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Plenarprotokoll 16/185 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 185. Sitzung Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Vizepräsi- denten Dr. h. c. Wolfgang Thierse . . . . . . . . Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Joachim Günther (Plauen) und der Abgeordneten Rita Pawelski . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Dr. Daniel Volk und Dr. Erwin Lotter . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 1: Eidesleistung der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . . Ilse Aigner, Bundesministerin BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 2: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streit- kräfte bei der Unterstützung der gemeinsa- men Reaktion auf terroristische Angriffe ge- gen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Verein- ten Nationen (Drucksache 16/10720) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutsch- land weiter fördern Drucksache 16/10775 (neu)) . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: Den Kampf gegen Antisemitismus verstär- ken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern (Drucksache 16/10776) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 19753 A 19753 B 19753 B 19753 B 19753 B 19753 D 19754 A 19754 B 19755 C 19757 B 19758 C 19758 D 19759 A 19760 A 19761 D 19763 A 19763 A 19763 B 19764 D 19765 C 19766 C 19767 C 19768 D 19769 A 19769 A 19770 D 19771 D

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Plenarprotokoll 16/185

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

185. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

I n h a l t :

Glückwünsche zum Geburtstag des Vizepräsi-denten Dr. h. c. Wolfgang Thierse . . . . . . . .

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord-neten Joachim Günther (Plauen) und derAbgeordneten Rita Pawelski . . . . . . . . . . . . .

Begrüßung der neuen Abgeordneten Dr. DanielVolk und Dr. Erwin Lotter . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 1:

Eidesleistung der Bundesministerin fürErnährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . .

Ilse Aigner, Bundesministerin BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 2:

Antrag der Bundesregierung: Fortsetzungdes Einsatzes bewaffneter deutscher Streit-kräfte bei der Unterstützung der gemeinsa-men Reaktion auf terroristische Angriffe ge-gen die USA auf Grundlage des Artikels 51der Satzung der Vereinten Nationen unddes Artikels 5 des Nordatlantikvertragssowie der Resolutionen 1368 (2001) und1373 (2001) des Sicherheitsrats der Verein-ten Nationen(Drucksache 16/10720) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . .

Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . .

Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 3:

a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Den Kampf gegen Antisemitismusverstärken, jüdisches Leben in Deutsch-land weiter fördernDrucksache 16/10775 (neu)) . . . . . . . . . .

b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: DenKampf gegen Antisemitismus verstär-ken, jüdisches Leben in Deutschlandweiter fördern(Drucksache 16/10776) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . .

Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD) . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Vereinbarte Debatte: Wachstum stärken –Beschäftigung sichern – Finanzmarktkriseüberwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Glos, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärung nach § 31 Abs. 2 GO der Abgeord-neten Ulla Jelpke, Cornelia Hirsch, IngeHöger, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,Sevim Dadelen, Karin Binder, DorothéeMenzner, Dr. Diether Dehm, Eva Bulling-Schröter und Dr. Norman Paech (alle DIELINKE) zur Abstimmung über den Antrag:Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken,jüdisches Leben in Deutschland weiter för-dern (Tagesordnungspunkt 3 a und b) . . . . . .

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenDr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)zur namentlichen Abstimmung über die Be-schlussempfehlung zu dem Antrag der Bun-desregierung: Fortsetzung der Beteiligung be-waffneter deutscher Streitkräfte an demEinsatz der Internationalen Sicherheitsunter-stützungstruppe in Afghanistan (InternationalSecurity Assistance Force, ISAF) unter Füh-rung der NATO auf Grundlage der Resolution1386 (2001) und folgender Resolutionen, zu-letzt Resolution 1833 (2008) des Sicherheits-rates der Vereinten Nationen (183. Sitzung,Tagesordnungspunkt 6 a) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19753

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185. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

Beginn: 14.46 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich.

Vor Eintritt in unsere Tagesordnung habe ich einigewenige Mitteilungen zu machen. Unser VizepräsidentDr. Wolfgang Thierse hat am 22. Oktober seinen65. Geburtstag begangen. Dazu möchte ich ihm im Na-men des Hauses unsere herzlichen Glückwünsche über-mitteln;

(Beifall)

wir werden das auch noch in angemessener Weise wür-digen. Der Kollege Joachim Günther beging am glei-chen Tag seinen 60. Geburtstag, die Kollegin RitaPawelski am 29. Oktober. Im Namen des Hauses Ihnenallen alle guten Wünsche für das nächste Jahr und diekommenden Lebensjahre!

(Beifall)

Die Kollegen Jörg Rohde und Martin Zeil haben am1. November auf ihre Mitgliedschaften im DeutschenBundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich herz-lich die neuen Kollegen Dr. Daniel Volk und Dr. ErwinLotter.

(Beifall)

Herzlich willkommen und auf gute Zusammenarbeit!

Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf:

Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz

Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom27. Oktober 2008 Folgendes mitgeteilt:

Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes fürdie Bundesrepublik Deutschland habe ich heute aufVorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundes-minister für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz, Herrn Horst Seehofer, aus seinemAmt als Bundesminister entlassen.

In einem weiteren Schreiben vom 31. Oktober 2008hat mir der Herr Bundespräsident mitgeteilt:

Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes fürdie Bundesrepublik Deutschland

– gleiche Fundstelle –

(Vereinzelt Heiterkeit)

habe ich heute auf Vorschlag der Frau Bundeskanz-lerin Frau Ilse Aigner zur Bundesministerin für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz er-nannt.

Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet einBundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56vorgesehenen Eid.

Frau Bundesministerin Aigner, ich darf Sie zur Eides-leistung zu mir bitten.

(Die Anwesenden erheben sich)

Ich darf Sie, Frau Bundesministerin, bitten, den imGrundgesetz vorgesehen Eid zu leisten.

Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetzedes Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermannüben werde, so wahr mir Gott helfe.

(Beifall im ganzen Hause – Abgeordnete allerFraktionen beglückwünschen Bundesministe-rin Ilse Aigner)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundes-

ministerin hat den nach dem Grundgesetz vorgeschriebe-nen Eid geleistet. Ich darf ihr in Ergänzung der geradestattgefundenen eindrucksvollen persönlichen Gratula-tionskur nun auch die geballten guten Wünsche und dieGratulation des ganzen Hohen Hauses übermitteln. Ih-

Redetext

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Präsident Dr. Norbert Lammert

nen, verehrte Frau Aigner, wünschen wir für die Über-nahme des neuen Amtes Freude, Erfolg und Gottes Se-gen.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich möchte gleichzeitig dem ausgeschiedenen Bun-desminister Horst Seehofer für seine Tätigkeit als Mit-glied der Bundesregierung herzlich danken und auchihm für die neue Aufgabe alles Gute wünschen. Wir wer-den ihn ja ganz sicher gelegentlich auf der anderen Seite,der Bundesratsbank, in neuer Funktion erleben und dannGelegenheit haben, die einen oder anderen guten Wün-sche oder Hinweise vorzutragen.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deut-scher Streitkräfte bei der Unterstützung dergemeinsamen Reaktion auf terroristische An-griffe gegen die USA auf Grundlage des Arti-kels 51 der Satzung der Vereinten Nationenund des Artikels 5 des Nordatlantikvertragssowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373(2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Natio-nen

– Drucksache 16/10720 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Rechtsausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichsehe, dass dazu Einvernehmen besteht. Dann ist das sobeschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächstdem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-WalterSteinmeier, das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Nach den Anschlägen vom 11. September 2001haben alle Fraktionen hier im Deutschen Bundestag ge-sagt – wir erinnern uns –: Der Kampf gegen den Terror,der Kampf gegen al-Qaida wird wohl einen langenAtem brauchen. Auch wenn es in Europa und den USAvon heute aus gesehen seit mehreren Jahren keinen An-schlag der al-Qaida mehr gegeben hat und Afghanistanheute nicht mehr die Brutstätte und das Trainingszen-trum für die al-Qaida-Terroristen ist, bleibt es dennochdabei: Die Gefahr ist in der Tat nicht gebannt. Sie hatsich aber verändert.

Darum müssen wir diese Mandate, durch die der Rah-men für unser militärisches Engagement in Afghanistan

gegeben wird, auch an veränderte Situationen und neueHerausforderungen anpassen. Das entspricht dem, wasviele von Ihnen gefordert haben, nämlich kein simples„Weiter so!“. Das gilt auch für das ISAF-Mandat undauch für das OEF-Mandat, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU])

Es hat sich in Afghanistan in der Tat die Erkenntnisdurchgesetzt – das haben wir alle hier in vielen Debattenmiteinander ausgesprochen –, dass der Kampf gegen denTerror nicht allein mit militärischen Mitteln zu gewinnenist und dass wir mehr für den Wiederaufbau von Insti-tutionen und für den Wiederaufbau der zivilen Infra-struktur tun müssen. Darum ist die Zahl der Soldaten fürdie ISAF-Mission, die neben der Gewährleistung vonSicherheit eben auch den zivil-militärischen Aufbau desLandes sicherstellt, in den letzten Jahren von 10 000 auf50 000 angewachsen, während sich in der gleichen Zeitdie Zahl der bei OEF eingesetzten Soldaten von 20 000auf etwa 10 000 halbiert hat.

Auch im Norden Afghanistans spiegelt der Einsatzunserer Bundeswehr durchaus diese Entwicklung wider.Auch wir haben in der Tat die Zahl der Soldaten unterISAF erhöht, auch, um den militärischen Wiederaufbauabzusichern, auch, um mit den zusätzlich eingesetztenSoldatinnen und Soldaten Polizeiausbildung und vor al-len Dingen Armeeausbildung zu betreiben, damit dieRegierung dieses Landes nach und nach mehr in dieLage versetzt wird, für Sicherheit und Ordnung im eige-nen Land zu arbeiten. Dafür sind unsere Soldatinnen undSoldaten in Afghanistan. Das ist – der Überzeugung binich – ein weiterhin sinnvoller und notwendiger Einsatz.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gleichwohl – auch das gehört dazu – müssen wir unsmit der Veränderung der Lage in der Region auch stärkerum Pakistan kümmern. Sie wissen, dass ein Teil der al-Qaida, die früher in Afghanistan tätig und präsent war,nach Pakistan ausgewichen ist und dort teilweise unkon-trolliert agieren kann. Deshalb muss es uns gelingen, Pa-kistan zu stabilisieren. Das kann uns nur gelingen, wennwir mit der Regierung in Islamabad und dem neu ge-wählten Präsidenten zusammenarbeiten. Ich füge auchhinzu: Keine Hilfe sind die grenzüberschreitenden Luft-schläge. Das trägt nicht zur Stabilisierung dieser Regie-rung bei, wie ich jüngst bei meinem Besuch in Pakistanerfahren konnte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Konkrete Politik hilft da sehr viel mehr. Darum bemühenwir uns durch Gespräche mit der Regierung in Pakistanoder wie zuletzt auf der Reise nach Pakistan und in dieGolfstaaten.

Worum geht es nämlich? Neben der Bekämpfung vonTerrorismus geht es darum, Pakistan insgesamt zu stabi-lisieren und dieses Land und seine Regierung fähig zuhalten, Terrorismus im eigenen Land zu bekämpfen. Da-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19755

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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier

rum beteiligen wir uns mit anderen an einer internationa-len Pakistan-Freundesgruppe. Wir treffen uns bereitsam 17. November in Abu Dhabi. Daran mögen Sie er-kennen, warum es sinnvoll ist, das Rettungsseil, das wirPakistan jetzt mit der möglichen Bereitstellung vonIWF-Krediten hingehalten haben, an möglichst vielenStellen auf der Erde zu verankern. Dafür brauchen wirdie Golfstaaten. Ich bin jedenfalls froh, festzustellen,dass in Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabi-schen Emiraten offensichtlich Bereitschaft besteht, Pa-kistan im Konzert mit anderen zu unterstützen.

Was bedeuten die Veränderungen, von denen ich spre-che, insgesamt für die deutsche Beteiligung am OEF-Mandat? Wir ziehen jetzt die Konsequenzen daraus,dass es seit mehreren Jahren keine deutschen OEF-Ein-sätze mehr in Afghanistan gegeben hat. Wir haben des-halb die für den Afghanistan-Einsatz vorgesehenen Spe-zialkräfte aus dem OEF-Mandat herausgenommen. InZukunft werden wir uns in Afghanistan militärisch nurnoch im Rahmen von ISAF engagieren.

Das ist gleichzeitig der Grund, weshalb wir die Per-sonalobergrenze von 1 400 auf zukünftig 800 Soldatenreduzieren. Wir werden damit weiterhin an der Missionteilnehmen können, die im Mittelmeer bzw. am Hornvon Afrika operiert, und da die Bewegungsfreiheit vonTerroristen und ihren Unterstützern auch weiterhin nach-haltig einschränken können. Das beinhaltet noch nicht– um auch das vorweg zu sagen – den Kampf gegenPiraterie in der Region. Dazu wird die Bundesregierungein gesondertes Mandat vorlegen, das die BeteiligungDeutschlands an einer geplanten EU-Mission regelnwird.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, das OEF-Mandat ist nur ein Faktor in unserer vielfältigen Arbeitfür Sicherheit und Stabilität in Afghanistan. Ich weiß,dass nach der Rechtsgrundlage gefragt wird. Debattiertworden ist darüber auch in den Fraktionen. Ich will des-halb noch einmal darauf hinweisen: Dieser Einsatz istnach wie vor durch das Recht auf Selbstverteidigungdurch Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen ge-deckt. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat dasmehrfach bekräftigt und diesen Einsatz, wie Sie wissen,auch mehrfach positiv gewürdigt.

Alles in allem ist das Grund genug, um Sie als Mit-glieder des Deutschen Bundestages um eine breite Zu-stimmung zu einer Verlängerung des OEF-Mandates zubitten. Das wäre nicht nur ein politisches Signal, dasswir uns aus der Solidarität der internationalen Staatenge-meinschaft nicht verabschieden; es wäre vor allen Din-gen auch ein starkes Zeichen für unsere Soldatinnen undSoldaten, die bei ihrem Einsatz für unsere SicherheitLeib und Leben riskieren. Wir schulden unseren Solda-ten dafür nicht nur Dank; wir schulden ihnen dafür vorallen Dingen unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich appelliere deshalb an das Hohe Haus: Bitte geben Sieden Soldatinnen und Soldaten die notwendige politischeRückendeckung!

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Stinner für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Rainer Stinner (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Die FDP-Fraktion wird dem Mandatsantrag derBundesregierung zustimmen. Aber diese Zustimmungist mit vielen Fragenzeichen und vielen Forderungen un-sererseits an die Bundesregierung verbunden. Das jet-zige Mandat unterscheidet sich wesentlich von dem vor-herigen Mandat, und zwar vor allem deshalb, weildiesmal zum ersten Mal die Unterstützung der OEF inAfghanistan nicht einbezogen ist. Das heißt, dass die100 KSK-Kräfte nicht mehr mandatiert werden. DieseÄnderung des Mandats ist eindeutig parteipolitisch moti-viert. Herr Außenminister, das ist die weiße Salbe, dieSie auf die Wunden Ihrer SPD-Fraktion auftragen; dennin der SPD-Fraktion ist seit jeher die Diskussion überdas „gute“ ISAF-Mandat und das „schlechte“ OEF-Man-dat im Gange. Das möchte man abmildern, bzw. diesemmöchte man ausweichen, indem man diesmal das Man-dat entsprechend ändert.

Es erscheint uns allerdings, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD-Fraktion, als ob Sie die Tatsacheverbergen möchten, dass Spezialkräfte in Afghanistannoch eingesetzt werden. Deswegen wiederhole ich ganzdeutlich, was wir in einem Entschließungsantrag zurVerlängerung des ISAF-Mandats vor einigen Wochengesagt haben: Selbstverständlich ist es auch in Zukunftmöglich, KSK-Kräfte in Afghanistan einzusetzen. Es ob-liegt allein und ausschließlich der militärischen Führung,die Kräfte einzusetzen, die sie für notwendig hält, umdas Mandat zu erfüllen.

(Beifall bei der FDP)

Aufgabe des Parlamentes, unsere Aufgabe ist, dafürzu sorgen, dass die eingesetzten Soldaten richtig ausge-bildet und vor allem richtig ausgerüstet sind.

(Beifall bei der FDP)

Dazu gibt es gerade im Hinblick auf Afghanistan eineganze Reihe von Fragen. Unsere Soldaten in Afghanis-tan sind nicht nur dazu da, Sicherheit in Afghanistan her-zustellen. Sie dienen auch dazu, die Sicherheit inDeutschland zu erhalten und zu fördern. Auch das ist ihrAuftrag in Afghanistan. Wir haben eine Kleine Anfragezur Ausrüstung der Soldaten in Afghanistan an dieBundesregierung gestellt. Interessanterweise – oder fre-velhafterweise – sind die Antworten klassifiziert wor-den. Das heißt, sie sind vertraulich gegeben worden, so-dass mit ihnen politisch nicht gearbeitet werden kann.Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, daswirft ein schlechtes Licht auf das, was Sie in Afghanis-tan tun. Natürlich wird dadurch das Vertrauen der Bevöl-kerung und auch der Soldaten, dass wir das Richtige tun,

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Dr. Rainer Stinner

nicht gerade gefördert. Ich bitte Sie herzlich, diese IhreEntscheidung nachhaltig zu überdenken.

(Beifall bei der FDP)

Ich verhehle nicht, dass die völkerrechtliche Grund-lage dieses Mandates auch in unserer Fraktion wieder zuumfangreichen Diskussionen geführt hat. Selbstver-ständlich ist es richtig, die Frage zu stellen, ob die Be-gründung noch Bestand hat. Wir müssen darüber disku-tieren, ob das Selbstverteidigungsrecht und der Angriffnach Art. 5 des NATO-Vertrages noch heute, siebenJahre später, Grundlage sein können. Für uns gilt: Ad in-finitum kann diese Begründung nicht dafür herhalten,dieses Mandat fortzuführen. Wir müssen darüber ge-meinsam nachdenken.

Kern dieses neuen Mandats ist also der Marineeinsatzam Horn von Afrika. Es ist ohne jeden Zweifel in unse-rem deutschen Interesse, dass die Seewege am Horn vonAfrika sicherer werden. Wir als größte Exportnation die-ser Welt haben ein vehementes eigenes, nationales Inte-resse daran, dass diese Wege sicher sind. Deshalb ist derEinsatz deutscher Soldaten dort sinnvoll und richtig.

(Beifall bei der FDP)

Was machen aber nun unsere Soldaten am Horn vonAfrika? Genauso wichtig ist die Frage: Stimmen eigent-lich die Regeln, unter denen sie arbeiten, mit ihrem Auf-trag heute noch überein? Im Antrag zur Erteilung desMandats steht wörtlich, es sei Aufgabe, „Führungs- undAusbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschal-ten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen undvor Gericht zu stellen …“. Wie können aber Soldatendas machen, wenn sie zum Beispiel ein Schiff gegen denWillen des Kapitäns nicht betreten dürfen? Ganz zuschweigen von der Anwendung militärischer Gewalt,wenn es sich nicht um eng definierte Nothilfe handelt.Wie können eigentlich deutsche Soldaten Führungs- undAusbildungsstrukturen ausschalten, wenn sie militärischnur im Rahmen eng begrenzter Nothilfe vorgehen kön-nen? Das sind offene Fragen,

(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])

denen wir uns stellen müssen. Das sind nicht Fragen desMandats, meine Damen und Herren von der Regierung,das sind Fragen, die die Bundesregierung beantwortenmuss. Es ist Ihre Aufgabe, für unsere Soldaten eindeu-tige Regeln festzulegen, damit sie den Auftrag, den wirihnen hier geben, wirklich erfüllen können; denn wennwir unsere Soldaten nicht mit einem klaren Auftrag undklaren Einsatzregeln versehen, bringen wir sie, wie ge-schehen – das erfahren wir alle, wenn wir in Einsatzge-bieten sind –, in eine unmögliche, in eine ungünstigeSituation. Das dürfen wir unseren Soldaten nicht zumu-ten. Genauso schlimm ist: Wir machen uns leider häufigvor aller Welt lächerlich.

Das gilt auch für das Problem der Abgrenzung zwi-schen Terrorismus und Piraterie. Die Bundesregie-rung hat bis dato immer wieder gesagt, das könne manklar voneinander abgrenzen. Ich sage Ihnen: Die deut-sche Marine ist schon etwas klüger. Das Flottenkom-mando der deutschen Marine schreibt nämlich in einem

Bericht, dass der grenzüberschreitende internationaleTerrorismus, der von Piraterie und organisierter Krimi-nalität häufig nicht zu trennen sei, ebenfalls den freienSeeverkehr zum illegalen Transport von Waffen und Per-sonen nutze. Hier ist eindeutig festgehalten, was unserePartnernationen seit Jahren betonen. Selbstverständlichist gerade am Horn von Afrika eine eindeutige Trennungzwischen Piraterie und Terrorismus nicht möglich. Un-sere Partnernationen verfahren entsprechend.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Das heißt, sie gehen schon heute im Rahmen des OEF-Mandats gegen Piraterie vor, wo es möglich und gebotenist.

Nur unsere Bundesregierung verstrickt sich hier in eineDebatte, die mittlerweile kein Mensch mehr richtig nach-vollziehen und verstehen kann. Die Regierungsparteiensind in dieser Frage heillos zerstritten. Wir bekommen aufunsere Anfragen völlig unterschiedliche Mitteilungenvom Außenministerium und vom Verteidigungsministe-rium. So bestätigt zum Beispiel das Auswärtige Amt aufeine schriftliche Anfrage von uns, dass die Bundeswehrselbstverständlich Polizeiaufgaben im Ausland überneh-men dürfe und es selbstverständlich weder völkerrecht-lich noch verfassungsrechtlich ein Problem sei, dass dieBundeswehr gegen Piraten vorgehe. Das ist die Aussagedes Auswärtigen Amts. Das Verteidigungsministeriumbehauptet das Gegenteil. Herr Kossendey geht sogar soweit, die Nothilfe auf einen ganz engen Bereich zu be-grenzen, nämlich auf den Moment der Piraterie und derGefangennahme. Nach Aussage des Verteidigungsminis-teriums besteht Nothilfe dann nicht mehr, wenn die Pira-ten ein Schiff gekapert haben und mit Geiseln abge-dampft sind. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen,Nothilfe besteht so lange, wie die Not für die betroffenenMenschen anhält. Das ist, glaube ich, eine eindeutigeDefinition.

(Beifall bei der FDP)

Die Regierungspraxis steht im klaren Widerspruch zumSeerechtsübereinkommen, das wir, der Deutsche Bun-destag, im Jahr 1994 ratifiziert haben. Darin ist das ein-deutig geregelt. Ich kann auch hierzu nur sagen: UnsereSoldaten schütteln den Kopf darüber und unsere Verbün-deten wundern sich ein weiteres Mal.

Dieses Problem setzt sich leider fort. Wir haben imRahmen der NATO einen Verband – er war sowieso aufdem Wege zum Horn von Afrika –, der jetzt auf Wunschder Vereinten Nationen die Aufgabe übernehmen soll,Schiffe des World Food Programme am Horn von Afrikazu schützen.

Sehr geehrte Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, diedeutsche Bundesregierung, Ihre Bundesregierung, ver-hindert, dass deutsche Soldaten im Auftrag der VereintenNationen Lebensmittellieferungen schützen, die dieÄrmsten dieser Welt erreichen sollen. Das ist deutscheAußen- und Sicherheitspolitik des Jahres 2008. Daskann so nicht weitergehen.

(Beifall bei der FDP)

Page 7: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19757

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Dr. Rainer Stinner

Es geht aber weiter. Jetzt ist die Rede davon, eineESVP-Mission zur Bekämpfung der Piraterie zu unter-nehmen, wahrscheinlich ab Dezember. Es ist uns – übri-gens, wie ich erkannt habe, auch vielen Kolleginnen undKollegen der SPD – beim besten Willen nicht klarzuma-chen, wieso der Bezug auf Art. 24 des Grundgesetzes fürdie ESVP-Mission gilt und möglich ist, aber für dieNATO-Mission nicht. Hier sind, glaube ich, Debatten imGange, die völlig widersprüchlich sind. Deshalb sagenwir: Wir müssen Klarheit schaffen in den Regeln und inden Abgrenzungen zwischen der OEF-Mission und derESVP-Mission. Hier gibt es erhebliche Schnittstellen.

Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, als wollesie unter allen Umständen den Anschein verhindern,dass deutsche Soldaten schließlich auch einmal militäri-sche Mittel einsetzen müssen. Deshalb agiert sie nachunserem Dafürhalten hier in einer unklaren Art undWeise. Mit diesem Verhalten lässt die deutsche Bundes-regierung viele Soldaten im Stich, und wir machen uns,wie gesagt, international unglaubwürdig. Dies muss ge-ändert werden.

Sie sehen also: Wir haben uns die Entscheidung zudiesem Mandat weiß Gott nicht leichtgemacht. Wir ha-ben weiterhin viele Fragen. Wir stimmen trotzdem zu,weil es als politisch Verantwortliche im Deutschen Bun-destag unsere Aufgabe ist, die grundsätzlichen Weichen-stellungen im Hinblick auf das, was zu tun ist, hiervorzunehmen. Aber wir verlangen von der Bundesregie-rung, dass sie ihre Anstrengungen hinsichtlich der Artund Weise der Ausführung dieses Mandates wesentlichverbessert, damit Sicherheit und Vertrauen herrschen,nicht nur bei unseren Soldaten, sondern insbesondereauch bei denen, für die wir diese Aufgabe weltweit erfül-len.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Bundesminister Franz Josef Jung.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wenn wir mit Klatschen fertig sind!)

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-gung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der 11. September 2001 markiert eine sicher-heitspolitische Zäsur. Auf diesen schrecklichen An-schlag hat die internationale Gemeinschaft geschlossenund einmütig reagiert. Ich denke, es ist eine wirkungs-volle Antwort im Kampf gegen den internationalen Ter-rorismus gewesen.

Bereits einen Tag nach den Anschlägen erklärte der Si-cherheitsrat der Vereinten Nationen mit Resolution 1368die Anschläge zur Bedrohung für den internationalenFrieden und die internationale Sicherheit, und der Nord-atlantikrat hat den Bündnisfall ausgerufen. Deshalb wares folgerichtig, dass der Deutsche Bundestag erstmalsam 16. November 2001 dem Einsatz deutscher Streit-kräfte im Rahmen der Operation Enduring Freedom zu-

gestimmt hat. An dieser Grundlage und auch an der Be-drohung durch den internationalen Terrorismus für unserLand hat sich bis heute nichts geändert. Deshalb ist essinnvoll, dass wir diesen Auftrag zur Bekämpfung derGefahren für unser Land an der Quelle fortsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Seit Ende 2001 erbringen wir unseren Beitrag sowohlin Afghanistan als auch im Mittelmeer sowie im Seeraumrund um das Horn von Afrika. Es liegt im deutschen In-teresse, den Terrorismus und dessen Verbindungslinien,seine Kommunikation und seinen Nachschub an derQuelle zu bekämpfen. Wir sind am Horn von Afrika miteinem Marineverband gemeinsam mit Koalitionskräftenaus Australien, Frankreich, Großbritannien und Pakistanim Einsatz. Die deutschen Einheiten schützen in derTaskforce 150 die Seeverbindungslinien in einem Opera-tionsgebiet, das vom Roten Meer über das ArabischeMeer und den Golf von Oman bis hin zur Straße vonHormuz reicht.

Der Auftrag beinhaltet Identifikation, Überwachungund Aufklärung. Der Seeverkehr im Einsatzgebiet wirdumfassend beobachtet und dokumentiert. Ziel ist es, denTransport von Personen und Gütern, Waffen und Muni-tion, die der Unterstützung des internationalen Terroris-mus dienen, zu unterbinden.

Sehr geehrter Kollege Stinner, leider geht das, wasSie in dem Zusammenhang zum Thema Pirateriebe-kämpfung gesagt haben, an der Realität vorbei; ich sage:an unserer Verfassung vorbei. Sie müssen sich schondazu durchringen, einen Beitrag zur verfassungsrechtli-chen Klarstellung zu leisten, wenn Sie das Ziel erreichenwollen, das Sie hier ansprechen. Ich bin nicht bereit, dieVerfassung zu brechen. Wir sollten eine Klarstellungvornehmen, um die Chance zu haben, Piraterie in demUmfang zu bekämpfen, den Sie eben eingefordert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Es ist – ich sage es noch einmal – ein Einsatz zumKampf gegen den Terrorismus, nicht gegen die Piraterie.Im Hinblick auf jene Bedrohung wird zurzeit die ESVP-Mission vorbereitet. Wir werden in dem Zusammenhangunseren Beitrag dazu leisten, dass auch dieser Gefahrwirkungsvoll entgegengetreten wird. Neben der Nothilfekann man selbstverständlich auch prüfen, ob in Zukunftim Rahmen des OEF-Mandats eine Unterstellung unterdas ESVP-Mandat möglich ist. Aber das bedarf dannauch der Zustimmung des Deutschen Bundestages.

