historische Cesellschaft sowie f0r:,;le kritische Ceschichte aus, die eine fortdauernde, freie Diskussion,*lwohl in politischer als auch in epistemologischer Hinsicht erfordert.

]ie schwache Geschichtspolitik lżsst sich auf zwei komplementóre]rundsótze zurtlckfi]hren, die sich einer jeweils passenden Strategie:edienen, welche Alekander Smolar als Strategie der fortdauern-:en Unterschiedlichkeit und friedlichen Koexistenz sowie als Strategie:es eingeschrónkten demokratischen Konsenses bezeichnet. Die ersteSrategie beruht auf der Anerkennung der Existenz unterschiedlicheriterpretationen Von Vergangenheit u nd der Koexistenz u ntersch ied l i-:ier Formen von patriotismus, und das alles im Namen hóherer wefteł ie: gesel lschaftl icher Frieden, Achtu ng gegen ri ber Andersden kenden

-nd dauerhafte koexistenz abweichender ku ltu re[ler Trad itionen. Die:łeite Strategie beruht auf asymmetrischer lntegration, das heisst

--.lm einen, man geht nicht davon aus, dass alle recht haben, und zumlrderen, dass die Wahrheit geteilt ist. Allerdings gibt es einige offen-;:chtliche Tatsachen und Werte, wie Freiheit, Unabhżingigkeit, Demo-!.atie, Menschenrechte und Rechtsstaat, die Grundlage fur den Clau-:€n an Annóherung, an eine fortschreitende lntegration der Gesell-<haft anhand dieser Crundwefte und an die Notwendigkeit, in An-ehnung an sie eine gemeinsame Erzóhlung zu schaffen, sein musste- nattjrlich unter Bertickichtigung aller Unterschiede, die sich aus

-weichender Herkunft und Religion, abweichenden Biografien und,Jeel len Uberzeugungen ergeben,sz

Jie schwache Geschichtspolitik unterscheidet klar zwischen Erinne-ug und Geschichte. Diese Unterscheidung wird wirkungsvoll durch:ie Kategorie einer identifikatorischen Einstellung gegentiber der.'ergangenheit definiert, die darauf beruht, den mehr oder wenigeręalen oder imaginóren Standpunkt der Protagonisten vergangenerireignisse einzunehmen und ihre mehr oder weniger realen odermagi nóren Werte, U rtei le, Glau bensvorstel l u ngen, Angste, Voru rtei le;nd Erwaftungen als die eigenen anzunehmen, Nach Krzysztof Po-;rian ist die ldentifizierung mit der eigenen vergangenheit konstitutiv,ur Erinnerung, wóhrend die Distanzierung von der eigenen Vergan-

3enheit konstitutiv fur Geschichte ist. Daher beruhe der Ubergang,on Erinnerung zu Ceschichte daraul dass sich ldentifizierung undeigene Vergangenheit kreuzen. Dies bedeute jedoch nicht, dass die3eschichte vollkommen frei von identifikatorischen Einstellungen ist.Historiker, sagt Pomian, identifizieren sich mit der Gemeinschaft zujer sie gehóren, wie auch mit den, von ihr als wichtig und konstitutivanerkannten Regeln, die fiir die Zeit, in der sie leben, gelten und ihre

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kognitiven Praktiken steuern. Und, weiter gefasst, identifizieren siesich mit den von ihnen respektierten und als eigen anerkannten, un-terschiedlichen Formen gesellschaftlichen Bewusstseins, die Produktund Regler der Kultur sind, in der sie wirken.s8

Ceschichte zeigt sich gegenriber der Vergangenheit deshalb insofernals óuBerer Diskurs, als sie nicht Produkt der Vergangenheit, sondernProdukt der gegenwżirtigen Ordnung ist. Die Form der Vergangenheitals Gegenstand geschichtlicher Reflexion hóngt also von Ceschichteab, wóhrend Erinnerung ein in der Vergangenheit versunkener Diskurszu sein scheint. Dies schafft die lllusion, dass die Vergangenheit, in

