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Praktische Philosophie und Pädagogik

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Praktische Philosophie und Pädagogik

Herausgegeben von Heinz Eidam und Frank Hermenau

Kasseler Philosophische Schriften 37

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Die KASSELER PHILOSOPHISCHEN SCHRIFTEN sind das Publikationsorgan der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für philosophische Grundlagenprobleme der Wissenschaften und der gesell-

schaftlichen Praxis.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 3-89958-035-4 © 2003, kassel university press GmbH, Kassel www.upress.uni-kassel.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsschutzgesetzes ist ohne Zustimmung der Rechteinhaber unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jochen Roth,Kassel / Melchior von Wallenberg, Kassel Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Verarbeitung: Unidruckerei der Universität Kassel Printed in Germany

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Inhalt

Vorwort 7

Wolfdietrich Schmied-KowarzikPraktische Philosophie und Pädagogik 11

Claudio Almir DalboscoTranszendentale Freiheit und Pädagogik 34

Heinz EidamDas Prinzip der Erziehungskunst oderZehn Thesen zur Aktualität der ReflexionenKants über Pädagogik 46

Wolfdietrich Schmied-KowarzikZur Dialektik gesellschaftlicher Praxis und GeschichteBemerkungen zu Schleiermacher, Hegel und Marx 59

Angelo V. CenciAnerkennung und Intersubjektivität.Elemente einer philosophischen Anthropologieim Anschluß an Hegel 80

Eldon Henrique MühlModerne, Ausbildung und Emanzipationin der Sicht von Habermas 96

Hans-Georg FlickingerPädagogik und HermeneutikEine Revision der aufklärerischen Vernunft 120

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Inhalt6

Gerson Luís TrombettaDie Pädagogik der ästhetischen Erfahrungim Kontext der Kulturindustrie 132

Frank Hermenau„Im Grunde erziehen wir immer schonfür eine aus den Fugen geratene Welt“Zum Verhältnis von Politik und Erziehungbei Immanuel Kant und Hannah Arendt 146

Zu den Autoren 156

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Vorwort

In der gegenwärtigen politischen Debatte in Deutschland geht es umBildung als Mittel zur Sicherung von Vorteilen im internationalenwirtschaftlichen Wettbewerb. Der bisweilen behäbige Stolz, übereines der besten Ausbildungssysteme der Welt zu verfügen, wurde inden letzten Jahren bekanntlich durch verschiedene internationale Ver-gleichsuntersuchungen gekränkt. Politik und Öffentlichkeit geben sichnun so alarmiert wie hektisch, droht doch in dem sich verstärkendeninternationalen Wettbewerb einem an Rohstoffen nicht eben reichenLand ein Verlust an materiellem Wohlstand, wenn der Nachwuchsnicht entsprechend qualifiziert ist. Erstaunlich an der neueren Diskus-sion in Deutschland ist allerdings, daß man auf den antiquiert wirken-den Begriff der Bildung überhaupt zurückgreift – ohne dabei freilichseinen spezifischen Sinn zu meinen, denn in den öffentlichen Diskus-sionen ist tatsächlich eher Qualifizierung gemeint, wo von Bildung dieRede ist.

‚Bildung‘ scheint nach wie vor mit einem Nimbus des Höherenverbunden, der die profanen Interessen veredelt und einen gewissenGlanz verleiht. Ein ‚gebildeter Mensch‘, gar eine ‚Persönlichkeit‘ ver-dient Hochachtung, so sehr man auch das Unnütze verachten mag, dassich nicht ganz zu Unrecht mit dem Begriff der Bildung eben auchverbindet, weil hier nicht an jeder Stelle gesagt werden kann, wozudieses oder jenes brauchbar ist. Hatte Adorno in den fünfziger Jahrennoch konstatiert, daß der Bildung in ihrem Zerfall zur sozialisiertenHalbbildung nichts geschehe, was im klassischen Bildungsbegriff inseiner Trennung von der materiellen Kultur nicht auch schon angelegtgewesen sei, so fällt an der gegenwärtigen öffentlichen Diskussioneher ihr unverhohlener Ökonomismus auf, der bis in die Terminologiehinein, etwa in der Rede von ‚Humanressourcen‘, sich gar nicht mehrdie Mühe macht, dem profanen Interesse die Weihe eines noch irgend-wie Höheren zu geben. Allein daß vom Begriff der Bildung ein solchinflationärer Gebrauch überhaupt gemacht wird, mag noch auf dasBedürfnis verweisen, sich selbst wenigstens nicht ausschließlich als

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Heinz Eidam, Frank Hermenau8

Element eines sozialdarwinistisch inszenierten Wettbewerbs sehen zuwollen.

Den Pädagogen und den an Bildung und Erziehung interessiertenPhilosophen kommt unter diesen Umständen die neue Debatte überBildung und Erziehung zugleich gelegen und ungelegen. Einerseits istman darüber erfreut, daß endlich überhaupt wieder über Bildung dis-kutiert wird, zugleich wird dies aber in einer Weise getan, die denmeisten Diskutanten nur als stark irritierend erscheinen kann: weil esfast ausschließlich um Qualifikation als Selektion und nicht um diemöglichst beste Entwicklung der Einzelnen im Prozeß der Erziehunggeht. Eben darum aber ging es einmal in dem Begriff der Bildung, undso gibt es eine gut begründete Tendenz, die klassischen Bildungs-konzeptionen und das von ihnen Intendierte gegen den verschärftenÖkonomismus in der Bildung zu verteidigen.

Zwar darf nicht verkannt werden, daß die Etablierung, Begrün-dung und Durchsetzung der modernen Institutionen der Bildung vonAnfang an in einem engen Zusammenhang stehen mit der Entstehungdes modernen Staatensystems und der modernen Ökonomie, doch for-muliert die universalistische Idee der Bildung, daß die Menschenetwas anderes als das Material des von ihnen selbst in Gang gehal-tenen Getriebes sein könnten und sein sollten. Bloß als Mittel dienteund dient Bildung immer nur der Perpetuierung der Unselbständigkeitund Unfreiheit, als Zweck meinte die Idee der Bildung dagegen die„Zueignung von Kultur“ in einer Weise, die es erlaubt, „Natur bewah-rend zu formen“ (Adorno) – für einen „zukünftig möglich bessrenZustand der Menschheit“, wie es Kant in aufklärerischer Absicht nochfrei von bildungsbürgerlichem Dünkel formulierte.

Die hier vorgelegten Beiträge sind sich einig in der Kritik an ei-nem bloß instrumentellen Verständnis von Bildung und Erziehung;inwiefern Bildung und Erziehung heute dem noch gerecht werdenkönnten, was mit ihrer Idee einmal gemeint gewesen war, bildet ihrengemeinsamen Horizont. Eine portugiesische Übersetzung dieses Ban-des wird zur gleichen Zeit an der Universität Passo Fundo, Brasilien,erscheinen.1 Er dokumentiert damit die Kooperationsarbeit der FächerPhilosophie und Erziehungswissenschaft der Universität Kassel undder Universität Passo Fundo, zwischen denen seit 1996 Arbeitskon-takte und seit 2001 ein formelles Kooperationsabkommen bestehen.

1 Claudio Almir Dalbosco (Hrsg.), Filosofia prática e pedagogia, Passo Fundo

2003.

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Vorwort 9

Die Beiträge der Kasseler Seite beruhen weitgehend auf Vorträgen,die auf Einladung der Universität Passo Fundo gehalten wurden. DerHerausgeber der portugiesischen Version des Buches, Claudio AlmirDalbosco, hat in Kassel promoviert, und aus dem Umfeld seines Pro-motionsprojektes stammt auch der in diesem Band publizierte Beitrag.Eldon H. Mühl und Angelo V. Cenci waren im Wintersemester2001/2002 zu Arbeitsgesprächen und als Referenten auf einem bil-dungsphilosophischen Kolloquium in Kassel.

Ebenso wie in Kassel gehört die Philosophie an der UniversitätPasso Fundo zum selben Fachbereich wie die Erziehungswissenschaftund ist auch an der Lehrerausbildung beteiligt, weshalb an beidenUniversitäten die Philosophie der Bildung und der Erziehung zu denKernbereichen der jeweiligen Arbeit gehört. Zugleich ist der Bereichvon Bildung und Erziehung aber auch ein Forschungsfeld, auf dembeide Disziplinen mit je eigener Perspektive zusammenarbeiten kön-nen und das es auch erlaubt, von den zum Teil sehr unterschiedlichenkulturellen und politischen Erfahrungen des je anderen Landes zulernen und so einen verwandelten Blick auf das je eigene zu bekom-men. So ist es, um nur ein Beispiel nennen, für den Gast aus Deutsch-land auffällig, ein welch wichtiges Thema Bildung und Erziehung inBrasilien ist und mit welcher Energie und mit wieviel persönlichemEinsatz, von gesellschaftlichen Hoffnungen begleitet, die Jüngerensich dort um Bildung bemühen. Auch der Unterschied der Erziehungs-einrichtungen beider Länder, die zum Teil großen sozialen Differen-zen, die unterschiedlichen, zum Teil aber auch erstaunlich ähnlichenLösungsansätze bieten Gelegenheit, Erfahrungen jenseits von Grund-satzdiskussionen zu sammeln.

Der vorliegende Band versammelt einige der Themen, von denenwir hoffen, sie in den nächsten Jahren mit Vertretern beider Diszipli-nen und beider Länder fruchtbar weiterdiskutieren zu können. Für dieÜbersetzung der Beiträge von Eldon H. Mühl und Gerson Luís Trom-betta danken wir Betina Lichtler. Hans-Georg Flickinger danken wirnicht nur für die Übersetzung des Beitrages von Angelo V. Cenci,sondern vor allem für seinen langjährigen Einsatz für den Austauschzwischen brasilianischen Universitäten und der Universität Kassel; sowurde auch die Kooperationsarbeit mit Passo Fundo überhaupt erstmöglich und somit auch der vorliegende Band.

Kassel, Juli 2003Heinz Eidam, Frank Hermenau

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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

Praktische Philosophie und Pädagogik1

1. Einstieg

Einst aus pädagogischen und politischen Problemstellungen erwach-sen, wird die praktische Philosophie heute, je mehr immer weitere Be-reiche gesellschaftlicher Praxis instrumenteller und strategischer Kal-küle unterworfen und auch die Disziplinen der Pädagogik und derPolitik im Zuge ihrer Professionalisierung und Instiutionalisierung indiesen Prozeß mit einbezogen werden, auf eine Ethik abstrakt-univer-saler Kommunikationsbedingungen und gleichzeitig rein-individuellerGrenzentscheidungen zurückgedrängt. Die sittlichen Grundlagen undZielperspektiven der gesellschaftlichen Praxis in ihren Konkretions-formen der Pädagogik und Politik geraten dabei immer mehr aus demBlickfeld der Begründungsdiskussion der praktischen Philosophie.

Gleichzeitig können jedoch die Gefahren nicht übersehen werden,die von den bloß instrumentell und strategisch gesteuerten wissen-schaftlich-technisch-ökonomischen Entwicklungsprozessen für dengeschichtlichen Bestand der Menschheit ausgehen. Immer weitereKreise familialer, kultureller und religiöser Bande werden der Domi-nanz der Wertökonomie geopfert, immer rücksichtsloser werden dieRessourcen der natürlichen Lebenskreisläufe ausgeplündert und diegiftigen Abfallprodukte den kommenden Generationen als Bürde auf-gelastet. Immer mehr wird das sittliche Zusammenleben als Richtmaßfür menschliches Handeln durch fremdgesetzte Kalküle ersetzt.

Im Hinblick auf die geschichtliche Verantwortung menschlichenHandelns gilt es, den inneren sittlichen Zusammenhang gesellschaft-licher Praxis und damit von Ethik, Pädagogik und Politik als Teil-disziplinen einer praktischen Philosophie erneut grundlegend zudurchdenken und für die weitere Diskussion fruchtbar zu machen.

1 Eine erweiterte Fassung dieses Beitrages erschien in: Stephanie Hellenkamps,

Olaf Kos, Horst Sladek (Hrsg.), Bildung, Wissenschaft, Kritik. Festschrift fürDietrich Benner zum 60. Geburtstag, Weinheim 2001.

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2. Die Grundlagen der Praktischen Philosophie

Obwohl es bereits vorher Reflexionen zur praktischen Philosophiegab, wird sie endgültig erst durch Sokrates, Platon und Aristoteles inihrer Besonderheit der Bestimmung sittlicher Praxis einer Polis-gemeinschaft ins Zentrum philosophischer Reflexionen gerückt. Dabeigehören Pädagogik, Politik und Ethik, von Anfang an unabdingbaraufeinander bezogen, in den Kernbereich praktischer Philosophie.

Schon Platons Sokrates unterscheidet – und Aristoteles systemati-siert dies dann ausdrücklich – praxis, als das auf das menschlicheHandeln bezogene menschliche Handeln, vom hervorbringenden Her-stellen der poiesis einerseits und vom wissenschaftlichen Erkennender theoria andererseits. Und so wird auch die praktische Einsicht(phronesis), in der es um die sittliche Aufklärung des menschlichenHandelns – als Bewußtmachung und Orientierung – geht, sowohl vonder episteme, die sich auf die theoretische Erkenntnis des Seiendenbezieht, als auch von der techne, die das kunstfertige Hervorbringenanleitet, abgegrenzt.2

Die sittliche Einsicht kann schon deshalb nicht wie eine technischeKunstfertigkeit eingeübt oder wie theoretisches Wissen erlernt wer-den, da sie sich auf je individuell erst zu treffende sittliche Hand-lungsentscheidungen in jeweils einmaligen Praxissituationen bezieht.Vielmehr geht es in der praktischen Einsicht um ein die Handlungs-entscheidungen anleitendes Orientierungswissen (doxa alethes) beson-derer Art, das die Philosophie – selbst im Primat der Praxis stehend –als allgemeingültige Ansprüche aufzudecken und weiterzuvermittelnhat.

2.1. Der pragmatische Grund – Sokrates (Xenophon) und Aristoteles

Der uns von Xenophon dargestellte Sokrates ist ein Sittenlehrer, derallen, die ihn um Rat fragen und denen er auf dem Marktplatz odersonstwo begegnet, ins Gewissen redet, tugendhaft zu handeln. Daßdies möglich sei, nimmt er fraglos an, da doch jeder einen Zugang zutugendhaftem Handeln habe und lediglich der belehrenden Anleitung

2 Vgl. Dietrich Benner/Wofdietrich Schmied-Kowarzik, „Theorie und Praxis“,

in: Josef Speck/Gerhard Wehle, Handbuch pädagogischer Grundbegriffe, 2Bde., München 1970, Bd. II, S. 590 ff.

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bedürfe. Was das Tugendhafte sei, leitete er nicht aus irgendwelchenüberkommenen religiösen oder politischen Leitzielen her, sonderndieses kann jeder aus Einsicht in sich finden und in seinem Handelnbewähren.

Xenophons Sokrates versucht, die sittliche Orientierungslosigkeitin Athen durch sittliche Bildung der Jugend, die mit ihm Umgangpflegt, zu überwinden, um so ein sittlich geordnetes Zusammenlebenin der Polisgemeinschaft zu befördern.