Neben unseren Fregatten stellen wir mit unseren See-fernaufklärungsflugzeugen Orion fallweise auch Fähig-keiten zur Aufklärung aus der Luft zur Verfügung. DieBundeswehr hält zudem Kräfte für luftgestützte medizi-nische Notfallversorgung durchgehend in Bereitschaft.Im Januar werden wir, wenn der Deutsche Bundestagdiesem Mandat zustimmt, zum wiederholten Male fürdrei Monate die Führung dieser Taskforce übernehmen.

Neben dem Einsatz am Horn von Afrika gehört dieNATO-Operation Active Endeavour im Mittelmeer zudiesem Mandat. In wechselnder Stärke und Formationleisten wir hier ebenfalls unseren Beitrag im Kampf ge-gen den internationalen Terrorismus.

Page 8: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Bundesminister Dr. Franz Josef Jung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Kol-lege Stinner, ich finde, die Bilanz unseres Einsatzes kannsich sehen lassen. Wir haben mit unseren Kräften über14 500 Abfragen von Schiffen, über 340 Stopps, detail-lierte Befragungen von Schiffsbesatzungen, 70 Durchsu-chungen, also Boardings, und über 70 Geleitaufträge fürbesonders schützenswerte Schiffe durchgeführt sowiezusätzlich diverse Hilfeleistungen für Schiffe in Not er-bracht. Ich bin unseren Soldatinnen und Soldaten sehrdankbar, die einen wirkungsvollen Einsatz leisten – imInteresse der Sicherheit unseres Landes und im Kampfgegen den internationalen Terrorismus.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir wollen die Diskussion über dieses Mandat ausder Zeit heraushalten, in der dieser Bundestag noch am-tiert, ein neuer aber schon gewählt ist, und schlagen des-halb vor, das Mandat bis in den Dezember 2009 hineinzu verlängern. Des Weiteren wollen wir die derzeitigeObergrenze von 1 400 auf 800 Soldatinnen und Soldatenzurückführen, weil dies im Hinblick auf unseren Einsatzsachgerecht ist. Außerdem haben wir die 100 Spezial-kräfte bei OEF für das Einsatzgebiet Afghanistan he-rausgenommen. Diese Kräfte waren in den vergangenenJahren eine wichtige Rückversicherung. Jedoch hat sichder Charakter von OEF in Afghanistan mit der schritt-weisen Übernahme der Verantwortung für die Sicherheitin ganz Afghanistan durch ISAF spürbar gewandelt. Na-türlich kann die knappe Ressource der Spezialkräfte wei-terhin im Rahmen von ISAF eingesetzt werden, fallsdies in Afghanistan erforderlich ist.

Wir wollen in unseren Anstrengungen im Kampf ge-gen den Terrorismus nicht nachlassen, auch und geradeim Interesse unserer Sicherheit. Wir stellen uns mit unse-ren alliierten Partnern, mit der Weltgemeinschaft nach-drücklich und entschlossen gegen diese Geißel derMenschheit. Das ist ein wichtiger Teil unseres Beitrages,die Welt ein Stück friedlicher und sicherer zu machen.Deutschland wird und darf sich hier seiner Verantwor-tung nicht entziehen.

Ich denke, wir können insgesamt stolz und dankbarhinsichtlich des Engagements unserer Soldatinnen undSoldaten sein, die gut ausgebildet und gut ausgerüstetsind und diesen Auftrag gut motiviert erfüllen. Er dientunseren Sicherheitsinteressen, den Sicherheitsinteressenunserer Bürgerinnen und Bürger. Ich bitte Sie deshalbum möglichst breite Zustimmung zur Fortsetzung unse-res Engagements im Rahmen der Mandate zur Bekämp-fung des internationalen Terrorismus, Operation Endu-ring Freedom und Operation Active Endeavour, in demeinen Fall am Horn von Afrika – in diesem Mandat ha-ben wir im Übrigen das Seegebiet klar konkretisiert, indem die Kräfte im Einsatz sind –, in dem anderen Fall imMittelmeer; denn so können wir unseren Beitrag auch inZukunft wirkungsvoll leisten. Ich denke, für diesen Ein-satz im Interesse unserer Sicherheit haben unsere Solda-tinnen und Soldaten eine breite Unterstützung diesesParlamentes verdient.

Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Stinner

noch einmal das Wort.

Dr. Rainer Stinner (FDP): Sehr geehrter Herr Minister! Ich bedanke mich aus-

drücklich dafür, dass Sie mich direkt angesprochen ha-ben. Das gibt mir die Möglichkeit, die Dinge noch ein-mal sehr deutlich darzustellen.

Erstens. Dieses Parlament hat im Jahr 1994 das See-rechtsübereinkommen ratifiziert. In diesem Seerechts-übereinkommen steht ausdrücklich, dass die Vertragsstaa-ten gegen Piraterie auf hoher See auf der ganzen Weltvorgehen können – nicht müssen, aber können. Auf un-sere Anfrage, ob denn Art. 25 des Grundgesetzes, derbesagt, dass völkerrechtlich verbindliche Verträge auchfür deutsches Recht bindend sind, auch für dieses See-rechtsübereinkommen gilt, hat die Bundesregierung ein-deutig mit Ja geantwortet.

Zweitens. Die zweite Ausrede, die Sie, Herr Minister,und Ihr Ministerium verwenden, ist, die Bundeswehrdürfe angeblich im Ausland keine Polizeiaufgaben wahr-nehmen. Das ist falsch, Herr Minister. Die Bundeswehrnimmt schon gegenwärtig im Ausland in umfangreichemMaße Polizeiaufgaben wahr. Ich erinnere an den Ko-sovo, wo wir nach den Umständen des Jahres 2004 dieBundeswehr extra mit Polizeiausrüstung wie Schilden,Schlagstöcken und Reizgas versehen haben, damit siepolizeiähnliche Aufgaben wahrnehmen kann. Auch die-ses Argument hilft also nicht.

Drittens verweise ich auf meine eben schon gemachteBeschreibung der, wie ich finde, völlig unzuträglichenEingrenzung des Begriffes „Nothilfe“ durch Ihr Ministe-rium. Das halte ich, Herr Minister, wirklich für völlig ab-wegig. Diese Eingrenzung muss aufgehoben werden.

Nein, Herr Minister – ich komme zum Schluss, HerrPräsident –, Sie und Ihre Partei wollen – das hat auch dieAusschussberatung gezeigt – über eine Änderung desArt. 87 unseres Grundgesetzes etwas völlig anderes, unddafür haben Sie von Ihren Kollegen von der SPD in derÖffentlichkeit und in den Ausschüssen die Rote Kartebekommen. Deshalb gibt es weiterhin einen Konflikt inder Bundesregierung, auf den ich hingewiesen habenwollte.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-gung:

Herr Kollege Stinner! Wir haben die Diskussionschon im Ausschuss geführt. Ich will meinen Standpunktaber gerne noch einmal vor dem Parlament deutlich ma-chen.

Page 9: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19759

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Bundesminister Dr. Franz Josef Jung

Erstens. Völkerrecht bricht nicht Verfassungsrecht.Für mich gilt die verfassungsrechtliche Grundlage unse-res Grundgesetzes; daran werde ich mich halten.

Zweitens. Wir bereiten zurzeit eine ESVP-Missionvor, die uns im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz– da geht es um gegenseitige kollektive Sicherheit – dieRechtsgrundlage gibt, Piraterie wirkungsvoll zu be-kämpfen. Das halte ich für richtig und notwendig. Ichhoffe, dass der Deutsche Bundestag einem derartigenMandat zustimmt, sodass wir einerseits im Rahmen un-seres OEF-Mandates, über das wir jetzt beraten, den Ter-rorismus bekämpfen können und andererseits im Rah-men des zukünftigen Mandats, der ESVP-Mission,Piraterie bekämpfen können. Das dient unserer Seesi-cherheit und dem freien Seehandel. Dazu wollen wir un-seren Beitrag leisten.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist ja mehr Ab-surdistan als Afghanistan!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Norman Paech, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Es geschieht ja nicht sehr oft, dass wir die Regierung lo-ben. Aber in diesem Fall ist es angebracht, da Sie aus derKritik die Konsequenz gezogen haben, den Antiterror-einsatz – zumindest in Afghanistan – einzustellen. Ichwill nicht darüber reden, ob Sie sich vielleicht dadurchdie Zustimmung zu einem Einsatz im Rahmen der ISAFerkaufen wollen, der sich ohnehin nicht mehr von demKampfeinsatz der OEF unterscheidet. Leider sind Sieauf halbem Wege stehen geblieben. Sie hätten die Bun-deswehr vollständig aus diesem vollkommen falschenund auch völkerrechtswidrigen Einsatz zurückziehenmüssen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Sie wollen uns erneut weismachen, dass alles völker-rechtlich in Ordnung ist, und verweisen dann auf dasSelbstverteidigungsrecht in Art. 51 der UN-Charta.Das mag ja unmittelbar nach den Anschlägen am11. September zugetroffen haben. Aber ein Krieg vonsieben Jahren gegen einen Feind, der kein Staat undkeine Regierung ist, sondern der sich über ein Netzwerkvon über 60 Staaten verteilt, hat mit dem Selbstverteidi-gungsrecht nach der UN-Charta nichts mehr zu tun.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ich frage Sie: Wie lange wollen Sie noch daran festhal-ten? Glauben Sie, dass Sie das, was Sie in sieben Jahrennicht geschafft haben, nämlich al-Qaida militärisch zubesiegen, im nächsten Jahr schaffen werden? Ich sageIhnen: niemals.

Sie benutzen OEF als Generalermächtigung für mili-tärische Abenteuer, die nun ihren Schwerpunkt auf Seehaben sollten. Sie verweisen auf die unsichere Situationam Horn von Afrika und die Gefahren für Handelswege,auf denen Gas, Öl und andere lebenswichtige Rohstoffezu uns kommen. Natürlich ist sind diese Handelswegefür die Industrieländer von eminenter Bedeutung. Aberdie Frage ist: Rechtfertigt das eine Antiterrormission wiedie OEF?

Die Bundeswehr – Herr Jung, wenn Sie ehrlich sind,müssen Sie das zugeben – dümpelt seit Jahren im Rah-men von OEF dort herum. Sie hat bisher noch keineneinzigen Terroristen aufgespürt. Konsequenterweisemüsste sich die Bundeswehr von dort endlich zurückzie-hen. Stattdessen instrumentalisieren Sie das Pirateriepro-blem, um weiterhin am Horn von Afrika militärisch prä-sent zu sein. Dabei verfolgen Sie eine ganz gefährlichemilitärische Doppelstrategie: zum einen Maßnahmen ge-gen die Piraten im Rahmen der EU – es gibt dazu Vorbe-reitungen – und zum anderen Maßnahmen gegen Terro-risten im Rahmen der OEF. Ich sage Ihnen aber: Wie beiISAF und OEF wird auch hier wieder eine Vermischungstattfinden. Herr Stinner, ich gebe Ihnen in diesem Punktvollkommen recht; ich brauche Ihre Äußerung dazunicht zu wiederholen. Denn wer kann schon im ErnstfallPiraten von Terroristen unterscheiden? Wir sind gegeneine solche Mission. Sie lösen damit weder das Problemdes Terrorismus noch das Problem der Piraterie. Sieschicken vielmehr die Soldaten immer wieder an neueKriegsschauplätze. Dagegen sind wir.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die Sicherheit am Horn von Afrika und die Bekämp-fung von Piraten und Terroristen sind nur mit einer Sta-bilisierung der staatlichen Ordnung und mit Bekämp-fung der Armut zu erreichen. Das ist nur mit politischenMitteln und mit ökonomischer Unterstützung möglich,niemals militärisch. Dabei ist es gleichgültig, ob dieTruppen aus der Afrikanischen Union, der EU, der UNOoder der NATO kommen. Selbst die Briten – das kannman nachlesen – haben jüngst den militärischen Ansatzund die Militarisierung des Antiterrorkampfes durch dieUSA als vollkommen falsches Konzept kritisiert.

Sie machen uns immer den Vorwurf, dass wir zwargegen den Einsatz des Militärs seien, aber keine Alterna-tiven hätten. Diese liegen aber auf der Hand. SchauenSie sich einmal die umfassenden Aktivitäten der UNOan, die sie nach dem 11. September gegen den internatio-nalen Terrorismus unternommen hat. Es gibt zahlreicheResolutionen und insgesamt zwölf Antiterrorkonventio-nen, in denen die Staaten zu ganz konkreten Maßnahmenaufgerufen werden. An keiner Stelle ist vom Einsatz desMilitärs die Rede. Gestehen Sie sich endlich ein, dass dieKriege im Irak und in Afghanistan für das Erstarken desinternationalen Terrorismus ganz wesentlich verantwort-lich sind.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Page 10: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Dr. Norman Paech

Um die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen, umgesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die den Men-schen ein Leben ohne Armut und Gewalt, einen Weg ausKrieg und Perspektivlosigkeit bieten, was der Nährbo-den des Terrorismus ist, braucht es ziviler Instrumenteund nicht des Militärs. Die Bundeswehr ist dafür ganzund gar ungeeignet. Deswegen fordern wir Sie auf: Be-enden Sie die deutsche Beteiligung an OEF! Wir werdendiesem Mandat nicht zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei, Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum siebten Mal haben wir im Bundestag über die Ver-längerung der deutschen Beteiligung an der OperationEnduring Freedom zu diskutieren und zu entscheiden.Ich erinnere mich noch sehr genau: Im November 2001war diese Entscheidung in den beiden Koalitionsfraktio-nen der SPD und der Grünen äußerst umstritten. Mankann sagen, dass sich in den Jahren danach die Befürch-tungen, die wir damals im November hatten, nicht bestä-tigt haben. Im Gegenteil: Die Dinge sind in Afghanistanzunächst viel besser gelaufen. Bis 2005 – da waren wirwieder in der Opposition – waren wir nach Abwägungverschiedener Aspekte der Meinung, dass EnduringFreedom weiterhin notwendig sei, um die zu diesemZeitpunkt schwache ISAF in Afghanistan stärken zukönnen. Das war damals die Haltung.

Damit wir nicht aneinander vorbeireden: Der inter-nationale Terrorismus stellt weiterhin eine Bedrohungder internationalen Sicherheit und des Weltfriedens darund muss weiterhin bekämpft werden.

(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])

Überwiegender Konsens ist sicher auch, dass er auf dereinen Seite nicht primär militärisch bekämpft werdenkann, dass dabei auf der anderen Seite aber auch der Ein-satz militärischer Mittel notwendig sein kann.

Allerdings reicht es bei Mandatsentscheidungen ganzund gar nicht, nur zu diesen Grundsätzen etwas zu sagen.Entscheidungen über solche Mandate und solche Ein-sätze sind ja schließlich keine Bekenntnisfragen. Viel-mehr muss konkret beantwortet werden, ob dieserEinsatz weiterhin zur Gewalt- und Terroreindämmungsicherheitspolitisch dringlich ist, ob er weiterhin legitimund legal ist und ob er überhaupt geeignet, wirksam undverantwortbar ist.

Dass die Bundesregierung nun für Afghanistan dieLandkomponente im Rahmen des Kommandos Spezial-kräfte abgemeldet hat, ist ein richtiger Schritt. Aller-dings muss man nüchternerweise hinzufügen: Dies istseit einigen Jahren überfällig. Im Untersuchungsaus-schuss, der aus dem Verteidigungsausschuss hervorging,haben wir herausfinden müssen, dass das KSK im Rah-

men von Enduring Freedom in Afghanistan seit 2002militärisch gar nicht mehr gebraucht wurde. Danach istes dort nur aus symbolpolitischen Gründen gehaltenworden, im Grunde als Solidaritätsbeweis gegenüberden USA. Gerade als Verteidigungspolitiker möchte ichfeststellen: Es ist vor allem gegenüber den Soldatenfalsch und verantwortungslos, sie aus symbolpolitischenGründen einzusetzen und zu missbrauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das heißt im Klartext, Herr Minister Jung und HerrMinister Steinmeier: Da dieser Teileinsatz jetzt zu Endeist, muss auch endlich ein Abschlussbericht vorgelegtwerden. Das ist bisher nicht geschehen. Bisher hat dazuder Verteidigungsausschuss den bei weitem besten Be-richt vorgelegt.

Zur anderen Komponente, zum Horn von Afrika.Seit Jahren stellen wir fest, dass der reale Einsatz mitdem Auftrag, terroristische Kräfte an ihren Bewegungs-möglichkeiten zu hindern, nichts mehr zu tun hat. Wennman die Admirale fragt, was sie erkunden, dann erhältman die Antwort, dass sie alles mögliche andere erkun-den, aber nicht terroristische Bewegungen. Deshalb istdas Mandat in diesem Bereich schlichtweg nicht ehrlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt andere Sicherheitsrisiken, die man klar mit ei-nem UN-Mandat angehen muss.

Die Mandatsentscheidung, die ansteht, ist nicht nureine Entscheidung darüber, was die Bundesrepublik da-bei macht, sondern sie ist schlichtweg auch eine politi-sche Stellungnahme zu Enduring Freedom überhaupt. Eswurde schon darauf hingewiesen, dass die UN-Sicher-heitsratsresolution vom 12. September 2001 der völker-rechtliche Ausgangspunkt ist, in der das Recht aufSelbstverteidigung betont wurde. Das wurde damalsvom größten Teil des Parlaments mitgetragen. Aller-dings beziehen Sie sich sieben Jahre danach weiterhinganz allgemein auf das Selbstverteidigungsrecht. Dün-ner könnte die rechtliche Grundlage nicht sein; sie istnach unserer Auffassung eindeutig fragwürdig und nichtmehr zu halten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN und desAbg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] –Dr. Norman Paech [DIE LINKE]: Sie ist sogarfalsch!)

Man muss dabei immer die Konsequenzen bedenken: Esläuft auf eine völlige Entgrenzung des Verteidigungsbe-griffs und de facto auf eine Enthemmung hinaus. ImKlartext: Operation Enduring Freedom setzt sich in derRealität immer wieder über den völkerrechtlichenGrundsatz territorialer Integrität hinweg. Das, was Endu-ring-Freedom-Kräfte in Pakistan inzwischen fast jedenTag machen, nämlich Verdächtige abschießen, liegt inder Logik von Enduring Freedom; da soll man gar nichtso überrascht sein. Das aber ist eindeutig verwerflichund völkerrechtswidrig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Page 11: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19761

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Winfried Nachtwei

Wie sieht heute die Realität von Enduring Freedomaus? Was sind die Wirkungen? Kollege Stinner, ichmöchte einen Punkt schnell beiseiteräumen: Sie habenwieder das Bild vom vorigen Jahr gebracht, das Bild vonder angeblich bösen OEF und der guten ISAF. Heutzu-tage kann man feststellen, dass die Ausbildungskompo-nente bei Enduring Freedom in Afghanistan nicht mehrenthalten ist. Das heißt, in Afghanistan ist EnduringFreedom wieder auf den ursprünglichen Auftrag der mi-litärischen Terrorbekämpfung reduziert worden. SeitJahren frage ich die Bundesregierung, wie wirksamdiese Operation insgesamt ist. Ich erhalte dazu notorischnull Aussagen.

Die Bundesregierung ist aber nicht die einzige Aus-kunftsquelle; wir bemühen uns selber um entsprechendeHinweise. Was besagen die hierbei gewonnenen Er-kenntnisse?

Erstens. Zur Zielgruppe von Enduring Freedom inAfghanistan gehören nicht nur al-Qaida als Drahtzieherund Unterstützer, sondern ziemlich unterschiedslos alleAufständischen. Der Effekt davon ist eine Solidarisie-rung: Es werden diejenigen zusammengebracht, die manbei einer vernünftigen Antiterrorpolitik eigentlich aus-einanderbringen müsste.

Zweitens. Entsprechende Personen werden auf Ver-dacht liquidiert. Noch vor kurzem habe ich im ISAF-Headquarter gehört, dass der Unterschied zwischenISAF und OEF wesentlich ist; OEF tötet auf groben Ver-dacht.

Drittens. Bei OEF-Einsätzen sind überproportionaloft Zivilopfer zu beklagen. Zudem kommen OEF-Opera-tionen immer wieder ISAF-Operationen in die Quere;das habe ich kürzlich von Kommandeuren in Uruzgan,Südafghanistan, gehört.

Was die Wirksamkeit angeht, fasse ich zusammen:OEF soll zur Eindämmung von Terrorismus beitragen.Alle Hinweise, die wir haben, deuten auf das Gegenteilhin, nämlich darauf, dass islamistische Militanz, Gewaltund Terror dadurch angefacht werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie des Abg. Dr. Norman Paech [DIELINKE])

OEF steht – das sollte man nicht außer Acht lassen –für den Global War on Terrorism, für den Irrglauben,nicht nur mit Militär, sondern ausdrücklich mit KriegTerrorismus besiegen zu können. Aufschlussreich sindjüngste Veröffentlichungen aus den USA, insbesondereeine RAND-Studie mit dem Titel „How terrorist groupsend – lessons for countering Al Qa’ida“. Das Ergebnisist äußerst interessant. Es wurden zwischen 1968 und2006 über 600 Terrorgruppen untersucht. Die allermeis-ten davon wurden aufgelöst, weil sie in den politischenProzess einbezogen wurden. Das zweitbeste Mittel zurAuflösung waren polizeiliche und geheimdienstlicheMaßnahmen. Am allerwenigsten haben militärischeMaßnahmen gewirkt. Die Schlussfolgerung dieser Stu-die ist – gerichtet an die alte und an die neue Regierung –:Hört auf mit dem War on Terrorism! – Die Alternativenliegen eindeutig auf der Hand.

Ich komme zum Schluss. Ich habe alle Mandatsent-scheidungen, die im Bundestag seit 1994 getroffen wur-den, mitbekommen. Als alter Oppositioneller war ichimmer wieder überrascht, wie sorgfältig diese Diskussio-nen geführt wurden. Allerdings muss ich sagen: DieDiskussionen der letzten Jahre über Enduring Freedomwaren Tiefpunkte der parlamentarischen Beratungen undin Sachen Parlamentsbeteiligung. Herr MinisterSteinmeier, ich habe heute von Staatsminister Erler Ant-worten auf von mir gestellte Fragen zur Wirksamkeitvon Enduring Freedom usw. erhalten. Ich kann sie Ihnengleich einmal geben. Diese Antworten sind eine Frech-heit. Ich glaube, Sie werden sich für diese Antwortenschämen. So geht das nicht weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute findet die Wahl eines neuen US-Präsidenten

statt, die wir wohl alle mit großen Hoffnungen begleiten.Der Deutsche Bundestag steht gegenüber der US-Admi-nistration meiner Meinung nach in der Pflicht, ein klaresund aktives Zeichen gegen den „Krieg gegen den Ter-ror“, für einen kooperativen Multilateralismus, für dieRückkehr zum Völkerrecht und zur Achtung der Men-schenrechte zu setzen, und zwar auch bei der Bekämp-fung des Terrorismus.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Niels Annen, SPD-Frak-

tion.

Niels Annen (SPD): Herr Präsident, vielen Dank. – Meine Damen und

Herren! Winni Nachtwei hat eben gesagt, dass derUrsprung des Mandats für den Einsatz deutscher Streit-kräfte im Rahmen von OEF – das dürfen wir nicht ver-gessen, wenn wir über dieses Mandat beraten – die An-schläge vom 11. September sind. Vielleicht ist es in derTat bezeichnend, dass wir heute hier darüber debattieren,während in den USA ein neuer Präsident gewählt wird.Der amtierende US-Präsident ist mit dem internationalenKampf gegen den Terrorismus verbunden und wird da-mit verbunden bleiben. Ich glaube, es ist nicht besondersmutig, wenn man voraussagt, dass er nicht aufgrund wei-ser Entscheidungen im Kampf gegen den Terror in Erin-nerung bleiben wird.

So deutlich ich sage, dass es richtig gewesen ist, dassdieses Haus damals zugestimmt hat, so klar muss manauch sagen, dass sich das Nebeneinander von zwei un-terschiedlichen Missionen nicht ausgezahlt hat. Die Ver-einten Nationen haben, nachdem der eigentliche Auftragin Afghanistan relativ schnell erfüllt war – Zerschlagungder al-Qaida-Camps und Absetzung der Taliban-Regie-

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Niels Annen

rung –, eine Grundlage für die Wiederaufbauarbeit ge-schaffen, die wir mit unseren Soldatinnen und Soldaten,den Entwicklungshelfern und den anderen nach Afgha-nistan entsandten Menschen, mit allen, die dort arbeiten,leisten. Wir mussten feststellen – darüber haben wir imDeutschen Bundestag häufig diskutiert –, dass dasNebeneinander von OEF und ISAF letztlich dazu ge-führt hat, dass die Legitimität unserer gemeinsamen in-ternationalen Anstrengungen in den letzten Jahren Stückfür Stück dadurch untergraben worden ist, dass es immerwieder, auch in den letzten Tagen und Wochen, zu unab-gestimmten, unverhältnismäßigen und unkoordiniertenAktivitäten kam, und zwar in der Regel bei Beteiligung– das muss ich leider sagen – der amerikanischen Solda-ten unter dem Mandat von Enduring Freedom.

Vor wenigen Wochen wurde uns eine Studie vonHuman Rights Watch vorgelegt, die eindrucksvoll fürdie einzelnen Provinzen darlegt, dass der Strategiewech-sel, den wir in diesem Haus immer wieder eingeforderthaben, der allerdings schwer zu erklären ist, insofern er-folgreich war, als es so gut wie keine Todesopfer bei ge-planten Luftoperationen der ISAF-Truppen gegeben hat.Wir müssen allerdings feststellen, dass es bei Luftunter-stützungsoperationen zunehmend, auch in den letztenTagen, zu zivilen Opfern gekommen ist, wenn amerika-nische Streitkräfte in sogenannte Antiterroroperationenverwickelt waren.

An dieser Stelle möchte ich eines deutlich sagen: Wirhaben häufig gehört, dass all das völkerrechtswidrig seiund unsere ganze Diskussion nur für die Galerie statt-finde. Auch der Kollege Paech von der Linksfraktion hatdarauf hingewiesen. Er hat gesagt, die Regierung und dieRegierungsparteien müssten endlich begreifen, dass die-ses Problem nicht mit militärischen Mitteln zu lösen ist.Ich sage Ihnen: Das ist die tägliche Praxis dieser Koali-tion und dieser Regierung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich empfehle Ihnen, Herr Paech, sich einmal den An-trag anzusehen. Ich kann Ihnen gerne daraus vorlesen;ich habe ihn mitgebracht. Die Bundesregierung schreibt:Der Kampf gegen den Terrorismus ist in erster Liniekeine militärische, sondern eine umfassende politischeAufgabe. – Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der SPD)

Dass die Diskussion in diesem Hause, aber auch in derZivilgesellschaft und die Arbeit der vielen Nichtregie-rungsorganisationen, die sich vor Ort, aber auch inDeutschland mit der Lage in Afghanistan und mit demStand des Antiterrorkampfes auseinandersetzen, hierernst genommen werden und dass wir Konsequenzenauch aus dem Nebeneinanderher und dem Mangel anstrategischer Abstimmung im Bündnis gezogen haben,zeigt die Vorlage, über die der Deutsche Bundestag indieser Beratung zu entscheiden hat.