Form von Erinnerung, Teil der Cegenwart ist oder sein kónnte, ohnedass dadurch die Vergangenheit veróndert wird. Dabei kann Erinne-rung die Gestalt von Ceschichte annehmen. Etwa dann, wenn sie imNamen von Geschichte auftritt und mit dem Symbol der Historizitótversehen wird, d.h. wenn die Erzóhlungen der Erinnerung die histo-rischen Erzóhlungen nachahmen und sie sich lediglich durch die obenerwóhnte identifikatorische oder distanzierende Einstellung zur Ver-

gangenheit unterscheiden. s9

lm Verstóndnis von Pomian wird Geschichte, die sich von der eigenenVergangenheit distanziert, daher als kritische Ceschichte definiert, Ge-schichte hingegen, die sich durch eine identifikatorische Einstellungzur eigenen Vergangenheit auszeichnet, wird als amtliche Ceschichteoder als deren Spiegelbild, als revisionistische 6eschichte, bezeich-net.60

Die kritische ceschichte beinhaltet, óhnlich wie die amtliche oder re-

visionistische, eine geheime politische Option, unterscheidet sich aberdennoch von ihnen. So wie jene notwendig autoritór erscheinen, ist

die kritische ceschichte liberal, denn nur im liberalen Demokratie-system kann sie uneingeschrónkt betrieben werden. Sie hólt die obenbeschriebene erforderliche Distanz zu a priori identifikatorischen Ein-stellungen gegenuber der Vergangenheit, was sie ,,fundamental" vonder amtlichen und revisionistischen ceschichte unterscheidet, fur dieeine identifikatorische Einstel lung gegenriber der Vergangenheit kon-stitutiv ist und die ihre Daseinsberechtigung in gewisser Weise defi-niert und begrundet. Die liberale oder kritische Ceschichte, die in

der ein oder anderen Frage mal mit der einen, mal mit der anderenubereinstimmt, erhebt deshalb aus Prinzip Widerspruch gegen dieamtliche und die revisionistische ceschichte, als Ausdruckweisen ei-

58 Krzysztof Pomian, Historia - naukawobec pamięci..., a,a.O., 5. 193-194; Pomian erinnert an et-

was sehr Wichtiges, wenn er sagt, dass z.B, Ceschichtswissenschaft, die aufrichtig davon uberzeugtist, kritische Ceschichte zu sein, zugleich Ausdruck einer identifikatorischen Einstellung ist, ohne sichdessen bewusst zu sein. Crund ist, dass sie von einem mżnnlichen Standpunkt aus geschrieben

wurde, der von den Historikern, in der Mehrheit Mżinner, fLlr selbstverstandlich gehalten wurde.Folge war, dass der weibliche Standpunkt vom historischen Diskurs ausgesch|ossen blieb.59"rbd,, s, 1g3-194,60 tbd., s, lsł.

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6eschlossene und offene Ceschichtspolitik. Die polnische Dimension ...

-:s i ntel lektuel l-identifi katorisch orientierten, ep istemologischen u nd

:,:,itischen, ft]r mono-historische Cesellschaften charakteristischen:-,ldamentalismus. Aus diesem Crund wird sie sowohl von den An--::lgern der einen, wie auch von den Verteidigern der anderen an-

=3riffen.Ot

i :e variante der oben beschriebenen situation ist der streit zwischen:tn Anhóngern einer starken Geschichtspolitik und den Cegnern die-_ęl Doktrin. wenn sie die konzeption der gegenuber der vergangen--eit identifikatorischen, bejahenden Ceschichte verbreiten, machenJeschichtspolitiker nichts anderes, als einen Diskurs uber Vergangen--eit zu propagieren, der Charakterzuge der Historizitót trógt. Dadurch-:(s sie sich frjr ausgeschlossen und dominiert halten, wird der beja--enden Geschichte der status einer revisionistischen ceschichte ver-ehen, die kritische Ceschichte jedoch, mit der sie in nahezu keiner