Dieser Sokrates des Xenophon ist dabei durchaus bereit, seineeigenen Einschätzungen der Situation und seine eigenen Überzeugun-gen als Anregungen und Entscheidungshilfen in die Gespräche einzu-bringen. In seiner abwägenden Besonnenheit, in seiner Scharfsinnig-keit und Unbestechlichkeit sowie in seiner weisen Liebenswürigkeiterweist er sich allen anderen Sittenlehrern überlegen.3

Hieran knüpft Aristoteles – nicht direkt, sondern durch seinePlaton-Kritik hindurch – wieder an und erweitert diesen Ansatz zueinem ethischen Pragmatismus. Obwohl Aristoteles eine Letztbegrün-dung des sittlichen Handelns aus der Idee des Guten im Sinne Platonsausdrücklich ablehnt, gelingt es ihm doch, die grundsätzliche Re-flexionsstruktur der praktischen Philosophie als Aufklärung vorgän-giger Praxis zur Orientierung ausständiger Praxis klar herauszu-arbeiten. Jeder Mensch strebt auf ein gutes Leben in Glückseligkeit(eudaimonia) hin, doch diese kann niemand allein für sich erreichen –selbst der Philosoph auf der Insel der Seligen der reinen theorianicht –, jeder steht in sozialen Zusammenhängen und kann nur inihnen glückselig werden. Daher ist die Ethik – wie auch die Pädagogikund die Politik – eingebettet in die politischen Wissenschaften derpraktischen Philosophie.

Themenfelder der Nikomachischen Ethik, die nun zum reflexivenZentrum der Disziplinen der praktischen Philosophie wird, sind dieentschiedene (bewußte und eingeübte) Beherrschung der eigenen Af-fektionen im Handeln (mesotes-Lehre), das rechtliche Handeln in derPolis (Vertrags- und Strafrecht) und schließlich als der vermittelndeKern von allem: die philia, die Liebe und Freundschaft in allen un-mittelbaren sozialen Beziehungen, die das tragende sittliche Funda-ment alles ethischen, pädagogischen und politischen Handelns ist.4

3 Xenophon, Memorabilien, München 1960.4 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Darmstadt 1967.

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Das Sittliche liegt im Streben des menschlichen Handelns selbst,doch kann es nicht von allein zu sich selber kommen. Daher ist es aufeine pädagogisch angeleitete Einübung und Bewußtmachung im Indi-viduum angewiesen und ebensosehr auf eine politisch geführte Durch-setzung und Sicherung in der Polisverfassung. So wie die Ethik zuihrer Verwirklichung in sittlicher Praxis unabdingbar auf Pädagogikund Politik angewiesen ist, so sind diese wiederum in der Ethik fun-diert, wenn sie nicht zu rein technischen Kunstfertigkeiten verkom-men sollen.

Schließlich steht alle praktische Philosophie selbst im Primat sitt-licher Praxis, die sie aufzuhellen und anzuleiten hat. Die Nikoma-chische Ethik, die Vorlesung zur Politik und die in ihnen enthaltenenFragmente zur Paideia unterstehen selber dem sittlichen Anspruch,den sie aufzuklären versuchen, und sie erfüllen in ihrer Aufklärungpädagogische und politische Aufgaben.

2.2. Die Begründungsproblematik – Sokrates (junger Platon) und Platon

Der von Sokrates (Xenophon) und von Aristoteles beschrittene Wegwird von Platons Sokrates und von Platon keineswegs verlassen, son-dern vielmehr um die Begründungsproblematik erweitert und vertieft.Der von Platon in seinen frühen Tugenddialogen und in seiner Apolo-gie des Sokrates gestaltete Sokrates versteht sich weder als einSittenlehrer noch gibt er sich mit einem ethischen Pragmatismus zu-frieden, er ist vielmehr der erste, der philosophisch nach einer Begrün-dung des Sittlichen sucht.

Bei Sokrates sind es zunächst pädagogische Grundfragen, andenen das Problem der sittlichen Bildung des Individuums als Voraus-setzung sittlichen Handelns in der Polis aufbricht: so die Frage nachder Lehrbarkeit der Tugend (Protagoras, Menon), nach der Sinnbe-stimmung der Tugenden (Euthyphron, Laches, Charmides, Thrasyma-chos) sowie deren Abgrenzung von der rein logischen Sophistik(Euthydemos) und von der bloß überredenden Rhetorik (Gorgias).Schließlich geht es – bereits durch Platon systematisiert – um dasProblem der Findung der je eigenen praktischen Einsicht = Anamnesis(Menon, Phaidon) sowie der notwendigen Angewiesenheit der heran-wachsenden Jugend auf pädagogische Führung = Maieutik (Theaite-tos, Symposion).

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In allen sokratischen Dialogen geht es um die Begründung undBestimmung sittlich-praktischen Handelns, aber keiner dieser Dialogedringt dabei bis zu einer positiven Antwort vor. Eine solche kanntheoretisch auch gar nicht gegeben werden, sondern jeder Menschkann zur sittlichen Einsicht nur in sich selbst finden und muß diese fürsich selbst im Handeln bewähren. Dazu bedarf es aber einer orientie-renden Anleitung, die nur im sittlich-pädagogischen Dialog hervorge-lockt werden kann. Diese dialogische Praxis wiederum gründet in dersittlich-politischen Gemeinschaft, die selbst wiederum nur in der dia-logischen Praxis der Miteinander-Handelnden fundiert und gesichertzu werden vermag.

Obwohl in die Tugend (arete), in das sittlich-praktische Handeln,sicherlich ein Moment des erprobten Könnens – der techne – undebenso ein Moment selbstreflexiven Wissens – der episteme – eingeht,wäre es für die sittlich-praktische Aufgabenstellung verheerend, könn-te sie wie eine episteme oder techne positiv benannt und mechanisiertwerden, wäre sie über Wissenserwerb und Übung erlernbar. Geradeweil die Philosophie, der philosophische Dialog, selbst unter dem Pri-mat der Praxis steht, der hier vor allem als ein sittlich-pädagogischerbegriffen wird, darf die Philosophie zu keinem positiv aussagbarenErgebnis kommen, sondern muß die Aufgabe der sittlich-praktischenSelbstfindung und Bewährung dem heranwachsenden Dialogpartnerzuspielen. Dies versuchen die sokratischen Dialoge über den drama-turgischen Kunstgriff des ergebnislosen Ausgangs der Gespräche beigleichzeitigem Appell, im Ringen um eine sittlich-praktische Selbst-findung und Bewährung nicht nachzulassen, zu erreichen. Sie machendadurch deutlich, daß es bei der sittlichen Einsicht, dem Gewissen(daimonion), um etwas geht, was in theoretischer Aussage niemals er-reicht zu werden vermag und doch der Bildung aus dem hinführendenGespräch bedarf.

Beim späteren Platon treten dann mehr und mehr politischeGrundfragen zur Begründung des Sittlichen in den Vordergrund. DerDialog, in dem Platon selber die Differenz zu den sokratischen Dia-logen markiert, ist das zweite Buch der Politeia. Das erste Buch ist eintypisch sokratischer Dialog (Thrasymachos), der wie alle sokratischenDialoge negativ endet. Im zweiten Buch treten dann die Brüder Pla-tons, Glaukon und Adeimantos, als Gesprächspartner hervor und for-dern Sokrates mit radikaler philosophischer Schärfe heraus, dochendlich nicht mehr nur in negativer Abgrenzung stecken zu bleiben,sondern positiv zu sagen, was Gerechtigkeit als sittliche Tugend sei,

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denn sonst seien die Argumente der Sophisten und Rhetoriker nichtabzuweisen, daß es im Handeln nur auf den Erfolg im Hinblick auf eingutes Leben ankomme und nicht auf die sittlichen Tugenden.

Nun steht der neue Sokrates, der nunmehr Platon selbst ist, vordieser letzten, unhintergehbaren Grundfrage aller praktischen Philo-sophie, das Sittliche positiv aus sich selbst begründen zu müssen. Esbeginnt der schwere und langwierige Aufstieg zur Idee des Guten, wieer in der Politeia dargelegt wird. Man glaube nicht, Platon behauptejetzt, positiv sagen zu können, was die aretai, die sittlichen Tugenden,seien. Auch die Idee des Guten ist nicht wie ein wissenschaftlicherErkenntnisgegenstand theoretisch aussagbar oder wie eine technischeKunstfertigkeit poietisch einübbar. Und doch muß es einen philoso-phischen Weg geben, positiv an die Idee des Guten, aus der allesittlichen Tugenden begründet sind, heranführen zu können.

Das, was Platon in der Politeia als drei gegen uns brandendeWellen von Voraussetzungen beschreibend ausführt, darf nicht als dasBild eines idealen, realisierbaren Staates verstanden werden. Es han-delt sich hierbei vielmehr um ironische und polemische Überspit-zungen, mit denen Platon auf Grundprobleme der politischen Ver-fassung hinzuweisen versucht, die durch die bestehende politischeIdeologie verdeckt werden. Erstens wird es Gerechtigkeit in einemGemeinwesen erst geben können, wenn die bisher herrschende Machtdes Privateigentums gebrochen ist. Zweitens ist der Besitz an Frauund Kindern abzuschaffen und damit die Gleichstellung von Mannund Frau zu befördern. Doch all dies ist noch nichts gegen die dritteWelle der Zumutung, ihre Realisierung ist noch viel unwahrschein-licher als die ersten beiden, doch eher kann auf jene, niemals jedochauf diese dritte verzichtet werden, wenn es je zur Verwirklichungeiner gerechten Polisgemeinschaft kommen soll. Es geht um die be-rühmt-berüchtigte Forderung, daß die Philosophen Könige und dieKönige Philosophen werden müßten – der Angelpunkt der politischenAussage Platons.5

Unter Philosophen versteht Platon nicht die, die sich damals – undbis heute – selber so nennen, sondern jene Männer und Frauen, dieeine periagoge, eine sittliche Umwandlung, vollzogen haben. Nurdiese sittlich gebildeten Menschen (Philosophen) können die wahrhaftgerecht Regierenden (Könige) sein. Das politisch Unwahrscheinlicheliegt für Platon jedoch nicht darin, daß es solche Frauen und Männer 5 Platon, Werke in 8 Bdn., Darmstadt 1970 ff. (Politeia 473c-e).

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geben könne, dazu bedarf es zwar besonderer, aber durchaus mögli-cher pädagogischer Anstrengungen, sondern darin, daß das Volk jesolchen sittlichen Menschen die Regierungsgeschäfte anvertrauenwerde, viel eher wird es sie vertreiben oder gar foltern und töten.

Doch wenden wir uns der eigentlich philosophischen Aussage zu(Politeia, 6-7). Um zu der letzten, alles begründenden Idee des Gutenpositiv vordringen zu können, bedient sich Platon der Sprache derGleichnisse, die wir jedoch nur dann verstehen, wenn wir uns selbstihrem philosophischen und sittlichen Gehalt stellen. Die geforderteperiagoge ist keine theoretische Erkenntnis von irgendeinem äußerenSeienden, sondern eine Umwendung nach innen, weil die Idee desGuten nichts anderes ist als der Anspruch des Sittlichen selbst, denjeder nur in sich selbst zu vernehmen vermag. Das ist der Sinn derAnamnesis-Lehre, der Wiedererinnerungslehre Platons (Menon). Jederfindet die Idee des Guten und mit ihr alle anderen Ideen nur in sichselbst. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß die Idee des Gutenetwas nur je Persönliches, Jemeiniges wäre. Ganz im Gegenteil, sie istetwas, das als Anspruch ausnahmslos jedem Menschen einleuchtet –vergleichbar der Sonne, die alles ins Licht taucht, damit ein Erkennenmöglich ist, und die zugleich Wärme spendet, so daß alles in je seinerWeise zu gedeihen vermag. Ebenso strahlt in jedem die Idee desGuten, die ihm den Sinn des In-der-Welt-Seins einsehen läßt und ihmseinen je eigenen sittlich-praktischen Auftrag in der Welt erschließt.

Im Symposion und im Siebenten Brief hat Platon den sittlich-pädagogisch-politischen Auftrag der Philosophie aus dem Primat derIdee des Guten nochmals anders im Gleichnis des pädagogischen Erosangesprochen. So wie der Eros als Vermittler zwischen der Welt dergeschauten Ideen und den elenden irdischen Verhältnissen hin und hereilen muß, so muß der Philosoph an der unendlichen Aufgabe mit-zuwirken versuchen, den Funken, den die Idee des Guten in ihmentflammen konnte, im Dialog auf den jugendlichen Gesprächspartnerüberspringen zu lassen, um so den Anspruch sittlich-tugendhaftenHandelns weiterzugeben von Generation zu Generation. Da die Ideedes Guten als Anspruch nur in jedem für sich aufzuflammen vermag,so kann der Philosoph nicht anders als durch den Dialog den Funkendieses Anspruchs im Gesprächspartner zu entfachen versuchen. In die-ser Hinsicht gleicht die Philosophie der Hebammenkunst, der Mai-eutik (Theaitetos), die aber niemals zu einer handwerklichen Kunst-fertigkeit werden kann, denn das das Sittliche erschließende Gespräch,das der Philosoph mit jedem einzelnen in die Polisgemeinschaft

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hineinwachsenden jungen Menschen zu führen hat, ist jeweils wiederneu und einmalig.

2.3. Kant – die Gesetzgebung der praktischen Vernunft für und durch den Menschen (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten)

In der Grundlegung der Metaphysik zur Sitten (1785) knüpft Kantdirekt an Sokrates und Platon an und führt die Bestimmung des „gutenWillens“, das tugendhafte Handeln aus sittlicher Einsicht, und dieBestimmung des Sittengesetzes, die Bestimmtheit der Tugenden ausder Idee des Guten, in der Bestimmung der menschlichen Freiheit inund aus der praktischen Vernunft dialektisch zusammen.

Entschieden nimmt Kant Partei für Platon und gegen Aristoteles:Denn jeder Versuch, den sittlich guten Willen aus der Glückseligkeitabzuleiten, instrumentalisiert die Sittlichkeit im Hinblick auf ein wieimmer bestimmtes Erfüllungsziel eines guten Lebens. Der gute Willekann nur aus dem Wollen des Guten selbst, aus der Achtung für dassittlich praktische Gesetz als sittlich gut bestimmt werden.

Unglücklicherweise nennt Kant diese Unterordnung des Willensunter die Selbstgesetzgebung der sittlich-praktischen Vernunft„Pflicht“. Er hat damit Anlaß zu bis heute fortdauernden Mißverständ-nissen gegeben, weil dieser Begriff in der deutschen Sprache immerden Beigeschmack von Befehl enthält. Was er eigentlich meint, isteine Bestimmung des Willens aus der praktischen Einsicht des Ge-wissens – einen Begriff, den Kant nur in der Bedeutung von Gewis-sensbissen kennt. Das Gewissen ist die Instanz des „kategorischenImperativs“, der zu jedem einzelnen Menschen spricht, und ein Wille,der ihm folgt, ist einer, der sich allein aus Gewissensgründen, alleinaus Achtung vor dem sittlichen Gesetz entscheidet.