Ich glaube, dass es der richtige Weg ist, zu sagen: Wirziehen die 100 KSK-Kräfte aus dem OEF-Mandat zu-rück. Das ist, wenn ich das einmal sagen darf, keinevirtuelle Entscheidung. Diese Entscheidung hat einen

politischen Wert und wird von unseren Verbündeten ver-standen; denn wir sind nicht die Einzigen, die sich überdiese Mängel im Alltag bei der Arbeit in Afghanistan imRahmen dieser Operation beklagen. Kollege Nachtweihat darauf hingewiesen. Wir waren gemeinsam inUruzgan und haben uns beispielsweise mit unseren nie-derländischen Kollegen unterhalten. Sie führen dort die-selbe Debatte. Deswegen bitte ich darum, dass wir aufFolgendes hinweisen: Wir machen hier keine innenpoli-tischen Spielchen. Wir machen auch keine Geschäfte– das haben Sie angedeutet, Herr Paech –, um die Zu-stimmung zu erleichtern. Wir arbeiten hier seit Jahrenund suchen nach Wegen, in der richtigen Art und Weisemit dieser Verantwortung umzugehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Beteiligung an einer internationalen Koalition istnichts, aus dem man eben einmal aussteigt wie bei einerAktie, die im Wert abstürzt. Das hat mit Abstimmungs-prozessen und Diskussionsprozessen zu tun. Das kannman nicht von heute auf morgen entscheiden. Deswegenwill ich ganz klar sagen: Die völkerrechtliche Grund-lage steht nicht infrage. Der Sicherheitsrat der VereintenNationen – auf den berufen Sie sich ja immer, HerrPaech – hat das am 12. September 2001 festgestellt; erhat den Angriff auf die Vereinigten Staaten mit einemAngriffskrieg gleichgesetzt. Das ist die Lage, in der wiruns befinden.

Etwas ganz anderes ist die Frage, ob wir es uns als in-ternationale Staatengemeinschaft dauerhaft erlaubenwollen, uns auf dieser Rechtsgrundlage zu bewegen. Esgibt Diskussionen – auch in unserer Fraktion und imSicherheitsrat der Vereinten Nationen – über die Frage,ob wir die Bekämpfung der Piraterie, die hier schon an-gesprochen worden ist, möglicherweise als Anlass nut-zen sollten, um miteinander eine klarere politischeGrundlage zu finden. Aber lassen Sie uns hier keinehaarspalterischen Diskussionen führen. Auch in der er-neuten UN-Resolution wird die Operation EnduringFreedom erwähnt. Deswegen sollten wir uns hier nichtauf Nebenkriegsschauplätze konzentrieren, sondern wirsollten die politische Diskussion führen. Wir stehen zuunserer Verantwortung und erkennen die Bedrohung, diehier genannt worden ist und auch am Horn von Afrikasichtbar wird.

Ich plädiere dafür, dem Antrag der Bundesregierungzuzustimmen. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, die-ses Zeichen auch an diejenigen zu senden, die nicht nurdarüber diskutieren, sondern auch unter Einsatz ihresLebens dafür einzustehen haben. Das sind unsere Solda-tinnen und Soldaten. Ich bitte um Zustimmung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Norman Paech.

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Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Lieber Kollege Annen, ich kann durchaus lesen. Ich

lese zum Beispiel immer wieder, dass der Kampf gegenden Terrorismus nicht militärisch zu gewinnen ist. Dassagen die US-Amerikaner sowieso; das sagen die Gene-räle immer wieder. Eines aber müssen wir sehen: Wirführen hier zum wiederholten Mal eine Debatte, in der esausschließlich um die Verteilung von Geldern für militä-rische Maßnahmen geht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Haben wir jemals eine Diskussion von der gleichen Güteund Länge geführt, in der es um die Finanzierung ökono-mischer und ziviler Instrumente zur Bekämpfung desTerrorismus ging? So eine Diskussion haben wir bishernicht geführt. Wenn wir sie führen werden, dann werdenwir auch anders zu dem Thema reden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Annen, bitte.

Niels Annen (SPD): Herr Kollege Paech, es freut mich natürlich sehr, dass

Sie des Lesens mächtig sind. Ich möchte Ihnen deswe-gen die Lektüre des Protokolls der Plenarsitzung, in deres um die Ergebnisse der Paris-Konferenz ging, empfeh-len. Darüber haben wir hier in diesem Hause diskutiert.Ich würde Sie gerne daran erinnern, dass die Bundesre-gierung die finanziellen Aufwendungen für den Wieder-aufbau in Afghanistan verdoppelt hat; da kann ich auchaus der Rede, die Sie gerade vorgetragen haben, zitieren.Wir haben Konsequenzen gezogen, auch aus den Dis-kussionen im Deutschen Bundestag und in der interes-sierten Öffentlichkeit, in denen man sich mit der Frageauseinandergesetzt hat: Ist die Beteiligung von über100 KSK-Kräften am OEF-Mandat eigentlich ein Weg,der in die richtige Richtung geht? Wenn ich es richtig inErinnerung habe, haben Sie selbst, als Sie vor wenigenMinuten an diesem Pult standen, diese Entscheidung ge-lobt. – Das sollten Sie sich noch einmal durchlesen.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionensind auf einem guten Weg. Wir führen hier keine Debat-ten für die Galerie.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Thomas Silberhorn, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wie schon bei der Verlängerung des ISAF-Man-dates wird auch in Bezug auf das OEF-Mandat hin und

wieder gemutmaßt, wir würden die Mandatsdauer des-halb auf 13 Monate festlegen, um eine öffentliche De-batte darüber aus dem nächsten Bundestagswahlkampfherauszuhalten.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wie bitte? Das kann ja gar nichtsein! Das ist doch völlig undenkbar!)

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dem ausdrücklichentgegenzutreten. Niemand gibt sich der Illusion hin,man könne eine Debatte über Auslandseinsätze der Bun-deswehr aus der Öffentlichkeit heraushalten.

(Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU])

Wir wissen, dass im nächsten Jahr in Afghanistan Präsi-dentschaftswahlen stattfinden. Bei jedem Anschlag, wasGott verhüten möge, ist eine breite öffentliche Debattezu erwarten. Es wäre geradezu naiv, anzunehmen, mankönne eine solche Diskussion verhindern. Wir sollten sievielmehr offensiv führen.

Wir müssen bei der Verlängerung dieses Mandatsaber auch deutlich machen, dass wir aus Respekt vordem nächsten Deutschen Bundestag

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig! Ganz genau!)

den Kolleginnen und Kollegen, die am 27. Septembernächsten Jahres gewählt werden, die Gelegenheit gebenmüssen, darüber zu entscheiden, ob das Mandat, das wirheute verlängern, im nächsten Jahr nochmals verlängertwerden sollte. Es wäre für den nächsten Deutschen Bun-destag eine Zumutung, wenn dieses Haus nach dernächsten Bundestagswahl, aber vor der Konstituierungdes dann bereits gewählten Bundestages noch einmaleine Mandatsverlängerung beschließen würde. Es gehörtzur Selbstbescheidung der Mandatsträger, die auf Zeitgewählt sind, diese Aufgabe dem nächsten neu zu wäh-lenden Bundestag zu überlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Damen und Herren, die Reduzierung im Hin-blick auf den Bundeswehreinsatz im Rahmen von OEF,sowohl was den Personalumfang als auch was das Ein-satzgebiet angeht, ist im Ergebnis eine Anpassung an dieEinsatzrealität, die nicht mit operativen Einschränkun-gen verbunden ist. Wir bringen damit zum Ausdruck,dass das OEF-Mandat teilweise dadurch ersetzt wordenist, dass durch das ISAF-Mandat die Sicherheit in ganzAfghanistan gewährleistet werden soll. Wir haben dasISAF-Mandat erweitert und das Kontingent um1 000 Soldaten aufgestockt.

Ich füge aber hinzu: Wir können uns der Gesamtver-antwortung für Afghanistan, die wir im Rahmen desISAF-Mandats wahrnehmen, nicht dadurch entziehen,dass wir uns aus dem OEF-Mandat in Bezug auf Afgha-nistan zurücknehmen; denn die Soldaten, die in Afgha-nistan im Einsatz sind, werden als Bestandteil der inter-nationalen Gemeinschaft wahrgenommen. In derBevölkerung Afghanistans fragt niemand danach, ob ein

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Thomas Silberhorn

Soldat unter dem OEF-Mandat oder dem ISAF-Mandathandelt. Deswegen ist es notwendig, dass wir deutlichmachen: Deutschland trägt weiterhin einen Teil der Ge-samtverantwortung der internationalen Gemeinschaft inAfghanistan, auch wenn wir mit den 100 Spezialkräftennicht mehr im Rahmen des OEF-Mandates in Afghanis-tan im Einsatz sein werden. Wie schon angeklungen ist,können sie im Rahmen des ISAF-Mandates auch weiter-hin zum Einsatz kommen.

Ich halte es für wichtig, dass wir zum Ausdruck brin-gen: Auch wenn keine deutschen Soldaten mehr im Rah-men des OEF-Mandates in Afghanistan eingesetzt wer-den, müssen wir uns dennoch weiterhin um einegemeinsame Zielsetzung der internationalen Gemein-schaft in Bezug auf Afghanistan, aber auch um eine ab-gestimmte und gemeinsame Durchführung militärischerAktionen bemühen. Das betrifft auch die Herangehens-weise, die hier von manchen meiner Vorredner sehr kri-tisch beleuchtet worden ist.

Ich stimme dem ehemaligen US-Botschafter JohnKornblum zu, der heute in der Frankfurter Rundschauerklärt hat – ich zitiere –:

Verantwortung übernehmen heißt aber auch: EinZiel zu definieren und es mit unterschiedlichen, ab-gestimmten Mitteln zu verfolgen.

Vernetzte Sicherheit aus zivilen und militärischen Mit-teln – das ist genau der Ansatz, den wir in der NATO mitErfolg propagiert haben, den wir aber auch in der Ein-satzrealität einlösen müssen.

Ich stelle mir allerdings schon Fragen, wenn ichgleichzeitig lese, was der PräsidentschaftskandidatBarack Obama am vergangenen Sonntag in der Welt amSonntag in einem Interview erklärt hat. Ich zitiere auchhier:

Meine generelle Haltung ist, dass wir al-Qaidaauslöschen, Bin Laden festnehmen und töten müs-sen, …

Wenige Sätze weiter führt er aus – ich zitiere wieder –:

Wir werden ihn töten oder festnehmen,

– gemeint ist Bin Laden –

ihn anklagen, zum Tode verurteilen.

Für den Fall, dass dieser Präsidentschaftskandidat dernächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerikawerden sollte, bitte ich Sie, Herr Bundesaußenminister,uns eine Erläuterung dieser Aussagen des möglicher-weise künftigen Präsidenten zu geben und uns zu erklä-ren,

(Zurufe von der SPD)

in welchem Umfang Sie eine deutsche Beteiligung amEinsatz in Afghanistan mit dieser Zielsetzung weiterhinfür möglich und überhaupt für zulässig erachten.

Meine Damen und Herren, das Ziel unseres Einsatzesist nicht Rache, sondern die Stabilisierung Afghanistansim Interesse der internationalen Sicherheit vor terroristi-schen Bedrohungen, im Interesse der Sicherheit Afgha-

nistans vor Aufständen und Terroranschlägen und nichtzuletzt auch im Interesse der eigenen Sicherheit. Wirwollen den Bedrohungen dort begegnen, wo sie entste-hen, und nicht warten, bis sie bei uns sind.

Ich stimme allen Vorrednern zu, die hier erklärt ha-ben, dass wir eigenständige staatliche Strukturen auf-bauen müssen. Wir tun das in Afghanistan und mit zu-nehmendem Einsatz auch in Pakistan. Gerade zu diesemZweck haben wir das zivile Engagement in Afghanistanund jetzt auch in Pakistan deutlich ausgeweitet. Ichglaube, das ist die beste Voraussetzung dafür, dass unsein Übergang von der militärischen Stabilisierung hin zuzivilem Wiederaufbau gelingen kann. Der Militäreinsatzist also kein Abenteuer, sondern notwendig, um die Vo-raussetzung dafür zu schaffen, dass der zivile Wieder-aufbau gelingen kann. Durch das OEF-Mandat soll si-chergestellt werden, dass das Einrichten von Rückzugs-und Aktionsräumen für Terroristen auf den Seewegen er-schwert wird und dass auch die für den Welthandel stra-tegisch wichtigen Seepassagen am Horn von Afrika ge-sichert werden.

Ich danke allen Soldatinnen und Soldaten, die sich andieser Aufgabe bisher mit Erfolg beteiligt haben. Wirwollen sie weiter darin unterstützen und mit der Zustim-mung für dieses OEF-Mandat die Voraussetzung dafürschaffen, dass die Bundeswehr weiterhin am Horn vonAfrika und im Mittelmeer erfolgreich im Einsatz seinkann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Paul Schäfer, Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es

hier darum geht, deutsche Soldatinnen und Soldaten insAusland zu schicken, dann brauchen wir eine größtmög-liche Klarheit und Wahrhaftigkeit. Das ist bei dem vor-liegenden OEF-Mandat aber nicht der Fall. Im Gegen-teil: Es handelt sich im Grunde genommen um zweiLügen. Die Unwahrheit Nummer eins ist, dass es beidem Einsatz am Horn von Afrika darum gehe – 2002wie auch heute –, Terroristen zu bekämpfen. Die Un-wahrheit Nummer zwei ist, dass die Bundesrepublik mitdem Verzicht darauf, die Spezialkräfte der Bundeswehr,KSK, unter dem OEF-Mandat einzusetzen, nichts mehrmit dem Antiterrorkrieg in Afghanistan zu tun habe.

Ich bleibe bei Afghanistan. Es ist klar und folgerich-tig, das KSK nicht mehr im Rahmen des OEF-Mandatseinzusetzen. Unter ISAF wird es aber schon noch einge-setzt. Der entscheidende Punkt ist aber der: Sie weichendem grundsätzlichen Streit über OEF und über die Wir-kung von OEF aus. Damit billigen Sie diesen Einsatz imGrundsatz.

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Paul Schäfer (Köln)

Hier hieß es, es sei doch alles halb so schlimm, OEFbedeute doch im Wesentlichen Ausbildung für die afgha-nische Armee. Das wird jetzt ISAF zugeschlagen. Wasverbleibt bei OEF? Die Frage, wozu OEF in Afghanistanüberhaupt nötig ist, müssen Sie hier beantworten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die Auskunft der NATO-Militärs ist eindeutig. Sie sa-gen, dass die bösen Buben – the bad guys – aus demSpiel genommen werden müssen. Dafür brauche maneben besondere Regeln, genauer gesagt, möglichst we-nig Regeln. OEF-Angehörige dürfen auch ohne begrün-deten Verdacht festnehmen. Sie müssen sich nicht unbe-dingt an Landesgrenzen halten, und sie können – auchdas ist hier schon gesagt worden – auf Verdacht töten.Das macht den Unterschied aus.

Der springende Punkt ist: Die alte Arbeitsteilungbleibt bestehen. Bei OEF geht es um den schmutzigerenTeil der Kriegsführung, aber dies ebenfalls im Zusam-menwirken mit ISAF. Auch das lesen wir weder imISAF-Mandat noch im OEF-Mandat. Es geht dabei nichtum die allgemeine Abstimmung zwischen ISAF undOEF, und es geht dabei auch nicht um die unmittelbareNothilfe. Es geht durchaus auch um gemeinsame Opera-tionen. Vielleicht fragen Sie die Bundesregierung in dennächsten Tagen einmal danach.

All das steht nicht in den Mandaten. Das nenne icheine Täuschung des Parlaments.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Was die Armada, liebe Kolleginnen und Kollegen,vor der somalischen Küste betrifft, so wissen wir aus denUnterrichtungen der Bundesregierung, dass keine Terro-risten gefangen genommen wurden. Stattdessen lesenwir dort, dass der Terrorismus seinen Aktionsraum vonAlgerien über den Maghreb bis in die Sahelzone ausge-weitet hat. Jemen ist weiter Aktions- und Rückzugsraumfür islamistische Terroristen. In Somalia galoppiert dieGewalt weiter.

Das ist eine ernüchternde Bilanz. Die Marinesoldaten,die am Horn von Afrika ihren Dienst tun, können amallerwenigsten etwas dafür. Es zeigt sich nur, dass derMilitäreinsatz das völlig falsche Mittel ist, um diese Pro-bleme in den Griff zu bekommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Der Aufwand dafür ist beträchtlich. Ich habe es nachge-rechnet: Allein der deutsche Kostenanteil am OEF-Ein-satz am Horn von Afrika beträgt von 2001 bis 2008 circa1 Milliarde Euro. Mit diesem Betrag hätte man eineMenge für die Stabilisierung der Region machen kön-nen. Das ist der entscheidende Punkt.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was ist denn die Alternative?)

Wenigstens in einem Punkt sind Sie ehrlicher gewor-den. Sie sagen jetzt, beim OEF-Einsatz am Horn von

Afrika gehe es auch darum, Handelsschiffe zu begleitenund Marineeinheiten verbündeter Nationen im Einsatz-gebiet zu eskortieren. Das erinnert mich fatal an die Es-kortierung der US-Truppen beim Aufmarsch in den Irak.An dieser Stelle und an diesem Tag sei es gesagt: Goodbye and see you again in Den Haag, Mr. Bush.

Sie sind zumindest in einem Punkt deutlicher: DerAuftrag der Marine in Dschibuti ist die umfassende Kon-trolle der Seewege im Interesse mächtiger Industriena-tionen. Aber im Mandat steht das so nicht.

Es kann auch nicht angehen, dass sich eine HandvollStaaten selbst den Auftrag gibt, Teile der Weltmeere sys-tematisch zu überwachen und zu kontrollieren. OEF istund bleibt in diesem Zusammenhang eine Amtsanma-ßung außerhalb des Völkerrechts. Deshalb sagt die Frak-tion Die Linke dazu entschieden Nein.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Hans-Peter Bartels hat das Wort für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor-

liegende Antrag der Bundesregierung stellt eine gewisseMandatsbereinigung dar. Das heißt, wir beschließendas, was tatsächlich geplant ist und stattfindet, und wirbeschließen unseren Beitrag jetzt exakt für die Region,in der dieser Beitrag tatsächlich gebraucht wird. Das istgut so. Denn wie beim Bundeshaushalt sollte auch beiden Bundeswehreinsätzen gelten: Wahrheit und Klarheit.Unser Prinzip der Parlamentsarmee bedeutet, dass derRegierung gerade keine Blankoschecks ausgestellt wer-den. Der Bundestag kann nur dann die Verantwortungfür den Einsatz militärischer Gewaltmittel übernehmen,wenn er weiß, was wann wo von wem zu tun ist.

Ich sage ausdrücklich: Das war in der Vergangenheitinsbesondere bei der Mission OEF nicht immer so. DerSachverhalt, dass KSK-Spezialkräfte unter OEF inAfghanistan eingesetzt wurden bzw. nicht eingesetztwurden, galt als geheim. Ob also Bundeswehrsoldaten indiesem Mandatsrahmen seit 2001 tatsächlich im Einsatzwaren, wurde gegenüber dem Parlament – auch gegen-über dem Verteidigungsausschuss – geheim gehalten.Erst einer wohl unbeabsichtigten Indiskretion des Vertei-digungsministers war zu entnehmen, dass seit 2005 un-sere Beteiligung an OEF in Afghanistan praktisch erlo-schen ist. In der Sache ist das absolut in Ordnung. Aberdie Geheimniskrämerei darum herum war nicht beson-ders parlamentsfreundlich.

Es darf nicht – dies sage ich ganz klar – zweierleiBundeswehren geben: eine normale und eine geheime.Wir müssen wissen, wofür wir als Abgeordnete die Ver-antwortung übernehmen, wenn wir hier in namentlicherAbstimmung Entsendebeschlüsse fassen.

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Dr. Hans-Peter Bartels

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie desAbg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Uns interessiert nicht das operative Detail oder dietaktische Planung, sondern die Frage, ob überhaupt deut-sche OEF-Soldaten ein Jahr lang im Einsatzgebiet einge-setzt werden. Diese Frage kann und darf vor dem Par-lament und vor der deutschen Öffentlichkeit nichtunbeantwortet bleiben. Wir haben dazu auch in demUntersuchungsausschuss – das wurde bereits angespro-chen –, zu dem sich der Verteidigungsausschuss in derSache Kurnaz erklärt hat, diskutiert und Verabredungengetroffen, die dieses Problem der, ich sage einmal: blin-den Flecken im Parlamentsvorbehalt hoffentlich ein fürallemal ausräumen.

Wir sind Außenminister Steinmeier und Verteidi-gungsminister Jung dankbar, dass sie nun die Konse-quenz aus der Schwerpunktverlagerung in Afghanistangezogen haben und zu OEF dort nichts mehr beitragen.ISAF ist inzwischen im ganzen Land präsent. UnserSchwerpunkt liegt auf ISAF, insbesondere auf dem Re-gionalkommando Nord. Die Doppelstruktur von NATOund US-geführter Antiterroroperation OEF ist historischgewachsen. Aber sie ist mehr und mehr ein Hindernis füreine einheitliche Sicherheitsstrategie der internationalenGemeinschaft in Afghanistan. Das wird mittlerweileauch auf amerikanischer Seite gesehen. Egal wie diePräsidentenwahl heute Nacht ausgeht, es wird Anstren-gungen zu mehr Kohärenz geben müssen. Auch der neueCENTCOM-Befehlshaber Petraeus hat sich schon indiese Richtung geäußert.

Meine Damen und Herren, die Fortsetzung unsererBeteiligung an der Seeraumüberwachung am Horn vonAfrika sollte unstrittig sein. Die deutsche Marine mit ih-ren Fregatten, Versorgern, Hubschraubern und Aufklä-rungsflugzeugen leistet hier einen kontinuierlichen, gu-ten, hoch anerkannten Beitrag fern der Heimat. Wärendie Verbündeten nicht da, wären die Verbindungswegeder Terroristen schnell wiederhergestellt. Deshalb sindwir da.

Daneben wird wohl noch in diesem Jahr eine ESVP-Mission zur Pirateriebekämpfung vor der somalischenKüste starten. Daran sollten wir uns ebenfalls beteiligen.Die Zahl der Piraterieattacken hat in den vergangenenMonaten dramatisch zugenommen. Das Schifffahrtsbüroder Internationalen Handelskammern in Kuala Lumpurteilt mit, dass es seit Anfang dieses Jahres 200 Piraterie-fälle weltweit gegeben hat, davon ein Drittel im Seeraumvor Somalia. Über 500 Seeleute sind dort als Geiseln ge-nommen worden. Auch Schiffe deutscher Reedereiensind immer wieder betroffen. Dagegen müssen wir unszur Wehr setzen. Das sollten wir wirksam unterbindenkönnen. Dies mit einem eigenen Bundestagsbeschluss zutun, entspricht den Grundsätzen von Mandatswahrheitund Mandatsklarheit.

(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Das steht doch gar nicht drin!)

Gut, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken, die esbei den Mehrheitsfraktionen dieses Hauses wohl gab,

mittlerweile ausgeräumt sind! Wir sind uns in der Koali-tion einig, wenn ich das richtig sehe.

Ob man auf Dauer immer eine deutsche Doppelprä-senz am Horn von Afrika braucht – eine Fregatte fürOEF und eine Fregatte für die Antipiraterie –, wird dieZukunft zeigen. Man könnte sich auch vorstellen, dassbeide Mandate je nach Bedarf auf die gleichen Mittel zu-rückgreifen. Ein Schiff kann ja in Sekundenschnelle ei-nem anderen Kommando unterstellt werden. Das wäreeine Frage pragmatischen Ressourcenmanagements,dem der Bundestag gewiss nicht im Wege stehen würde,wenn die Beschlüsse klar sind und kontinuierlich infor-miert wird.

Ich empfehle das von der Regierung bereinigte OEF-Mandat der Zustimmung des ganzen Hauses.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht der Kollege Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (fraktionslos): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Eigentlich könnte ich heute meine Rede vom vorigenJahr zum gleichen Anlass halten;

(Ulrike Merten [SPD]: Zu Protokoll! –Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Siestehlen uns die Zeit! Das ist das Wertvollste,was es gibt!)

denn faktisch hat sich nichts geändert, außer dass nunauch offiziell auf den KSK-Einsatz in Afghanistan ver-zichtet wird. Aber sonst? Wie ein Mantra wiederholendie Juristen der Bundesregierung seit sieben Jahren einefalsche Behauptung, die Behauptung, dass die Resolutio-nen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen 1368 und1373 die Bundesregierung und die NATO angeblich er-mächtigten, bei der Bekämpfung des Terrorismus militä-rische Gewalt anzuwenden. Das wird auch durch nochso viele Wiederholungen nicht wahrer. Mit einer solchenBegründung würden die Hausjuristen der Bundesregie-rung mit Pauken und Trompeten durch jede Staatsprü-fung fallen.

Sie berufen sich immer wieder darauf, dass in denPräambeln der beiden Resolutionen das Recht aufSelbstverteidigung bekräftigt wird. An dieser Stelle derResolutionen des UNO-Sicherheitsrates hat das dieselbeRelevanz für das Handeln der UNO-Mitglieder, als wenndort die Formulierung stünde, dass das schöne Wetterbegrüßt werden würde. Entscheidend ist einzig und al-lein, was der Sicherheitsrat in den Beschlussteilen an-ordnet, und das ist eindeutig und glasklar. Um ein Zitatvon Herrn Fischer aus dem Jahre 1994 abzuwandeln: Ichwundere mich nicht zum ersten Mal, wie sich die Mehr-heit hier im Parlament seit Jahren an der Nase des Rech-tes auf militärische Selbstverteidigung in den globalenKrieg gegen den Terrorismus hineinführen lässt.

Nicht ein einziges Wort ist dort zu finden, das sichauch nur im Entferntesten als Militäreinsatz interpretie-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19767

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Gert Winkelmeier

ren ließe. Dort steht vielmehr die Aufforderung zur Zu-sammenarbeit, um Verantwortliche und Hintermännerder Terroranschläge vom 11. September 2001 vor Ge-richt zu bringen und den Terrorismus mit politischen,polizeilichen, gesetzgeberischen, rechtlichen und wirt-schaftlichen Mitteln auszutrocknen.

Auch die Ausrufung des NATO-Bündnisfalles vom4. Oktober 2001 führt die Bundesregierung wieder alsRechtsgrundlage für den OEF-Einsatz an. Das warnichts anderes als eine Selbstermächtigung zum Krieg-führen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Sicherheitsratbereits die zivilen Maßnahmen zur Bekämpfung des Ter-rorismus beschlossen. Damit war das Recht auf militäri-sche Selbstverteidigung nach Art. 51 der Charta derUNO für den vorliegenden Fall ein für alle Mal beendet.Denn es gilt nur – Zitat – „bis der Sicherheitsrat … dieerforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Dies hatte ermit den Resolutionen 1368 und 1373 getan. Ich stelle so-mit fest, dass sich Bundesregierung und Parlaments-mehrheit nicht an Recht, Grundgesetz und Völkerrechthalten wollen.

Das war vor der sogenannten Normalisierung und derEnttabuisierung des Militärischen in unserem Land ein-mal anders. Da galt noch – Zitat –:

Wir Deutschen haben angesichts unserer Ge-schichte im 20. Jahrhundert gute Gründe, mit eige-ner Beteiligung an militärischen Interventionen zu-rückhaltend zu sein.

Das Zitat ist von Helmut Schmidt und in der aktuellenAusgabe der Zeit nachzulesen.

Wer mitten im Glashaus sitzt, der sollte übrigens nichtmit Steinen werfen. Mit welcher moralischen Autoritätwill der Finanzminister eigentlich die Schweiz in dieNähe von Schurkenstaaten rücken, indem er das Landauf die schwarze Liste der OECD setzen lassen will?Das ist kein Witz. Diese Äußerung ist gemacht worden.Etwa mit der moralischen Autorität der Bundesregie-rung, die den usbekischen Geheimdienstchef in Deutsch-land nach dem Motto empfängt „aber er ist unserSchweinehund“, Herrn Inojatow, der die IslamischeDschihad-Union erfunden hat, damit der Bundesregie-rung die Begründungen für den Krieg gegen den Terro-rismus nicht abhanden kommen und Herrn Schäublenicht die Gründe zur Verschärfung der Sicherheitsge-setze und der Vermengung von innerer und äußerer Si-cherheit?

Ich rate Ihnen: Verstecken Sie Ihre machtpolitischenAmbitionen nicht länger hinter der fadenscheinigen Be-gründung, es gehe bei OEF um Terrorismus; denn dazumüssen Sie ständig das Recht beugen. Das wird Ihneneines Tages bitter aufstoßen – garantiert.