--age Libereinstimmen, erhólt den Status der dominierenden, also am-:ichen ceschichte, weil sie liberale Geschichte ist, die in einem libe-alen Demokratiemodell funktioniert und also durch das Modell sank-:cniert wird, gegen das sich die ldeologen der starken Geschichts-rclitik auch wenden. Wenn man berr]ckichtigt, dass sich die kritische3schichte auf geradezu naturliche Weise jedem Ausdruck identifika-,_crischer Einstellungen gegenUber der Vergangenheit und allen fun-Jamentalistischen Einstellungen, sowohl in politischer, wie auch inepistemologischer Hinsicht, widersetzt, scheint sie in diesem Streit, imHinblick auf die eigene identifikatorische Einstellung gegenriber den'tverten des liberalen Demokratiemodells und einem selbstreflektie-renden Verhóltnis zur Vergangenheit und zu sich selbst, auf natrirlicheWeise die Rolle der dominierenden oder sogar amtlichen Ceschichteeinzunehmen, der sie sich im ubrigen selbst widersetzt. Das bedeutet,dass sie in gewisser Weise als fundamentalistisch, also in sich wider-spr0chlich, erscheint, was die Verfechter der schwachen Geschichts-politik, die sich ftjr Pluralismus, Freiheit und Toleranz aussprechen,in eine unangenehme Lage bringt. Diese innere Widerspruchlichkeitlfust sich jedoch 0berwinden und ist somit nur scheinbar. Wir habenes hier mit den sogenannten Paradoxien der Freiheit und Toleranz zutun, 0ber die Karl R. Popper schrieb.

Das erste Paradox beruht darauf, dass die Vorstellung von Freiheit alsFreiheit ohne jede Beschrónkung tatsóchlich zu sehr groBen Beschrżin-kungen frjhrt, weil es den Starken, die aus den Wohltaten der FreiheitNutzen ziehen, ermóglicht, sich die Schwachen unterzuordnen, derenFreiheit im Namen der Freiheit nicht geschrjtzt ist, was zu Unter-drtickung fuhrt. Deshalb muss Freiheit, um frei zu bleiben, konsen-sual kontrolliert und beschrónkt werden. Das zweite paradox beruhtdarauf, dass uneingeschrónkte Toleranz zum Verschwinden von Tole-ranz fuhrt. Dies geschieht, weil wir uns, wenn wir uneingeschrónkte

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6l rbd., s. 191-198,

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Toleranz auf die lntoleranten ausdehnen, ihren Angriffen aussetzen,Und wenn wir nicht zur Verteidigung der toleranten Cesellschaft be-reit sind, wird diese zusammen mit der Toleranz zerstórt werden, lm

Namen der Verteidigung von Freiheit und Toleranz mussen wir alsodas Recht fordern, die Freiheit, der auf sie lauernden Fundamentali-sten zu beschrónken, und lntolerante nicht zu tolerieren. Solange es

gelingt, unter den Bedingungen absoluter Freiheit und gegenseitigerToleranz, d.h. ohne dass sie gefóhrdet sind, gegen die Argumente derFundamentalisten und lntoleranten zu polemisieren und sie in Schach

zu hatten, muss ein bestimmtes, angemessenes MaB an Toleranz undFrei heit gegen uber i ntoleranten Dogmati kern erhalten b leiben. 0z