Während Kant im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Meta-physik der Sitten von Sokrates zu Platon voranschreitet und denBestimmungsgrund der praktischen Einsicht in der Achtung für dieIdee des Guten ausweist, fragt er im zweiten Abschnitt von Platon zuSokrates zurück. Was ist die Idee des Guten, die zu jedem Menschen,im Gewissen eines jeden vernehmlich als kategorischer Imperativspricht? Die Idee des Guten, die jeder in einer periagoge in sich selberzu schauen vermag, ist nichts anderes als die Selbstgesetzgebung derpraktischen Vernunft, an der jedes vernünftige Wesen als vernünftigesunaufgebbar teilhat. Die Selbstgesetzgebung der Vernunft kann sich

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nur als Selbstzweck, als ein Wert an und für sich selbst bestimmen,und so ist ihr auch jedes vernünftige Wesen ein niemals zum bloßenMittel zu relativierender Selbstzweck. So hat jeder Mensch als ver-nünftiges Wesen in seiner praktischen Vernunft selbst das Richtmaßfür sein sittliches Handeln: „Handle so, daß du die Menschheit,sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, je-derzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“6

Der eigentliche Schritt, mit dem Kant jedoch über Sokrates undPlaton hinausgeht, wobei er nicht von ihnen abweicht, sondern nur dieletzten Begründungsfundamente aufdeckt, liegt in dem die beidenvorherigen Gedankengänge vermittelnden „dritten praktischen Prin-zip“. Es ist dies das Prinzip der Selbstbestimmung des Menschen ausund durch die praktische Vernunft und besagt, daß die Autonomie desWillens und die Autonomie der Vernunft sich wechselweise ausein-ander bestimmen. Die Autonomie des Willens liegt darin, daß derMensch sich nur einem solchen Gesetz beugen soll, von dem er sichals Gesetzgeber begreifen kann, und die Autonomie der Vernunft ver-steht sich ihrerseits rückgebunden an die gesetzgebende Mitwirkungder miteinander handelnden Subjekte. „Die praktische Notwendigkeit“des Sittengesetzes – der Idee des Guten – „beruht [...] bloß auf demVerhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem der Willeeines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend be-trachtet werden muß, weil es sie [die Pflicht] sonst nicht als Zweck ansich selbst denken könnte.“7 Und die Dignität sittlicher Tugend ist„nichts Geringeres als der Anteil, den sie dem vernünftigen Wesen ander allgemeinen Gesetzgebung verschafft, [...] nur denjenigen [Zwek-ken] allein gehorchend, die es selbst gibt und nach welchen seineMaximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der er sich zugleichselbst unterwirft) gehören können.“8 Dieses Prinzip sittlicher Selbstbe-stimmung ist für Kant selbstverständlich auch Grundprinzip undLeitlinie aller pädagogischer und politischer Praxis.

6 Immanuel Kant, Werke in 6 Bdn., Wiesbaden 1952 ff., Bd. IV, A 66 f.7 Ebd., A 77.8 Ebd., A 79.

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3. Die Grundlagenproblematik in der Pädagogik

Das Grundproblem aller Erziehung und Bildung ist von Platon in derSystematisierung der Gesprächspraxis des Sokrates bereits herausge-arbeitet worden. Sie ist seit damals Fundament aller Pädagogik alspraktischer Wissenschaft. Jede Einsicht – sowohl die theoretische Ein-sicht der Wissenschaften als auch und noch viel mehr die praktischeEinsicht des Gewissens – muß vom Heranwachsenden selbst hervor-gebracht werden, sie ist weder in ihm naturhaft angelegt, noch kannsie vom Erzieher in ihn hineingetragen werden. Die Aporie dieserProblematik hat Platon in der Anamnesis-Lehre gleichnishaft um-schrieben. Das praxisphilosophische Gegenstück zur anamnesis ist dasGleichnis von der Hebammenkunst, der Maieutik des Sokrates. Einer-seits bedarf der Heranwachsende der Anleitung durch den Erzieher,andererseits kann der Erzieher aus jenem nur herauslocken, was imHeranwachsenden selbst schon zur Einsicht drängt. Die Vermittlungbeider Gedanken hat Platon im Gleichnis vom pädagogischen Eros(Symposion) umschrieben. Der Eros ist in allen Menschen der un-ruhige Vermittler zwischen den elenden Verhältnissen im irdischenLeben und den orientierenden Ideen, deren höchste die Idee des Gutenist. Der pädagogische Eros ist jedoch der unabschließbar weiterzu-tragende Auftrag des Philosophen, die Einsicht in das Sittliche in dernachwachsenden Generation zu entfachen. Nur so kann die Idee sitt-lichen Handelns in der Menschheitsgeschichte weitergegeben und inihr verbreitet werden.

3.1. Die Erziehung zur Mündigkeit

In der Neuzeit wird die in der Antike herausgearbeitete Grundprob-lematik in doppelter Weise erneut durchdacht und dadurch weiterdifferenziert: zum einen von den Erziehungsmaßnahmen auf das Zielder Mündigwerdung des Heranwachsenden gerichtet (Theorie der Er-ziehung) und zum andern von den Bildungsansprüchen her auf dieBildung des Gedankenkreises des Heranwachsenden bezogen (Theorieder Bildung).

3.1.1. Direkt an Platons Sokrates anknüpfend, hat Jean-Jacques Rous-seau im Emile – oder über die Erziehung (1762) diese Grundlagen-problematik wieder aufgenommen. Mit dem fiktiven Erziehungs-

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roman Emile, der eine große Gesellschaftskritik darstellt, will Rous-seau der bürgerlichen Welt seiner Zeit demonstrieren, daß jederMensch zum mündigen, sittlich-selbstbestimmten Menschen erzogenwerden kann, wenn von ihm nur die negativen Einflüsse der entfrem-deten Gesellschaft ferngehalten werden und somit der ganze Erzie-hungsprozeß – aus sich selbst heraus bestimmt – allein auf die freieMenschwerdung des Heranwachsenden ausgerichtet wird.9

Daher versetzt Rousseau seinen Zögling Emile und seinen Er-zieher Jean-Jacques fiktiv in eine gesellschaftsfreie Umgebung, um soden Werdeprozeß des Emile vom Säuglingsalter bis zur letzten Selb-ständigwerdung in Ehe und Beruf so darstellen zu können, daß ereinerseits vom Erzieher her allein als ein geplanter Prozeß maieuti-scher Arrangements von Lernsituationen und Lernetappen und an-dererseits vom Heranwachsenden her als ein Prozeß produktiver Ent-deckungen von Einsichten nachvollziehbar wird.

So durchwirkt Rousseaus Emile grundsätzlich und durchgängigeine Dialektik des Erziehungsprozesses, denn einerseits soll alles ausder Selbsttätigkeit des Heranwachsenden hervorgehen, andererseitskann dies nicht ohne die geplante Führung des Erziehers geschehen,welche aber niemals in Fremdbestimmung ausarten darf, da sonst dasZiel der Erziehung verfehlt wird, zum freien und selbstverantwort-lichen Mensch zu führen. Dies erfordert vom Erzieher, bei bewußterOrientierung auf dieses Ziel hin, zugleich eine genaue Kenntnis desjeweiligen Erlebnis- und Verständnishorizonts des Heranwachsenden,denn nur dann vermag er konkret dessen Selbsttätigkeit altersgemäßproduktiv anzuregen.

Der Erzieher weiß um die großen Etappen des Erziehungspro-zesses, aber er darf sie dem Heranwachsenden nicht belehrend zuvermitteln versuchen, wenn das mündige Menschsein als Ziel erreichtwerden soll, denn der Heranwachsende muß alles als seine Einsichtenselber entdecken, um aus ihnen bestimmt sein Leben mündig gestaltenzu können.

3.1.2. Damit war der Weg zur Pädagogik als einer praktischen Er-ziehungslehre gewiesen. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher hatihn im Rahmen seiner groß angelegten gesellschaftswissenschaft-lichen Sittenlehre (1812/13) mit den beiden daran anschließenden

9 Jean Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung, Stuttgart 1968.

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praktischen Wissenschaften – der Pädagogik und der Politik – syste-matisch beschritten.10

Ist für die Pädagogik einmal das Prinzip der Mündigkeit als Leit-linie der Erziehung zum sich sittlich-selbstbestimmenden Menschenanerkannt, so bedarf es der künstlichen Isolierung der Erziehung ausder Gesellschaft nicht mehr. Im Gegenteil, es gehört mit zu den Auf-gaben des Erziehers, nicht nur unterstützend und gegenwirkend dieEntwicklung des Heranwachsenden zu begleiten, sondern ebenso –soweit es in seinem Aufgabenhorizont und seiner Macht liegt – beför-dernd und hemmend auf die bestehenden gesellschaftlichen Einflüsseeinerseits hinzuwirken und andererseits den Heranwachsenden dieAnspruchshorizonte des gesellschaftlichen Lebens zu erschließen, fürderen Versittlichung sie sich später einzusetzen haben. Schleiermacherentfaltet hier eine sehr komplexe, mehrfach gekreuzte Polardialektik,die die Erziehungspraxis als Schnittpunkt individueller und gesell-schaftlicher Gegebenheiten und Anspruchshorizonte aufklärt.

In dieser Weise dialektisch vorbereitet, entwickelt Schleiermacherim Hauptteil seiner großen Vorlesung zur Theorie der Erziehung(1826) den gesamten Erziehungsprozeß als einen ineinander ver-flochtenen Prozeß sowohl des Selbständigwerdens der Heranwach-senden als auch eines zunehmend erweiterten gesellschaftlichen Er-fahrungs- und Anspruchsraums, der von der Familie über die Schulenund Universitäten bis zum Gesamthorizont der gesellschaftlichen Pra-xis mit ihren verschiedenen „Lebensmächten“ reicht.

Entscheidend ist für Schleiermachers Theorie der Erziehung – unddamit stellt sie sich ganz in die Tradition von Aristoteles, Platon undRousseau –, daß sie sich weder auf eine empirische noch auf einenormative Wissenschaft reduzieren läßt, sondern sich als Aufklärungeiner praktisch zu erfahrenden Praxis zur Aufklärung einer praktischzu entscheidenden Praxis versteht. In jeder praktischen Erfahrung –sei diese nun auf den Entwicklungsstand des Heranwachsenden oderauf das gesellschaftliche Umfeld bezogen – liegt immer zugleich auchein praktischer Anspruch, pädagogisch darauf zu reagieren, so wieumgekehrt alle Zielperspektiven – seien diese nun auf einen Heran-wachsenden oder auf gesellschaftliche Erwartungen gerichtet – pä-dagogisch immer wieder auf die konkrete Gegebenheit der Lebens-

10 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13), Hamburg 1981; Frie-

drich Daniel Ernst Schleiermacher, Pädagogische Schriften, 2 Bde. Düssel-dorf 1966.

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situationen rückbezogen werden müssen. Durch die doppelt gerichteteAufklärung wird der Erzieher auf den pädagogischen Dialog mit denHeranwachsenden vorbereitet, ohne daß dadurch dem Erzieher seinePraxisentscheidungen wissenschaftlich oder technisch abgenommenwerden könnten oder dürften.

3.1.3. Die philosophische Kernproblematik der Erziehung hat zu-nächst Johann Gottlieb Fichte und an ihn anschließend Friedrich Jo-hannsen (1803)11 herausgearbeitet. Im Zuge der Freiheitsproblematikund der Anerkennung des Anderen arbeitet Fichte in seiner Grundlagedes Naturrechts (1796) heraus, daß wir nur dem „anmuten“ können,daß er uns in unserer Freiheit anerkenne, den wir selbst in seinerFreiheit anerkennen. Aus dieser grundlegenden Wechselstiftung dersittlichen Gemeinschaft folgt für die Erziehung als Prozeß derEinbeziehung des Heranwachsenden in die sittliche Gemeinschaft, daßer von Anfang an unter dem Prinzip der „Aufforderung zur freienSelbsttätigkeit“ steht. Diese Aufforderung beginnt mit der Geburteines jeden neuen Menschenkindes und endet mit der vollen Aner-kennung seiner freien Selbsttätigkeit im Erwachsenenalter.

Aber das Prinzip der „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“ re-flektiert nur die eine maieutische Seite der Theorie der Erziehung. Diedazu korrespondierende Problematik ist die Stufenfolge der Bewußt-seinshorizonte des Erfahrens und Handelns des Heranwachsenden.Rein philosophisch haben im Anschluß an Fichte insbesondere Fried-rich Wilhelm Joseph Schelling (System des transzendentalen Idealis-mus, 1800)12 und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Phänomenologiedes Geistes, 1807)13 hierzu die differenziertesten Entwürfe geliefert,die pädagogisch jedoch erst durch Theodor Litt, Josef Derbolav undschließlich Franz Fischer in eine „pädagogische Monadologie“ umge-

11 Friedrich Johannsen, Über das Bedürfnis und die Möglichkeit einer Wissen-

schaft der Pädagogik als Einleitung in die künftig zu liefernde philosophischeGrundlage der Erziehung, Jena/Leipzig 1803. Vgl. Dietrich Benner, „Ansätzezu einer Erziehungsphilosophie bei den frühen Fichteanern“, in: DietrichBenner/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Prolegomena zur Grundlegung derPädagogik II, Ratingen 1969.

12 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Werke in 14 Bdn., Stuttgart/Augsburg1856 ff. (Bd. III).

13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bdn., Frankfurt a.M. 1970, Bd. 3.

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setzt wurden.14 Es geht dabei darum, daß die „Aufforderung zur freienSelbsttätigkeit“ erst dann eine pädagogische Konkretion erfährt, wennsie darum weiß, von welcher Stufe zu welcher sie dem Heranwach-senden neue Erfahrungs- und Entscheidungshorizonte zu erschließenhat.

Daher bedarf es hier einer philosophisch-pädagogischen Erschlie-ßung der Bewußtseinsstufen, die der Heranwachsende, pädagogischgeführt, zu seiner Mündigwerdung zu durchlaufen hat. Sicherlichgehen hier entwicklungspsychologische und jugendsoziologische Er-kenntnisse hilfreich mit ein. Es wäre jedoch völlig verfehlt, aus diesenunmittelbar pädagogische Handlungsanweisungen ableiten zu wollen,denn eine solche Instrumentalisierung von Wissen über die Heran-wachsenden würde gerade die pädagogische Praxis als grundsätzlichdialogische überspringen und nicht die produktive Einsicht und freieSelbsttätigkeit der Heranwachsenden ansprechen und fördern.

3.2. Die Bildung des Gedankenkreises

Während die Theorie der Erziehung sich auf die Erziehungsmaßnah-men des Erziehers immer im Hinblick auf die zu befördernde Mün-digkeit des Heranwachsenden konzentriert, fragt die Theorie der Bil-dung nach den Dimensionen und Inhalten von Einsichten, durch dieder Heranwachsende zu einer freien Persönlichkeit zu werden vermag.

3.2.1. Schon 100 Jahre vor Rousseau hat Jan Amos Komensky (Co-menius) die Idee der Bildung des Menschen (Pampaedia) zu einemzentralen Anliegen seiner Philosophie, der Pansophia, erhoben. DieFragestellung ist hier zunächst eine ganz andere, wenn auch eine derErziehungsfrage korrespondierende. Hier wird von den Wesenser-kenntnissen der Welt ausgegangen – Platons Welt der Ideen – undgefordert, daß jedem Menschen die theoretischen Sinneinsichten indie Zusammenhänge der Welt und die praktisch-sittlichen Aufgabendes Menschseins erschlossen werden sollen. Jeder Mensch müsse teil-

14 Josef Derbolav, Systematische Perspektiven der Pädagogik, Heidelberg 1971.

Franz Fischer, Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissen-schaften, hrsg. v. Dietrich Benner/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Kastel-laun 1975.