Der Einsatz der Marine am Horn von Afrika zeigtdoch exemplarisch auf, dass es um alles andere als umTerrorbekämpfung geht. Seit Jahren ist Ihnen nicht eineinziger Fang gelungen. Das ist auch verständlich beider Jagd nach Phantomen. Geben Sie einfach zu, dass esIhnen um die Sicherung einer der wichtigsten Seestraßender Welt geht und um nichts anderes. Dann könnten wirhier im Bundestag endlich eine Debatte führen, die

schon seit Jahren überfällig ist und auf die unsere Bevöl-kerung einen Anspruch hat: Welche Rolle soll und darfdie Parlamentsarmee Bundeswehr im Rahmen einer anRecht und Verfassung ausgerichteten Außen- und Si-cherheitspolitik spielen?

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Henning Otte für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Henning Otte (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Erteilung eines Mandates für einen Aus-landseinsatz gehört für das Parlament des DeutschenBundestages nicht zum Alltagsgeschäft, sondern zu denschwersten Entscheidungen. Es ist eine äußerst verant-wortungsvolle Entscheidung, deutsche Soldaten in denEinsatz zu entsenden, um gemeinsam auf Basis der ein-schlägigen Rechtsgrundlagen mit multinationalen Kräf-ten für die Schaffung und Wahrung des Friedens zu agie-ren. Dieser Einsatz ist weiter notwendig, um derasymmetrischen terroristischen Bedrohungslage entge-genzuwirken und mit der Bekämpfung des Terrorismusdie Sicherheit in Deutschland zu erhöhen. Daher wirddie CDU/CSU-Fraktion der OEF-Mandatsverlänge-rung zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das zu beschließende Mandat umfasst eine Reduzierungder Einsatzstärke von 1 400 auf 800 Soldaten. Das zeigt,dass wir lageorientiert handeln und das maximale Kon-tingent entsenden.

Eine Reduzierung im OEF-Mandat und eine kürzlichbeschlossene Erhöhung des ISAF-Mandates auf4 500 Soldaten machen deutlich, dass wir auf dem richti-gen Weg sind. Deutschland verzichtet auf einen OEF/KSK-Einsatz in Afghanistan und verstärkt gleichzeitig,wie beschlossen, unter dem ISAF-Mandat die Anstren-gungen zum zivilen Aufbau Afghanistans. Parallel wer-den über OEF am Horn von Afrika und über ActiveEndeavour im Mittelmeer der Zugang zu Rückzugs- undAktionsräumen und die Nutzung potenzieller Verbin-dungswege zu terroristischen Gruppen verhindert sowieder Schutz wichtiger Seepassagen für den freien Welt-handel gewährleistet. Den Terrorismus weltweit zu be-kämpfen, den zivilen Aufbau in Afghanistan zu unter-stützen, die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen, das istunsere Aufgabe. Dieser Aufgabe stellen wir uns, zumWohle und zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Antiterrorkampf muss konsequent weitergeführtwerden. Die Gefahr muss weiterhin dort bekämpft wer-den, wo sie entsteht. Ich danke an dieser Stelle unserenSoldatinnen und Soldaten sowie allen zivilen Kräften,die ihren Beitrag dazu leisten. Herzlichen Dank dafür!

Page 18: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Henning Otte

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Damen und Herren, gestern ist von Wilhelms-haven aus die Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“ inRichtung Horn von Afrika ausgelaufen, um demnächstals Führungsschiff der OEF die Spitze der US-geführteninternationalen Überwachungsflotte zu stellen. Dies istauch ein sichtbares Zeichen der transatlantischen Koope-ration mit unseren verbündeten amerikanischen Freunden.Am heutigen Wahltag wünsche ich allen US-Bürgerinnenund -Bürgern eine gute Wahl. Wir freuen uns – unabhän-gig vom Ausgang der Wahl – auf eine gute, auf einenoch bessere Zusammenarbeit.

Aber es ist auch wichtig, dass wir in Europa unsere ei-genen Strukturen verbessern. Ich begrüße daher sehr dieAnkündigung unseres Bundesministers der Verteidi-gung, eine Beteiligung der deutschen Marine am ESVP-Mandat zur Bekämpfung der Piraterie zu überprüfen.Die derzeitige Lage ist aus meiner Sicht zu verbessern.Im Augenblick eines Überfalls gelten die allgemeinenGrundsätze des Notwehr- und Nothilferechts. Zu diesemZeitpunkt könnten unsere Soldatinnen und Soldatennoch eingreifen. Sobald der Überfall nicht mehr gegen-wärtig ist, wenn zum Beispiel die Piraten mit dem geka-perten Schiff abziehen, ist eine Verfolgung durch deut-sche Marineeinheiten aus rechtlichen Gründen nichtmehr möglich. Ich glaube, wir sind uns weitestgehendeinig, dass hier reagiert werden muss. Wir müssen übereine Anpassung des Grundgesetzes nachdenken, die esunserer Marine ermöglicht, mit eigenen Kräften gegenPiraten vorzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Unseren Soldatinnen und Soldaten ist genauso wie al-len Bundesbediensteten im Auslandseinsatz ein ange-messener Rechtsschutz zu gewährleisten. Bei meinemletzten Besuch in Afghanistan ist hier konkret Rege-lungsbedarf aufgetreten. Werden Soldaten wegen einerdienstlichen Tätigkeit im Ausland einer Straftat gegendas Leben oder die körperliche Unversehrtheit beschul-digt, trägt der Dienstherr nunmehr alle Kosten derRechtsverteidigung, sofern abschließend kein vorsätzli-ches Vergehen festgestellt wird. Die jetzige Regelungschafft Rechtssicherheit und ist ein wesentlicher Beitragzum Rechtsfrieden unter den Soldaten. Auch hier dankeich unserem Verteidigungsminister dafür, dass er dieseRechtsschutzlücke so schnell geschlossen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Neben der erfolgten Verbesserung des Rechtsschutzeshalte ich es für notwendig, auch bei den seit 1995 unver-änderten Auslandsverwendungszuschlägen eine Ver-besserung zu erzielen. Die Auslandseinsätze unsererSoldaten erfolgen nicht allein wegen eines Auslandsver-wendungszuschlages, sondern aus Überzeugung im Ein-satz für unsere Bundesrepublik. Die finanzielle Aner-kennung dieser auch lebensgefährlichen Einsätze darfaber nicht unterschätzt werden. Sie muss deshalb nicht

nur der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch derGefahrenlage angepasst werden.

Ich habe daher gefordert, dass die Zahlungen, orien-tiert am Gefährdungsgrad, angepasst werden. Ich freuemich, dass das Verteidigungsministerium hierzu einenVorschlag unterbreitet hat. Konkret geht es in Anbetrachtder gestiegenen Gefahr für Leib und Leben der Soldatin-nen und Soldaten zum Beispiel in der höchsten Gefahren-stufe um eine Anhebung von derzeit 92,03 Euro auf110 Euro. Es wäre ein richtiges Signal, wenn das Finanz-ministerium diese notwendige und angemessene Erhö-hung in der aktuellen Haushaltsplanung berücksichtigenwürde.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, am 24. Ok-tober fand in Zweibrücken die Trauerfeier für zwei ge-fallene Soldaten statt. Die Teilnahme an der Feier hatmir einmal mehr verdeutlicht, welche Gefahren und Ri-siken die Auslandsmandate beinhalten und wie wichtiges ist, den Sinn dieser Einsätze zu verdeutlichen. UnsereAnteilnahme gilt den Hinterbliebenen.

Ich bin mir sicher, dass wir alles unternehmen, um fürunsere Soldaten im Einsatz den größtmöglichen Schutzzu gewährleisten. Eine absolute Sicherheit jedoch kanngerade in einer asymmetrischen Bedrohungslage nie-mand garantieren. Für uns ergibt sich daraus die Ver-pflichtung, unseren Kräften die größtmögliche Unter-stützung zu bieten und klar zum Ausdruck zu bringen,dass der Deutsche Bundestag hinter der verdienstvollenArbeit unserer Soldaten sowie der zivilen Kräfte steht.

Dass die Fraktion Die Linke oder der fraktionsloseVorredner durch populistische Reden diese schwierigeAufgabe für sich instrumentalisieren möchte, ist verant-wortungslos. Die CDU/CSU-Fraktion steht zu ihrer Ver-antwortung für eine friedliche Weltordnung und zu dendaraus resultierenden Verpflichtungen. Wir werden derFortsetzung der deutschen Beteiligung an OEF daher zu-stimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache.

Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, die Vor-lage auf Drucksache 16/10720 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Damitsind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 bauf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN

Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken,jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern

– Drucksache 16/10775 (neu) –

Page 19: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19769

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE

Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken,jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern

– Drucksache 16/10776 –

Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für dieAussprache hier eine Stunde vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Frak-tion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das fängt schon mal gut an!)

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Mit dem Datum des 9. November 1938verbinden wir in besonderer Weise das Gedenken an denbestialischen Versuch der Nazis, jüdisches Leben inDeutschland durch Gewalt und millionenfachen Mord zubeseitigen. Mit diesem einmalig frevelhaften Verbrechenhat sich Deutschland selbst einer seiner wesentlichenkulturellen Wurzeln beraubt; schließlich sind die jüdi-sche Religion und die jüdische Kultur ein fester Bestand-teil der deutschen Geschichte und der deutschen Gesell-schaft.

Nach alldem grenzt es an ein Wunder, dass nach Jahr-zehnten jüdisches Leben in Deutschland wieder gedeihtund dass sich Juden in diesem Land wieder beheimatetfühlen. Mitten in unseren Städten haben sie wieder ihrenangestammten Platz erhalten. Gerade in einer Stadt wieMünchen, aus der ich komme, ist es ganz wichtig, dassin Rufweite des Alten Rathaussaales, nämlich am Ja-kobsplatz, die neue jüdische Synagoge errichtet wordenist. Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit der Präsi-dentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Frau CharlotteKnobloch, dieses Tages gedenken – am 9. November,am kommenden Sonntag, abends, in München.

Doch leider, meine verehrten Kolleginnen und Kolle-gen, ist Antisemitismus kein abgeschlossenes Kapitelder deutschen Geschichte. Selbst in Deutschland hältsich bei vielen Menschen nach wie vor die fatale Bereit-schaft, Verschwörungstheorien und Negativbilder zupflegen. Noch heute werden in bestimmten Kreisen mit– in Anführungsstrichen – „den Juden“ Misstrauen undVorbehalte verbunden. Das Bild der viel zu mächtigenGruppe der Juden, wie man dort sagt, dieser Mythos hältsich zählebig, und zwar leider in allen Teilen der Gesell-schaft.

Was mit dummen Vorurteilen und unreflektierten Kli-scheebildern beginnt, endet leider nicht selten in üblenantisemitischen Drohbriefen und Hetzreden. Es ist be-dauerlich, dass auch heute noch in Deutschland sämtli-che jüdische Einrichtungen von der Polizei bewachtwerden müssen. Nach Auskunft der Bundesregierungbeläuft sich die Zahl der antisemitischen Straftaten indiesem Jahr auf circa 800.

Da das Gift des Antisemitismus quer durch alle ge-sellschaftlichen Kreise wirksam werden kann, sind allePolitiker aufgerufen, in besonderer Weise und besonderssorgfältig mit diesem Thema umzugehen.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Alle!)

Wir dürfen uns antisemitische Reflexe in unseren Redenin keiner Form zunutze machen. Wir müssen uns eindeu-tig erklären: für die Aufarbeitung latent vorhandener an-tisemitischer Stimmung, für die Pflege jüdischer akade-mischer, kultureller und gesellschaftlicher Institutionen,für eine angemessene Erinnerungskultur und ernsthafteAnstrengungen zur Werte- und Wissensvermittlung.

Dem dient unser Antrag, den wir seit Monaten frak-tionsübergreifend gemeinsam erarbeitet haben.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, gemeinsam!)

In der Tat handelt es sich hier um ein überparteilichesAnliegen. Das ist nicht Sache einer Fraktion; dieses An-liegen sollten wir möglichst alle verfolgen.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Alle!)

Es geht hier auch nicht um parteipolitische Prinzipienrei-terei. Genau das aber ist uns in den letzten Tagen vorge-worfen worden.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Mit Recht leider!)

Die Frage ist, warum die CDU/CSU diesen Antrag ge-meinsam mit der FDP, den Grünen und der SPD, abernicht gemeinsam mit den Linken formuliert.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jetzt haben wir zweimal densel-ben Text!)

Deshalb möchte ich einiges klarstellen; das ist mir wich-tig an dieser Stelle.

Es ist unbestritten, dass ein verkappter Antisemitis-mus geradezu zur Staatsräson der DDR gehört hat.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber die DDR sitzt nicht im Bundes-tag!)

Dieses Thema muss 18 Jahre nach dem Zusammenbruchder DDR nicht im Mittelpunkt der heutigen Diskussionstehen;

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)

es muss an anderer Stelle aufgearbeitet werden. Es gibtAntisemitismus in allen politischen Lagern, von rechtsbis links;

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

das ist meine Kernaussage. Die Linke – nicht alle Lin-ken, Herr Gysi, aber Teile – spielt allerdings bisweilenauf der Schalmei einer überzogenen Israel-Kritik. Da-rauf wird einzugehen sein.

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19770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Dr. Hans-Peter Uhl

Es ist inakzeptabel, wenn Bundestagsabgeordnete derLinken – Jelpke, Dağdelen, Hirsch – im Juli 2006 inBerlin zusammen mit radikalislamischen Hisbollah-An-hängern gegen Israel demonstrieren. Wir wissen, dassHisbollah-Anhänger das Volk der Juden, soweit sie sichin Israel aufhalten, ins Meer treiben wollen. Wer mit die-sen Menschen gemeinsam durch die Straßen zieht, kannkein Partner im Kampf gegen Antisemitismus sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In diese Reihe gehört auch die Behauptung, Israel be-treibe einen Vernichtungskrieg. Presseberichten zufolgesagte der Bundestagsabgeordnete Gehrcke im April die-ses Jahres unter Applaus seiner Anhänger, dem Bild deskleinen jüdischen Jungen im Warschauer Getto – wirkennen alle das Bild – entspreche heute das Bild von pa-lästinensischen Jungen vor anderen Gewehrläufen. Wersolche Bilder zusammenstellt und in solcher Weise anti-semitische Kreise in ihren Vorurteilen bedienen will, derspielt mit dem Feuer. Das ist nicht unsere Art des Um-gangs mit dem Thema.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will Israel-Kritik nicht per se verbieten. JederMensch hat das Recht, das tagespolitische Handeln derisraelischen Regierung zu kritisieren. Aber es gibt eineIsrael-Kritik, die etwas anderes bezwecken will. Wirwollen keine Kritik, die in verhängnisvoller Weise an an-tiisraelische Klischees anknüpft.

So hat der Abgeordnete Paech von den Linken in ei-nem Reisebericht aus Palästina Investitionshilfen derEuropäischen Union für das Westjordanland in folgenderWeise diffamiert:

Sie

– also diese Hilfen –

dienten vor allem israelischem und internationalemKapital als Investitionsmöglichkeit zur Beschäfti-gung billiger palästinensischer Arbeitskräfte.

Das ist nicht die Israel-Kritik, die wir zulassen dürfen.

(Lachen bei der LINKEN)

Ich möchte mich mit der Linken aus folgendemGrund nicht weiter beschäftigen. Herr Gysi, ich habesehr aufmerksam Ihre Grundsatzrede vom April diesesJahres gelesen, die Sie vor der Rosa-Luxemburg-Stif-tung gehalten haben.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Uhl, Sie machen alles kaputt!)

Sie haben mit Ihrer Feststellung recht, die Sie anlässlichdes 60. Jahrestages der Gründung Israels und des75. Jahrestages der Machtübernahme durch die Natio-nalsozialisten getroffen haben:

Schon diese beiden Daten weisen auf die besonde-ren Beziehungen Deutschlands und somit auch aufdie besondere Haltung der deutschen Linken zumStaat Israel hin.

Sie sprachen auch davon, dass die Linke die Haltung zuIsrael überdenken muss, und weiter sagten Sie:

… denn die Haltung der Linken zu Israel ist keines-wegs so eindeutig … Es besteht also durchaus Klä-rungsbedarf in der Linken, …

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie machen das ganze Anliegen ka-putt!)

Sie haben recht, diese Haltung ist keineswegs eindeutig.Sie müssen das klären.

Wenn Sie die Position der Linken zum Staate Israel,also zu dem Staat, in dem die Juden leben, ehrlich undaufrichtig geklärt haben, könnten Sie ein Partner für ei-nen solchen Antrag sein. Solange Sie dies nicht getanhaben, können Sie nicht unser Partner sein.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Koczy[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! –Zuruf von der LINKEN: Thema verfehlt!)

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowieder Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir müssen den 9. November, den Schicksalstag der Ju-den in Deutschland, in einer würdigen, ehrlichen und an-ständigen Form begehen, indem wir den Juden verspre-chen: Antisemitismus wird es in diesem Land nicht mehrgeben. Die politische Klasse, egal welcher Coleur, willmit dieser Ideologie nichts zu tun haben.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das haben Sie doch verhindert!)

Wir werden auf keinen Fall antisemitische Klischees be-dienen, um auf diese Weise den einen oder anderenWähler zu uns herüberzuziehen. Mit solchen Wählernwollen wir nichts zu tun haben. Hier halten wir alle zu-sammen. Es darf in Deutschland nie mehr dieses Gedan-kengut geben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Christian Ahrendt hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.

Christian Ahrendt (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Der 9. November 1938 jährt sich in weni-gen Tagen zum 70. Mal. Es war eine der schrecklichstenNächte, die Deutschland erlebt hat. Jüdische Geschäftewurden zerstört, Friedhöfe geschändet und Synagogenangezündet. In dieser Nacht verloren 400 jüdische Mit-bürger ihr Leben.

Sich im Bewusstsein unserer Geschichte mit einemneuen Antisemitismus in Deutschland auseinanderzuset-zen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben dieses Hauses.Ich glaube, es ist unbestritten, dass alle Mitglieder diesesHauses eine Überzeugung eint – das kann ich zumindestfür meine Fraktion sagen –: Antisemitismus, egal wel-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19771

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Christian Ahrendt

cher Ausprägung, darf in Deutschland keine Chancemehr haben.

(Beifall im ganzen Hause)

Dennoch ist vor dem Hintergrund des Themas, mitdem wir uns hier befassen, die Diskussion über einen ge-meinsamen Antrag, die wir in den letzten Tagen erlebthaben, eher ein kleinliches Parteiengezänk. An dieserStelle darf ich Ihnen, Herr Dr. Uhl, sagen, dass Sie sichdiesem Thema insofern etwas kleinmütig genähert ha-ben, als Sie sich an dieser Stelle nur mit der Linken aus-einandergesetzt haben.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKENund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiedes Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Der interfraktionelle Antrag, den wir heute beraten,hat eine doppelte Natur. Er erinnert an die Ereignisse vor70 Jahren, und hieran anknüpfend wird in dem Antrag be-schrieben, dass Antisemitismus trotz vielfältiger Fort-schritte noch immer ein ernstzunehmendes gesellschaft-liches Problem in Deutschland ist. Wir begegnenAntisemitismus bei Sportveranstaltungen. Jüdische Ein-richtungen in Deutschland müssen besonders gesichertwerden. Oftmals ist Polizeischutz vonnöten. Im Jahr2007 wurden laut Verfassungsschutzbericht 1 541 Straf-taten registriert, die antisemitisch motiviert waren.1 541 Straftaten sind 1 541 Einzelschicksale.

Eines möchte ich Ihnen kurz schildern: Eine Klein-stadt in Deutschland, 3 000 Einwohner, Tatort ist einGymnasium. Die Täter sind drei Jugendliche im Altervon 15 und 16 Jahren. Das Opfer ist ebenso alt. Die Tatbesteht darin, dass man dem Mitschüler ein Schild um-hängt. Das, was auf dem Schild geschrieben steht, ist2006 geschrieben worden. Der Satz, der auf dem Schildzu lesen ist, stammt aus der Zeit vor 70 Jahren. Auf demSchild steht – ich zitiere diesen Satz –:

Ich bin im Ort das größte Schwein, ich lass michnur mit Juden ein.

Deutschland 2006. Diese Entwicklung ist bedrohlichund muss uns zutiefst ängstigen.

(Beifall im ganzen Hause)

Erschreckend ist aber auch, dass die antisemitischeEinstellung nicht nur bei den Ewiggestrigen vorkommtund nicht nur bei extremistischen Parteien anzutreffenist, sondern dass sie auch einen Resonanzboden in derMitte der Gesellschaft hat. Wir müssen uns in diesemZusammenhang die Frage stellen: Was müssen wir heuteunter Antisemitismus verstehen? Das Spektrum vonAntworten, die hier gegeben werden, ist recht vielfältig.Eine Erklärung gibt Professor Werner Bergmann vomZentrum für Antisemitismusforschung der TechnischenUniversität Berlin – ich zitiere –:

Es handelt sich beim Antisemitismus … nicht bloßum Xenophobie oder um ein religiöses und sozialesVorurteil, das es gegenüber Juden auch gibt, son-dern um ein spezifisches Phänomen: eine antimo-derne Weltanschauung, die in der Existenz der Ju-den die Ursache sozialer, politischer, religiöser und

kultureller Probleme sieht. Entsprechend wurdenund werden bestimmte moderne politische Strö-mungen und Ordnungen … oder wirtschaftlicheEntwicklungen … als Erfindungen jüdischen Geis-tes betrachtet, die den anderen Nationen als etwasFremdes aufgezwungen werden.

Wenn man sich diesen Erklärungsversuch vergegen-wärtigt und ihn mit der gesellschaftlichen Wirklichkeitverknüpft, wird eines deutlich: Wir können Antisemitis-mus nicht allein mit einer Ausrichtung an zwölf Jahrenschrecklicher deutscher Geschichte bekämpfen. Wirbrauchen neue und vor allen Dingen moderne Bildungs-konzepte, um uns mit dem Vorurteil, dass Antisemitis-mus zeitlich nur auf die Jahre von 1933 bis 1945 fixiertwerden kann, auseinanderzusetzen.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ist es!)

Wir dürfen uns auch nicht dem Irrglauben hingeben,dass die Mahnung an unsere jüngere Geschichte bereitsgenug ist, um Antisemitismus erfolgreich zu bekämpfen.Wer so argumentiert und es beim ausschließlich histori-schen Bildungsansatz bewenden lassen möchte, machtes sich am Ende zu einfach.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Christian Ahrendt (FDP): Ich bemühe mich, mich kurzzufassen.

Für ein Urteil gilt, dass es widerlegt werden kann. FürVorurteile gilt das nicht; sie können nicht widerlegt wer-den. Im Sinne des eben vorgetragenen Zitates ist Antise-mitismus ein Vorurteil. Deswegen ist der Kampf gegenAntisemitismus keine befristete Aufgabe, sondern einedauernde Aufgabe. Lassen Sie uns gemeinsam in diesenKampf gehen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Gabriele Fograscher hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.

Gabriele Fograscher (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich bedauere – das sage ich für die SPD-Bundes-tagsfraktion –, dass es trotz vielfältiger Bemühungen, diebis zum Schluss angehalten haben, nicht gelungen ist,hier einen gemeinsamen Antrag aller fünf Fraktionen zu-stande zu bringen.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit den Äußerungen einiger Unionspolitiker in der öf-fentlichen Diskussion, die einzig zum Ziel hatten, die

Page 22: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Gabriele Fograscher

Linke mit fragwürdigen, historisch falschen Argumentenauszugrenzen – Herr Uhl, Sie haben das hier wiederholt –,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

haben sie selbst ein unwürdiges Zeichen gesetzt. Dasmüssen Sie auch verantworten.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu Ihrer Erinnerung: Bei dem Antrag „ExistenzrechtIsraels ist deutsche Verpflichtung“ sind Sie über IhrenSchatten gesprungen und haben die Linksfraktion alsMitantragsteller akzeptiert. Ich zitiere in diesem Zusam-menhang Salomon Korn, den Vizepräsidenten des Zen-tralrats der Juden in Deutschland:

Es wäre wichtig gewesen, an diesem besonderenDatum auch den Zeitzeugen gegenüber ein Zeichender Solidarität zu setzen.

Es hätte Ihnen gut angestanden, diese Gelegenheitheute hier zu nutzen.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In wenigen Tagen jährt sich eines der schlimmstenKapitel der deutschen Geschichte zum 70. Mal: dieReichspogromnacht vom 9. auf den 10. November1938. In jener Nacht im November brannten jüdischeSynagogen in ganz Deutschland. Angehörige der SAund der SS zertrümmerten die Schaufenster jüdischerGeschäfte, demolierten die Wohnungen jüdischer Bürge-rinnen und Bürger und misshandelten ihre Bewohner.Mehr als 1 300 Menschen starben in jener Nacht. Mehrals 1 400 Synagogen und Gebetshäuser gingen inDeutschland und Österreich in Flammen auf, wurden be-schädigt oder ganz zerstört. Mehr als 30 000 männlicheJuden wurden in Konzentrationslager verschleppt. DieReichskristallnacht war der Höhepunkt eines staatlichenAntisemitismus, der mit der Machtübernahme der Natio-nalsozialisten 1933 begonnen hatte.

Große Teile der Bevölkerung zeigten keinen zivilenWiderstand gegen die Verbrechen. Im Gegenteil: AuchNichtangehörige von SA und SS beteiligten sich aktiv anden Zerstörungen und Brandschatzungen oder sie sahenweg. Wenige – zu wenige – leisteten Widerstand, ver-steckten und schützten jüdische Mitbürgerinnen undMitbürger und riskierten damit ihr eigenes Leben.

In den folgenden Jahren kam es zu weiteren Ent-rechtungen, Enteignungen, Zwangsarisierungen. Judenwurden zur Auswanderung gezwungen. Es begann diesystematische Ermordung der Juden in den Konzentra-tionslagern. Diese Geschehnisse im Herbst 1938 warender Auftakt; jegliches Zeugnis jüdischen Lebens inDeutschland sollte vernichtet werden.

Doch heute, 70 Jahre nach der Reichspogromnacht,gibt es zum Glück wieder jüdisches Leben in Deutsch-land. Seit 43 Jahren unterhält Deutschland freundschaft-liche und diplomatische Beziehungen mit dem StaatIsrael. Diese Geste Israels, 20 Jahre nach dem Holocaust

auf Deutschland zuzugehen, ist beispiellos. Dafür sindwir dankbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und diedeutsche Sozialdemokratie begrüßen die kulturelle Be-reicherung durch das jüdische Leben in Deutschland.Wir wollen und müssen Lehren aus der Geschichte zie-hen. Antisemitismus ist auch heute noch ein ernstzuneh-mendes Problem in Deutschland. Noch heute müssensämtliche jüdische Einrichtungen in Deutschland beson-ders gesichert werden. Im Jahr 2007 wurden 1 541 anti-semitische Straftaten registriert, darunter 59 Gewaltta-ten, die sich gegen Jüdinnen und Juden gerichtet haben.

Antisemitismus ist Bestandteil der rechtsextremenIdeologie. Nicht nur die Wahlerfolge rechtsextremer Par-teien und die seit Jahren hohe Zahl rechtsextremistischmotivierter Straftaten, sondern auch die durch Studienbelegte rechtsextremistische Einstellung in allen Schich-ten der Bevölkerung erfordern unser entschiedenes Han-deln. Die große Mehrheit der Deutschen lehnt Antisemi-tismus entschieden ab. Aber es gibt eben auch einenennenswerte konstante Minderheit, die antisemitischdenkt. 8,4 Prozent haben – so die in diesem Jahr von derFriedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte Studie „EinBlick in die Mitte“ – Vorurteile gegen Mitbürgerinnenund Mitbürger jüdischen Glaubens.

Politik allein kann das Problem des Antisemitismusund des Antizionismus nicht lösen. Politik kann und mussaber Impulse geben, um die Zivilgesellschaft zu stärkenund alle demokratischen Akteure und Kräfte zu unterstüt-zen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung deshalb auf, ein Expertengremium einzusetzen, dasin regelmäßigen Abständen einen Antisemitismusberichtfür Deutschland erstellen und Empfehlungen zur Ent-wicklung und Weiterentwicklung von Programmen gegenRechtsextremismus und Antisemitismus geben soll.

Neben der Förderung des weiteren Aufbaus und derPflege jüdischer akademischer, kultureller und gesell-schaftlicher Institutionen möchten wir dafür werben,dass jüdisches Leben und die jüdische Geschichte in dieLehrpläne an Schulen aufgenommen und unsere demo-kratischen Werte, die Menschenrechte sowie die reli-giöse und kulturelle Vielfalt aktiv im Unterricht vermit-telt werden. Nur so können wir es erreichen, dass unsereKinder und Jugendlichen tolerante, selbstbewusste undvorurteilsfreie Erwachsene werden, die diese Werte le-ben und an die folgenden Generationen weitergeben.