Die schwache Ceschichtspolitik, die in einer lokalen Sozialtechnik auf-geht, stLitzt sich auf die oben formulierten, auf die Paradoxien derFreiheit und Toleranz gegrundeten Uberzeugungen, Wenn man Frei-

heit und Toleranz im Bereich der Reflexion rjber ceschichte in beider-lei, politischer und epistemologischer Hinsicht propagiert, muss man

sich also auch fUr ihre konsensuale Kontrolle und Beschrónkung, im

Namen der Verteidigung dieser Werte vor ihrer Vernichtung durchverschiedene Formen eines universalistischen, epistemologischen undpolitischen Fundamentalismus im Bereich von Geschichte und Erin-

nerung, aussprechen. Die gegen Dogmatismus und lntoleranz gerich-tete, schwache Ceschichtspolitik ist deshalb verhóltnismóBig tolerantgegenuber den fundamentalistischen Argumenten der Verfechter ei-

ner geschlossenen Geschichtspolitik und beschrónkt deren Freiheit so

lange nicht, wie diese nicht die Redefreiheit, den freien Meinungs-austausch, die freie Vergangenheitsforschung und kritische Reflexionuber Vergangenheit, die freie Wahl einer gemeinschaftlichen ldentitżtoder einer eigenen ldee von Patriotismus bedrohen. Sie behandelt diestarke Ceschichtspolitik als lokalen Fundamentalismus, und ist also ein,

wenngleich aus der Perspektive einer liberalen Weltanschauung zwei-felhafter, Standpunkt unter vielen anderen, der das Recht hat, sich ftjr

eine eigene lnterpretation der Vergangenheit, eine eigene Konzeptiongemeinschaftlicher ldentitót oder eine eigene ldee von Patriotismuseinzusetzen. Dabei hóngt der Umfang der Freiheit und Toleranz furdie ldeologie der geschlossenen Geschichtspolitik davon ab, wie weitdiese mit ihren Forderungen geht. Je intoleranter, dominanter und

aggressiver die Lehre der geschlossenen Ceschichtspolitik gegenuberkonkurrierenden Konzeptionen auftritt, und je stórker sie auf eine Mo-nopolisierung des gesellschaftlichen historischen Bewusstseins zielt,desto stórker grenzt die offene Ceschichtspolitik die Toleranz und Frei-

heit ihr gegenuber ein, und auf desto heftigeren Widerstand stósst sie.

Mit anderen Worten: die schwache Geschichtspolitik ist imstande, denlokalen Fundamentalismus der starken Ceschichtspolitik mit seinen

Bekenntnissen zu dogmatischen Werten zu akzeptieren. ln dem Mo-ment jedoch, in dem er sich in einen holistischen Fundamentalismus

62 Si"he Karl R. Popper Die offene Cesellschaft und ihre Feinde..., a.a.O., S. 361-362

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,erwandelt, der versucht, anderen das eigene dogmatische Wertesys-:.m gewaltsam aufzuzwingen, werden die Toleranz ihm gegen0ber-rd die Freiheit, in der er sich entwickeln und funktionieren kónnte,.enłeigert. ln dieser Situation Ubernimmt die von der schwachen Ce-;chichtspolitik verbreitete Konzeption der kritischen Ceschichte die:clle der amtlichen oder dominierenden Geschichte, die auf dem sich

=lbst zuerkannten Recht beruht, Pluralismus, Freiheit und Toleranz:ei der Reflexion riber Vergangenheit zu verteidigen. Der ,,Fundamen--lismus" kritischer Geschichte nimmt diesen Werten gegentjber also:ne funktionale Rolle ein. Er wird dann zum lnstrument ihrer vertei-:'gung, wenn sie durch zentralistische Tendenzen dogmatischer oder;loleranter Entwurfe jedweder Couleur gegenrjber konkurrierendenirtwt]rfen der Aneignung von Vergangenheit bedroht sind.