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haben können an allen Sinneinsichten der Welt, um so selbstbestimmtund eigenverantwortlich handeln zu können.15

Omnes, omnia, omnino, „allen, alles, vollständig zu lehren“, heißtder große Leitgedanke von Komenskys Bildungslehre (Didacticamagna, 1657). Allen zu lehren, „die gesamte Jugend beiderlei Ge-schlechts ohne jede Ausnahme“, ist eine regulative Idee, die zwar bisheute noch nicht vollständig eingelöst ist, aber um deren Durchset-zung wir weiterhin ringen. Jeder Mensch hat Anrecht auf eine all-seitige Bildung seiner geistigen Fähigkeiten und ist zu eigenverant-wortlichem, sittlichem Handeln zu befähigen. Nur eine solche Bildungfreier und verantwortungsvoller Persönlichkeiten wird letztlich auchdie Menschheit aus den entfremdeten Verhältnissen der Gegenwartbefreien und zum Frieden führen – wie Komensky, den barbarischenZeiten des 30jährigen Krieges entgegentretend, betont.

Alles zu lehren ist der große Bildungsgedanke, den Komensky vonseinem philosophischen Hauptwerk, der Pansophia, bis zu seinenvielen didaktischen Studien verfolgt. Damit ist keineswegs Vielwisse-rei gemeint, sondern eine enzyklopädische Universalwissenschaft, diedie wesentlichen theoretischen, sittlichen und religiösen Einsichtender Menschheit zusammenzufassen versucht – ein ungeheurer An-spruch und doch eine unverzichtbare Forderung, wenn die Menschheitmenschlich überleben will (Prodromus Pansophiae, 1637).16

Die Forderung, „vollständig zu lehren“, umschreibt die Dimensio-nen der didaktischen Umsetzung: So geht es inhaltlich darum, daßallen alles gemäß ihrem Alter und Erfahrungshorizont gelehrt wird,was auf ein Spiralcurriculum hinausläuft, das ausgehend von der häus-lichen Erziehung der Kinder im Vorschulalter über die Muttersprach-und die Wissenschaftsschule bis hin zur Universitätsbildung dasProblem der Auswahl des „alles“ für „alle“ in sich erweiternden Krei-sen durchdenkt und in Unterrichtsmaterialien bereitzustellen versucht.

3.2.2. Johann Friedrich Herbart hat diese Gedanken erneut aufgegrif-fen und parallel zu Friedrich Schleiermachers Theorie der Erziehungzu einer phänomenologischen Theorie der Bildung ausgebaut.

15 Jan Amos Comenius, Pampaedia, Heidelberg 1965; J. A. Comenius, Große

Didaktik, Düsseldorf 1966.16 Jan Amos Comenius, Vorspiele. Prodromus Pansophiae, hrsg. u. übers. v. H.

Hornstein, Düsseldorf 1963.

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Der Grundgedanke Herbarts ist, daß die Zweckbestimmung derPädagogik letztlich nur aus der Zweckbestimmung sittlichen Mensch-seins in der Welt abgeleitet werden kann, also eingebettet ist in dengrößeren Zusammenhang praktischer Philosophie. Näherhin aber istdie Zweckbestimmung der Pädagogik die durch Themenkreise er-schlossene Hervorbringung der sittlich-gebildeten Persönlichkeit desHeranwachsenden als eines freien Gliedes in der sittlichen Gemein-schaft der Menschen (Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck derErziehung abgeleitet, 1806).17

Von daher lassen sich die Unterweisungsformen in ihren Mög-lichkeiten und Aufgaben im Hinblick auf die Zweckbestimmung derBildung phänomenologisch differenzieren. Zunächst unterscheidetHerbart die „Bildung des Gedankenkreises“ des Heranwachsenden,die auf die „Vielseitigkeit seiner Interessen“ abzielt, von der „Zucht“,die der Bildung der „Charakterstärke der Sittlichkeit“ dient. Die „Bil-dung des Gedankenkreises“ wird ihrerseits durch zwei aufeinander zubeziehende Unterweisungsformen vermittelt: die auf theoretische Ein-sichten zielende Wesenserkenntnis und die gedankliche Teilnahme anpraktischen Entscheidungen und geschichtlichen Geschehnissen. Sei-nem Prinzip des „erziehenden Unterrichts“ gemäß, geht es Herbartniemals nur um rein instrumentelles Wissen, sondern um die Wesens-erkenntnisse der Welt, aus denen sich dem Heranwachsenden einGedankenkreis vielseitigen Interesses an der natürlichen und ge-sellschaftlichen Welt, in der wir leben, bildet. Im naturkundlichenUnterricht geht es daher nicht um ein Wissen zur technischen Be-herrschung der Natur, sondern um eine Einsicht in die Lebenszu-sammenhänge und damit um die Verantwortung, die wir für diesehaben. Noch deutlicher wird dies am Phänomenbereich des literatur-wissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Unterrichts, woes nach Herbart immer um die gedankliche Teilnahme an den mensch-lichen Entscheidungen und am geschichtlich-gesellschaftlichen Ge-schehen geht.

Worauf die gedankliche Teilnahme immer schon abzielt, bedarfaber noch der einübenden Zucht und Selbstdisziplinierung, um zueiner erprobten „Charakterstärke der Sittlichkeit“ zu werden. „Ma-chen, daß der Zögling sich selbst finde“ (Über die ästhetische Dar-

17 Johann Friedrich Herbart, Systematische Pädagogik, hrsg. u. eingel. v. Diet-

rich Benner, Stuttgart 1986.

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stellung der Welt, 1804),18 ist die Leitlinie aller pädagogischer Praxis,ihre Erfüllung findet sie in der „Individualität des Zöglings“ im„Mannesalter“ – bzw. im Frauenalter –, d. h. in der sittlichen Be-währung der „Vielseitigkeit des Interesses“ und der „Charakterstärkeder Sittlichkeit“ in den diversen Aufgaben gesellschaftlicher Praxis.

3.2.3. Philosophisch haben diesen Strang der Bildungstheorie vorallem die Kantianer Paul Natorp, Jonas Cohn und am differenzier-testen wohl Richard Hönigswald durchdacht und dargelegt. Grund-bestimmung alles pädagogischen Handelns ist, wie Hönigswald inseinen Grundlagen der Pädagogik (1927) formuliert, „die planmäßiggewollte Überlieferung des in einer Gegenwart gegebenen wissen-schaftlichen und außerwissenschaftlichen Kulturbestandes an nachfol-gende Generationen durch die Vermittlung der zeitlich nächsten.“19

Von daher geht es zum einen darum, durch das gesellschaftlichinstitutionalisierte Bildungswesen die Geltungswerte einer Kultur inder nachfolgenden Generation „geltend zu machen“, damit sie auchGeltung erlangen in den heranwachsenden Subjekten, denn Geltungs-werte – sei es wissenschaftliche Erkenntnis oder sittliche Forderun-gen – gelten aus sich heraus und fordern unbedingte Anerkennung vonjedermann. Wo ihre „Geltendmachung“ in die nachfolgenden Gene-rationen hinein nicht mehr gelingt, zerfällt eine Kultur.

Dies ist aber nur die eine Seite der Problematik, der sofort dieandere korrelierende Seite unabdingbar beigeordnet werden muß: Esgibt keine Geltungswerte anders als in den lebendigen Handlungs-vollzügen der Subjekte als interagierender Träger des kulturellenZusammenhangs. Geltungswerte schweben nicht über der Kultur, son-dern haben nur in den sie anerkennenden Subjekten Bestand. Darausergibt sich für die Pädagogik die Aufgabe, freie Persönlichkeiten alsgestaltende Träger von Geltungswerten zu bilden.

Diese entgegengesetzten und doch korrelierenden Aufgabenbe-stimmungen der pädagogischen Problemstellung gilt es auf die didak-tische Fragestellung der Bildung des Gedankenkreises hin nochmalsnäher zu konkretisieren: Die Schule steht vor der systematisch-di-daktischen Aufgabe, den Schülern eine konzentrierte Auswahl von

18 Ebd.19 Richard Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik, München 21927,

S. 16. Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Richard Hönigswalds Philosophie der Pä-dagogik, Würzburg 1995.

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Fächern und Bildungsinhalten wissenschaftlicher und außerwissen-schaftlicher Geltungswerte vermitteln zu müssen. Aber es reicht nichtaus, sich nur über die Systematik der Auswahl Gedanken zu machen,genauso wichtig ist die Frage der Konzentrierbarkeit dieser Inhalte inden gelebten Gedankenkreis der Schüler. Dieser systematisch-dialek-tischen Problematik korrespondiert aber noch eine methodisch-didak-tische Aufgabenstellung. Die Bildungsarbeit hat einerseits an dieErlebens- und Entscheidungshorizonte der Schüler anzuknüpfen, umin pädagogisch bestimmter Weise den Prozeß des Begreifens voran-bringen zu können, andererseits ist sie aber zugleich den methodolo-gischen Problemschritten und -folgen der wissenschaftlichen undaußerwissenschaftlichen Fächer verpflichtet. Nur in dieser zweimalzweifachen Problemverschränkung wird die Pädagogik ihrem Bil-dungsauftrag gegenüber den werdenden Individuen und gegenüberdem Fortbestand der Kultur gerecht.

3.3. Die Dialektik der Menschwerdung

Die Fragestellung, mit der die Neuzeit über die griechische Antikehinausgeht, ist die nach dem Beitrag von Erziehung und Bildung zurgeschichtlichen Menschwerdung des Menschen. Natürlich thematisiertauch Platon den Zusammenhang von Pädagogik und Geschichte, aberdoch nur im Kontext der natürlichen Generationenfolge, während eskeinen neuzeitlichen Ansatz der Pädagogik gibt, der nicht implizitoder explizit dem pädagogischen Anspruch der „Höherbildung derMenschheit“ zu genügen versucht. Dies ist eine grundsätzlich dialek-tische Problemstellung, wie dies bereits Kant eindrucksvoll umreißt:

„Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren [...] soll der Mensch [...]Daher ist die Erziehung das größeste Problem, und das schwerste, was demMenschen kann aufgegeben werden. Denn Einsicht hängt von der Erziehung,und Erziehung hängt wieder von der Einsicht ab.“20

In groben Umrissen lassen sich drei Modelle der Dialektik derMenschwerdung unterscheiden. Sie können an den Denkern Schleier-macher, Hegel und Marx festgemacht werden und bestimmen nachwie vor unser gegenwärtiges pädagogisches, aber auch politischesDenken und Handeln.

20 Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Werke, Bd. VI, A 14.

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3.3.1. Für Schleiermacher stehen alle Wissenschaften in einem un-abgeschlossenen, unabschließbaren geschichtlichen Praxis- und Kom-munikationsprozeß, in ihm gibt es keinen Haltepunkt, sondern nur –selbst erst in gemeinsamer Aufklärung ausdifferenzierte und akzep-tierte – Kommunikationsregeln, die im gemeinsamen Erkennenwollender Wirklichkeit und Verständigenwollen über die Wirklichkeit ihreRegulation haben. Ethik, Pädagogik und Politik haben aber alspraktische Disziplinen darüber hinaus noch einen expliziteren Bezugzur geschichtlichen Zukunft, da sie diese durch die von ihnen angelei-teten Praxisentscheidungen selber mit hervorzubringen versuchen.Das gemeinsame gesamtethische Regulativ ist dabei die Idee desGuten. Sie ist keine ein-für-allemal festgesetzte Norm, sondern mußimmer wieder erneut im gesellschaftlichen Diskurs konkretisiert wer-den. Nur das Allgemeine ihres regulativen Charakters läßt sich auf-klären: Pädagogik und Politik sind der sittlichen Höherbildung derMenschheit verpflichtet, wobei es der Pädagogik primär um diesittliche Höherbildung der Individuen zu tun ist, während es der Poli-tik um die sittliche Höherbildung der verfaßten Ordnungen gesell-schaftlichen Zusammenlebens geht.

Nun glaubt Schleiermacher – einen aristotelischen Grundgedankenin die Moderne transformierend –, daß der sittlichen Bestimmtheitmenschlicher Praxis selbst bereits eine evolutionäre Tendenz zur Hö-herbildung innewohne. Daher bedürfe es nur der Aufklärung derIndividuen über diesen sittlichen Kern aller Praxis, damit sie dannauch bewußt diese Versittlichung der Praxis vorantreiben können:

„So haben wir denn unser Augenmerk nur darauf hinzurichten, daß wir einesolche Theorie aufstellen, die, zwar immer anknüpfend an das Bestehende,doch auch zugleich dem natürlich, sicher fortschreitenden Entwicklungsgangentspricht. Je mehr dies uns gelingt, desto weniger dürfen wir dann um diePraxis bekümmert sein, da wir die Überzeugung haben, daß eine reineKontinuität der Praxis, die aber zugleich Fortentwicklung der Theorie in sichschließt, daraus hervorgehen werde.“21

Das bürgerliche Leben der westlichen Industrienationen ist weit-gehend von diesem dialektischen Selbstverständnis menschlicher Hö-herbildung geprägt. In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens –aber ganz besonders in der Pädagogik, wie Siegfried Bernfeld22

21 F. D. E. Schleiermacher, Pädagogische Schriften, Bd. I, S. 132.22 Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1925), Frank-

furt a.M. 1971.

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kritisch anmerkt – vertraut man unbefragt auf die inneren vorwärts-treibenden Kräfte der menschlichen Praxis selbst, es komme nurdarauf an, daß sich die Menschen dieser inneren Logik der Praxisbewußt werden, damit diese sie reflektiert vorantreiben können. Alleevolutionären Fortschrittstheorien – hierzu gehören ganz besondersdie hermeneutischen Geistes- und die pragamtischen Sozialwissen-schaften23 – setzen naiv auf die positiven inneren Kräfte der sittlichen,pädagogischen und politischen Praxis und reagieren völlig hilflosgegenüber allen negativen Tendenzen und strukturellen Destruktiv-kräften, die inzwischen immer massiver die geschichtliche Entwick-lung der Menschheit bestimmen.

3.3.2. Zwar hat auch Hegel die Geschichte als den „Fortschritt imBewußtsein der Freiheit“24 bezeichnet, aber dieser Fortschritt ist einProzeß, der sich hinter dem Rücken der handelnden Individuen fürden absoluten Geist vollzieht und der dadurch von den Individuennicht gewollt vorangetrieben werden kann. Hegel erkennt durchaus,daß die gesellschaftliche und geschichtliche Praxis keineswegs einbloß evolutiver Prozeß zum sittlich Besseren ist, sondern voller grund-sätzlicher Widersprüche steckt, ja durch diese Widersprüche selbsterst vorangetrieben wird. Die Individuen können die strukturellenWidersprüche, durch die hindurch sich sittlich-gesellschaftliches Han-deln gestaltet, nur zu begreifen suchen, ohne sie grundsätzlich über-winden zu können.

So ist beispielsweise für Hegel die bürgerliche Gesellschaft dieSphäre der notwendig entzweiten Sittlichkeit. Die bürgerliche Ge-sellschaft ist notwendig und unaufhebbar zerrissen, da im Erwerbs-leben jeder Agierende nur auf seine eigenen Interessen bezogen ist;und doch sind alle Agierenden auf das sich hinter ihrem Rückeneinstellende Allgemeine des ökonomischen Systems angewiesen. He-gel scheut nicht davor zurück, die Wirklichkeit dieser Zerrissenheitder bürgerlichen Gesellschaft ungeschminkt auszusprechen: Geradedort, wo die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft sich in un-gehindertem Progreß und Wachstum befindet, führt dies dazu, daßsich einerseits „unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände [...]

23 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt (1905), Frankfurt

a.M. 1970; John Dewey, Erziehung durch und für Erfahrung, Stuttgart 1986;Wilhelm Flitner, Allgemeine Pädagogik, Stuttgart 1962.