Die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismusbeinhalten und fördern auch Projekte und Initiativen ge-gen Antisemitismus. Viele dieser Projekte arbeiten sehrerfolgreich, können aufgrund des Modellcharakters abernicht langfristig fortgesetzt werden und somit nichtnachhaltig wirken. Das vorwiegende Anliegen von unsSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist, Lösun-gen zu finden, diese erfolgreichen Projekte nicht nurzeitlich befristet zu fördern, sondern nachhaltig finan-ziell abzusichern.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19773

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Gabriele Fograscher

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP und der LINKEN unddes Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ich möchte schließen mit einem Zitat aus einer Rede,die Johannes Rau im Jahr 2000 vor der Knesset gehaltenhat:

Deutschland will ein offenes, liberales und gast-freundliches Land sein, in dem Menschen unter-schiedlicher Religionen und Kulturen ihren Platzhaben und zusammenleben können. Das setzt dieBereitschaft zur guten Nachbarschaft voraus, diesich im Alltag bewähren muss. Das heißt, nicht dasTrennende, sondern das Verbindende zu suchen.Bei allen kulturellen und religiösen Unterschiedensollten wir die gemeinsamen Werte suchen undpflegen.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Petra Pau hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Petra Pau (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Mein erster Gedanke gilt den Millionen Jüdinnenund Juden, die in der NS-Zeit gedemütigt, vertrieben undermordet wurden. Mein zweiter Gedanke gilt den Jüdin-nen und Juden, die trotz alledem heute wieder mit uns le-ben. Der Schmerz und der Dank gehören zusammen,ebenso die Sorge, dass sich nie wiederholen möge, wasschon einmal geschehen ist.

Vor 70 Jahren, am 9. November 1938, ging das NS-Regime zum offenen Angriff auf Jüdinnen und Judenüber. Die sogenannte Pogromnacht war die General-probe für den Holocaust. Allzu viele sahen zu. EineLehre aus dieser furchtbaren Geschichte war: Das NS-Regime kam nicht an die Macht, weil die NSDAP sostark war. Es kam an die Macht, weil die Demokraten inzentralen Fragen zerstritten und deshalb zu schwach wa-ren. Ich wünschte, alle hätten diese Lektion gelernt.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier[fraktionslos])

Ich möchte an vier Ereignisse jüngeren Datums er-innern. Vor reichlich einem Jahr wurde in Berlin eine jü-dische Schule mit antisemitischen Parolen beschmiert.Auf das Spielzeug des dazugehörenden jüdischen Kin-dergartens wurden SS-Runen geschmiert.

Die Fußballer des jüdischen Vereins TuS Makkabibrachen ein Spiel ab. Sie wurden fortwährend antisemi-tisch beschimpft und mit Sprechchören wie „Hier regiertdie NPD und nicht der DFB“ bedroht.

Aktuelle empirische Untersuchungen belegen, dass25 Prozent der Bevölkerung latent antisemitisch einge-stellt sind; im Westen der Bundesrepublik übrigens mehrals im Osten.

Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Frage derFraktion Die Linke ergab, dass seit Jahren im statisti-schen Schnitt Woche für Woche ein jüdischer Friedhofgeschändet wird, und zwar bundesweit.

Die letztgenannte Meldung war übrigens der Anlassdafür, dass sich vor Jahresfrist Abgeordnete aus allenFraktionen des Bundestages fanden, um gemeinsam et-was gegen diese schlimmen Befunde zu tun. Auch daranmöchte ich erinnern: Im Mai dieses Jahres hatten wirhier eine Debatte aus Anlass des 60-jährigen BestehensIsraels. Ich mahnte damals für die Fraktion Die Linke:Man kann nicht 60 Jahre Israel würdigen, ohne zugleichüber den aktuellen Antisemitismus zu sprechen. Ab-schließend sprach ich von der überfraktionellen Arbeits-gruppe gegen Antisemitismus. Im Protokoll ist dazu ver-merkt: Beifall bei der Linken, bei der SPD, beimBündnis 90/Die Grünen, bei der FDP und bei der CDU/CSU.

Die gemeinsame Arbeit kam gut voran. Die Fachpoli-tiker suchten das Gemeinsame im Trennenden. Dannübernahmen Machtpolitiker das Vorhaben. Sie suchtendas Trennende im Gemeinsamen. Seither kann von ei-nem starken Signal des Bundestages keine Rede mehrsein. Viele Kommentatoren, auch jüdische Organisatio-nen bescheinigen uns stattdessen ein Trauerspiel. Ich be-dauere das außerordentlich.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD und der FDP und des Abg. GertWinkelmeier [fraktionslos])

Wie aber kommt es, dass die Union im Mai ein ge-meinsames Vorhaben beklatscht und dasselbe im Sep-tember vehement bekämpft? Ich habe dafür nur eine Er-klärung. Die neue Wahlstrategie der Union für 2009lautet kurz gefasst: Die Linke prügeln, um die SPD zutreffen. Dass man dafür sogar ein mögliches Miteinanderaller Bundestagsfraktionen gegen Antisemitismus undfür jüdisches Leben opfert, das wiederum finde ich ge-schichtsvergessen, kurzsichtig und würdelos.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier[fraktionslos])

Dasselbe trifft auf die meisten bemühten Unionsvor-würfe gegen die Linksfraktion zu. Erst wurde suggeriert,die DDR sei mit den Juden genauso umgegangen wieseinerzeit das NS-Regime. Schließlich wurde die Linkepauschal als antisemitisch diffamiert. Beides ist infam.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wieder und wieder wurde ich von Journalisten be-drängt, ich möge nun doch endlich mit gleicher Elleheimzahlen. Ich habe das nicht getan und auch meineFraktion nicht. Ich wollte das kleinkarierte Parteienge-zänk nicht noch selbst vergrößern. Mein Rat ist älter. Ich

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19774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Petra Pau

empfehle insbesondere den vermeintlich christlichenParteien Johannes 8: Wer von euch ohne Sünde ist,werfe als Erster einen Stein.

Es gibt ohnehin bessere Beispiele. In Delmenhorstfand sich parteiübergreifend ein sehr breites gesell-schaftliches Bündnis, um zu verhindern, dass Neonazisdort ein bundesweites Schulungszentrum errichten. Die-ses Bündnis hatte Erfolg. Im Land Brandenburg ver-hinderte ein ebenso breites Bündnis mit einem „Fest derDemokratie“, dass rechtsextreme Kameraden auf demSoldatenfriedhof Halbe ein Heldengedenken für dieWehrmacht inszenieren konnten. Erst vor wenigen Wo-chen hat die CSU im bayerischen Memmingen gemein-sam mit der Linkspartei und vielen anderen gegen einenAufmarsch der NPD demonstriert; ich war dabei. Alle,die solche Zivilcourage zeigen, haben einen Anspruchdarauf, dass der Bundestag sie in ihrem täglichen Kampfgegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitis-mus unterstützt und keine egoistischen Signale dagegen-setzt.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier[fraktionslos])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke hat denAntrag der anderen Fraktionen übernommen. Wir stellenihn als eigenen Antrag wortgleich zur Abstimmung. Ichappelliere an uns alle: Gehen wir souverän damit um!Die Linke tut dies, wohl wissend, dass der aktuelle An-trag, was seine konkreten Vorhaben angeht, schwächerist als der Entwurf, den der überfraktionelle Arbeitskreisim Konsens unterbreitet hatte, und wohl wissend, dassdie eigenen Vorschläge der Linksfraktion weitgehendersind, als es der Kompromiss des Arbeitskreises war.Aber die aktuelle Alternative heißt: Entweder schwächtder Bundestag die gesellschaftlichen Bündnisse, oderwir kehren gemeinsam zur Vernunft zurück. Ich plädierefür Vernunft. Alles andere wäre fatal.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier[fraktionslos])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Renate Künast hat jetzt das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle

Fraktionen des Deutschen Bundestages verpflichten sichheute gemeinsam, jüdisches Leben in Deutschland zufördern, den Kampf gegen den Antisemitismus zu ver-stärken und für konkrete Projekte Geld in die Hand zunehmen. Ich bin froh darüber, dass wir im Vergleich zudem Antrag, der noch bis vor kurzem vorgelegen hat,zwei Verbesserungen erzielt haben; hier bin ich andererAnsicht als Frau Pau.

Der erste Punkt ist, dass die Formulierung, durch diedie Linkspartei ausgeschlossen wurde, gestrichen wor-den ist. Darüber bin ich froh, weil ich finde, dass mandes 70. Jahrestages der Pogromnacht und ihrer Folgennur dann angemessen gedenken kann, wenn man jetztnicht wieder das tut, was auch damals am Anfang stand,dass man nämlich jemanden ausgrenzt, welcher Parteiauch immer er angehört.

Frau Pau, der zweite Verhandlungserfolg ist, dassjetzt konkrete Projekte benannt sind. Wer für den Be-auftragten war, fand den alten Antrag vielleicht besser.Ich finde es aber besser, dass nun avisiert ist, konkreteProjekte – quer durch das ganze Land, überall dort, woMenschen vor Ort mühevolle Arbeit verrichten – aufDauer zu finanzieren und nicht nur als Modellprojekte.Insofern glaube ich, dass uns ein guter Antrag vorliegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Ich will an dieser Stelle all denen danken, um die esdabei auch geht. Denn wir gedenken nicht nur, sondernes muss hier und heute auch um all diejenigen gehen, dievor Ort in den Projekten arbeiten. Beispiele sind das Pro-jekt Exit, dessen finanzielle Förderung leider ausgelau-fen ist, und die weiteren Anlaufstellen für NPD-Ausstei-ger. Außerdem werden in vielen Städten quer durch dasLand Jugendprojekte durchgeführt. Diejenigen, die sichdort engagieren, sind zum Teil selbst Druck und Bedro-hungen ausgesetzt. All diesen Menschen sollten wir ge-meinsam danken, egal welcher Fraktion wir angehören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg.Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ich glaube, wir im Deutschen Bundestag haben buch-stäblich in letzter Minute eine sehr große Blamage ver-hindert. Früher, als ich Jugendliche und junge Erwach-sene war, hatte ich manchmal einen Kloß im Hals, wennich an die Art dachte, wie wir in der alten Bundesrepu-blik mit der NS-Zeit umgegangen sind; da lag nämlichmanches im Argen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ichheute die Rede von Herrn Uhl hörte, hatte ich wieder ei-nen Kloß im Hals, und er ist noch nicht weg.

Ich muss jetzt sagen: Trotz alledem, trotz seiner Rede,stimmen wir diesem Antrag zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christian Ahrendt [FDP])

Das war unglaublich selbstgerecht, Herr Uhl.

Ich glaube, die Jüdinnen und Juden in Deutschlandund alle Demokratinnen und Demokraten in diesemLand dürfen erwarten, dass wir uns in dieser Frage einigsind, dass wir tatsächlich nach vorne gehen und dass wirheute und hier das Signal senden: Jeder Antisemit undjede Antisemitin soll wissen, dass sie außerhalb des de-mokratischen Spektrums stehen. Jeder Antisemit undjede Antisemitin in diesem Land soll wissen, dass sie da-mit außerhalb des Spektrums aller im Deutschen Bun-destag vertretenen Parteien stehen.

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Renate Künast

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD, der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist das notwendige Signal und Zeichen.

Wir alle wissen – das ist hier schon gesagt worden –,dass Antisemitismus nicht auf den politischen Extremis-mus beschränkt ist. Er ist auch kein Unterschichtenpro-blem, sondern er ist quer durch die verschiedenenSchichten dieses Landes vertreten. Es gibt täglich An-griffe auf jüdische Einrichtungen. Gerade am Wochen-ende hat es in Berlin einen Angriff auf einen jüdischenRabbiner und seine Schülerinnen und Schüler gegeben.Die Menschen erleben diese Angst also heute hier. Wiralle zusammen müssen sagen: Wir stehen mit euch zu-sammen und kämpfen für dieses „Nie wieder“.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD, der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir dürfen das auch nicht kleinreden. Wir wissen,dass es innerhalb des Rechtsextremismus Leute gibt, dieseit vielen Jahren versuchen, in diesem Land, wie sie esnennen, national befreite Zonen zu organisieren, sodasses Bereiche gibt, in denen junge Menschen gar kein Ju-gendzentrum mehr finden, in dem nicht alle anderen an-tisemitisch und rechtsextrem sind. Wie sollen denn diesezehn-, elf- und zwölfjährigen Kinder – gerade die Jun-gen, die aus dem Elternhaus herausgehen und eine Be-zugsgruppe suchen, an der sie teilhaben und sich orien-tieren können – eigentlich als kleine Demokratenaufwachsen können, wenn wir nicht alle gemeinsam andieser Stelle stehen und „Nie wieder“ und „Gegen denAntisemitismus“ sagen?

Gerade weil Herr Uhl von seinen elf Minuten Rede-zeit, ich glaube, fast zehn Minuten für die Auseinander-setzung mit der Partei Die Linke verwendet hat, mussich sagen: Lassen Sie uns an dieser Stelle keine Lebens-lügen aufbauen. Deshalb sage ich klar: Es gab eine lü-ckenhafte Aufarbeitung. Das war ja auch das Desasterdieser Länder. Es gab personelle und ideologische Kon-tinuitäten nach dem Ende des Dritten Reichs. Die gab esaber überall. Es gab sie in der DDR, und es gab sie in derfrühen Bundesrepublik. Wer hier spricht und andere kri-tisiert, dabei aber nur das eine benennt, ohne auch dasandere zu benennen, Herr Uhl, ist nicht glaubwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Die DDR hat Israel nie anerkannt. Sie hat alte NS-Vertreter und Soldaten weiterbeschäftigt und so getan,als sei nichts. Ich bin in der frühen Bundesrepublik großgeworden und weiß, dass es einen Globke gab, dass esherbe Auseinandersetzungen über Filbinger gab, dass eslange dauerte, bis klar war, dass die, die nach der KZ-Zeit im Nationalsozialismus im Westen irgendeiner wil-den K-Gruppe angehörten, keine Opferentschädigungerhielten, und dass kein einziger NS-Jurist letztinstanz-lich rechtskräftig verurteilt wurde. Das alles liegt mir aufder Seele und war mir sowieso wie ein Kloß im Hals.Durch Herrn Uhls Rede ist er noch größer geworden.

Lassen Sie uns an dieser Stelle keine falschen Signalegeben!

Ich will Ihnen zwei Leute aus Ihren Reihen benennen,die mich in diesem Zusammenhang beeindrucken. 1992– es war am 8. November 1992 am Lustgarten – hat es inBerlin eine sehr große Demonstration gegeben. Viele ha-ben gesagt, dass diese Demonstration von 400 000 Men-schen unter dem Titel „Die Würde des Menschen ist un-antastbar – Gegen Ausländerfeindlichkeit, Rassismusund Antisemitismus“ die größte der Nachkriegszeit war.Ich habe sie gemeinsam mit anderen initiiert, und ichweiß noch, wie wir im Berliner Abgeordnetenhaus – daswurde später von vielen anderen, auch von vonWeizsäcker, Süssmuth und anderen unterstützt – saßenund auch die CDU sagte: nicht mit der PDS, wie sie da-mals noch hieß.

Ich ging dann zu einer der stärksten Frauen, die dieCDU in Berlin je hatte, nämlich zu Hanna-RenateLaurien. Sie war Präsidentin des Abgeordnetenhauses.Sie saß da und sagte: Wenn sie das untereinander nichtwollen, dann rufe ich als Parlamentspräsidentin für alleauf. – Das ganze Abgeordnetenhaus sagte: Die Würdedes Menschen ist unantastbar. – 400 000 Menschen, Par-teien, NGOs, Gewerkschaften: Alle waren auf der Straße.Ich finde, Hanna-Renate Laurin ist eine große und starkeFrau.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD, der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich muss noch jemanden aus der CSU nennen. Denndamals hat sich die CSU geweigert, daran teilzunehmen.Max Streibl hat es als bloße Schaufensterveranstaltungbezeichnet, an der die CSU nicht teilnehme – und dasnach Hoyerswerda, Hünxe und Lichtenhagen. Er istnicht hingegangen. Enoch zu Guttenberg, der Vater desneuen CSU-Generalsekretärs zu Guttenberg, hat einenGroßonkel – er ist also der Urgroßonkel des CSU-Gene-ralsekretärs – namens Karl Ludwig zu Guttenberg. Erwar Widerstandskämpfer in dem Kreis um Stauffenberg.Enoch zu Guttenberg war damals über Streibl entsetzt.Er hat mit ihm diskutiert, und weil Streibl sich immernoch weigerte, hat er seinen Austritt aus der CSU erklärt.Ich finde, er ist ein mutiger Mann, weil er die Sache übereine Partei stellte, der er nahestand.

Ich finde es gut, dass uns die Geschäftsordnung dieChance gibt, das Ganze zu retten, und dass wir heute ge-meinsam über die Anträge abstimmen. Es geht um dasGedenken an die NS-Opfer und den gemeinsamenKampf gegen Antisemitismus. Wir werden das Themahier wieder diskutieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge-ordneten der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Kristina Köhler ist die nächste Rednerin für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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19776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Ta-gen jähren sich zum 70. Mal die Novemberpogrome desJahres 1938. In der Nacht vom 9. zum 10. Novemberwurden über 1 000 jüdische Synagogen in ganz Deutsch-land beschädigt oder in Brand gesetzt. Unzählige jüdi-sche Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört. Hun-derte Menschen verloren ihr Leben. 30 000 Judenwurden am nächsten Tag, dem 10. November, in Kon-zentrationslager verschleppt.

Zuvor waren an menschenfeindlichem Zynismusnicht mehr zu überbietende Fernschreiben, gezeichnetvom damaligen SS-Führer Heydrich, bei Stellen derStaatspolizei eingegangen. In diesen hieß es zum Bei-spiel – ich zitiere –:

Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden,die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Ei-gentums mit sich bringen (zum Beispiel Synago-genbrände nur, wenn keine Brandgefahr für dieUmgebung ist).

Diese Nacht des organisierten Terrors war nicht derAusgangspunkt des Holocaust. Seine Wurzeln liegenviel früher und tiefer. Diese Nacht lieferte jedoch für alleim In- und Ausland den sichtbaren Beweis, dass die Na-tionalsozialisten mit dem von Goebbels ausgerufenenZiel eines sogenannten judenfreien Reiches ernst ma-chen wollten – zumindest für alle, die das Sichtbare auchsehen wollten.

In dieser Nacht wurden die jüdischen Bürger unseresLandes zum Objekt degradiert. Der Historiker HansMommsen schrieb dazu – ich zitiere –:

Zweifellos trugen die Ereignisse des Pogroms undseine Folgen entscheidend zu der „Entpersönli-chung“ der jüdischen Mitbürger bei, die eine wich-tige psychologische Voraussetzung des Genozidswar.

Der Einzelne mag mit diesen damals organisiertenAusschreitungen noch nicht verbunden haben, was spä-ter in den Todesfabriken von Treblinka oder Auschwitzpassierte, wie es der leider viel zu früh verstorbene ehe-malige Präsident des Zentralrates der Juden, PaulSpiegel, formulierte. Er sagte aber:

Doch war nicht alles, was bis Mitte November 1938geschehen war, schon schrecklich und menschen-verachtend genug?

Das war es. Dies zu wissen, verpflichtet uns alle, auf An-tisemitismus und Menschenverachtung nicht mit Er-schrecken oder Schweigen zu reagieren, sondern aufzu-stehen und zu sagen: „Nie wieder! Erst recht nicht inDeutschland!“

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bekämpfung des Antisemitismus muss für uns allein diesem Haus auch im Jahr 2008 eine besondere Auf-gabe sein.

Freilich ist es nicht so – auch dieses Signal wäre ver-heerend oder falsch –, dass Bundesregierungen in denletzten Jahrzehnten die Bekämpfung des Antisemitismusnicht ernst genommen hätten, ganz im Gegenteil. Dabeischließe ich alle in diesen Jahren an den Regierungen be-teiligten Fraktionen ein. Es ist auch nicht so, dass derAntisemitismus in Deutschland in diesen Jahren, vergli-chen mit anderen Ländern, besonders auffällig wäre oderüberproportional zugenommen hätte. Auch dieser Ein-druck ist falsch. Aber zum einen müssen wir nach wievor zur Kenntnis nehmen, dass etwa im Jahr 20071 500 antisemitische Straftaten, darunter 1 300 Propa-gandadelikte oder Fälle von Volksverhetzung sowie59 Gewalttaten registriert wurden. Zum anderen gibt esden Satz unseres Bundestagspräsidenten NorbertLammert, der immer wieder eindringlich mahnt undrichtigerweise formuliert hat:

Antisemitismus, wo immer er auftritt, ist nicht ak-zeptabel. In Deutschland ist er unerträglich.

Gerade weil er in Deutschland unerträglich ist, habenwir eine besondere Verantwortung. Diese Verantwortungist ein Auftrag ohne Verfallsdatum. Diese Verantwortungerschöpft sich nach meiner festen Überzeugung nicht insymbolischen Gesten.

Der Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-nis 90/Die Grünen, über den wir heute beraten, kanndeshalb nicht nur der Erinnerung und der Symbolik die-nen; denn das Geschwür des Antisemitismus entwickeltsich weiter. Deswegen muss sich auch die Antisemitis-musbekämpfung weiterentwickeln. Sie muss es in derFrage der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiati-ven. Sie muss es in der Frage der Bildung, die mit zu-nehmendem persönlichen und zeitlichen Abstand vomHolocaust vor neuen Aufgaben der Vermittlung steht.Sie muss es aber auch in der grundsätzlichen Frage, auswelchen Quellen sich der Antisemitismus von heuteüberhaupt speist; denn ohne eine umfangreiche Analyse,woher das Geschwür des Antisemitismus kommt, ist dieAntisemitismusbekämpfung nur ein Placebo. Deswegenist es richtig, in regelmäßigen Abständen Expertenbe-richte zum Antisemitismus erstellen zu lassen. Das ha-ben wir gefordert, und das unterstützen wir.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Zum Thema Linke und zum Thema antisemitischerAntizionismus nur ein einziger Satz: Der Kollege Uhlhat Ihnen Zitate von hochrangigen Funktionsträgern derLinken vorgetragen. Das Schlimme ist nicht in erster Li-nie, dass es solche Äußerungen gibt. Dagegen ist keinePartei gefeit. Das Schlimme ist vielmehr, dass kein Ein-ziger dieser Abgeordneten oder Funktionsträger fürdiese Äußerungen seinen Hut nehmen musste. Das sagtalles.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Deutsche Bundestag wird heute seiner Verant-wortung gerecht. Wir werden niemals mehr verstum-men, und wir werden niemals mehr schweigen, wennMenschenverachtung oder Judenhass versuchen, sichBahn zu brechen. Für mich als relativ junge Abgeord-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19777

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Kristina Köhler (Wiesbaden)

nete ist dabei der Auftrag maßgebend, den unser damali-ger Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seinerRede vom 8. Mai 1985 formuliert hat:

Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, wasdamals geschah. Aber sie sind dafür verantwortlich,was in der Geschichte daraus wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Löning,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Markus Löning (FDP): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist

unsere Verantwortung als Abgeordnete des DeutschenBundestages, die Freiheit unserer Gesellschaft und unse-rer Gesellschaftsordnung zu verteidigen. Es ist unsereVerantwortung als frei gewählte Abgeordnete des deut-schen Volkes, uns für die Werte unserer Verfassung ein-zusetzen und für die Werte unserer Verfassung zu kämp-fen. Das ist eine Verpflichtung, die uns die Geschichtelehrt. Die Weimarer Republik ist daran gescheitert, dassdie Mitte der Gesellschaft nicht bereit war, sich für dieWerte und die Freiheit der Gesellschaft einzusetzen.Daraus müssen wir die Lehre ziehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es ist daher unsere Verantwortung als Abgeordnete,die Feinde der Freiheit und Angriffe auf die Freiheit ab-zuwehren. Antisemitismus in all seinen Facetten ist einschwerwiegender Angriff auf die Freiheit von Menschenin unserem Land, auf die Freiheit einer Minderheit unddamit ein Angriff auf die Freiheit unserer Gesellschaft,ein Angriff auf unser aller Freiheit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Gradmesser für die Freiheit einer Gesellschaft istimmer die Freiheit von Minderheiten. Wie frei und wiesicher fühlt man sich in Deutschland, wenn man eineKippa oder als Schmuckstück einen kleinen silbernenDavidstern trägt? Es wurden heute schon verschiedeneBeispiele genannt. Frau Künast, Sie haben die Angriffe,die gerade in dieser Woche in Berlin stattgefunden ha-ben, angesprochen. Wie sicher und wie frei fühlt mansich, wenn man sich erkennbar als Jude in unserer Ge-sellschaft bewegt? Da müssen wir ansetzen, meine Da-men und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Die Versuche, im Kampf gegen Antisemitismus etwaszu erreichen, wirken oft hilflos. Wir haben über ver-schiedene Maßnahmen diskutiert, die wir als Abgeord-nete ergreifen können: die Einrichtung einer Enquete-Kommission, die Einsetzung eines Beauftragten für den

Kampf gegen Antisemitismus; jetzt sollen ein Experten-gremium eingesetzt und ein jährlicher Bericht erstelltwerden. Der Kern der Sache ist doch, dass wir als Abge-ordnete unsere Verantwortung wahrnehmen, das, waswir in diesem Land sehen, zum Thema zu machen, in dieÖffentlichkeit zu tragen, Übergriffe zu geißeln und zusagen, dass es in unserem Land nicht akzeptabel ist,wenn Leute ausgegrenzt werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Eines ist ganz klar für unsere Gesellschaftsordnung:Der Kampf gegen den Antisemitismus, der entschlos-sene gemeinsame Kampf aller Demokraten und allerParteien ist ein konstitutives Element unserer Gesell-schaft, unserer freien Bundesrepublik. Wir dürfen nichtnachlassen, dies immer wieder gemeinsam zu tun. Wennwir die Geschlossenheit an dieser Stelle aufgeben, soöffnen wir die falsche Tür. Ich denke, es ist unerlässlich,dass wir als Deutscher Bundestag hier geschlossen ste-hen, um ein gemeinsames und entschlossenes Signal ge-gen Antisemitismus, gegen Diskriminierung von Min-derheiten und für die Freiheit in unserer Gesellschaft zusetzen.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin von der Unions-fraktion, ja, Antisemitismus gibt es in vielen Länderndieser Erde, aber für uns Deutsche ist es noch einmal et-was anderes.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat sie doch gesagt!)

Denn wir wissen: Der Antisemitismus kommt wie derDieb in der Nacht, und wenn er da ist, dann greift er voninnen an. Wir haben in der Weimarer Republik erlebt,wohin das führt. Es führt zum Mord an der Demokratie,und es führt dazu, dass Menschen ausgerottet werden.Das ist es, was Antisemitismus für uns Deutsche bedeu-tet. Deswegen darf es für uns nicht darum gehen, zu ver-harmlosen, zu beschönigen, gar davonzulaufen

(Zuruf des Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU])

oder mit dem Finger auf andere zu zeigen; denn immerwenn man mit einem Finger auf andere zeigt, weisendrei Finger auf einen selbst zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Der 9. November 1938, als die vielen Synagogen – eswaren wohl 1 500 an der Zahl – in Flammen aufgegan-

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19778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Gert Weisskirchen (Wiesloch)

gen sind und viele Hunderte von Juden erschlagen, er-mordet worden sind, war der Vorschein dessen, was sichim Holocaust zeigte: die industrielle Ermordung vonMenschen. Ihnen wurde das Recht genommen, Rechtezu haben, wie Hannah Arendt es ausgedrückt hat. Daswar der Vorschein dessen, was damals am 9. Novemberin vielen Städten Deutschlands geschah.

Dieser Vorschein hat dazu geführt, dass bis zum Endealler Zeit, dass bis an das Ende aller Tage der Name Ho-locaust in den Namen Deutschlands eingebrannt bleibt,ich wiederhole: eingebrannt bleibt. Weil das so ist, müs-sen wir – ich bin der Frau Bundeskanzlerin dafür dank-bar, dass sie das vor der Knesset so gesagt hat – anerken-nen, dass die unverbrüchliche Zustimmung zumExistenzrecht Israels unsere eigene Staatsräson ist.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-rufe von der CDU/CSU: Kein Beifall der Lin-ken! – Da bleiben die Hände unten!)

Das ist ein Satz, der in die Geschichte gemeißelt ist undder für uns Aufruf bleibt, auch für immer und für alleZeit.