]-.lsammenfassend lósst sich sagen, dass wir es bei der schwachen Ce-ślichtspolitik mit einer dialogischen, selbstreflektierenden und - imi,:lne wie Florian Znaniecki diesen Begriff definieft - umfassenden Kon--=ption von Ceschichtspolitikzu tun haben, die aus Prinzip unterschiedli-::e Stimmen und Standpunkte zu Wort kommen lósst. Sie fordert ein-- freien Markt des Cedanken- und ldeenaustauschs, auf dem unter-<hiedliche Strategien der Aneignung von Vergangenheit aufeinanderrc8en. Hier fAnden sowohl die bejahende Ceschichte, wie auch die

=rechnende Geschichte, verschiedene varianten der wissenschaft-,:hen Ceschichte, verschiedene Erinnerungsphilosophien, die My-

:o-ceschichte wie auch die unkonventionelle ceschichte ihren platz,:'e in Koexistenz und gegenseitiger Konkurrenz einer gemeinsamen,rlmplexen gesellschaftlichen Kritik ausgesetzt wóren, dank derer sier Prozess der lokalen gesellschaftlichen Konsensfindung einen Status.cn lokal mehr oder weniger respektierten und anerkannten Rech-:en erhalten kónnten. Dabei bliebe die Toleranz fur alle unterschiede_rd Abweichungen beztiglich der Einschótzung und lnterpretation der.e€an8en heit bewah rt. Diese konstitu ieren untersch ied l iche Formen:es gesellschaftlichen historischen Bewusstseins, die der freien Wahl+ nes politischen, epistemologischen, ethischen wie auch ósthetischenS.,andpunkts entspringen. Letztlich erscheint die kritische Ceschichte:r Gewand der amtlichen Geschichte als lnstrument einer schwachen}schichtspolitik, also lokalen Sozialtechnik. Dieses lnstrument dient:er Errichtung einer poly-historischen, offenen Cesellschaft, die der.<leinen" und ,,groBen" Ceschichte als Einzige politische, epistemolo-3:sche, ethische und ósthetische Freiheit im globalen Cedankenaus-

=usch garantieren kann und Toleranz gegen0ber den vielfóltigen, auf

:;e ,,kleine" und ,,groBe" Geschichte bezogenen Weltanschauungen in:er modernen, globalisierten Welt sicherstellt.

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Schlussfolgerungen

Der Streit zwischen den Anhżngern der starken Ceschichtspolitik undholistischen Sozialtechnik und ihren Gegnern scheint eine zeitgenós-sische, mutierte Variante des angesehenen und geschichtstróchtigen,antiken Streits zwischen den platonischen und heraklitisch-periklei-schen Traditionen zu sein.

ln der platonischen Tradition zeigt sich die gesellschaftliche Wirklich-keit in Gestalt unverinderlicher ldeen und Formen, die auBerhalb vonRaum und Zeit in der Ewigkeit existieren und deren Spiegelbild dieWelt der verónderlichen Dinge ist, die in Raum und Zeit existieren.Wenn also Ausgangspunkt jeden Wandels die Vollkommenheit derldeen und Formen ist, dann fuhrt jeder gesellschaftliche Wandel nurin eine Richtung, nómlich in Richtung Unvollkommenheit. Das bedeu-tet, dass jeder gesellschaftliche Wandel das Bóse ist, das zu Verdor-benheit, Niedergang und Verfall fuhrt, im Cegensaż zur Unbeweg-lichkeit, die als góttlich wahrgenommen wird. Deshalb ist die von derGefahr des Wandels und des Niedergangs freie Lebenswelt, die beste,ja die vollkommene Welt. Das Original dieser Welt liegt in der Vergan-genheit, im ,,Coldenen Zeitalter", das seit Urzeiten existiert. Die letzteSchlussfolgerung ist, dass, wenn die Lebenswelt im Laufe der Zeit un-tergeht, sie sich zurtjckzieht und in der Vergangenheit versinkt, dieWiederentdeckung der Vollkommenheit als originales, ewiges Modelleiner idealen, in einem idealen Staat lebenden Gesellschaft móglichwird, in der es am wichtigsten ist, dass niemand ohne Frihrung bleibt,auf eigene Faust handelt oder Entscheidungen trifft, und sich alle da-ran gewóhnen, dass nichts einzeln, auBerhalb der Kontrolle der Fuh-rung getan werden kann. lm idealen, von einer idealen Cesellschaftbewoh nten, Staat u nterl iegen geisteswissenschaftl iche Fragen u nd h u-