24 G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 12, S. 32.

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konzentrieren“ und andererseits „die Abhängigkeit und Not der an[die] Arbeit gebundenen Klasse“ wächst.25

Gerade aber diese Einsicht deckt die der bürgerlichen Gesellschaftinnewohnende Möglichkeit einer Versittlichung auf, welche zwar nie-mals die Zerrissenheit der bürgerlichen Ökonomie überwinden, wohlaber die zyklisch wiederkehrenden Krisen und ihre Folgen für dieMenschen „abkürzen und mildern“ hilft. Die Möglichkeit, in derentzweiten bürgerlichen Gesellschaft wenigstens zu einer gebildetenSittlichkeit zu gelangen, liegt im geschichtlichen Bildungsprozeß, derselbst ein doppelter ist. Bildung als geschichtlicher Prozeß meinteinerseits die Ausbildung des Wissens und Arbeitsvermögens der ge-sellschaftlichen Individuen, zum anderen aber auch die Ausformungvon gesellschaftlichen Institutionen, die durch gegenseitige Siche-rungsmaßnahmen der ärgsten Zerrissenheit gegensteuern können.

Von den Bildungstheoretikern, die direkt an die strukturale Dialek-tik Hegels anknüpfen, ist Theodor Litt wohl der bedeutendste.26 Aucher verschließt keineswegs die Augen vor den Widersprüchen und derentfremdeten Zerrissenheit der Gegenwart, aber auch er hält diese fürgrundsätzlich unüberwindbar. Sie können nur durch Bildungsanstren-gungen abgemildert und in erträglichen Grenzen gehalten werden. DieAufhebung erfolgt nicht geschichtlich als Befreiung aus der Ent-fremdung, sondern struktural in eine geistig höhere Sphäre, die für Littim philosophisch-reflexiven Bewußtsein derer erreicht wird, die dieinneren und äußeren Konflikte, die grundsätzlich unaufhebbar sind, zubeherrschen und auszuhalten gelernt haben.

3.3.3. Ganz anders geht Karl Marx davon aus, daß die Widersprüche,die unsere gesellschaftliche Wirklichkeit beherrschen, grundsätzlichaufhebbar sind, da sie nicht in der menschlichen Praxis schlechthinangelegt sind, sondern aus der bisherigen bewußtlosen Naturwüchsig-keit der gesellschaftlichen Entwicklung, aus der bewußtlos hervorge-brachten Formbestimmtheit der gesellschaftlichen Praxis erwachsen.

Marx kritisiert an Hegel, daß dieser die Geschichte zu einem Pro-zeß des absoluten Geistes hypostasiert habe, für den dadurch alleGestalten des Wirklichen und der menschlichen Praxis nur zu Mo-

25 Ebd., Bd. 7, S. 389.26 Theodor Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes,

Heidelberg 21961; Theodor Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik unddie moderne Arbeitswelt, Bochum o.J.

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menten seines Zu-sich-selber-Kommens werden. Marx holt die Philo-sophie der Praxis – damit indirekt wieder an Schleiermacher an-knüpfend – in den Horizont der gesellschaftlich und geschichtlichhandelnden Menschen zurück. Die Subjektivität des Begreifens derWelt liegt nirgends anders als in den praktisch handelnden mensch-lichen Subjekten selbst. Aber anders als Schleiermacher hält Marxausdrücklich mit Hegel an einer prozessualen Dialektik fest, die ihmjedoch – an die Subjektivität der praktisch handelnden Menschen ge-bunden – keine strukturale des absoluten Geistes ist, sondern einegeschichtliche, menschheitspraktische. Daher versteht Marx im Ge-gensatz zu Hegel die „Subjektwerdung der Substanz“ als die ge-schichtliche Subjektwerdung der gesellschaftlich handelnden Men-schen im realgeschichtlichen Prozeß gesellschaftlicher Praxis. Unddeshalb können auch – nach Marx – die gesellschaftlichen Wider-sprüche von den sich ihrer bewußtwerdenden Menschen in revolutio-närer und solidarischer Praxis grundsätzlich aufgehoben werden.27

Um die unbestreitbar vorhandenen Widersprüche jedoch nicht alssystemimmanente Gegebenheiten hinzunehmen, muß man mit derdialektischen Praxisanalyse tiefer in die ökonomische Basis vordrin-gen, und man muß bereit sein, diese Basis unserer gegenwärtigenLebensgrundlage kritisch in Frage zu stellen. Ziel dieser kritischenAnalyse ist es, daß die Menschen sich der Widersprüche ihres gesell-schaftlichen Lebens, ja der Bedrohtheit ihrer geschichtlichen Existenzbewußt werden, um sie radikal umzuwälzen und sodann damit begin-nen, als Subjekte in freier Assoziation ihre gesellschaftliche Praxisund Geschichte bewußt und solidarisch in ihre Hände zu nehmen.

Hieran knüpft die Bildungstheorie von Heinz-Joachim Heydornan. Bildung wird hier grundsätzlich als das Projekt begriffen, das dieFremdbestimmung der Herrschaft der Verhältnisse geschichtlich-dia-lektisch überwinden könnte, sehr wohl aber auch scheitern kann. „DieGeschichte des Menschen kann mit seiner eigenen Zerstörung enden,der physischen oder psychischen Verstümmelung“.28 In nie zuvordagewesenem Ausmaß bemächtigt sich das Herrschaftssystem dermodernen Industriestaaten auch der Bildungsprozesse, formt sie zuInstrumenten der Herrschaftssicherung um. Und doch liegt nach wievor in der Bildung auch die Potenz eines kritischen Durchschauens der

27 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke in 42 Bdn., Berlin 1956 ff., Bd. 40, S. 467 ff.28 Heinz-Joachim Heydorn, Bildungstheoretische Schriften, 3 Bde. Frankfurt

a.M. 1979 f., Bd. 2, S. 316.

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die Menschen entfremdenden Produktionszusammenhänge und damitihrer revolutionären Umwälzung. Die Aufhebung der sich in allen Le-bensbereichen verschärfenden Widersprüche kann nicht vom Systemerhofft werden, sondern „ist die aktive Aufgabe des Menschen“, diesich ihrer Entfremdung bewußt geworden sind. Sie kann nicht ohneBildung bewältigt werden, aber Bildung allein kann sie nicht verwirk-lichen. Die Umwälzung der Verhältnisse ist Sache der entschiedenenAktion der vereinigten, sich befreienden Subjekte. „Die geschichtlicheBedingung ist revolutionär [...] Bildung ist anhebende, grenzenloseRevolutionierung des Menschen.“29

4. Schlußbemerkung

Hier breche ich meine Projektskizze ab, wohl wissend, daß vieles,vielleicht das Wichtigste noch gar nicht gesagt ist. Aus dem größerenGesamtprojekt fehlen noch die parallelen Überlegungen zur Politikund die Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Ethik-Diskussion.Aber auch unabhängig von diesen bewußt vorerst ausgeklammertenTeilen bleiben die vorliegenden Überlegungen zur praktischen Philo-sophie und Pädagogik ein Torso, eben nichts weiter als eine Skizze zueinem weiterzuführenden Arbeitsprojekt.

29 Ebd., Bd. 3, S. 180.

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Claudio Almir Dalbosco

Transzendentale Freiheit und Pädagogik

Ich möchte mein kurzes Referat mit einer Hypothese beginnen, die aufeinen Teil eines späteren Forschungsvorhabens hinweist, ohne jetztschon die Ergebnisse vorwegnehmen zu können. Die Hypothese lau-tet: Die Begründung einer transzendentalen Pädagogik bei Kant hängtvon seiner transzendentalen Unterscheidung zwischen Erscheinungund Ding an sich ab. Eine solche Begründung kann jedoch nur durchihre strikte Verbindung mit zentralen Begriffen der praktischen Philo-sophie Kants, hauptsächlich mit den Begriffen „Freiheit“ und „Wille“(oder mit dem der Willensfreiheit), entwickelt werden.

Wenn man Pädagogik bei Kant diskutiert, kann man den Begriff„moralische Erziehung“ nicht außer Acht lassen. Er ist das aufgestellteZiel, in dem alle verschiedenen pädagogischen Handlungsformen wieDisziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung selbstkonvergieren müssen. Einige Ideen der Vorlesung Kants Über Päda-gogik1 lassen die zentrale Bedeutung des Begriffes „moralische Er-ziehung“ schon erkennen:a) Dort gibt eine enge Verbindung zwischen den Begriffen „Mensch-

heit“ und „Vernunft“, und im Zusammenhang damit wird dieFunktion des Disziplinbegriffes als pädagogische Handlungsformgerechtfertig, die darin besteht, die Tierheit in die Menschheit um-zuändern.

b) Die Erziehung hat die Aufgabe, die menschlichen Anlagen zu ent-wickeln. Das heißt, die pädagogische Handlung muß die Entwick-lung der latenten Vernünftigkeit des zu Erziehenden fördern. Indieser Perspektive konzipiert, ist die Erziehung eine „Verwirkli-chungshilfe“ der praktischen Vernunft.

c) Die Erziehung wird dort als Aufklärung der Vernunft und damitals Freisetzung definiert, die selbstverständlich nicht die Festset-zung (Dressur), sondern die Autonomie des handelnden Subjekts

1 Kants Werke werden im folgenden nach der Weischedel-Ausgabe, Darmstadt

1998, zitiert.

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zum Ziel hat. In diesem Zusammenhang sollen die Begriffe „ge-setzlicher Zwang“ und „Disziplin“ nicht die „Versklavung“ desEigenwillens des Kindes bedeuten. Denn es sei, wie Kant hervor-hebt, wesentlich zu bemerken, „daß die Disziplin nicht sklavischsei“, sondern daß das Kind „immer seine Freiheit fühlen“ muß.Zwang und Disziplin haben mit Dressur nichts zu tun, weil Dres-sur gerade verhindert, „daß das Kind denken lerne“.

Mit diesen Ideen verbinden sich komplexe Schwierigkeiten, die nichtsweniger als die zentralen Grenzprobleme zwischen der praktischenPhilosophie und den pädagogischen Überzeugungen Kants zum Aus-druck bringen. Eines dieser Hauptprobleme ist die Bedeutung derBegriffe „Naturanlagen“ und „Vernunft“ und mit diesen die pädagogi-sche Deutung des Begriffes der „Disziplinierung“. Dieses Problemwird durch das Dilemma „Hang zur Freiheit“ und „Notwendigkeit desZwanges“ erhellt. Dies sind Ausdrücke, die Kant in der VorlesungÜber Pädagogik gebraucht. Ein großes Problem der Erziehung, sosagt er dort, besteht darin, „wie man die Unterwerfung unter den ge-setzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen,vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig!“ Unmittelbar danach stellt ersich die zentrale Frage: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei demZwang?“ und er erörtert sie in ihrem spezifischen pädagogischen Zu-sammenhang: „Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwangseiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seineFreiheit gut zu gebrauchen“ (A 32).

Aus dieser zentralen Stelle folgt ein selbstverständlicher Sachver-halt, nämlich das wechselseitige Verhältnis zwischen „moralischerErziehung“ und „Freiheit“. Es geht eigentlich um eine Trivialität, dieaber, wenn sie mit den systematischen Interessen der kritischen Philo-sophie Kants konfrontiert wird, den Grund dieser Schwierigkeitenzeigt. Der Grund liegt darin, daß der Verwendung des Freiheitsbegriffin der Vorlesung Über Pädagogik den in der Kantischen praktischenPhilosophie gerechtfertigten Freiheitsbegriff voraussetzt, der seinenUrsprung in der Auflösung der dritten Antinomie hat. Im Folgendenkonzentriere ich mich auf die Diskussion dieser Auflösung, ohne ausihr jedoch die pädagogischen Konsequenzen bereits ziehen zu können,d. h. ohne ihre Bedeutung für die Begründung einer transzendentalenPädagogik erörtern zu können.

Kant nimmt zwei Arten der Kausalität, Naturkausalität und Kausa-lität durch (und aus) Freiheit, als Ausgangspunkt seiner Argumenta-tion, um die These und die Antithese der dritten Antinomie zu formu-

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lieren und den „Konflikt“ zwischen beiden aufzulösen.2 Die Problem-stellung der dritten Antinomie, die er mindestens an drei Stellen derKritik der reinen Vernunft (B 564, 571 und 585) formuliert, besteht inder Frage, wie diese beiden Arten der Kausalität in einer wirkendenUrsache, in einer Handlung oder in einem selbst handelnden Subjektexistieren können, ohne daß diese Existenz einen Widerspruch odereine Art von Reduktionismus impliziert. Es geht hier darum, so Kant,„ob Freiheit nur möglich sei, und ob, wenn sie es ist, sie mit derAllgemeinheit des Naturgesetzes der Kausalität zusammen bestehenkönne“ (B 564); oder, wie die Frage an anderer Stelle lautet,

„ob, wenn man in der ganzen Reihe aller Begebenheiten lauter Naturnot-wendigkeit anerkennt, es doch möglich sei, eben dieselbe, die einer Seitsbloße Naturwirkung ist, doch anderer Seits als Wirkung aus Freiheit anzu-sehen, oder ob zwischen diesen zweien Arten von Kausalität ein gerader Wi-derspruch angetroffen werde“ (B 571).

Die Fragestellung der dritten Antinomie ist also, ob in ein und der-selben Begebenheit oder Handlung, die der „Allgemeinheit des Natur-gesetzes der Kausalität“ unterworfen ist, auch eine Kausalität ausFreiheit stattfinden kann oder „ob Freiheit der Naturnotwendigkeit ineiner und derselben Handlung widerstreite“ (B 585). Diese Fragestel-lung entsteht in einem kosmologischen Kontext, d. h. in einem Kon-text der Thematisierung des spekulativen Gebrauchs der Vernunft; siegeht aber im Laufe der Darstellung ihrer Auflösung über diesen Kon-text hinaus, weil sie schon in gewisser Weise einen embryonalen(impliziten) Gebrauch der praktischen Vernunft enthält. Mit anderenWorten, die Fragestellung entsteht in einem Kontext, in welchem es„um die absolute Totalität kausaler Bedingungen“ und damit um dieBedeutung der Freiheit für das „Weltganze“ geht, um es „denkbar zumachen“;3 aber ihre Auflösung gebraucht den Begriff der Freiheit ineinem Kontext, in dem der Begriff der Kausalität sich auch auf denBegriff der menschlichen Handlung bezieht. Der Unterschied liegthier darin, daß die Begriffe der Freiheit und der Natur zuerst im Rah-men der kosmologischen Problematik einer prima causa mundi ge-braucht werden und danach eine Auflösung für den antinomischenKonflikt angeboten wird, indem beide Begriffe sich auf die mensch-

2 Siehe Claudio A. Dalbosco, Ding an sich und Erscheinung. Perspektiven des

transzendentalen Idealismus bei Kant, Würzburg 2002, S. 304-311.3 Andreas Gunkel, Sponteneität und moralische Autonomie: Kants Philosophie

der Freiheit, Bern/Stuttgart/Wien 1989, S. 73.