Was bedeutet das heute, wenn wir uns anschauen,dass Jüdinnen und Juden zurückkehren nach Deutsch-land, hierher kommen, in ein Land, lieber KollegeKauder, aus dem sie fliehen mussten, aus dem sie ver-trieben wurden von Deutschen, die gemordet haben?Wenn sie heute zurückkommen: Was bedeutet das fürunser eigenes Selbstverständnis? Ich finde, liebe FrauGoodman-Thau – Sie sind aus Israel hierher gekommenund hören dieser Debatte zu –, das ist ein ermutigendesZeichen für uns. Warum sind Jüdinnen und Juden nachDeutschland zurückgekommen? Weil sie hier versuchen,gemeinsam mit Deutschen an einem kollektiven Ge-dächtnis zu arbeiten, nämlich an einem Gedächtnis, dasimmer getrennt bleiben wird – das ist der Schmerz, deruns von Nazideutschland überlassen bleibt – zwischenTätern und Opfern. Nur das Partikulare der Opfer wirduns und allen, die nach uns kommen, als Stachel und alsPfeiler der Erinnerung in unserem eigenen politischenHandeln bleiben.

Dieser Pfeiler, dieser Stachel des kollektiven Ge-dächtnisses wird uns aber auch das Fundament einerBrücke in eine andere Zukunft sein, in eine Zukunft, inder Jüdinnen und Juden erneut bei uns leben können undversuchen, den Teil ihres historischen Gedächtnisses, dervon den Tätern immer getrennt bleiben wird, weil sieOpfer waren, zu bewahren. Er wird ihnen aber eineChance geben, eine gemeinsame neue Brücke in die Zu-kunft zu bauen.

Ich verweise zum Beispiel auf Hermann Cohen, eindeutscher Jude aus Marburg, demokratischer Sozialist.Er war einer derjenigen, die mitgeholfen haben – wieRudolf Hilferding; man braucht nur das Buch DasFinanzkapital zu lesen –, die Konflikte jener Zeit zu er-kennen, zu bearbeiten und neue Wege zu gehen. Ichmuss sagen: Ich bin stolz darauf, dass jemand wieRudolf Hilferding Mitglied unserer sozialdemokrati-schen Fraktion war. Er hat uns deutlich gemacht, dass es

in jener Zeit andere Wege aus der Krise des internationa-len Finanzkapitals geben konnte.

Also: Das, was an jüdischem Vermächtnis für unsereigenes Gedächtnis unverzichtbar ist und bleibt, ist, dasswir gemeinsam eine Brücke in die Zukunft bauen dür-fen. Das erlauben uns sowohl diejenigen, die als OpferDeutschlands durch den Rauch von Auschwitz gehenmussten, als auch diejenigen, die haben zurückkommendürfen, weil sie zurückkommen wollten. Das ist eingroßartiges Geschenk.

Ich bin dankbar dafür, dass wir dieses Geschenk jetztin dem Text gemeinsam festhalten. Das ist die Aufgabe,jeden Tag neu gegen den Antisemitismus anzukämpfen,ihm ein Stoppsignal entgegenzusetzen; denn wenn wirdas nicht tun, besteht die gleiche Gefahr wie in der Wei-marer Republik: Er kommt wie der Dieb in der Nacht,ermordet die Demokratie, und am Ende wird Deutsch-land im Innersten zerstört.

Das ist der Auftrag der Geschichte: Wir bauen an ei-nem gemeinsamen neuen historischen Gedächtnis, undwir tun das mit den jüdischen Gemeinden hier inDeutschland – für eine neue, eine europäische Zukunft,vielleicht sogar mit dem Ziel, dass Jüdinnen und Judenin Deutschland wieder den Ort finden, der zuvor ausge-löscht worden war. Darum geht es. Ich bin dankbar da-für, dass wir das gemeinsam hier so beschließen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP, der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Es ist vereinbart, dassüber die gleichlautenden Anträge der Fraktionen vonCDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen so-wie der Fraktion Die Linke gemeinsam abgestimmt wer-den soll.

Dazu liegt mir eine Erklärung von elf Mitgliedern derFraktion Die Linke nach § 31 Abs. 2 unserer Geschäfts-ordnung vor,

(Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Da bin ich mal gespannt!)

in der sie erklären und erläutern, dass und warum siesich an dieser Abstimmung nicht beteiligen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha! – Gegenruf von der LINKEN: Lest sie doch erst einmal!)

Die Erklärung fügen wir, wie immer in solchen Fällen,dem Protokoll bei.1)

Wir stimmen jetzt ab über die Anträge auf den Druck-sachen 16/10775 (neu) und 16/10776 mit dem Titel„Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdi-sches Leben in Deutschland weiter fördern“. Wer stimmtfür diese Anträge? – Stimmt jemand dagegen? – EineGegenstimme. Gibt es Enthaltungen? – Dann ist das mit

1) Anlage 2

Page 29: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19779

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Präsident Dr. Norbert Lammert

überwältigender Mehrheit des Deutschen Bundestagesso beschlossen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Vereinbarte Debatte

Wachstum stärken – Beschäftigung sichern –Finanzmarktkrise überwinden

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so vereinbart.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,Michael Glos.

(Beifall bei der CDU/CSU – Unruhe)

– Vielleicht warten wir noch einen Augenblick, bis derneue Tagesordnungspunkt die notwendige Aufmerksam-keit findet.

Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Für unsere Wirtschaft müssen wir jetzt auf zwei Feldernentschlossen handeln. Zum Ersten müssen wir wiederVertrauen schaffen – das ist ungeheuer wichtig –, undzum Zweiten müssen wir das Wachstum stärken. An denFinanzmärkten ist in den letzten Wochen, wie wir wis-sen, sehr viel Vertrauen zerstört worden. Vertrauen isteine kostbare Pflanze, die sehr leicht vernichtet werdenkann, aber nur ganz schwer wieder nachwächst. Deswe-gen dürfen wir nicht abwarten, bis sich in der Wirtschaftalles zum Schlechteren wendet, sondern müssen Maß-nahmen ergreifen, die einen Abschwung abwenden.

Die Wirtschaft kann weder ohne das nötige Vertrauennoch ohne die nötigen Finanzmittel arbeiten. Insofernbegrüße ich, dass sich jetzt immer mehr Banken bereiterklären, das anzunehmen, was wir als Bund insgesamtanbieten. Wir möchten nämlich, dass die Banken ihr Ei-genkapital so stärken, dass sie der Wirtschaft – darumgeht es uns – wieder Kreditmittel gewähren können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Nur so können wir verhindern, dass die Finanzkrise zueiner Krise der realen Wirtschaft wird.

Ich habe bei mir im Hause zusätzlich ein Sorgentele-fon für den Mittelstand eingerichtet.

(Lachen bei der LINKEN)

– Uns werden sehr viele Sorgen mitgeteilt. Wir hörenden Menschen auch zu – offensichtlich im Gegensatz zuIhnen. Der Mittelstand hat auch noch Vertrauen in un-sere Handlungsfähigkeit. Wir wollten vor allen Dingenwissen, wie es mit der Kreditversorgung aussieht. Dahören wir erste Klagen. Wenn die Banken also nur ihreBilanzen konsolidierten oder möglicherweise sogar ihrKreditvolumen verkleinerten, um zu erreichen, dass die

Kernkapitalquote stimmt, dann wäre das der falscheWeg. Wir möchten das Gegenteil erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Verbraucherinnen und Verbraucher, die gegen-wärtig sozusagen noch gut handeln – ich höre vom Ein-zelhandel, dass der Konsum nicht zurückgeht –, brau-chen weiterhin die nötige Kaufkraft. Um zu verhindern,dass der Konsum zurückgeht, dürfen nun allerdingsnicht so hohe Löhne gefordert werden, dass möglicher-weise die Wettbewerbsfähigkeit leidet. Vielmehr ist esnotwendig, dass nicht nur negative, sondern auch posi-tive Entwicklungen auf dem Markt, die es ja auch gibt,an die Verbraucher weitergegeben werden. Ich kann zumBeispiel nicht verstehen, warum es unseren Energiekon-zernen bzw. -versorgern nicht möglich ist, dafür zu sor-gen, dass sich die stark gesunkenen Ölpreise noch vorBeginn der Heizperiode auf die Gaspreise auswirken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen hier offensichtlich noch mehr Wettbewerb,als wir ohnedies haben;

(Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!)

denn der Wettbewerb löst die Probleme am allerbesten.Wenn dieser durch die Koppelung des Gaspreises an denÖlpreis nicht ohne Weiteres möglich ist, dann könntenzumindest die Abschlagszahlungen gesenkt werden. Ichhabe den Eindruck, hier steckt ein Kaufkraftvolumenvon circa 15 Milliarden Euro,

(Zuruf von der LINKEN: Dann müsst ihr mehr regieren!)

das ansonsten im wahrsten Sinne des Wortes durch denSchornstein geht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber zurück zu dem Paket, das wir morgen im Kabi-nett verabschieden wollen. Uns geht es dabei insbeson-dere darum, das Wachstum zu stärken und die Beschäfti-gung zu sichern. Das Paket fördert in den Jahren 2009und 2010 Investitionen in Höhe von insgesamt circa50 Milliarden Euro. Zum einen werden langfristige Pro-gramme und Investitionsprojekte verstärkt, zum Bei-spiel der Ausbau der Infrastruktur. Das sind Maßnah-men, die nötig sind und jetzt vorgezogen werdenmüssen. Zum anderen wird die Energieeinsparung ge-fördert. Wir geben befristet Impulse für diejenigen, diein der Lage sind, jetzt zu investieren. Ich nenne nur einBeispiel für einen solchen Impuls: die auf zwei Jahre be-fristete Wiedereinführung der 30-prozentigen degressi-ven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter.

Genauso wichtig ist es, dem Handwerk zu mehr Auf-trägen zu verhelfen. Das tun wir, indem wir Schwarz-arbeit bekämpfen und den Handwerkerbonus, der un-gefähr 600 Euro beträgt, auf 1 200 Euro erhöhen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Damit werden nötige Renovierungs- und Wartungsarbei-ten sowie Energiesparinvestitionen angestoßen.

Page 30: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Bundesminister Michael Glos

Vor allen Dingen darf es keine Kreditklemme für denMittelstand geben. Wir müssen den Mittelstand weitermit Kapital versorgen können. Hier kann der Staat nurflankierende Hilfe leisten. Wir werden das tun, indemwir die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu einem Kredit-programm in Höhe von 15 Milliarden Euro veranlas-sen.

Die Haushaltsbelastungen für dieses Programm lie-gen also weit unter dem Umfang der angestoßenen In-vestitionen. Es ist wichtig, zu sehen, wie viel mehr wirmit dem, was an Haushaltsmitteln fließt, in Bewegungsetzen können.

Trotz der Krise müssen wir, wie ich meine, auch dieAngebotsseite verstärken, um so langfristige Wachstums-aussichten für unsere Volkswirtschaft zu ermöglichen.Das steht nicht im Widerspruch zu konkreten Maßnah-men.

Ich will ein Beispiel herausgreifen, das sehr umstrit-ten ist, auch in der eigenen Fraktion. Wir haben jetzt dasProblem, dass die Automobilproduktion stoppt. VieleBänder wurden angehalten, viele Fabriken pausieren.Der Druck wird hauptsächlich auf die Zulieferer abgege-ben, insbesondere auf die kleinen Zulieferer, die mit die-ser Krise schwerer fertig werden. Ich kann nur an dieAutomobilfirmen appellieren, dass sie mit ihren Zuliefe-rern pfleglich umgehen. All diese wird man wieder brau-chen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Wir wollen deswegen per Kabinettsbeschluss dieKfz-Steuer für Neuwagen – das ist eine Art symboli-scher Akt, der zeigt, wie wichtig für uns die Automobil-industrie ist, von der jeder sechste Arbeitsplatz inDeutschland abhängt – für ein Jahr aussetzen, weil jedesneu gekaufte Auto weniger Schadstoff ausstößt als diealten Stinker, die auf unseren Straßen relativ stark ver-breitet sind. Für diejenigen Autos, die jetzt schon vor-bildlicherweise die Euro-5- und die Euro-6-Norm erfül-len, wollen wir die Kfz-Steuer für zwei Jahre aussetzen.

All dies sind Beispiele, die zeigen, dass wir raschhandeln, um das Vertrauen der Märkte zu stärken. OhneVertrauen in die Zukunft lässt sich nämlich keine Sta-bilisierung erreichen. Es kann alles nur funktionieren,wenn auch weiterhin, sowohl von den Verbrauchern alsauch von den Investoren, an die Leistungsfähigkeit unse-rer Wirtschaft geglaubt wird.

Wir haben in der Großen Koalition sehr viel erreicht.Die Arbeitslosenzahl im Oktober lag zum ersten Mal seitvielen Jahren wieder unter 3 Millionen. Wir haben beider Sanierung der öffentlichen Haushalte Fortschritte er-zielt. Deswegen ist der Staat handlungsfähig, und wirkonnten gezielt Abgaben und Steuern senken. Auf die-sem Weg müssen wir weitergehen. Die erfolgreicheHaushaltssanierung, die wir in der nächsten Legislatur-periode fortsetzen müssen, eröffnet Spielräume.

Wir müssen aber als Welthandelsnation Nummer einsauch aufpassen. Wir wissen, dass wir auf vielen Export-

märkten Schwierigkeiten haben und dass die Zahlungs-fähigkeit einer Reihe von Staaten gefährdet ist. Für dieWirtschaft sind die Risiken manchmal nicht zu über-schauen, die mit der Lieferung von Waren und Leistun-gen nach außen verbunden sind. Wir haben durchaus dieMöglichkeit, unsere Maßnahmen der Kreditversiche-rung, die sogenannte Hermes-Deckung, weiter zu ver-stärken, ohne dass wir gesetzliche Maßnahmen ergreifenmüssen. Ich habe mein Haus angewiesen, hier großzügi-ger zu sein. Ich kann die Wirtschaft nur einladen, sichdieser Instrumente zu bedienen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir möchten aber nicht, dass international eine ArtSubventionswettlauf entsteht. Deswegen müssen wirschauen, dass die Regeln der WTO eingehalten werden.Es geht nicht an, dass einzelne Staaten, wie angekündigt,ihre Automobilindustrie überdimensional subventionie-ren. Auch hier müssen die Spielregen eingehalten wer-den. Das Allerfalscheste wäre, wenn man in dieser Kriseden freien Welthandel gefährden würde. Es ist deswegenrichtig, dass sich die Bundeskanzlerin auf dem G-20-Treffen dafür einsetzt – das hat sie heute noch einmalvor unserer Fraktion erklärt –, dass die Doha-Runde derWTO weitergeht; denn Protektionismus wäre die aller-falscheste Antwort, die wir auf diese Krise geben könn-ten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Meine werten Kolleginnen und Kollegen, wir brau-chen die richtige Mischung aus Marktwirtschaft, Wettbe-werb und natürlich sozialer Absicherung. Wir brauchenaber auch weiterhin die private Risikobereitschaft.

Ich möchte einen letzten Punkt erwähnen. Der Kampfum Investitionskapital ist jetzt überall ausgebrochen.Deswegen meine ich, dass wir die Erbschaftsteuer soregeln müssen, dass die Betriebsübergänge im Mittel-stand und in der gewerblichen Wirtschaft in einer Artund Weise erfolgen können, dass den Firmen nicht zu-sätzlich Kapital entzogen wird, das dann anderweitigfehlt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Staat kann immer nur flankierend tätig sein undhelfen. Handeln müssen die Menschen selber.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Rainer

Brüderle das Wort.

(Beifall bei der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der stimmt dem Wirtschaftsministeruneingeschränkt zu! Das wäre ein schönerEinstieg!)

Page 31: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19781

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Rainer Brüderle (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Bundesregierung hat allen Grund, sich Sorgen um dasWirtschaftswachstum in Deutschland zu machen. DieEuropäische Kommission prognostiziert Stagnation. DasLand befindet sich am Rande der Rezession. Im Herbst-gutachten wird eine Spannbreite von plus 0,2 bis minus0,8 Prozent Wachstum angegeben. Die Finanzkrise hatdie Realwirtschaft erreicht. Das Geschäftsklima ist inden letzten fünf Monaten permanent gesunken. Die Sig-nale aus den verschiedenen Wirtschaftsbranchen – ausdem Automobilsektor, aus dem Maschinenbau – sindalarmierend. Auftragseinbrüche und Kurzarbeit sindwieder an der Tagesordnung.

In einer solchen Situation ist von einer Regierung ent-schlossenes Handeln gefragt. Doch das, was die Regie-rung auf den Weg zu bringen beabsichtigt, ist eine Anei-nanderreihung von Einzelmaßnahmen. Ein Konzeptist hinter der Auflistung von Gebäudesanierungsmaß-nahmen, Autohilfen, Handwerkersubventionen undLuftfahrtfonds nicht erkennbar. Das alles ist zwar imEinzelnen durchaus liebenswert; aber es ist kein Kon-zept. Das sind Konjunkturprogrämmchen; aber das istkein klares Antirezessionsprogramm.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Selbst in der Unionsfraktion können viele keinen rechtenSinn dahinter erkennen; ich erinnere an die Äußerungenvon Herrn Kampeter und Herrn Dr. Fuchs in den letztenTagen. Offenbar will man im beginnenden Wahljahr dieeigene Klientel bedienen. Schwarz-Rot hat kein wirt-schaftspolitisches Konzept. Dies ist vordergründiger Ak-tionismus mit wenig ökonomischer Substanz.

(Beifall bei der FDP)

Wichtig wären Schritte, die die Nettoeinkommender Bürger erhöhen und zu einer steuerlichen Entlas-tung führen. Die Nettoeinkommen sind in den letztenJahren gesunken. Die private Nachfrage macht zweiDrittel des Bruttosozialprodukts aus. Sie zu stärken,wäre der richtige Ansatz, um die Wachstumskräfte zustärken und Deutschland angesichts der Gefahr einer Re-zession wieder ein Stück zu kräftigen. Hier müsste manvorankommen.

(Beifall bei der FDP)

Steuersenkungen werden aber abfällig beurteilt. Eswird gesagt, die Leute gäben das Geld dann falsch aus.Der Staat weiß viel besser, wie die Verwendung auszuse-hen hat! – Das ist eine Lenkung in bestimmte Sektoren,in bestimmte Konsumbereiche hinein. Da wird ein biss-chen für die Automobilindustrie gemacht. Es glaubtdoch keiner, dass jemand, weil er ein Jahr lang keineKfz-Steuer zahlen muss, ein neues Auto für 35 000 Eurokauft. Es grenzt an Volksverdummung, ein solches Kon-zept zur Wirtschaftsbelebung vorzutragen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU])

Ähnlich ist es im Handwerksbereich. Es dient viel-leicht der Bekämpfung von Schwarzarbeit, wenn man

Handwerkerrechnungen etwas höher steuerlich absetzenkann. Aber es wird sich keiner deshalb ein neues Bad in-stallieren lassen, weil er 600 Euro mehr steuerlich abset-zen kann. Auch das ist nicht der Push, den man braucht,um jetzt die Wachstumskräfte zu stärken.

Die SPD glaubt, mit diesen Subventionen Aufträge von60 Milliarden Euro zu mobilisieren. Der Wirtschafts-minister erklärt, 1 Million Arbeitsplätze könne mandamit sichern bzw. schaffen. Chefökonomen der Deut-schen Bank und der deutschen Wirtschaft sagen, dazubrauche man 8 Prozent Wachstum.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Deutsche Bank hat sich noch nie geirrt?)

Aber offenbar besteht bei der Regierung die Einschät-zung, mit diesen Progrämmchen könne man das errei-chen.

Symptomatisch ist der Umgang mit der Pendlerpau-schale. Erst wurde sie in weiten Teilen abgeschafft. Jetztsoll der Kauf von Autos mit subventionierten Kreditenund einer Befreiung von der Kfz-Steuer für ein Jahr ge-fördert werden. Setzen wir doch die alte Regelung derPendlerpauschale wieder in Kraft! Das würde sofort wir-ken und würde gerade für die Bürger in der Fläche eineEntlastung darstellen.

(Beifall bei der FDP)

Verbesserte Abschreibungsbedingungen sind gut.Aber hier gibt es ein Hickhack. Die Wirtschaft brauchtfür Wachstum Konstanz. Vor einiger Zeit wurde die de-gressive Abschreibung für zwei Jahre eingeführt. Dannwurde sie abgeschafft. Jetzt ermöglichen Sie sie wiederfür zwei Jahre. Dann wird sie wieder abgeschafft. Dannkommt sie vielleicht wieder einmal für ein oder zweiJahre in die Wundertüte. Das ist keine Politik, die derWirtschaft eine klare Richtung und Stabilität gibt. Einesolche Wirtschaftspolitik gibt keine klare, verlässlicheOrientierung.

Es gäbe eine Reihe von Maßnahmen, die sofort wirkenwürden. Der Wirtschaftsminister hat zu Recht vorgeschla-gen, die steuerliche Absetzbarkeit der Krankenversi-cherungsbeiträge um ein Jahr vorzuziehen. 2010 mussdies sowieso eingeführt werden. Dies könnten wir dochschon für 2009 vorsehen. Das würde die Bürger um9 Milliarden Euro entlasten. Hier könnte man schnelleine Wirkung erzielen. Diese Maßnahme und die voll-ständige Wiedereinführung der Pendlerpauschale bräch-ten eine Entlastung von 12 Milliarden Euro; damitkönnte man eine Wirkung erzielen.

(Beifall bei der FDP)

Man kann diese Beträge auch sehr schnell zu verfüg-barem Einkommen machen – noch vor dem Weihnachts-geschäft –, etwa durch Steuerschecks. Auch das wird inDeutschland immer belächelt. Aber immer mehr forderndies – vom liberalen Professor Straubhaar vom Hambur-gischen Welt-Wirtschaftsinstitut bis hin zu HerrnBofinger, dem DGB-nahen Wirtschaftsweisen des Sach-verständigenrats. Das ist der Weg, der in Amerika mehr-fach gegangen wurde. Diese Maßnahme ging zu über60 Prozent direkt in den Konsum, in die Nachfrage.

Page 32: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Rainer Brüderle

Aber dann kommt der Einwurf, dass die Menschen die-ses Geld sparten. Sparen ist aber nichts Schlechtes.Wenn die Bürger einen Teil des Geldes zu den Bankentragen, haben die Banken Geld und können wieder Kre-dite, zum Beispiel in Form von Mittelstandsdarlehen, ge-ben. So funktioniert eine soziale Marktwirtschaft. DasSparen zu diskreditieren, ist deshalb eine volkswirt-schaftliche Dummheit.

(Beifall bei der FDP)

Sie sollten froh sein, wenn die Bürger sparten; Sie soll-ten froh sein, wenn sie Geld auf die Bank brächten, wennsie dabei Vertrauen in Wachstum und Entwicklung unse-rer Wirtschaft hätten.

Den Gesundheitsfonds zu stoppen, würde sofort eineEntlastung von 6 Milliarden Euro bringen. Fast alle wis-sen – das muss man zugeben, wenn man ehrlich ist –,dass diese Gesundheitsreform Murks ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Egal wie die nächste Bundestagswahl ausgeht: Man wirddies neu regeln müssen. Jetzt erhöhen wir aber die Bei-träge auf 15,5 Prozent, was zu einer Mehrbelastung von6 Milliarden Euro führt. Das soll ein Beitrag sein, um dieWirtschaft zu beleben? Das ist eine Lachnummer! Allewissen, dass es falsch ist. Haben Sie den Mut, etwas Fal-sches zu korrigieren und die Bürger zu entlasten, nichtzu belasten!

(Beifall bei der FDP)

Bei der Erbschaftsteuer gibt es ein Hickhack; diegroßen Heroen kämpfen. Es gäbe eine ganz einfache Lö-sung: Destinatar, Begünstigter der Erbschaftsteuer sinddie Länder. Gebt doch den Ländern, die das Geld be-kommen, auch die Kompetenz, zu entscheiden!

(Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!)

Das wäre das Einfachste. Die Länder sind volljährig.Wir haben einen Föderalismus; die Länder haben Selbst-entscheidungsfähigkeiten. Lasst die Bundesländer ent-scheiden! Ich sage voraus, dass die neuen Bundesländerals Erste sagen würden: Die Erbschaftsteuer ist Unsinn;wir schaffen sie ab; dann brauchen die Unternehmennicht mehr nach Österreich, Schweden, Frankreich odersonst wo hinzugehen, sondern können in Deutschlandbleiben.

(Beifall bei der FDP)

Lasst es die Länder entscheiden! Das ist Föderalis-mus. Wir wollen eine Föderalismusreform, führen Dis-kussionen, machen dicke Backen, aber entschieden wirdnichts. Am Schluss kommt dann etwas Komisches he-raus, das weiterhin eine Belastung von 4 Milliarden Euromit sich bringen soll.

Wir brauchen eine vernünftige Ordnungspolitik. DieFinanzmarktarchitektur ist nicht stimmig. Da ist vielesaus dem Ruder gelaufen. Hier müssen Freiheit und Ver-antwortung, Gewinnchancen und die Pflicht zur Haftungwieder zusammengebracht werden. Hier besteht drin-gender Handlungsbedarf. Ich würde nicht darauf warten,

dass sich die ganze Welt einigt. Wir können bei unsschon mit ersten Regelungen anfangen, etwa die Anfor-derungen für Eigenkapital bei den Finanzinstituten än-dern. Der Staat sollte eine Vorreiterrolle übernehmen.Die KfW sollte wieder eine Förderbank sein. Die ganzenAbenteuer, die Versuche, Privatbanker zu spielen – daskonnte ja nicht gutgehen –, bei denen 10 Milliarden EuroSteuergelder riskiert wurden, müssen endgültig aufhö-ren. Die Landesbanken müssen zu einem Institut zusam-mengelegt werden. Sie können es aber nicht, denn alleswird politisch besetzt, nach Farbenlehre. Da fahren siedie Kiste an die Wand und verbrennen das Geld derSteuerzahler. Auch das belastet unsere Wirtschaftsent-wicklung.

(Beifall bei der FDP)

Wo sind denn die Reformansätze, die endlich konse-quent dieses Problem angehen?

Dass wir uns in einer Mischung aus Konjunkturpro-blematik und Strukturkrise befinden, hat damit zu tun – –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Karneval!)

– Es hat nichts mit Karneval zu tun; Sie haben es immernoch nicht verstanden. Sie treiben Karneval mit den Bür-gern:

(Beifall bei der FDP)

Sie werden für dumm verkauft, sie dürfen nicht selbstentscheiden. Sie dürfen eine halbe Billion Euro – dassind 500 Milliarden Euro – Steuern zahlen, sind in IhrenAugen aber nicht fähig, eigenverantwortlich zu entschei-den, was sie mit ihrem Geld machen, wenn man sie um5 bis 10 Prozent steuerlich entlastet. Wir haben ein ande-res Bild von den Bürgern und von den Menschen: DieMenschen in Deutschland können sehr wohl eigenver-antwortlich entscheiden, wie sie ihr Geld ausgeben.

(Beifall bei der FDP)

Sie brauchen keinen Vormund, weder einen schwarzen,noch einen roten; denn sie sind eigenständige Bürger ineinem freien Land. Solange Sie das nicht respektieren,werden Sie die Sache nicht wieder flottkriegen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer

Steinbrück.

(Beifall bei der SPD)

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die erste Aufgabe des Staates ist es, Schadenvon den Bürgerinnen und Bürgern fernzuhalten und sievor Gefahren zu schützen. Das ist die Hauptaufgabe, derwir uns stellen müssen. Wir haben mit staatlichem Han-deln, wie ich glaube, richtig auf die aktuelle Finanz-marktkrise reagiert. Es ging darum, einen Zusammen-bruch der Geldmarktkreisläufe zu verhindern, nicht nurim Interesse der Banken, sondern im Interesse von Spa-rern, im Interesse derjenigen, die für ihr Alter sparen, im

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Page 33: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19783

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Bundesminister Peer Steinbrück

Sinne der Kommunen, im Sinne des Mittelstandes, imSinne der großen Unternehmen, die Investitionen nichtallein über ihren Cashflow finanzieren können, sonderndazu intakte und stabile Finanzmärkte brauchen.