manistische Bildung der Kontrolle und Zensur des Staates, dessen Zieles ist, seine Stabilitót zu festigen und die nżchsten Generationen da-rauf vorzubereiten, seinen lnteressen zu dienen. Das Privileg derer,

die die ideale Gesellschaft im idealen Staat regieren, ist es, zum Wohleund im lnteresse des staates, nicht nur den Feinden, sondern auch

den eigenen Burgern gegenuber, zu l0gen und zu betrugen,o:

ln der heraklitischen Tradition erscheint die gesellschaftliche Wirklich-keit wechselhaft. Es ist eine welt, deren konstruktion in Nichts an ei-nen in Bewegungslosigkeit verharrenden Bau oder Kosmos erinnert,der aus unverónderbaren, ursprtinglichen ldeen errichtet oder zusam-mengesetzt ist, sondern ganz im Cegenteil eine Welt, die eher an unor-

dentlich verteilten schmutz erinnert. Dieser stellt nicht die cesamtheitder Dinge dar, sondern vielmehr einen einzigen gewaltigen Prozess,

die Gesamtheit aller Verónderungen, Ereignisse und Tatsachen, deren

63 rbd., s. s-os

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1d

is-n,

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Ce:chlclsselltl Llncl tlffetle Ctscllicllts1lo1itik. Die poirliscllc Dinletlsiotl ..

_--ng daraus resultiert, dass alles flieBt und nichts an einem Ort- -1,11_.ln der perikleischen Tradition wird die gesellschaftliche Ord-

-. Curch die fur die Demokratie charakteristischen Prinzipien wie- -. -,sgleichheit, politischer lndividualismus und Freiheit geprógt, de-

.rundlage der Dialog ist. Obwohl also nicht alle politisch tótig, - .]nnen, sind doch alle fóhig und haben das Recht, Politikzu be-. .=:, denn die Diskussion stellt den notwendigen ersten Schritt fur-= .,,,eise Handlungsweise dar.6a

],,-::htet man das Profil des Platon'schen Entwurfs, lósst sich un-- .

=r erkennen, dass die Befurworter einer starken Ceschichtspolitik,- j:,eit um die gegenwórtige Organisierung gesellschaftlicher Wirk-

-.=it und gesellschaftlichen Bewusstseins, als Erben und Weiterfuh-- - _: seiner Cedanken erscheinen. Betrachtet man die Thesen des He-

. und perikles, kommt man unschwer zu dem schluss, dass die: ---,.,,tort€I der schwachen Ceschichtspolitik sich als Erben und Weit-.-_-:ende ihrer Gedanken prósentieren. Es ist dies ein Streit zweier

. -.;:hten, die auf zwei unterschiedlichen Wertesy5temen grunden,, - :5te ist autoritór, holistisch, magisch-mythisch, mytho-historisch,- , _ ^ L;-+^-;-_L -^*-_+;--L -,,^i--L -+^+i--L r.._-l^*^_ł-li-+i-^l i^

: -historisch, romantisch, zynisch, statisch, fundamentalistisch, in-,.nt, fordernd, unkritisch und narzisstisch. Die zweite zeigt sich

- - :kratisch, liberal, fragmentarisch, selbstreflektierend, kritisch, an-- ;amental istisch, relativistisch, tolerant, pragmatisch, dynamischs:hlieBlich historisch, im erweiterten Verstóndnis dieses Begriffs,:n die postmoderne Reflexion vorschldgt, die diesen Diskurs in

::crien verschwommener Gattungen definiert, wodurch ein poly-:,isches Bewusstsein entsteht.65 Erstere wendet sich der Vergan--:it zu, wóhrend Letztere sich auf die Zukunft orientiert,