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lichen Handlungen unmittelbar beziehen. Dies wird deutlich, wennKant den Begriff des spontanen Anfangs, der durch eine vorherge-gangene Zeit nicht bestimmt wird, zunächst nicht durch den Begriffder praktischen Freiheit, sondern durch den der kosmologischen Frei-heit einführt. Auf diesen Begriff bezieht sich Kant schon in B 474,indem er dort sagt, daß wir eine Kausalität annehmen müssen, „d. i.eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinun-gen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“. In B 561wird der Begriff der Freiheit „im kosmologischen Verstande“ dannausdrücklich als das „Vermögen“ definiert, „einen Zustand von selbstanzufangen“. Die Erörterung des Begriffs der menschlichen Handlungfordert jedoch die Einführung des Begriffs der praktischen Freiheit,weil der Begriff des menschlichen Willens nur durch ihn gewonnenwird. Also fordern sowohl die Fragestellung als auch die Auflösungder dritten Antinomie eine Rechtfertigung der Beziehung zwischentranszendentaler (kosmologischer) und praktischer Freiheit, weil indieser Beziehung das eigentliche Problem Kants enthalten ist, näm-lich, erstens zu zeigen, wie die Verknüpfung zwischen Freiheit undmenschlichem Willen gedacht werden kann, d. h. warum dieser Willeim transzendentalen, aber nicht im psychologischen Sinne frei ist, undzweitens, wie das mit einer Vernunft und einem Willen begabte We-sen, das im transzendentalen Sinne frei ist, Kausalität in bezug aufseine Handlungen als Erscheinung haben kann.

Es entsteht hier ein Problem für Kant, weil er zeigen muß, wie derBegriff eines solchen absoluten und spontanen Anfanges „auch imBegriff der Handlungsfreiheit enthalten ist, d. h. daß diese kosmolo-gische Freiheit auch ein Bestandteil im Begriff der menschlichenFreiheit, des psychologischen oder praktischen Freiheitsbegriffs ist“.4Kant skizziert eine Lösung für dieses Problem erstmals in der An-merkung zur These. Dort gesteht er zu, daß die Frage nach der Freiheitdes Willens „die spekulative Vernunft von jeher in [...] große Verle-genheit gesetzt hat“, und argumentiert dann weiter, daß man den Be-griff der Spontaneität, in dem die Notwendigkeit eines ersten sponta-nen Anfanges gedacht wird, um den Ursprung der Welt verständlichzu machen, auch im weiteren Laufe der Welt rechtfertigen kann:

„Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganzvon selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns

4 Alejandro Rosas, Kants idealistische Reduktion: das Mentale und das Mate-

rielle im transzendentalen Idealismus, Würzburg 1996, S.173.

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nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, derKausalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselbenein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln“ (B 478, H. v. m.).

Es geht also um den Übergang eines Kontextes, in dem der Begriff derSpontaneität gebraucht wird, um den Ursprung der Welt (eine primacausa mundi) zu erörtern, zu einem anderen, in dem er für dieRechtfertigung einer freien Kausalität im Gang der Welt angewandtwird. Im Bewußtsein der Schwierigkeit dieses Übergangs versuchtKant, ihn durch den Unterschied zwischen „absolut erstem Anfangeder Zeit nach“ und „der Kausalität nach“ zu begründen: „Denn wirreden hier nicht vom absolut ersten Anfange der Zeit nach, sondernder Kausalität nach“ (B 478). Dieser Unterschied weist auf einenersten Schritt hin, der zeigen soll, daß der Begriff der menschlichenHandlung einen Aspekt desjenigen Begriffs der transzendentalen(kosmologischen) Freiheit enthalten kann, der im Begriff der Kau-salität selbst ausgedrückt wird. Es geht also um einen Anfang derHandlung als etwas Dynamischem nicht der Zeit nach, sondern derKausalität nach; diese Handlung selbst hätte dann ein Moment derSpontaneität. Aber diese Antwort repräsentiert, weil sie sich nochinnerhalb der Darstellung von These und Antithese befindet, den dog-matischen Standpunkt der These und ist deshalb dem Einwand derAntithese unterworfen: „Wenn auch indessen allenfalls ein transzen-dentales Vermögen der Freiheit nachgegeben wird, um die Weltverän-derungen anzufangen, so würde dieses Vermögen doch wenigstensnur außerhalb der Welt sein müssen“ (B 479). Es ist noch eine dogma-tisch-kosmologische Antwort, die von Kant selbst im Laufe der Auf-lösung der dritten Antinomie überarbeitet wird, weil sie auf die argu-mentative Hilfe des transzendentalen Idealismus noch nicht zählenkann, der eingeführt wird, um zunächst den antinomischen Konflikt zupräzisieren und ihn danach aufzulösen.

Die Auflösung der dritten Antinomie beruht auf dem transzenden-talen Idealismus. Es handelt sich um einen Begriff des transzenden-talen Idealismus, der die doppelte Perspektive auf einen und denselbenGegenstand behauptet, der als Erscheinung und an sich selbst betrach-tet wird. Aber dieser Idealismus hat, weil er sich auf die Probleme desspekulativen (kosmologischen) Gebrauchs der Vernunft bezieht, dieder theoretische Gebrauch nicht lösen kann, die transzendentale Struk-tur des handelnden Subjekts, aber nicht des erkennenden Subjekts imAuge. Dies fordert dann eine weitere Präzisierung im Gebrauch derBegriffe des transzendentalen Gegenstandes, Noumenons und Dinges

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an sich, die der Grund dafür ist, warum Kant in der Auflösung derdritten Antinomie mit dem Begriff des handelnden Subjekts alsNoumenon und nicht als transzendentaler Gegenstand argumentiert.Diese modifizierte Version des transzendentalen Idealismus erlaubtden Übergang von einem theoretischen Gebrauch der Vernunft, wodas Prinzip der Naturkausalität dominiert, zum spekulativen (kosmo-logischen) Gebrauch, wo es die Möglichkeit gibt, einen Zustand spon-tan anzufangen, d. h. von selbst, ohne von den raumzeitlichenBedingungen, also von dem Verhältnis Ursache-Wirkung der Natur-kausalität, abhängig zu sein. Mit dieser weiteren Präzisierung destranszendentalen Idealismus kommt Kant auf das Problem der drittenAntinomie zurück und versucht dieses aufzulösen.

Ich will hier nur die Hauptschritte dieser Auflösung zusammen-fassen, um darauf hinweisen zu können, daß Kant dort die Aufmerk-samkeit auf ein Problem lenkt, ohne es im Rahmen der dritten Antino-mie bereits lösen zu können. Dieses Problem ist die Hauptfrage seinerMoralphilosophie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten undder Kritik der praktischen Vernunft und kann auch als Leitfaden ange-nommen werden, um die pädagogische Fragestellung Kants im Zu-sammenhang mit seiner kritischen Philosophie zu erörtern. Die ent-scheidenden Punkte seiner Auflösung der dritten Antinomie sind:a) Kant greift die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an

sich in B 518-525 wieder auf und modifiziert sie in wesentlichenPunkten, um die Antinomie auflösen zu können.

b) Er definiert die Freiheit im kosmologischen Sinne als Vermögen,einen Zustand von selbst anzufangen (B 561), und in diesem Zu-sammenhang führt er den Begriff der praktischen Freiheit ein, derals „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch An-triebe der Sinnlichkeit“ (B 562) definiert wird. Kurz zuvor hat erschon gesagt, daß die praktische Freiheit sich auf die transzen-dentale (kosmologische) Freiheit gründet (A 562). Beide Begriffeberuhen jedoch auf dem Begriff der Vernunft als spontane Ur-teilsfähigkeit. Die Auffassung der Vernunft als reine Selbsttätig-keit oder als Spontaneität liegt dem Begriff des menschlichenWesens als „tätiges Wesen“ (B 569) oder als „handelndes Subjekt“(B 567) zugrunde.

c) Aufgrund dieser Definitionen betrachtet Kant das handelnde Sub-jekt als durch einen doppelten Charakter konstituiert: einen empiri-schen und einen intelligiblen. Der intelligible Charakter, der nichtin der Zeit liegt und für den „kein Vorher oder Nachher“ gilt, ist

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eine Kausalität aus Freiheit. Der empirische kann, weil er raum-zeitlichen Bedingungen unterworfen ist, im transzendentalen Sinnenicht frei sein. Das handelnde Subjekt ist in seinem empirischenCharakter der Naturnotwendigkeit unterworfen; dasselbe Subjektist jedoch, wenn es sich in seinem intelligiblen Charakter be-trachtet, von der Naturnotwendigkeit frei. In seinem empirischenCharakter ist es Erscheinung; in seinem intelligiblen Noumenon.

d) Der Begriff der Vernunft, als spontane Urteilsfähigkeit, schafft fürsich selbst, durch reine Tätigkeit, eine andere Ordnung. Damitkann sie absichern, daß die Handlung des Subjekts eine unmittel-bare Wirkung seines intelligiblen Charakters sein kann. Das heißt,seine Handlung kann, indem sie gemäß der Vernunft ist, sich nichtnur über die Einflüsse der Sinnlichkeit hinwegsetzen, sondernverfügt auch über die Möglichkeit, „eine Reihe von Begebenheitenvon selbst anzufangen“ (B 582).

e) Weil die Vernunft „die beharrliche Bedingung aller willkürlichenHandlungen [ist], unter denen der Mensch erscheint“ (B 581), undweil sie die menschliche Willkür bestimmen kann, ist es richtig zubehaupten, daß sie Kausalität in bezug auf die menschlichen Hand-lungen als Erscheinungen hat. Sie hat solche Kausalität, weil sieein Vermögen ist, „durch welches die sinnliche Bedingung einerempirischen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt“ (B 580), ohnedaß ihre Bedingung selbst sinnlich sei; also ist ihre Bedingung„empirischunbedingt“.

Die Stellen B 577-78 sind wichtig, um auf eine Besonderheit derKantischen Argumentation für die Auflösung der dritten Antinomiehinzuweisen. Diese Besonderheit enthält eine Hypothese, die in B 577folgendermaßen dargestellt wird: „Nun laßt uns hiebei stehen bleibenund es wenigstens als möglich annehmen: die Vernunft habe wirklichKausalität in Ansehung der Erscheinungen“ (B 577, H. v. m.). InB 580 kommt Kant auf diesen Gedanken zurück, wenn er behauptet:„Also werden wir sagen können: wenn die Vernunft Kausalität inAnsehung der Erscheinungen haben kann“. Der hypothetische Cha-rakter dieser Behauptung gewinnt jedoch im Laufe der Argumentationder Auflösung der Antinomie den Status einer Forderung: Die Ver-nunft muß Kausalität in bezug auf unsere Handlungen als Erschei-nungen haben. Die Stelle B 578 übernimmt die Aufgabe, zu zeigen,daß sie solche Kausalität hat. Diese Stelle faßt also den Inhalt zusam-men, der den Übergang von einem kosmologischen Kontext zumKontext der menschlichen Handlung signalisiert, weil Kant dort die

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Vernunft nicht nur in ihrer spekulativen, sondern auch in ihrer „prak-tischen Absicht“ auffaßt. Nun setzt Kant damit voraus, daß die Ver-nunft eine Art der Kausalität hat, die, obwohl sie den raumzeitlichenBedingungen nicht unterworfen ist, mit dem Problem der mensch-lichen Handlung als Erscheinung verknüpft ist und Einfluß auf siehaben kann. Kant nimmt das Sollen und mit ihm die praktischen Im-perative als Beleg für diese Kausalität, die in der Natur als Naturkau-salität keinesfalls erscheinen: das Sollen und die Imperative sind Kau-salität der Vernunft und nicht der Natur. In beiden Begriffen findetKant die Brücke, die ihm bisher noch gefehlt hat, um den Übergangvon der kosmologischen zur praktischen Freiheit zu zeigen.

Mit der Auflösung der dritten Antinomie versucht Kant zu zeigen,daß Freiheit und Natur zwei kompatible Begriffe sind, weil sie sich inunterschiedlicher Perspektive auf ein und dieselbe Handlung desSubjekts, auf seinen empirischen und auf seinen intelligiblen Cha-rakter, beziehen. Vom Standpunkt der intelligiblen Perspektive aus ge-sehen kann die menschliche Handlung die Begebenheiten der Weltbeeinflussen, weil sie mit einem Vermögen (mit der transzendentalenFreiheit) verknüpft ist, das von sich selbst aus einen Zustand anfangenkann. Dieses Vermögen zeigt sich nur für die Handlungen, die unterder praktischen Absicht der Vernunft stehen, d. h. indem diese Hand-lungen durch Imperative orientiert werden. So drückt das Sollen eineArt der Kausalität aus, die in der Natur nicht erscheint (B 575). Wenndie menschlichen Handlungen der Vernunft in ihrer praktischen Ab-sicht unterworfen sind, dann kann eine andere Ordnung oder Regelentstehen, die von der Naturordnung zu unterscheiden ist: „Denn dasollte vielleicht alles das nicht geschehen sein, was doch nach demNaturlaufe geschehen ist“ (B 578). Der intelligible Charakter wirdalso durch den Rekurs auf eine Art der Kausalität legitimiert, dieaußerhalb der raumzeitlichen Bedingungen steht oder die nicht zujener begrifflichen Struktur gehört, die eine mögliche Erfahrung kon-stituiert. Dieser intelligible Charakter beruht auf einem Begriff derVernunft, der selbst die Ursache der Handlungen ist, oder, wie Kantsagt, „so fern Vernunft die Ursache ist, sie [die Handlungen] selbst zuerzeugen“ (B 578).

In der Auflösung der dritten Antinomie gibt es jedoch ein Prob-lem: Es ist möglich zu zeigen, so lautet ihr Hauptargument, daß dieVernunft in praktischer Absicht Kausalität auf unsere Handlungen alsErscheinungen hat. Wenn dem so ist, dann ist die Frage, wie eineHandlung, als eine Begebenheit in der Welt (in der Natur), auf eine

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Entscheidung zurückgeführt werden kann, die nur durch vernünftige(spontane) Überlegungen getroffen wird.5 Die Voraussetzung ist hieralso, daß die vernünftigen Überlegungen eine kausale Rolle in denmenschlichen Handlungen spielen können oder daß das handelndeSubjekt, obwohl es selbst ein Naturwesen ist, das in der Natur steht,ein Moment der Spontaneität haben kann. Die These, daß die VernunftKausalität in bezug auf unsere Handlungen als Erscheinung habenmuß, ist für die Argumentation Kants zentral: Er selbst war sichdessen bewußt, daß die Wirksamkeit unserer Ideen auf die Erfahrungvon dieser These abhängig ist. Es läßt sich in diesem Zusammenhangzeigen, daß Kant der Meinung war, daß die Vernunft in ihrer prakti-schen Absicht unsere Handlung als Erscheinung beeinflussen kann.Analysiert man die Auflösung der dritten Antinomie unter dieser Per-spektive, so sieht man, daß die Kantische Absicht in ihr nicht nur aufein kosmologisches Problem (wie die Welt entsteht und welches ihreerste Ursache ist), sondern auch schon auf die menschliche Handlungund auf das Problem ihrer Begründung abzielt.

Ein deutliches Beispiel hierfür ist, daß Kant sich schon im Zusam-menhang mit der Auflösung der dritten Antinomie auf das Problemder moralischen Imputabilität der Handlungen und damit auf dasProblem der menschlichen Verantwortung bezieht. Die moralischeZurechnung impliziert vor allem die Freiheit: Man setzt voraus, daßdas Subjekt frei gehandelt hat, um ihm etwas in bezug auf seineHandlung anrechnen zu können. Dagegen könnte man von einemSubjekt keine Verantwortung seiner Handlung fordern, wenn es nichtfrei gehandelt hätte. Kant geht davon aus, daß der eigentliche Grundder moralischen Imputabilität der Handlungen in der transzendentalenFreiheit als absoluter Spontaneität liegt (B 476). Das Beispiel der„boshaften Lüge“ (B 582-83) zeigt, daß die Imputabilität der Hand-lung im Begriff der transzendentalen Freiheit liegt und in einem be-stimmten Begriff der Vernunft begründet ist. So sagt er über den Lüg-ner: „die Handlung wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen,er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithinwar die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der Tat,völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen“(B 583). Die Freiheit liegt nach diesem Beispiel allein im intelligiblenCharakter des handelnden Subjekts, weil es in seinem empirischen

5 Markus Willaschek, Praktische Vernunft: Handlungstheorie und Moralbe-

gründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992, S. 310, Anm.7.