Wir sind dieser Bedrohung, wie ich glaube, richtigentgegengetreten. Es geht jetzt darum, dafür zu sorgen,dass wir zukünftig neue Verkehrsregeln auf den Finanz-märkten bekommen. Dies wird Gegenstand wichtigerVeranstaltungen in den nächsten Wochen sein: beim Eu-ropäischen Rat, bei einem Finanzgipfel in Washington,zu dem die Bundeskanzlerin und ich fahren werden.Heute komme ich von Beratungen in Brüssel, wo diesewichtigen Termine vorbereitet worden sind.

Nun droht zusätzlich, verstärkt durch die Finanz-marktkrise, eine Konjunkturabschwächung, und zwarweltweit, nicht nur in Deutschland. Auch hier ist in unse-ren Augen der Staat gefordert, ökonomisch sinnvoll,zielgenau und mit der größtmöglichen Hebelwirkung,also mit einem Euro ein Maximum an Investitionen zubewirken, um dieser Konjunkturabschwächung entge-genzuwirken. Das ist unsere Aufgabe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir dürfen nicht in eine Beliebigkeit verfallen und ir-gendwelche Wunschzettel bedienen, sondern müssensehr gezielt vorgehen, um ein Maximum an Wirkung zuerzielen, insbesondere bezogen auf die Arbeitsplätze.Man muss hinzufügen, dass der deutsche Staat – das giltinsbesondere für den Bundeshaushalt, aber auch für dieHaushalte der anderen Gebietskörperschaften – nicht inder Lage ist, mit nationalstaatlichen Programmen alleingegen einen weltwirtschaftlichen Abschwung anzufinan-zieren. Wir sollten den Menschen ehrlicherweise sagen,dass das nicht möglich sein wird.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja! Genauso ist es! – Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!)

Der Staat, die Politik kann aber in und für Deutschlanddurchaus sinnvoll und wirksam handeln. In unseren Au-gen ist es in diesen konjunkturell schwierigen Zeiten daswichtigste Ziel, einen Schutzschirm für Arbeitsplätzezu spannen. Das heißt, wir müssen alles dafür tun, dassdie Arbeitslosigkeit nicht wieder zunimmt, dass die Ar-beitsplätze gesichert werden. Das tut die Bundesregie-rung durch das, was morgen Gegenstand unserer Bera-tungen im Kabinett sein wird. Sie tut dies nicht miteinem klassischen Konjunkturprogramm nach demMotto „Viel hilft viel“. Das wäre Inputorientierung nachdem Motto „Nimm doch einfach 10, 20, 30, 35 Milliar-den Euro in die Hand“. Dann setzte sofort ein politischerÜberbietungswettbewerb ein, ohne dass die Frage beant-wortet wird, was im Sinne der Sicherung von Arbeits-plätzen schnell, ohne irgendwelche Zeitverzögerungen– Herr Brüderle, auf die Zeitverzögerungen komme ichgleich zu sprechen – wirkt. Dabei ist dies die entschei-dende Fragestellung. In meinen Augen standen klassi-sche Konjunkturprogramme daher nicht auf der Tages-ordnung. Mit der Gießkanne übers Land zu gehen, hätteim Ergebnis viel Geld verbrannt, und der Schuldenstand

für nachfolgende Generationen wäre noch größer gewor-den.

(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])

Ich füge hinzu, wohl wissend, dass Teile dieses Hau-ses darüber anders denken: Kein wirksamer Schutz fürArbeitsplätze wären Steuersenkungen, die durch neueSchulden finanziert werden müssen. Wir werden dasnicht tun.

(Beifall bei der SPD)

Keiner diskreditiert die Spartätigkeit. Herr Brüderle,das ist ein völliger Irrtum. Die Wirksamkeit von Maß-nahmen für die Inlandsnachfrage würde dann allerdingsrelativiert, wenn viel Geld auf Sparkonten geht. Bei Ih-rem Hinweis darauf, dass man die Absetzungsfähigkeitvon Krankenversicherungsbeiträgen hätte vorziehenmüssen, haben Sie völlig übersehen, dass die damit ver-bundenen Vorteile erst mit einem Zeitverzug von einemJahr über die jeweiligen Steuererklärungen geltend ge-macht werden können. Das verschweigen Sie.

(Jan Mücke [FDP]: Deshalb kann man nochein Jahr warten, oder was ist die Logik dahin-ter? Das ist doch völlig unlogisch!)

Sie tun so, als wäre das eine Art goldener Schlüssel, mitdem man jetzt etwas tun könnte. In Wirklichkeit wirktdas zeitversetzt.

Herr Brüderle, auch der Eindruck, dass der Gesund-heitsfonds das große Problem ist, ist falsch. Alle in die-sem Saal wissen, dass die Krankenversicherungsbeiträgeauch ohne Gesundheitsfonds hätten erhöht werden müs-sen. Insofern ist das, was Sie sagen, sachfremd.

(Jan Mücke [FDP]: Und deswegen warte ich ein Jahr?)

Die Art und Weise, in der Sie die gute und richtigeFörderpolitik der KfW in Ihrem Potpourri mitver-schwirbeln, ist nicht sehr hilfreich für die Debatte, diewir im Augenblick zu führen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es wäre auch kein wirksamer und dauerhafter Schutzfür Arbeitsplätze, jetzt die Staatsausgaben wahllos undmaßlos hochzufahren. Es macht keinen Sinn, mit natio-nalen Ausgabenprogrammen ein Strohfeuer zu entfa-chen, wenn am Ende langwirksame Belastungen durcheine neue Schuldenaufnahme entstehen. Wenn Sie sa-gen, man könnte das am besten organisieren, indem manSteuernachlässe bietet, dann stellen sich die Fragen:Welche Größenordnung hätten Sie denn gerne?1 Prozent des Bruttosozialproduktes? 2 Prozent desBruttosozialproduktes oder 3 Prozent? Sind Sie bereit,25, 50 oder 75 Milliarden Euro zusätzlicher Schuldenmit dem damit verbundenen Kapitaldienst zu schultern?Sie müssen schon konkreter werden und unseren Kin-dern und Enkelkindern erklären, was das auf Dauer anBelastungen mit sich bringt, statt in einer solchen De-batte einfach darüber hinwegzusurfen.

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19784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Bundesminister Peer Steinbrück

Ich will darauf hinaus, dass die Komponenten diesesProgramms in meinen Augen sinnvoll sind. Das sindImpulse für Investitionen: angefangen bei einer zeit-lich befristeten Wiedereinführung der degressiven AfA,über dringlich notwendige Verkehrsinvestitionen undeine Ausweitung der Gemeinschaftsaufgabe, über einCO2-Gebäudesanierungsprogramm, das auch strukturelllangfristig richtige Effekte hinsichtlich des Klima- undUmweltschutzes hat – das wird gut angenommen und istein Erfolgsmodell –,

(Beifall bei der SPD)

bis hin zur Sicherung der Finanzierung der kleinen undmittleren Unternehmen, indem wir, ähnlich wie wir esbei den Banken gemacht haben, eine Garantiepositionauch für das Kreditangebot an den Mittelstand in Gangsetzen. Letztlich übernehmen wir die Haftung, damit dasKreditangebot zunimmt. Wir entlasten auch privateHaushalte und tragen dabei zugleich den Interessen derHandwerker Rechnung, die gern in privaten HaushaltenDienstleistungen erbringen möchten.

Wir bauen ein weiteres Sicherheitsnetz für die Be-schäftigung, indem wir zum Beispiel die Bezugsdauerdes Kurzarbeitergeldes von zwölf auf 18 Monate verlän-gern und – auch über die Programmangebote der Bun-desagentur – den wichtigen Grundsatz verfolgen: Quali-fizieren statt entlassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mein Appell an die Unternehmen lautet: Halten Sie dieArbeitsplätze! Diese gut qualifizierten oder zu qualifi-zierenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brau-chen Sie aufgrund der weiteren demografischen Ent-wicklung in zwei, drei Jahren dringend. Deshalb setzenSie sie nicht auf die Straße, sondern nehmen Sie dieQualifizierungsangebote, die es gibt, an.

Ich möchte dieses Paket, über das immer einige sa-gen, es sei das kleine „k“ oder es sei nicht genug, nocheinmal in einen Gesamtzusammenhang stellen, dersehr schnell verloren geht.

Das Kabinett hat am 7. Oktober dieses Jahres Maß-nahmen verabschiedet, die den deutschen Steuerzahlerbzw. Abgabenzahler im nächsten Jahr um 6 MilliardenEuro und ab dem Jahr darauf um 14 Milliarden Euro ent-lasten werden. Das ist knapp vier Wochen her.

Ich erinnere daran, dass wir eine Unternehmensteu-erreform in Gang gesetzt haben, die die Unternehmenim nächsten Jahr um ungefähr 7 Milliarden Euro entlas-ten wird.

Ich erinnere daran, dass diese Große Koalition inner-halb von drei Jahren die Beiträge zur Arbeitslosenver-sicherung gesetzlich von 6,5 Prozent auf 3,0 Prozentund weitergehend auf 2,8 Prozent gesenkt hat. Das isteine Entlastung um 30 Milliarden Euro,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]:Richtig! Das hat Kollege Brüderle vergessen!)

und zwar paritätisch: Arbeitgeber auf der einen Seite,Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der anderenSeite. Dies erhöht die verfügbaren Einkommen der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und entlastet die Ar-beitgeber von Bruttoarbeitskosten.

Wir haben insbesondere über deutliche Personalver-stärkungen eine Erhöhung der Vermittlungsaktivitä-ten der BA in Gang gesetzt, weil wir bei den Tests, diewir durchgeführt haben, festgestellt haben, dass einePersonalverstärkung eindeutig bessere Ergebnisse in derVermittlung von Arbeitslosen zur Folge hat.

Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das wir ver-abschiedet haben, zielt auf eine Kreditversorgung derRealwirtschaft und ist dadurch ein stabilisierender Fak-tor.

Nicht zuletzt – das ist kein Verdienst der Bundesre-gierung oder des Parlaments – sind die deutlich gesunke-nen Öl- und Rohstoffpreise eindeutig das größte Ver-braucherförderungsprogramm, das es gibt, und zwar imzweistelligen Milliardenbereich.

Ich wäre dankbar, wenn das, was wir jetzt tun bzw.morgen im Kabinett beschließen werden, in Bezug zudiesen Komponenten gesetzt wird. Dann wird darausdurchaus ein System mit einer Größenordnung, von demich überzeugt bin, dass es wirksam ist. Es wird die typi-schen Reaktionen geben. Man wird alldem mit Gering-schätzung begegnen und sagen, die Dimension und dasKonzept seien falsch. Herr Brüderle, ich habe allerdingsin Ihrem Potpourri kein überzeugenderes Konzept ge-funden.

Ich sage abschließend: Wenn die Stimmen, die sichkritisch äußern, mithelfen würden, wenn sie nicht nuraus dem zweiten Rang Buhrufe organisieren oder mitfaulem Obst auf diejenigen werfen würden, die auf derBühne Verantwortung haben,

(Dr. Peter Struck [SPD]: So ist es!)

wenn diese kritischen Stimmen etwas mehr Zuversichtverbreiten und sich dafür einsetzen würden, dass wirwieder Vertrauen gewinnen, wenn diejenigen, die dieLeute auf die Bäume reden, gelegentlich auch die Lei-tern nehmen würden, um sie auf den Boden der Tatsa-chen zurückzuholen, und die Leute an die Hand nehmenwürden, statt sie nur rhetorisch hochzujubeln, wenn sichall diese Stimmen für das einsetzen würden, worum esjetzt in dieser schwierigen Lage geht, dann würden wirdie jetzigen konjunkturellen und finanziellen Problemesehr viel schneller und sehr viel besser überwinden alsdurch manche ritualisierte politische Auseinanderset-zung.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Oskar

Lafontaine das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19785

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Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir haben einen riesigen Schutzschirm für dieBanken aufgespannt; das wird niemand in Abrede stel-len.

(Jochen Borchert [CDU/CSU]: Nicht für die Banken!)

In letzter Zeit ist auch das Bild vom Schutzschirm fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wiederbemüht worden. Nach allem, was die Bundesregierunghier vorgetragen hat, bleibt folgende Bilanz: Der Schutz-schirm für die Banken ist riesig, der Schirm für die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist kaum zu sehen.Das ist ein falscher Ansatz der Wirtschaftspolitik. Dieswill ich begründen.

(Beifall bei der LINKEN)

Man hätte erwartet, dass Sie irgendeine Konsequenzaus dem ziehen, was täglich draußen passiert. Sie, HerrBundesfinanzminister, bitten die Arbeitgeber, nieman-den zu entlassen, sondern die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer zu qualifizieren. Wer würde das nicht gernunterstreichen? Wer würde nicht gern sagen: Bitte machtdas so? Aber was geschieht denn draußen? ZigtausendeLeiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden entlassen.Die erste Konsequenz wäre doch gewesen, diese löch-rige Regelung für die Leiharbeiter abzuschaffen, damitsich solches nicht wiederholt.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie reden hier immer nur über Dinge, ziehen aber über-haupt keine Konsequenzen.

Nun haben Sie vorhin einen Ansatz vorgetragen, aufden man eingehen kann. Sie haben gefragt: Wollen Sie1 Prozent, 2 Prozent oder 3 Prozent vom Sozialprodukt?Das ist ein Ansatz, über den man diskutieren kann. Sa-gen Sie doch, dass Sie der Überzeugung sind,0,3 Prozent des Sozialprodukts pro Jahr seien ausrei-chend. Das wäre allerdings ein lächerlicher Ansatz, HerrBundesfinanzminister. Wenn Sie in der jetzigen Situa-tion von einer Größenordnung von 0,3 Prozent sprechen,zeigt das, dass Sie die Größe des Problems überhauptnicht erfasst haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Als es damals in Schweden eine regionale Krise gab,wurden dort 3 Prozent des Sozialprodukts zur Verfügunggestellt. Sie können zwar sagen, das sei alles falsch undvöllig übertrieben gewesen. Aber die Schweden habenmit immerhin 3 Prozent des Sozialprodukts pro Jahr ver-sucht, gegenzusteuern. Diese Krise war allerdings eineregionale Krise. Jetzt befinden wir uns in einer globalenKrise. Wir werden im nächsten Jahr eine sehr tiefe Re-zession erleben. Um es in aller Klarheit zu sagen: DieSchrittlein, die Sie machen wollen, sind überhaupt nichtgeeignet, diese Rezession zu stoppen.

(Beifall bei der LINKEN)

Man muss nur einmal genau zuhören, was Sie hiervortragen. Der Wirtschaftsminister hat gesagt, wir müss-ten die Angebotsseite stärken. Da traut man den eigenen

Ohren nicht mehr. Sie haben in den letzten Jahren über-haupt nichts anderes gemacht, als die Angebotsseite derUnternehmen zu stärken.

Sie haben sogar nachgelegt, Herr Bundesfinanzminis-ter, und vorgetragen: Den Unternehmen haben wir7 Milliarden Euro erlassen. Sie haben außerdem vorge-tragen: Bei der Arbeitslosenversicherung haben wir30 Milliarden Euro erlassen. Hier muss man ergänzen:15 Milliarden Euro wurden den Arbeitnehmern und15 Milliarden Euro den Unternehmen erlassen. WennSie redlich gewesen wären, hätten Sie hinzufügen müs-sen: Das, was wir den Arbeitnehmern an dieser Stelle ge-geben haben, haben wir ihnen durch die Mehrwertsteuer-erhöhung doppelt und dreifach wieder genommen. –Dann würde daraus ein Gesamtbild werden. Aber mankann sich, wenn man das will, natürlich auch in die ei-gene Tasche lügen. Sie haben in den letzten Jahren ein-seitig entlastet. Das geht Ihnen anscheinend aber nicht inden Kopf, weil Sie die Zahlen nicht saldieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Weil das so ist, stellt sich die Frage: Wie kann mandie Konjunktur überhaupt stabilisieren? Was die Ange-botsseite angeht, wenn man also aus Sicht der angebots-orientierten Theorie argumentiert, haben Sie sich wirk-lich die Note „sehr gut“ verdient. Aber was ist mit denStaatsausgaben? Beim letzten Mal haben Sie hier von ei-ner sinkenden Staatsquote geredet. Ich habe Ihnen ge-sagt: Lassen Sie diesen Unsinn! Erzählen Sie keinen sol-chen Quatsch, den Sie nirgendwo vertreten können!Natürlich kann die Staatsquote in diesen Zeiten nichtsinken.

Sie haben ernsthaft am Ziel festgehalten, bis zumJahre 2011 eine Nullverschuldung des Haushalts zu er-reichen. Ich habe Ihnen gesagt: Das Lachen wird Ihnennoch vergehen. – So kann man nicht analysieren, underst recht darf man an diese Sache nicht so herangehen.Jetzt wäre es notwendig – überall auf der Welt wird dasauch gemacht –, die investiven Staatsausgaben deutlichzu erhöhen, um die Nachfrage zu stabilisieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie von Zweit- oder Dritteffekten sprechen,dann handelt es sich dabei um das international aner-kannte Mittel. Glauben Sie doch nicht, wir könnten hierin Deutschland die Ökonomie neu erfinden! Das ist dasinternational anerkannte Mittel. Wenn wir unsere eigeneSituation analysieren, stellen wir fest: Beim Export istdie Situation seit vielen Jahren hervorragend. Viele Un-ternehmen haben exorbitante Gewinne gemacht. Seitsehr vielen Jahren haben wir aber auch eine stagnierendeoder sogar sinkende Nachfrage auf dem Binnenmarktzu verzeichnen.

Wenn man an der richtigen Stelle ansetzen möchte,müsste man also die Nachfrage auf dem Binnenmarktstabilisieren. Das heißt nicht, Steuersenkungen anzukün-digen, von denen wir alle, die wir hier sitzen, profitierenwürden. Vielmehr muss man die Treppe einmal von un-ten kehren. Es geht also um Hartz-IV-Empfänger, Rent-nerinnen und Rentner und die Einführung des gesetzli-chen Mindestlohns. Das wäre eine Reaktion auf die

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19786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Oskar Lafontaine

Krise, um die Nachfrage, wenn auch nur ganz beschei-den, zu stabilisieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus Zeit-gründen kann ich diesen Gedanken nicht weiter fortfüh-ren. Ich will aber noch etwas zu den Konsequenzen, dieSie aus der Finanzkrise gezogen haben, sagen. Ich kannnicht erkennen, dass Sie irgendwo ansetzen, um Konse-quenzen zu ziehen. Sie betteln lediglich bei den Bankenund sagen: Nehmt unser Geld! – Ansonsten machen Sienichts.

Es waren mehrere Punkte, die diese Entwicklung er-möglicht haben. Ein Aspekt war zum Beispiel die Mög-lichkeit, in Zweckgesellschaften auszulagern. Warumhaben Sie diese Möglichkeit nicht gestrichen? Warumgibt es noch keine Vorlage, durch die dies in Zukunftvermieden wird? Das ist doch die Frage.

(Beifall bei der LINKEN)

Ferner haben Sie der Verbriefung Tür und Tor geöff-net. Das steht auch im Koalitionsvertrag. Warum gibt esaber keine Vorlage, durch die diese Geschäfte in Zukunfteingeschränkt bzw. verboten werden? Warum ziehen Siekeine Konsequenzen?

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben weitere Vorschläge gemacht, um aus derFinanzkrise Konsequenzen zu ziehen. Auf einen unsererVorschläge, der einen Grundsatz der wirtschaftlichenOrdnung thematisiert, will ich jetzt zu sprechen kom-men. Wir haben Ihnen gesagt: Setzt keine falschen An-reize im Hinblick auf das Handeln der Manager, nichtnur bei den Banken – allerdings insbesondere bei denBanken –, sondern auch in der Wirtschaft generell. Wirhaben auch von Ihnen gefordert: Verbieten Sie Aktien-optionen! – Aber Sie haben all das abgelehnt.

Warum haben wir das gefordert? Weil die einseitigeOrientierung auf Shareholder-Value und auf das eigeneEinkommen eine grundsätzliche Fehlentwicklung ist.Man muss nachhaltig wirtschaften und darf nicht kurz-fristig Aktien hochjubeln, um das eigene Einkommen zusteigern. Das ist ein Fehlanreiz. Warum tun Sie hiernichts?

(Beifall bei der LINKEN)

Sie beklagen die Bonuszahlungen der Banken. DieFrage ist doch: Warum gibt es keine Vorlage, um dieZahlungen solcher Boni einzuschränken?

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben gesagt, weil das populistisch ist – ich habeIhnen das schon einmal vorgehalten –: Bei den Banken,die so gnädig sind, das Kapital, das wir anbieten, anzu-nehmen – so muss man das heute ja fast formulieren –,wollen wir die Managergehälter befristet begrenzen. –Hier geht es um einen Grundgedanken der Wirtschaft,den ich als Fraktionsvorsitzender der Linken gerne undmit Genuss ansprechen möchte. Ich zitiere WalterEucken: Eine Marktwirtschaft kann nur funktionieren,wenn Freiheit auf der eine Seite ist, aber auch Verant-

wortung und Haftung für das eigene Tun auf der anderenSeite.

(Beifall bei der LINKEN)

Durch falsche Anreizsysteme sind in den letzten Jah-ren insbesondere bei den Banken Verantwortung undHaftung im Management ausgesetzt worden. Das ist eineUrsache für die Fehlentwicklung der marktwirtschaftli-chen Ordnung.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe nicht erkennen können, dass Sie irgendwo ei-nen Anreiz geben, um daran etwas zu ändern.

Eine letzte Bemerkung. Ich wiederhole es hier immerwieder, obwohl ich nicht den Eindruck habe, dass dasgroßartige Wirkung zeigt: Wir haben derzeit Währungs-krisen in der Welt. Unter diesen Währungskrisen leidetauch die deutsche Exportwirtschaft. Deswegen wäre esganz nett, wenn Sie angesichts einer Reihe von Vor-schlägen, die schon sehr, sehr lange im Raum sind, etwasdazu sagen würden, wie Sie in Zukunft dazu beitragenwollen, dass Währungskrisen dieser Art – ich denke jetztnur einmal an die Bewegung des Yen gegenüber demEuro – in Zukunft vermieden werden; denn nur so kannman das Wachstum dauerhaft stabilisieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Fritz Kuhn das Wort.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man über die Ursachen der Krise redet, die sichjetzt abzeichnet, dann kommt man auf ein vielschichti-ges Bild.

Die einen sagen wahrscheinlich nicht zu Unrecht,dass es starke psychologische Faktoren dafür gibt, dassdie Investitionen laut den Umfragen jetzt zurückgehen.Wahrscheinlich schlägt die Finanzkrise auch schondurch, weil Kreditverkürzung und -verknappung ange-sagt sind. Vielleicht ist das auch ein allgemeiner Kon-junkturrückgang im Rahmen einer Weltkonjunkturkrise.Schließlich gibt es den Krisenfaktor – den erkennen wirbei der Automobilindustrie –, also dass gegenwärtig zumTeil versucht wird, mit falschen Produkten auf denMarkt zu gehen, mit Produkten, die niemand abnimmt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist also ein ganz diffuses Bild der Krise. In einemsolchen Moment kann und muss der Staat reagieren. Erkann aber nicht blind mit einem Sammelsurium vonMaßnahmen agieren, sondern er muss – ich greife dasWort des Finanzministers auf, wenn wir auch eine an-dere Konsequenz ziehen – zielgenau und effektiv ein-greifen, da es sonst nicht funktioniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für ein Konjunkturprogramm im großen Stil – Ent-lastung auf allen Ebenen – fehlen die Mittel natürlich

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19787

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Fritz Kuhn

vollständig. So etwas kann man nicht mit 30 MilliardenEuro, sondern so etwas müsste man mit 100 oder150 Milliarden Euro machen. Dabei käme aber einegroße Verschuldung heraus, und bei vielen würde daswahrscheinlich nur ein Strohfeuer bewirken.

Deswegen ziehen wir Grüne eine andere Konsequenz.Wir haben heute in der Fraktion ein Papier beschlossen,das jetzt vorliegt. Wir sagen: Wenn wir gegen solcheschillernden, also vielschichtigen Krisenphänomene ef-fektiv und wirksam vorgehen wollen, dann dürfen wirdas nicht mit einem blinden und wilden Konjunkturpro-gramm und auch nicht mit einem Sammelsurium tun,sondern dann müssen wir gezielte Investitionen in Berei-chen tätigen, in denen wir ohnehin Probleme haben undetwas tun müssen, weil uns die Folgekosten unterlasse-nen Handelns teuer zu stehen kommen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dadurch entstehen letztendlich Arbeitsplätze, und wirlösen Probleme, die wir ohnehin lösen müssen, die wirverdrängen und vor uns herschieben.

Deswegen muss jetzt ein vernünftiges Investitions-programm – ich sage noch einmal: kein blindes Kon-junkturprogramm – für drei Bereiche greifen.

Der erste Bereich ist die ökologische Modernisie-rung. Wir haben hinsichtlich der Themen Energie, Ver-kehr und auch ökologische Modernisierung Vorschlägegemacht, mit denen wir weiter als die Bundesregierunggehen. Es geht zum Beispiel um Wasserentsorgung und-aufbereitung; hier schieben wir viele Kosten vor unsher. Wir sagen: Mit grünen Ideen und ökologischen In-vestitionen kann man schwarze Zahlen schreiben undArbeitsplätze schaffen, wenn man etwas mehr Mittelrichtig in die Hand nimmt und Investitionen vorzieht, diewir für den Klimaschutz ohnehin tätigen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Steinbrück und Herr Glos, dabei darf man aberkeinen solchen Unsinn machen, wie Sie ihn bei der Kfz-Steuer vorhaben. Dass man jetzt die großen Fahrzeuge– auch die CO2-Dreckschleudern –, die von den Leutenübrigens zu Recht nicht mehr abgenommen werden, weilsie nicht blöd sind, für ein Jahr von der Kfz-Steuer be-freit – in der Glos’schen Variante wird noch ein Kaufkre-dit gewährt –, ist doch der blanke Unsinn. Keynesianis-mus zulasten der Umwelt – das ist es, was Sie vorhaben,Herr Glos – kann nicht funktionieren. Erklären Sie denMenschen, warum für einen Geländeschlitten eine Steu-ervergünstigung von 1 800 Euro vorgesehen ist, für einkleines Auto aber nur 130 Euro! Das ist doch Unsinn.Deswegen richte ich einen Vorschlag an Sie: RäumenSie diesen Mist weg! Führen Sie endlich eine CO2-bezo-gene Kfz-Steuerreform durch, die dazu führt, dass end-lich die Fahrzeuge gefördert werden, die wenig emittie-ren, damit wir die strukturelle Krise im Fahrzeugbau inDeutschland überwinden und endlich Autos bauen, dieder modernen Zeit – das heißt dem Klimaschutz –adäquat sind, statt solcher Schrottdinger, die man nichtmehr fahren kann. Das ist eine ganz einfache Antwort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das zweite Investitionsfeld neben der ökologischenModernisierung – es erstaunt mich, dass Sie das nichtaufgreifen, obwohl Sie an anderen Stellen darüber reden –ist die Bildung in Deutschland. Wenn wir mehr für Bil-dung tun – damit meinen wir Personalausstattung, Ge-bäude, Ganztagsschulen, also die ganze Breite dessen,was auf dem Bildungsgipfel ergebnislos diskutiert wor-den ist –, dann erreichen wir zwei Ziele: erstens mehr Ge-rechtigkeit – denn Bildung ist Gerechtigkeit –, und zwei-tens machen wir unser Land innovationsfähig.

Meiner Meinung muss man gerade dann, wenn manin Krisen kommt, die Innovationsfähigkeit eines Landessteigern. Das geht nur über Bildung. Deshalb liegt derzweite Investitionsschwerpunkt auf der Bildung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der dritte Investitionsschwerpunkt – ich sage bewusstInvestitionsschwerpunkt und nicht Konsumschwerpunkt,Herr Kauder – bezieht sich auf die Frage, wie wir in un-serem Land gerade in einer solchen Situation für mehrGerechtigkeit sorgen können. Dabei komme ich in einem– allerdings in einem einzigen – Punkt zu einem ähnli-chen Ergebnis wie Herr Lafontaine. Das Arbeitslosen-geld II ist nach allgemeiner Überzeugung zum Beispielder Wohlfahrtsverbände und auch schon von Gerichten inHessen – es wird auch bald vor das Bundesverfassungs-gericht kommen – zu niedrig und mit Blick auf die Kinderin Arbeitslosengeld-II-Haushalten nicht mehr ausrei-chend. Warum erhöhen wir nicht das Arbeitslosengeld II,statt diffuse Steuersenkungen vorzunehmen, die breit ge-streut sind und kaum konjunkturelle Effekte haben wer-den? Damit schaffen wir mehr Gerechtigkeit. Dass dasGeld wieder zurückkommt, ist logisch; denn die Men-schen können es gar nicht sparen. Sie müssen es für Kon-sum ausgeben, wenn die Mittel im Familienhaushaltknapp sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Steinbrück, auch wenn Sie anders argumentierthaben, kann ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dassdie von Ihnen vorgelegten Vorschläge ein Sammelsu-rium sind, dem keine klare ordnungspolitische Theoriezugrunde liegt und das keine klare Konzeption hat.