Jie obige Darstellung der beiden kulturellen Formationen, der- ,achen und der starken Ceschichtspolitik, die zwei unterschiedli--. 3rdnungen gesellschaftlicher Wirklichkeit und historischen Be-

-,;:seins lancieren, zeigt, handelt es sich um ein lokales Beispiel

=; ,,veitreichenderen Phónomens, das Leszek Kołakowski in einem

- -=r Essays als unheilbaren Antagonismus zwischen der, den kul-en Absolutismus festigenden Philosophie und der diesen Abso-

, ;^ius in Frage stellenden Philosophie beschrieb. Dem polnischen

' - :sophen zufolge handelt es sich um einen Antagonismus zwischen- :;:ern und Narren. Der Priester, schreibt Kołakowski, ist Wóchter, lbsoluten, derjenige, der den Kult des anerkannten und in den

- , - :ionen verwurzelten Endgultigen und Selbstverstandlichen auf-,,-: erhdlt und festigt. Canz anders der Narr. Er ist derjenige, der:. was offensichtlich und endgultig erscheint, in Zweifel zieht. Das

: ,. S. 16-42,220-222..-=ht hier um lnteńextuaIitet, lntermedialitat und lnterdiskursivitót usw,: siehe auch: clifford

-_ ,'liedza lokalna. Dalsze eseje z antropologii interpretatywnej [Lokales Wissen. Weitere E55ay5-:.rpretativen Anthropologie: engl. Orig.: LocaI Knowledge: Fuńher Essays in lnterpretive_:ology], Krakau 2005. S.29-45.

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Page 28: Piotr Witek, Geschlossene und offene Geschichtspolitik...

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priestertum ist also eine Existenzform, das faktische Andauern einernicht mehr bestehenden Welt, ein Leben in der Vergangenheit. Des-halb kann es zwischen Priestern und Narren nicht.zur Einigung kom-men. Die einen wie die anderen tun den Cem0tern eine gewisse Ge-walt an. Der priester verwendet das Halsband des katechismus, derNarr bedient sich der Nadel des Hohns.

Wenn wir uns der Rhetorik Kołakowskis bedienen, kónnen wir sagen,dass wir es in unserem Fall mit zwei Ceschichtspolitiken zu tun haben,die man als politik der priester und Narren bezeichnen kann. Erstereversucht uns ein politisches Halsband des Para-Autoritarismus undeinen epistemologischen Maulkorb der Mytho-Ceschichte anzulegen.Die zweite, die sich bemuht den aufgeblżihten Ballon voll National-stolz und historischer Megalomanie zu zerstechen, versucht in uns dieHaltung kritischer Selbstreflexion wachzurufen, die nur unter den Be-dingungen liberaler Demokratie móglich ist. Wenn wir uns an denHinweis Poppers erinnern, der besagt, dass die Demokratie an demParadox leidet, dass sie die demokratische Ordnung demokratisch ineine autoritóre Ordnung verwandeln kann, dann mussen wir selbstverantwortungsvoll riber die Wahl einer bestimmten Variante vonCeschichtspolitik nachdenken. Folge iśt, dass wir die Vergangenheitentweder in Ubereinstimmung mit den Richtlinien der Priester ehren,oder dass wir sie einer freien und kritischen Reflexion unterziehen.Entweder haben wir bei der Frage nach ldentitót und Patriotismus diefreie Wahl, oder diese wird zentral reglementiert. Letztlich ist diesewahl ein prufstein dafur: ob wir eine reife und offene, oder eine imKófig des modernen Neo{ribalismus eingesperrte Cesellschaft sind.

Aus dem polnischen von sandra Ewers

66 Leszek Kołakowski, Der Prie§er und der Narr, in: der., Narr und Priester. Ein philosophisches

Lesebuch, Frankfuń/M. : Suhrkamp 1 987, S. 39 -44.