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Charakter der Naturnotwendigkeit unterworfen ist. Sofern der Grundder Handlung nicht im psychologischen, sondern im transzendentalenBegriff der Freiheit liegt, kann man daraus schließen, daß die morali-sche Imputabilität auf absoluter Spontaneität beruht.

Es entsteht hier aber das Problem, daß diese Spontaneität nichteiner Kausalreihe, d. h. raumzeitlichen Bedingungen, unterliegenkann, sonst wird sie selbst, wie Kant sagt, „dem Naturgesetz derErscheinung unterworfen“ (B 580). Wenn das handelnde Subjekt auchein bedingt-empirisches Subjekt ist, das in einem bestimmten Raumund in einer bestimmten Zeit handelt, und wenn genau dies die Si-tuation ist, wo sowohl das Problem der Entscheidung seiner Hand-lungen als auch die Imputabilität derselben besteht, so ist die Frage,wie die absolute Spontaneität auf die Bestimmung dieser HandlungEinfluß ausüben kann. Das Problem kann so präzisiert werden: Wennder intelligible Charakter unbekannt ist und der Akt der Zurechnungdie Freiheit (als Spontaneität) des handelnden Subjekts voraussetzt,wie können wir dann dem handelnden Subjekt moralisch etwas zu-rechnen, wenn doch sein intelligibler Charakter, unter dem wir esallein als frei betrachten können, für uns unzugänglich ist?6

Für dieses Problem kann Kant im Kontext der dritten Antinomienur eine allgemeine Lösung geben, die auf einer noch embryonalen(nicht ausgewiesenen) Betrachtung der Vernunft in ihrer praktischenAbsicht beruht. Mit dieser Betrachtung kann er lediglich andeuten,daß es die Vernunft in ihrer praktischen Absicht mit der freien Willkür(arbitrium liberum) der menschlichen Handlung, mit dem Sollen undden Imperativen zu tun hat. Das Dilemma besteht hier aber darin, daßdie Auflösung der dritten Antinomie in gewisser Weise schon auf denpraktischen Gebrauch der reinen Vernunft vorausweist oder von ihmabhängig ist; aber sie kann die notwendige Begrifflichkeit für die Be-gründung dieses Gebrauchs noch nicht geben. Kant beschäftigt sichhier noch nicht damit zu erklären, was Imperative sind und wie siemöglich sind. Es geht ihm in der Auflösung der dritten Antinomie umnichts weiter als zu zeigen, daß die reine Vernunft in ihrer praktischenAbsicht, als Spontaneität, durch Imperative den Willen bestimmenkann.

Bevor er seine Darstellung der Auflösung der Antinomie zu Endebringt, behauptet er jedoch in B 586, daß es hier auch nicht sein Ziel

6 Vgl. Henry E. Allison, Kant’s transcendental idealism: An Interpretation and

Defense, Londres/New Haven 1983, S. 325 f.

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gewesen war, die objektive Realität der Freiheit zu beweisen. Miteiner solchen Behauptung hält er einerseits an der These fest, daß derBegriff der Freiheit, weil auch der theoretische Gebrauch der Vernunftseine Unmöglichkeit nicht beweisen kann, wenigstens als logischeMöglichkeit schon innerhalb der Rechtfertigung eines solchen theore-tischen Gebrauchs abgesichert wird. Die Freiheit ist eine Idee derVernunft, die für diesen Gebrauch problematisch bleibt. Die Behaup-tung von B 586 ist andererseits aber auch ein Hinweis dafür, daß dasentstehende Problem der Auflösung der dritten Antinomie, wie dieVernunft Kausalität in bezug auf die menschlichen Handlungen alsErscheinungen haben kann, dort nicht weiter ausgeführt werden kann.Aus der Auflösung der dritten Antinomie kann man also zwei Schlüs-se ziehen: a) Die Rechtfertigung des theoretischen Gebrauchs derVernunft hebt den Begriff der Freiheit nicht auf, obgleich er ein prob-lematischer Begriff bleibt. b) Die Möglichkeit eines praktischen Ge-brauchs der Vernunft ist selbst noch zu rechtfertigen, und dafür reichtallein der negative Begriff der Freiheit (als logische Möglichkeit)nicht aus.

Durch den transzendentalen Idealismus als Lösung der dritten An-tinomie wird die menschliche Handlung auf eine doppelte Perspektivehin betrachtet: Sie wird in ihrem empirischen Charakter der Natur-notwendigkeit unterworfen; dagegen in ihrem intelligiblen Charakterals frei betrachtet. Damit ist deutlich, daß die Freiheit auf der Seite dernoumenalen Perspektive steht, wo das noumenale Subjekt (homonoumenon), weil es ein mit Vernunft begabtes Wesen ist, fähig ist,spontan zu handeln. Die noumenale Perspektive bleibt jedoch bei derAuflösung der dritten Antinomie noch unbestimmt bzw. leer, obwohlsie schon auf die praktische Absicht der Vernunft, auf das Sollen unddie Imperative, hinweist. Das Noumenon bleibt also hier noch einunbestimmter Begriff. So stimmt die Auflösung der dritten Antinomiemit der negativen Zuschreibung der noumenalen Perspektive in der„transzendentalen Ästhetik“ überein, wo Kant die These vertritt, daßdie noumenalen Gegenstände keine raumzeitlichen Gegenstände sind.Die Bedeutung der Auflösung der dritten Antinomie liegt nun geradedarin, diese negative Bestimmung des Noumenons zu bestätigen undihre Negativität zu präzisieren.

Von pädagogischer Relevanz ist diese Negativität insofern, alseine moralische Erziehung auf den Begriff der Freiheit als Voraus-setzung eines selbstbestimmten und verantwortlichen Handelns nichtverzichten kann. Denn diese Negativität bedeutet zunächst einmal, daß

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die Möglichkeit zur Autonomie menschlichen Wesen zumindest nichtabgesprochen werden darf. Nur unter dieser Voraussetzung aber kannes dann auch eine Aufgabe der Pädagogik sein, dem Kind die eigeneFreiheit bewußt zu machen und sie auch „fühlen“ zu lassen.

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Heinz Eidam

Das Prinzip der Erziehungskunst oderZehn Thesen zur Aktualität der ReflexionenKants über Pädagogik

Vorbemerkung

Im folgenden werde ich mich – knapp und thesenartig – auf KantsVorlesungen Über Pädagogik beziehen, insbesondere auf deren Ein-leitung. Diese Vorlesungen wurden erst zwei Jahre nach Kants Todvon Friedrich Theodor Rink 1803 veröffentlicht. Kant war durch seineProfessur an der Universität in Königsberg verpflichtet gewesen, auchüber Pädagogik zu lesen, und legte dabei – wie es zu seiner Zeit üblichwar – das Lehrbuch eines anderen zugrunde. Gleichwohl schien Kantsich zugleich verpflichtet gefühlt zu haben, sich auch eigene prinzi-pielle Gedanken zu machen über den Prozeß der Erziehung, die An-forderungen an den Erziehenden und den Zweck der Pädagogik ins-gesamt. Diese grundsätzlichen Überlegungen sind inzwischen über200 Jahre alt. Daß sie gleichwohl immer noch aktuell und d. h. dis-kussionswürdig sind, möchte ich in den folgenden zehn Thesenwenigstens andeuten.

1. „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“(A 1)1

Man liest diesen Satz, den ersten der Einleitung, und wird sogleichstutzig: Es ist ja durchaus nichts Neues, daß diese Notwendigkeit alsZwang zur Erziehung hervorgehoben wird, oft gerade von solchenErziehern, die in diesem Zwang den Sinn und in seiner Ausübung denZweck der Erziehung sehen. Und so lange ist es ja noch gar nicht her,daß die von Kant hervorgehobene Notwendigkeit der Erziehung alseine Zwangsmaßnahme verstanden wurde, die am Ende zu nichts 1 Immanuel Kant, Über Pädagogik, hrsg. v. D. Friedrich Theodor Rink (1803),

hier zit. nach der Ausgabe: Werke in 12 Bdn., hrsg. v. W. Weischedel, Frank-furt a.M. 1968, Bd. XII.

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anderem als zur Reproduktion eines Zwanghaften wurde, das die Psy-choanalyse beschreibt und das soziologisch als Ausbildung eines auto-ritären Charakters beschrieben werden kann.

In diese Richtung gehen Kants Reflexionen allerdings nicht. WasKant zunächst meint, ist, daß der Mensch – im Unterschied zum Tier –auf die eigene Vernunft und deshalb auch auf deren Entwicklung undAusbildung angewiesen ist. Ein Tier, so schreibt Kant, sei „schon allesdurch seinen Instinkt“, eine „fremde Vernunft“ habe „bereits alles fürdasselbe besorgt“ (A 2) – auch wenn die moderne Verhaltensfor-schung diese Disjunktion, etwa im Hinblick auf das Lern- und So-zialverhalten höherer Primaten, so wohl nicht mehr bestätigen würde.Der Mensch dagegen habe keinen Instinkt und müsse sich den Planseines Verhaltens selbst machen, mithin selbst überlegen, was zu tunoder gegebenenfalls auch zu lassen sei. Weil er aber dazu noch nichtim Stande ist, wenn er auf die Welt kommt, so müssen es zuerstandere für ihn tun. Der Mangel an Instinkt, d. h. das Fehlen einer ihmgleichsam angeborenen, ihn vorab in seinen Zwecken und Verhal-tensweisen bestimmenden und ihm daher „fremden“ Vernunft, der denMenschen gegenüber dem Tier auszeichnet, macht ihn gleichwohl zukeinem – später von Arnold Gehlen so genannten – Mängelwesen, dasdiesen Mangel durch andere Instanzen oder Institutionen zu ersetzenoder zu kompensieren hätte. Denn Institutionen, die nur als Instinkt-ersatz der eigenen Urteilsentlastung dienen sollen, verkehren sich imHandumdrehen wiederum in eine dem Menschen fremde Vernunft.Statt selber zu denken und zu handeln, überläßt er es den Institutionen.Auf die Unmündigkeit im Kindesalter folgt dann die eigenverant-wortliche Entmündigung im Erwachsenenalter. Die Vernunft desMenschen muß, und darauf legt Kant den Akzent, schon seine eigenesein. Aber das muß sie durch den Prozeß der Erziehung auch werdenkönnen. Auch und gerade der von Kant geforderte Mut, sich seineseigenen Verstandes zu bedienen, kann durchaus als eine Sache vonBildung und Erziehung begriffen werden. Jenem Mut, den der zu Er-ziehende immer selbst aufbringen muß und auch nur selbst aufbringenkann, korrespondiert im Erziehungsprozeß der Mut auf Seiten desErziehers, sich den dadurch sich ergebenden Anforderungen auch zustellen. Wer die Entwicklung des jeweils eigenen Verstandesgebrau-ches der zu Erziehenden sich zu seiner Aufgabe zu machen hat, derhat gerade dasjenige zu fördern, was durch den Verstandesgebrauchdes Erziehers nur hervorgerufen, aber nicht ersetzt werden kann. Eswäre ein der Zweckmäßigkeit des Erziehungsprozesses gegenläufiges

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und widersprüchliches Unterfangen, dem Educandum den eigenenVerstandesgebrauch von außen her induzieren zu wollen. Im Prozeßder Erziehung substituiert der Erzieher nicht die „fremde Vernunft“oder den Instinkt, dessen Fehlen der Ausgangspunkt aller Erziehungund dessen Substitution durch die fremde Vernunft des Erziehers dasScheitern der Erziehung wäre. Sondern die Autorität des Erzieherskann allein darin bestehen, im Erziehungsprozeß auf autoritäre Fremd-bestimmung des zu Erziehenden zugunsten und nach Maßgabe derFörderung und Bildung der eigenen Autonomie des zu Erziehenden zuverzichten. Maßnahmen und Methoden der Erziehung, die diesemZweck gerecht werden sollen, sind daher von Anfang an so zu wählen,daß sie am Ende überflüssig werden können. Die Notwendigkeit derErziehung besteht darin, ein in der Entwicklung der Autonomie des zuErziehenden verschwindendes Moment zu sein.

2. „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsereSache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln, und dieMenschheit aus ihren Keimen zu entfalten, und zu machen daß derMensch seine Bestimmung erreiche.“ (A 11)

Also sind es doch wieder Naturanlagen, wenn schon keine Instinkte,so doch Keime (evtl. auch Keimbahnen), die in der Menschheit lie-gen? Und wäre Erziehung dann nicht etwas der Züchtung vonKulturpflanzen Analoges? Sollte man Menschen so erziehen, wie manim Garten Blumen, Gemüse oder Kartoffeln zieht? Kant selbst bringtein Blumen-Beispiel. Man sehe es an den Aurikeln: Wenn man sie ausder Wurzel ziehe, so bekomme man alle von der gleichen Farbe.Wenn man dagegen den Samen aussäe, so bekomme man Blumen vonganz anderen und unterschiedlichsten Farben. Die Entwicklung derNaturanlagen zielt also auf die Herausbildung von Diversität undVerschiedenheit, nicht auf die clonierte Langeweile des Immerglei-chen aus immer derselben Wurzel. Und vor allem: Erst mit der Ent-faltung seiner Naturanlagen – als sich entwickeln wollenden Keimen –kann auch begriffen werden, was denn in ihnen angelegt, welcheMöglichkeiten des Menschen ihm mit seinen Anlagen überhauptgegeben sind. Realgründe nennt Kant an anderer Stelle die Natur-anlagen im Menschen, und diese Realgründe sind die im Menschenliegenden allgemeinen Potenzen, Fähigkeiten und zur Entfaltung zubringenden Fertigkeiten. So wie die menschliche Hand kein spezia-

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lisiertes (natürliches) Werkzeug zu einem ganz speziellen und dahereingeschränkten Gebrauch, sondern ein universales Organ ist, mit demman nicht nur greifen, sondern auch gestikulieren, musizieren oderauch schreiben kann. Was die menschliche Hand alles tun oder auchnicht tun kann (oder soll), das läßt sich, im Unterschied zu jedemSpezialwerkzeug, zum voraus gar nicht angeben. Was für den Ver-stand des Menschen und seine Vernunft gilt, das gilt auch schon fürseine Hand: Als universelles natürliches Organ bietet oder hat sienicht nur die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten allererst zu entwickeln,sondern ist diese Möglichkeit selbst, mithin bereits als Naturanlagenicht auf einen spezialisierten Gebrauch eingeschränkt oder zu be-stimmen Zwecken – durch eine „fremde“ Vernunft – determiniert.Was die Kultur des Menschen, einschließlich der so genannten Kul-turtechniken, genannt wird, wäre insofern gar nicht möglich, wenn dieNatur des Menschen sie nicht zuließe und den vom Begriff der Kulturnicht zu trennenden Begriff der Möglichkeit zur Kultivierung vonVerstand und eben eigener Vernunft durch ihre eigenen Gesetze vonvornherein ausschlösse.