Stattdessen schlagen wir vor: Lasst uns mit den vor-handenen Mitteln oder mit Mitteln, die vorgezogen wer-den müssen oder gegenfinanziert werden können wie beider Kfz-Steuer, in Klimaschutz, Bildung und mehr so-ziale Gerechtigkeit investieren. Damit tun wir das Besteauch gegen die drohende Wirtschaftskrise.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Der Kollege Dr. Michael Fuchs spricht nun für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Page 38: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

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Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Herr Kollege Lafontaine, als Allererstes muss ich Ihnensagen, dass ich mich darüber wundere, dass Sie anschei-nend mittlerweile nicht einmal mehr Zeitung lesen. DerDollar ist im letzten Monat gegenüber dem Euro um über20 Prozent an Wert gestiegen. Das bedeutet ein dickesKonjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft, weildamit die Exporte in die dollarabhängigen Regionen – dassind fast 40 Prozent unseres Exports – erleichtert werden.

Darüber können wir alle froh sein. Das wird auchletztlich der Automobilindustrie vermutlich mehr helfenals eine Einsparung bei der Kfz-Steuer für ein, einein-halb oder zwei Jahre.

Ich meine, dass die Bundesregierung mit diesem Pa-ket schon einige richtige Maßnahmen vorgesehen hat.Sie hat bei der Finanzkrise gezeigt, dass sie schnell, ver-nünftig und zielgenau gehandelt hat. Wir haben meinerMeinung nach im Vergleich mit den Programmen welt-weit das vernünftigste Programm hinbekommen, undzwar in großer Einigkeit in diesem Hause. Sie habendazu gar nichts beigetragen; Sie haben nur gestört.

(Widerspruch des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])

Ich glaube auch, dass wir jetzt weiter in die richtigeRichtung unterwegs sind, weil wir mit den Maßnahmen,die der Bundeswirtschaftsminister zusammen mit demBundesfinanzminister ausgearbeitet hat, gerade im Be-reich der Gebäudesanierung, Herr Kuhn, die CO2-Ein-sparung etc. fördern, dem Handwerk helfen und auch indiversen anderen Bereichen hilfreich tätig sind. GezielteInvestitionen müssen jetzt her. Es darf nicht irgendwoherumgekleckert werden; das bringt gar nichts. Nachmeiner Meinung gewährleistet das dieses Programm.

Ich weiß genau, dass wir in bestimmten Bereichenviel mehr machen müssten. Aber das zentrale Ziel derGroßen Koalition war immer, so schnell wie möglich ei-nen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Wir habenuns das für 2011 vorgenommen. Wir hätten das auch er-reicht, wenn die Finanzmarktkrise nicht auch unser Landgetroffen hätte. Dem kann sich kein Mensch entziehen.Das konnte keine Bundesregierung ahnen. Man kannnicht argumentieren, dass das unser Fehler ist. Das wares ganz sicherlich nicht. Ich finde, dass der Bundes-finanzminister und der Bundeswirtschaftsminister genauden richtigen Weg aufgezeigt haben, den wir jetzt zu ge-hen haben. Dennoch darf das Ziel, einen ausgeglichenenHaushalt vorzulegen, nicht aus den Augen verloren wer-den. Wir müssen uns fragen, ob es nicht möglich ist, indem einen oder anderen Bereich, vor allen Dingen dort,wo wir konsumtiv Gelder ausgeben, Einsparungen vor-zunehmen, um den Folgen der Finanzmarktkrise einbisschen entgegenzusteuern, damit wir dieses Ziel nichtallzu weit aus den Augen verlieren.

Ich halte es für richtig, die KfW-Mittel aufzustocken,wie der Bundeswirtschaftsminister eben erklärt hat. Al-lerdings müssen wir dabei die Banken auffordern, dafürzu sorgen, dass diese KfW-Mittel durchgereicht werden.Ich selber habe als Unternehmer erlebt, dass KfW-Mittelnicht unbedingt sofort angeboten werden, weil die Ban-

ken natürlich ein Interesse daran haben, dem Kunden zu-erst ihre eigenen Produkte zu verkaufen. Dafür habe ichjedes Verständnis. Auf jeden Fall müssen wir die günsti-gen KfW-Mittel publik machen. Dafür ist eine Bundes-tagsdebatte sicherlich gut und richtig. Aber parallel dazumüssen die Banken aufgefordert werden, die KfW-Mit-tel so schnell wie möglich an die mittelständische Wirt-schaft weiterzureichen, damit diese Mittel abgerufenwerden. Wenn man sich das eine oder andere Programmder KfW anschaut, dann stellt man fest, dass die Mitteloft nicht dort ankommen, wo sie ankommen sollten. Hiermuss noch nachgearbeitet werden.

Ich halte es für notwendig – Herr Lafontaine, auch hierhaben Sie wieder unrecht; aber das sind wir gewohnt –,ein internationales Programm für Finanzmarktregulie-rungen anzugehen. Es nutzt uns gar nichts, wenn wir ir-gendetwas in Deutschland machen. Dann machen dieBanken es eben in Irland, auf den Cayman Islands oderirgendwo anders auf der Welt. Wir können mit einemFinanzmarktregulierungsprogramm nur etwas erreichen,wenn wir alle mitnehmen. Ich erinnere daran, dass dieBundeskanzlerin schon in Heiligendamm genau das ge-wollt hat; das ist eineinhalb Jahre her. Aber damals wa-ren Blair und Bush nicht bereit, mitzuspielen. Wir wärensonst schon ein gutes Stück weiter und hätten auf diesemGebiet den einen oder anderen Ansatz. Wir haben heutein meiner Fraktion dazu ein Papier beschlossen. Wirwerden mit den Kollegen von der SPD in Kürze tätigwerden. Die Bundeskanzlerin wird auf dem G-20-Gipfelein solches Programm einfordern. Das funktioniert abernur, wenn alle mitspielen. Ich hoffe, dass die Amerika-ner und die Engländer das mittlerweile begriffen haben.Die angelsächsischen Länder waren bislang nicht geradehilfreich.

Für mich ist noch ein anderer Punkt wichtig. Wirmüssen alles auf den Prüfstand stellen, was zurzeit be-lastend wirkt und was zusätzlich belastend auf die deut-sche Wirtschaft sowie auf die Bürgerinnen und Bürgerzukommt. Folgendes möchte ich wirklich infrage stel-len: Es kann in meinen Augen nicht angehen, dass dasEmission-Trading, der Emissionshandel, aufgrund derVerteuerung durch die Vollauktionierung der CO2-Zerti-fikate dazu führt, dass gerade die deutsche Wirtschaftbesonders betroffen wird, und zwar in zweierlei Hin-sicht. Wir haben hier die meisten Industrieunternehmenin Europa. Das können Sie nicht mit Schweden verglei-chen. In Schweden gibt es beispielsweise keine chemi-sche Industrie. Bei uns ist das größte chemische Unter-nehmen der Welt angesiedelt, nämlich BASF in meinemHeimatland Rheinland-Pfalz. Sie können auch nicht da-von ausgehen, dass wir so günstig Energie erzeugen, wiees Frankreich tut, wo der Anteil der Kernkraft bei87 Prozent liegt. Wir müssen also sehr aufpassen, dasswir die deutschen Unternehmen mit der Vollauktionie-rung nicht zu sehr belasten. Sie hat ungefähr 5 Milliar-den Euro zusätzliche Belastung pro Jahr zur Folge, unddas nur im Energiesektor. Ob wir uns das in dieser Phaseleisten können, weiß ich nicht. Wir sollten den Beginndieses Programms ein wenig verschieben. Ich halte dasfür notwendig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

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Page 39: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19789

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Dr. Michael Fuchs

Lassen Sie mich noch einen Satz zur Automobil-industrie sagen. Ich glaube wirklich, dass die Auto-mobilindustrie durch den stärker gewordenen Dollarsehr schnell wieder Tritt fassen wird. Ich halte es auchfür richtig, dass wir so schnell wie möglich mit den Bun-desländern eine Einigung finden und dafür sorgen, dassdieses CO2-Minderungspaket eingebaut wird und wireine CO2-abhängige Kfz-Steuer hinbekommen. Dasmuss schnell gehen, weil es meiner Meinung nach sehrgefährlich ist, die Leute in Unsicherheit zu lassen, weilsie nicht wissen, welche Steuern sie nachher zu zahlenhaben. Wir sollten nicht noch zwei Jahre warten. Wennwir 500 Milliarden Euro innerhalb einer Woche bereit-stellen können, dann muss auch so etwas schnell gehenkönnen.

Herr Bundesfinanzminister, ich habe eine Bitte anSie. Bitte streichen Sie so schnell wie möglich die imJahressteuergesetz vorgesehene Einschränkung des Vor-steuerabzugs für dienstlich genutzte Kraftfahrzeuge.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das führt dazu, dass heftigst gespart und darüber nach-gedacht wird, nicht zu investieren. Ich halte es für not-wendig, dass das so schnell wie möglich getan wird.

Zum Schluss. Im Herbstgutachten, das vor drei Wo-chen erschienen ist, steht eine Reihe von Punkten. Die-ses Maßnahmenpaket haben wir zum Teil umgesetzt,aber nicht alles. Es ist richtig, dass wir nicht alles umge-setzt haben, weil wir für diese Einsparungen einfachnicht die Steuermittel haben. Dennoch glaube ich, dasseine weitere Direktentlastung der Bürger notwendigwäre. Herr Bundesfinanzminister, in einem Punkt bin ichmit Ihnen nicht einig – sonst bin ich fast immer mit Ih-nen einig –: Wenn Sie beispielsweise die steuerliche Ab-setzbarkeit der Kranken- und Pflegeversicherungsbei-träge vorziehen würden, hätte das sehr wohl Wirkungenin 2009; denn die Menschen sind nicht blöde. Sie tragendas auf der Lohnsteuerkarte ein, oder sie senken ihre Vo-rauszahlungen. Das alles kann man machen, und damitwird das schon 2009 wirksam. Ich halte das für richtig.

Wir sollten auch darüber nachdenken, ob nicht wei-tere Spielräume bei den Lohnzusatzkosten erarbeitetwerden können. Hier haben wir mit dem Ausgleichsbei-trag, den die Bundesagentur für Arbeit zu zahlen hat, einverfassungsrechtlich größeres Problem. Dass uns das er-halten bleiben wird, wage ich zu bezweifeln. Wenn wirwissen, dass uns das nicht erhalten bleiben wird, dannwäre es sinnvoll, bereits jetzt nach einer Lösung zu su-chen.

Das Programm, das jetzt aufgelegt wird, bedeutet ei-nen Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen abersehr genau die Situation am Arbeitsmarkt und in der ge-samten Wirtschaft beobachten. Es kann durchaus sein,dass wir das eine oder andere noch nachsteuern müssen.Wir sind dazu bereit, wenn es sein muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol-

lege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Ludwig Stiegler (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu-

nächst möchte ich der Bundesregierung,

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Danken!)

dem Bundesfinanzminister und dem Bundeswirtschafts-minister danken.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das kommt jetzt überraschend!)

Es ist fast wie in der ersten Großen Koalition: Wenn dieKrise da ist, sind auch Plisch und Plum da, die dagegenankämpfen müssen. Ich denke, Sie haben mit dem Ge-samtmosaik durchaus ein richtiges Bild gezeichnet. HerrBrüderle war mit der Nase zu nahe dran, und OskarLafontaine will eh nur das sehen, was er bekämpfenkann. Aber wenn man mit dem nötigen Abstand heran-geht, dann sieht man: Dieses Mosaik von Maßnahmenpasst zu der ökonomischen Landschaft. Deshalb solltenSie, Herr Brüderle, uns lieber unterstützen, anstatt Ihrealten Steckenpferde hier zu reiten.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber er hat keine Scheuklappen!)

Das passt nicht für diesen Bereich.

Das Wichtigste ist: Wir nehmen zur Kenntnis, dassdie Weltwirtschaft in einem schweren Abschwung ist,was vor Wochen noch nicht der Fall war; wir nehmenzur Kenntnis, dass die europäische Wirtschaft zu einemStillstand gekommen ist und das Risiko eines Ab-schwungs besteht; und wir nehmen zur Kenntnis, dassdie deutsche Wirtschaft in einer Gefährdungslage ist.Dagegen gehen wir an. Wir sagen nicht wie manche Pro-fessoren, das sei Schicksal und man müsse unter demunteren Bogen des Zyklus durchlaufen, sondern wir sa-gen, dass wir uns gegen den Wind lehnen und etwas ge-gen die falsche Entwicklung tun können.

Was wir hier brauchen, Herr Brüderle, sind Investitio-nen. Wir haben in Deutschland aber weit mehr Erspar-nisse, als es Investitionen von Bund, Ländern undGemeinden sowie von privater Wirtschaft gibt. Darumhaben manche Banken Ersatzinvestitionen, nämlich indiese toxischen Papiere, getätigt. Wenn wir es jetztschaffen, die Privaten zu veranlassen, zu investieren,und wenn die öffentliche Hand, und zwar Bund, Länderund Gemeinden, investiert, Herr Brüderle, dann nutzenwir die Ersparnisse in diesem Land für Wachstum undfür Beschäftigung. Darauf zielt dieses Programm, dasdie Bundesregierung aufgelegt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sollten auch darauf achten, dass wir internationalaktiv bleiben. Wir Deutschen allein können uns nichtwie Münchhausen selber aus dem Sumpf ziehen; viel-

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19790 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

(A) (C)

(B) (D)

Ludwig Stiegler

mehr brauchen wir bei G 7, bei G 8, bei G 20 oder beiGott weiß welchen Gs eine internationale Abstimmung.

(Heiterkeit bei der FDP)

– Ja, Sie denken wieder an den G-Punkt oder irgendet-was Ähnliches; aber das ist nicht in Ordnung. – Wirbrauchen eine internationale Abstimmung. Deshalb istes wichtig, dass alle europäischen Länder – wie damalsbeim Venedig-Gipfel von Helmut Schmidt vorgemacht –und die wichtigsten Volkswirtschaften der Welt inKooperation mit dem Weltwährungsfonds zusammen-arbeiten, damit wir uns weltweit gegen die Entwicklunglehnen, damit wir weltweit durch ein abgestimmtes Ver-halten auch in der Ökonomie vorankommen. Der Welt-währungsfonds forderte das schon seit dem April diesesJahres. Er hat diese Entwicklung eher überschätzt als un-terschätzt.

Es geht um die Hebelwirkung. Mit der Gebäudesanie-rung, mit der Investitionsförderung lösen wir durch eineüberschaubare Förderung mit staatlichen Mitteln erheb-liche private Investitionen aus. Diese Hebel müssen wirnutzen. Diese Hebel werden uns auch dabei helfen, dasswir wieder an den Problemen ansetzen. Unsere Wirt-schaft ist bisher auf dem Exportmotor gefahren. DieserMotor stottert. Ihn können wir nur international wiederzum Laufen bringen. Es fehlen im Inland eben auch dieInvestitionen in Bauten, in Ausrüstungen, in Maschinenund in Anlagen. All das können wir durch diese Anstößevoranbringen. Deshalb sollten wir diese Möglichkeitenmiteinander nutzen.

Wir müssen, gerade was die Automobilindustrie an-betrifft, weniger auf die fetten Daimlers und BMWsschauen, auf diese großen Gesellschaften, die sehr gutverdient haben, die sehr viel Speck angesetzt haben. Sierepräsentieren nur etwa 25 Prozent der Wertschöpfung.75 Prozent der Wertschöpfung werden von den Zuliefe-rern erbracht, und deren Bilanz schaut nicht so gut aus.Denen müssen wir helfen, damit sie Produktionskürzun-gen überleben können. Wenn wir nicht aufpassen, befin-den sich am Ende der Krise ein Drittel oder mehr der Zu-lieferer nicht mehr auf dem Markt, und dann haben wires mit einem quasi automatischen Outsourcing zu tun.Hier muss die Automobilindustrie selber ihren Zuliefe-rern, denen sie die Aufträge kürzt, auch mit Kreditenbeistehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])

Die KfW und der Bund werden dabei sicher helfen. Wirhaben die ganz wichtige Aufgabe, das Gespräch mitdiesen Herrschaften zu suchen. Es darf nicht einfach

eine E-Mail verschickt werden, in der gesagt wird: Schi-cken Sie Ihre Leute weg!

Wir werden erleben, dass die Kurzarbeit, die fast ver-schwunden war, wiederkehrt. Ich bin froh, dass OlafScholz in diesem Paket verankert hat, dass während derKurzarbeit Qualifikation, Weiterbildung für die Zukunftdurchgeführt werden. Das Entscheidende ist, nicht zuentlassen und anschließend wieder zu suchen, sonderndie Zeit der Produktionspause zu nutzen, um sich aufden neuen Aufschwung vorzubereiten. Das ist unsereForm, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuschützen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine Vielzahl von Maßnahmen, die wir inter-national und national durchführen müssen. Ich bin froh,dass auch die Haushälter der Union – auch wenn HerrKampeter aus Protest weggeblieben ist – sehen: Nurdann, wenn wir uns jetzt gegen die Krise stemmen, wer-den wir einen ausgeglichenen Haushalt erreichen.

Als der Kollege Runde und ich zu Beginn der GroßenKoalition für das große Investitionsprogramm eingetre-ten sind, haben manche gesagt – ich kann mich noch er-innern –: Um Gottes willen; wir gefährden den ausgegli-chenen Haushalt. – Das Gegenteil war der Fall. Wirwachsen aus der Krise heraus; wir können uns nicht da-raus heraussparen. Das muss in die Köpfe hinein. Des-halb ist der Ansatz, den die Bundesregierung wählt, gut.Wir unterstützen ihn. Es muss noch nicht jedes Detailstimmen. Auch da gilt das Struck’sche Gesetz, das denFortschritt in der parlamentarischen Beratung definiert.Das werden wir wieder in Anspruch nehmen.

(Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD])

Entscheidend ist: Wir beugen uns nicht dem Geschickder Wirtschaft, sondern wir stemmen uns gegen denWind und kämpfen für Wachstum und Beschäftigung so-wie sichere Arbeitsplätze.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Mittwoch, den 12. November 2008, 13 Uhr,ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 18.31 Uhr)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19791

(A) (C)

(B)

Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Dr. Akgün, Lale SPD 04.11.2008

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Bätzing, Sabine SPD 04.11.2008

Beck (Bremen), Marieluise

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Dr. Berg, Axel SPD 04.11.2008

Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 04.11.2008

Bierwirth, Petra SPD 04.11.2008

Blumentritt, Volker SPD 04.11.2008

Brandner, Klaus SPD 04.11.2008

Brunkhorst, Angelika FDP 04.11.2008

Bülow, Marco SPD 04.11.2008

Bulmahn, Edelgard SPD 04.11.2008

Caspers-Merk, Marion SPD 04.11.2008

Edathy, Sebastian SPD 04.11.2008

Ferner, Elke SPD 04.11.2008

Fritz, Erich G. CDU/CSU 04.11.2008

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 04.11.2008

Geis, Norbert CDU/CSU 04.11.2008

Gloser, Günter SPD 04.11.2008

Götz, Peter CDU/CSU 04.11.2008

Gradistanac, Renate SPD 04.11.2008

Grasedieck, Dieter SPD 04.11.2008

Griese, Kerstin SPD 04.11.2008

Gröhe, Hermann CDU/CSU 04.11.2008

Grütters, Monika CDU/CSU 04.11.2008

Hänsel, Heike DIE LINKE 04.11.2008

Haibach, Holger CDU/CSU 04.11.2008

Hauer, Nina SPD 04.11.2008

Herzog, Gustav SPD 04.11.2008

Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Hörster, Joachim CDU/CSU 04.11.2008

Klimke, Jürgen CDU/CSU 04.11.2008

Kramer, Rolf SPD 04.11.2008

Krichbaum, Gunther CDU/CSU 04.11.2008

Kurth (Quedlinburg), Undine

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Dr. Lamers (Heidelberg), Karl A.

CDU/CSU 04.11.2008

Laurischk, Sibylle FDP 04.11.2008

Mattheis, Hilde SPD 04.11.2008

Meinhardt, Patrick FDP 04.11.2008

Mortler, Marlene CDU/CSU 04.11.2008

Mühlstein, Marko SPD 04.11.2008

Otto (Frankfurt), Hans-Joachim

FDP 04.11.2008

Rachel, Thomas CDU/CSU 04.11.2008

Ramelow, Bodo DIE LINKE 04.11.2008

Reiche (Cottbus), Steffen

SPD 04.11.2008

Rupprecht (Tuchenbach), Marlene

SPD 04.11.2008

Schauerte, Hartmut CDU/CSU 04.11.2008

Schily, Otto SPD 04.11.2008

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Page 42: Plenarprotokoll 16/185 - dipbt.bundestag.dedipbt.bundestag.de/dip21/btp/16/16185.pdf · Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 1 auf: Eidesleistung der Bundesministerin für Er-nährung,

19792 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008

(A) (C)

(B) (D)

Anlage 2

Erklärung nach § 31 Abs. 2 GO

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Cornelia Hirsch,Inge Höger, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,Sevim Dağdelen, Karin Binder, Dorothée Menzner,Dr. Diether Dehm, Eva Bulling-Schröter undDr. Norman Paech (alle DIE LINKE) zur Ab-stimmung über den Antrag: Den Kampf gegenAntisemitismus verstärken, jüdisches Leben inDeutschland weiter fördern (Tagesordnungs-punkt 3 a und b)

Wir haben uns an der Abstimmung über den Antrag„Den Kampf gegen Antisemitismus verstärken, jüdi-sches Leben in Deutschland weiter fördern“ nicht betei-ligt, obwohl der Antrag ein richtiges und notwendigesAnliegen formuliert. Die Linke und wir persönlich ha-ben uns stets in Wort und Tat gegen Antisemitismus,gleichgültig in welcher Spielart er vorgetragen wird, ent-schieden engagiert. Jedoch ist der Antrag ein überausschlechter Kompromiss, der diesem wichtigen Anliegenbei Weitem nicht gerecht wird, und die Umstände seinesZustandekommens sind skandalös.

Wir stellen mit Bedauern fest, dass die Unionsfrak-tion versucht, das Gedenken an die Reichspogromnachtund an die faschistischen Verbrechen an der jüdischen

Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 04.11.2008

Dr. Schmidt, Frank SPD 04.11.2008

Dr. Schwanholz, Martin SPD 04.11.2008

Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Dr. Strengmann-Kuhn, Wolfgang

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Teuchner, Jella SPD 04.11.2008

Voßhoff, Andrea Astrid CDU/CSU 04.11.2008

Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 04.11.2008

Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

04.11.2008

Wright, Heidi SPD 04.11.2008

Zapf, Uta SPD 04.11.2008

Zimmermann, Sabine DIE LINKE 04.11.2008

Zöllmer, Manfred SPD 04.11.2008

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Bevölkerung Europas für eigene, parteitaktische Zweckezu instrumentalisieren. Das degradiert diesen Antrag zurWahlkampfveranstaltung.

Der Antrag versucht, diejenigen als antisemitisch undantiamerikanisch zu diskreditieren, die Kritik an derKriegspolitik von Nato, USA und Israel äußern. Unterdem Deckmantel der Antisemitismus-Bekämpfung willer damit wesentliche außen- und innenpolitische Zieleder Bundesregierung legitimieren.

Die deklaratorische Feststellung, die Solidarität mit Is-rael entspreche der deutschen Staatsräson, soll nicht nurdas Existenzrecht Israels bestätigen, sondern sie dientvielmehr dazu, jegliche Kritik an der israelischen Politikfür illegitim zu erklären. Der Antrag suggeriert: Wer fürsich das Recht in Anspruch nimmt, den sogenanntenKrieg gegen Terror abzulehnen oder die israelische Poli-tik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zu kri-tisieren, stelle sich außerhalb der demokratischen Ge-meinschaft. Diese undemokratische, anmaßende Tendenzmacht den Antrag für uns untragbar.

Darüber hinaus drückt der Antrag zu viel Selbstzu-friedenheit mit den tatsächlichen Zuständen in Deutsch-land und dem Eintreten der Bundesregierung gegen An-tisemitismus aus und bleibt uns zu unkonkret, wenn esum die praktischen Schritte geht, die zur Bekämpfungvon Antisemitismus gegangen werden müssen.

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmungüber die Beschlussempfehlung zu dem Antragder Bundesregierung: Fortsetzung der Beteili-gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an demEinsatz der Internationalen Sicherheitsunter-stützungstruppe in Afghanistan (InternationalSecurity Assistance Force, ISAF) unter Füh-rung der NATO auf Grundlage der Resolution1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletztResolution 1833 (2008) des Sicherheitsrates derVereinten Nationen (183. Sitzung, Tagesord-nungspunkt 6 a)

Ich werde dem Antrag der Bundesregierung auf Ver-längerung des ISAF-Mandates und der Erhöhung derAnzahl der Bundeswehrsoldaten von 3 500 auf 4 500 zu-stimmen; dies aus folgenden Gründen:

Erstens. Die rot-grüne Bundesregierung hat durch denvon ihr 2001 in Gang gesetzten Petersbergprozess denAfghaninnen und Afghanen gezeigt, dass Deutschlandbereit ist, Afghanistan in einem schwierigen Wiederauf-bau- und Demokratisierungsprozess zu helfen. Es warklar, dass dieser Wiederaufbau nicht ohne militärischenSchutz vonstattengeht. Dieses Vorhaben wurde auch un-ter großer Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen aufden Weg gebracht. Wenn es heute schwierig wird und esgroße Probleme durch die aggressive Gegnerbekämp-fung im Rahmen von OEF gibt, die rücksichtslos auchviele Tote unter der Zivilbevölkerung in Kauf nimmt,

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 185. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 4. November 2008 19793

(A) (C)

(B)

dann darf dies trotz alledem nicht dazu führen, dass wirAfghanistan den Rücken kehren und es wieder den Tali-ban überlassen. Ein Nein bei der Abstimmung würde ge-nau dieses Signal aussenden.

Zweitens. Der Wiederaufbau wird nur dann weiterge-hen, wenn er militärisch gestützt wird. Die afghanischeBevölkerung, die dabei ist, ein aufgeklärtes demokrati-sches Staatswesen aufzubauen, in dem Gleichberechti-gung herrscht, Mädchen zur Schule gehen und Frauenöffentliche Ämter innehaben und aus der Abhängigkeitvon Patriarchen befreit werden sollen, muss dies ohneFurcht um Leib und Leben tun können. Und dazu bedarfes für eine gewisse Zeit des Schutzes von ISAF.

Drittens. Trotz der großen Schwäche der afghanischenRegierung, die zum Beispiel weder ernsthaft die Korrup-tion noch den Drogenhandel bekämpft, trotz der großenVersäumnisse der Bundesregierung und einer mangelhaf-ten Kooperation beim Wiederaufbau, trotz der zögerli-

chen Umsetzung eines dringend erforderlichen Strategie-wechsels – welcher zum Beispiel beinhalten sollte:besseren Schutz der Bevölkerung statt aggressive Geg-nerbekämpfung; Intensivierung der Ausbildung afghani-scher Sicherheitskräfte; Stärkung der Zivilgesellschaft;Förderung regionaler Friedensinitiativen – stimme ichmit Ja, um den Taliban keine falschen Signale der Ermu-tigung zu geben.

Viertens. Mein Ja ist auch der Tatsache geschuldet,dass in Afghanistan selbst Menschenrechtsorganisatio-nen, Frauenorganisationen, befreundete Politiker und Po-litikerinnen und Aufbauhelfer sich dringend gegen jedeForm der Reduzierung der Truppen aussprechen. Ange-sichts der anstehenden Wahlen in Afghanistan ist – imGegenteil – eine Erhöhung der internationalen Präsenznotwendig. Das Ja ist ein Zeichen an die Menschen in Af-ghanistan, die uns vertrauen und auf unsere Unterstüt-zung hoffen: Wir lassen Euch nicht im Stich!

(D)

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ISSN 0722-7980