Menschliche Kultur hat insofern immer auch eine Naturbasis, undnur auf dieser Basis kann das Naturwesen Mensch sich als Menschauch (weiter) entwickeln. Was aber in diesem allgemeinen Naturver-mögen steckt, welche vielfältigen (bunten) Möglichkeiten sich ihm(noch) erschließen können, das muß der Mensch und kann er nurselbst herausfinden, um, wie Kant sagt, seine Bestimmung zu errei-chen. Das Tier erfülle seine Bestimmung durch bloßen Instinkt; findesie schon vor. Der Mensch dagegen müsse erst noch suchen. Wie jedeandere Suche auch, so benötigt die Suche nach der eigenen Bestim-mung des Menschen – phylogenetisch wie ontogenetisch – Zeit. (Ge-rade in pädagogischen Prozessen ergibt die ökonomisch-teleologischeZeitverknappung eine Orientierungsnot auf Seiten der zu Erziehendenund komplementär einen Mangel an verfügbaren Orientierungsmög-lichkeiten auf Seiten der Erzieher.) Daß er aber diese Bestimmungüberhaupt suchen und derart sich selbst – aus eigener Vernunft – be-stimmen kann, das ist keine negative, sondern eine positive Qualität.Wird diese Möglichkeit zu Selbstbestimmung dem Menschen abge-sprochen, dann sieht man in ihm nichts anderes als ein instinkt- odergen- oder wodurch auch immer fremdgesteuertes Triebwesen – undwird ihn dann auch so behandeln.

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3. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er istnichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken,daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Men-schen, die ebenfalls erzogen sind.“ (A 7)

Zugestanden, aber wer erzieht die Erzieher? Oder, anders formuliert:Gerade weil der Mensch nicht von Natur aus – in der Form einer bio-,theo- oder soziologisch zu verstehenden Passung – festgelegt ist, istder Prozeß der Erziehung ein Prozeß der Selbsterziehung des Men-schen. Und dieser Prozeß ist ein Experiment mit durchaus offenemAusgang – gerade weil man, so betont Kant, vorab gar nicht sehen undwissen kann, „was aus dem Menschen werden könne“ und „wie weitbei ihm die Naturanlagen gehen“. Die Erziehung ist ein ebenso offe-ner Prozeß wie der Prozeß der Menschwerdung selbst. Es ist einProzeß der Bildung mit offenem Ausgang, nicht ein Prozeß der Aus-bildung nach vorgefertigten Mustern.

An einer anderen Stelle klagt Kant eindringlich darüber, wann dennendlich diese – so wörtlich – „Barbarei“ ein Ende habe, der Vernunftden Weg immer schon vorschreiben zu wollen. Weil dieser Prozeß derSelbstbestimmung aber ein offener Prozeß ist – oder es wenigstenssein soll und sein kann –, in dem sich der Mensch selbst zu bilden undzu kultivieren hat, deshalb ist für Kant gerade die Erziehung einProblem, das „größte“ und das „schwerste“. „Denn Einsicht hängt vonder Erziehung, und Erziehung von der Einsicht ab“ (A 14). Kant be-grüßt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Experimente der Re-formpädagogen seiner Zeit, auch wenn er ihnen nicht in allen Punktenzustimmt. Dieses große Problem der Erziehung läßt sich weder theo-retisch und schon gar nicht praktisch zerhauen wie den berühmtenGordischen Knoten. Was von Kant gefordert wird, ist eine reflek-tierende Praxis und eine theoretische Reflexion, die wiederum derPraxis dient. Anders findet ein Prozeß der Erziehung gar nicht stattoder aber verkommt zu einer Form mechanischer Abrichtung oder mitabgestuften Leistungsanreizen arbeitenden Dressur, welche nach Maß-gabe vorgefertigter Zielvorgaben schon vorwegnimmt und damit vonAnfang an ausschließt, was Sinn der Erziehung und Ergebnis ihresProzesses sein könnte: die Öffnung der Möglichkeit einer Selbstbe-stimmung als Gegensatz zu einer bloß heteronomen Festlegung undFixierung durch vorab und von außen gesetzte Vorgaben und Ziele. Indiesem Sinne ist Erziehung die conditio sine qua non der Menschwer-dung; deshalb aber nicht schon die causa per quam: Im Erziehungs-

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prozeß ist daher Verantwortung dafür zu tragen, daß ein selbstver-antwortliches Handeln der zu Erziehenden möglich wird, sich alsoauch formen, bilden, entwickeln kann.

4. „Alle Erziehungskunst, die bloß mechanisch entspringt, muß sehrviele Fehler und Mängel an sich tragen, weil sie keinen Plan zumGrunde hat.“ (A 15)

Kant fordert damit, daß es für die Kunst der Erziehung auch eineWissenschaft gebe. Die Pädagogik müsse ein Studium werden, weilsonst nichts von ihr zu erhoffen sei. Das betrifft vor allem seine eigeneZeit. Inzwischen gibt es die Erziehungswissenschaft und das ent-sprechende Studium dazu. Doch darf, auch heute nicht, übersehenoder vergessen werden, daß die Erziehung eine praktische Wissen-schaft, eine Kunst – eine techné – ist und keine Technik oder tech-nizistisches human engineering, das verfügbares Humankapital undlebensweltlich abbaubare Ressourcen einer pädagogisch transformier-ten Wertlogik zuführt. Einsehbar wäre der Versuch einer Abrichtungzur Autonomie eine contradictio in adjecto. Auch und vor allem einepraktische Wissenschaft bedarf der planerischen Reflexion, aber kei-ner Verplanung im Sinne einer bloßen Programmerfüllung. Dies wür-de den Prozeß der Erziehung wieder auf eine Mechanik reduzieren, ander Kant gerade Anstoß nimmt. Pläne, also auch curriculare Entwürfe,sind wichtig und unvermeidlich, aber sie müssen flexibel, veränder-bar, offen sein. Man sehe also, so Kant, daß es auf Experimente an-komme, daß aber „kein Menschenalter einen völligen Erziehungsplandarstellen kann“ (A 27). Erzogen wird für die Zukunft, aber nicht inderen Verplanung, sondern in ihrer Offenheit liegt das Prinzip derErziehung. Aufklärung, so formulierten es einmal Max Horkheimerund Theodor W. Adorno, werde dann totalitär, wenn für sie der Pro-zeß, den sie zu initiieren einmal angetreten war, bereits von vorn-herein entschieden und damit eine mögliche Zukunft die immer schonvergangene, weil vorweg bestimmte ist. Die Zukunft, die im Blick desAnderen begegnet (Sartre), kann nur als eine offene die seine auchbleiben.

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5. „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer[und Frauen], die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen habensollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern demzukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen Ge-schlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Be-stimmung angemessen, erzogen werden.“ (A 17)

Ich habe diese Textstelle meiner Tochter, gerade 14 geworden,vorgelesen und gefragt, was sie denn davon hält. „Find’ ich gut“, hatsie gesagt, und wollte sich gleich wieder aus dem Staub machen. Ichwollte es aber doch etwas genauer wissen. „Ja“, hat sie gesagt, „soBallerspiele zum Beispiel“. „Wie? Was? Ballerspiele?“ habe ich zu-rückgefragt, weil ich mir ihre stenographischen Antworten immerübersetzen muß. „Ja, es ist eben nicht gut“, so ihre Erklärung, „daß dieJungs solche Kampfspiele spielen“. Damit mußte ich mich dann zu-frieden geben, habe es mir als Bestätigung meiner pädagogischenIntentionen und der Kantischen Perspektive eines „Ewigen Friedens“zurechtgelegt und nicht weiter nachgebohrt.

Kant hatte sein Prinzip selbstverständlich nicht im Hinblick aufdamals noch nicht verfügbare, ja nicht einmal denkbare Computer-spiele formuliert, sondern in seiner denkbar weitesten Fassung: Die„Anlage zu einem Erziehungsplane“ müsse „kosmopolitisch gemachtwerden“. Und die Idee des Weltbesten stehe übrigens keineswegs imWiderspruch zu dem von uns erstreben Privatbesten, im Gegenteil.Von dieser Perspektive einer kosmopolitischen oder, wie man heuteeher sagen würde, interkulturellen Erziehung gibt es bestenfalls An-sätze. Gerade aber eine zunehmend sich verschärfende Globalisierungzu Privatzwecken, d. h. im Dienste der ernsthaft finanziellen Zweckeder sogenannten global players, macht die Weiterentwicklung solcherkosmopolitisch-interkultureller Ansätze dringend nötig. PädagogischeVerantwortung ist auch insofern keine reine Privatsache. Und wennder Prozeß der Erziehung stets auch die Horizonterweiterung der zuErziehenden zum Ziel hat, so kann sich der je eigene nach Maßgabeseiner besonderen Krümmung auch derart zu einem globalen erwei-tern, daß die eindimensional ökonomisch verengte Perspektive einerkosmo-politisch umfassenderen weicht, in der die Pluralität der Kultu-ren nicht weniger als bereichernde Mannigfaltigkeit erfahrbar wird alsder Farbreichtum von Aurikeln im Kantischen Blumenbeet.

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6. „Bloß durch die Bemühung der Personen von extendierendenNeigungen, die Anteil an dem Weltbesten nehmen, und der Ideeeines zukünftigen bessern Zustandes fähig sind, ist die allmählicheAnnäherung der menschlichen Natur zu ihrem Zwecke möglich.“(A 21)

Ich übersetze: Die Aufgabe der Erziehung im Hinblick auf das Welt-beste kann nur von solchen Personen in Angriff genommen werden,welche sich von der Idee – als focus imaginarius – eines zukünftigbesseren Zustandes der Welt leiten lassen, ja, welche zu einer solchenIdee überhaupt noch fähig sind. Es ist doch eigentümlich, daß dieschon etwas ältere Forderung internationaler Solidarität gerade in demMaße sich zu verflüchtigen scheint, in dem handfeste Wirtschaftsin-teressen sich global etablieren. Daß die Welt, wie sie ist, die bestealler möglichen sein soll, wird heute ja nur noch selten aus theolo-gischen Gründen behauptet. Erziehung, so fordert Kant, ist niemalseine Erziehung zum status quo, und schon gar nicht eines schlechten.Die zu Kants Zeiten noch als durchaus utopisch erscheinende inter-nationale Verflechtung in den Bereichen von Ökonomie, Politik, Kul-tur und Wissenschaft hat inzwischen die realen Voraussetzungen dafürgeschaffen, daß die Vorstellung eines Weltbesten mehr und anderessein könnte als ein bloß Denkliches. Dessen Verwirklichung bedarfallerdings der zureichenden Reflexion darüber, was denn auch wirk-lich das Beste für die Welt sein könnte. Ein vorläufig zureichendesKriterium böte allemal schon die Frage danach, wo und in welchemMaße ein möglicher besserer Zustand, und sei es im Namen derGlobalisierung, gerade verhindert wird. Daß dabei die extendierendenNeigungen von Personen, die Anteil am Weltbesten nehmen, mit denexpandierenden Interessen derjenigen, die Anteil nur an der Idee deseigenen Zwecken Dienlichen nehmen, in Konflikt geraten können, dasversteht sich – fast – von selbst.

7. „Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet, mecha-nisch unterwiesen oder wirklich aufgeklärt werden. Man dressiertHunde, Pferde, und man kann auch Menschen dressieren.“ (A 24)

Man kann – und tut es ja auch –, nennt es aber aus nahe liegendenGründen nur nicht so. Und wenn die beste Dressur diejenige ist, dieden Dressierten gar nicht erst bewußt wird, dann läßt sich deren Quali-

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tät an dem mangelnden Widerstand demgegenüber ablesen, was Men-schen so alles zugemutet wird. Diese Zumutungen als solche wenig-stens zu erkennen, das wäre ein erster Schritt zur Aufklärung – einer,wie Horkheimer und Adorno es nannten, im Zeitalter der instrumen-tellen Vernunft dringend benötigten zweiten. Vorzüglich, so fordertKant, komme es darauf an, „daß die Kinder denken lernen“, mithinUrteilsvermögen, und selbstverständlich das eigene, üben und aus-bilden. Erziehung, so sagte Fichte einmal, sei „Aufforderung zurfreien Selbsttätigkeit“, und auch Fichte dachte sich diese Autonomienicht als Aufforderung zur Durchsetzung bloß eigener Interessen, son-dern im Sinne einer „Anmutung“, die, wie schon das Wort selbst,heute eher antiquiert erscheint. Kant selbst legte auf die Ausbildungdes Urteilsvermögens im Prozeß der Erziehung größtes Gewicht, so-wohl was die bestimmende als auch was die reflektierende Urteilskraftbetrifft. Da sogenannte Sachzwänge oft nur verschleierte For-men einer Tabuierung darstellen, welche die reflektierte Beurteilungund damit potentielle Infragestellung gängiger Praktiken verhindernsollen, wäre gerade in jenen Bereichen ein gesteigertes Maß an Ur-teilsfähigkeit von Nöten und daher – bereits im Erziehungsprozeß –herauszubilden, in denen hinter vorgeschoben sachlichen Notwendig-keiten andere schon geurteilt und, oft über die Köpfe der Betroffenenhinweg, mehr oder weniger willkürlich auch schon entschieden haben.Wenigstens eine Form der Dressur im Erziehungsprozeß besteht in derVerweigerung der Herausbildung von Urteilskompetenz und daher derVerewigung einer Unmündigkeit, also auch einer Sprachlosigkeit ge-rade denjenigen Fragen gegenüber, die im Interesse der eigenen Mün-digkeit zur Sprache erst einmal gebracht werden müßten. Ein, wennnicht das Merkmal einer jeden Dressur ist, daß die Frage nach demSinn und Zweck – sei es von allgemein bereits sanktionierten oder imbesonderen immer schon oktroyierten Mitteln oder auch dem Sinn undZweck des Ganzen – gar nicht erst zugelassen und mögliche Mündig-keit durch heteronome Zweckrationalität vorab schon verhindert wird.Nicht zuletzt gehörte zum Programm einer Aufklärung, wie Kant sieim Auge hatte, sich (selbst und damit zugleich gegenüber anderen)verantwortlich Rechenschaft über die handlungsleitenden Prinzipienund Gründe und d. h. den jeweiligen Zweck seines eigenen Tuns undLassens (insbesondere hinsichtlich seiner Relevanz für andere) zugeben. Nicht das eigene, aber das Wohl, sogar die „Glückseligkeit“anderer zu befördern behauptete er dabei zugleich als Pflicht – nichtanderer, sondern als die eigene.

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8. „Wir leben im Zeitpunkte der Disziplinierung, Kultur und Zivi-lisierung, aber noch lange nicht in dem Zeitpunkte der Morali-sierung. Bei dem jetzigen Zustande der Menschen kann man sagen,daß das Glück der Staaten zugleich mit dem Elende der Menschenwachse.“ (A 25)

Kant konnte noch fordern, daß nicht nur die Ökonomie, sondern auchdie Politik vor der Moral ihr Knie beuge – während heute moralischeFragen der Moral mit dem ökonomischen Zeigefinger bereits im An-satz unterbunden werden. (Und wo in aller Welt, und auch das ist eineStandortfrage, wäre die Würde des Menschen und sein Recht auf einselbstbestimmtes Leben ökonomisch unantastbar?) Die Frage der Mo-ral war für Kant noch eine solche, die sich nicht nur der Privat-,sondern auch der Weltbürger zu stellen hat, während für seinen Kriti-ker Hegel die Sittlichkeit aus eigentümlich systematischen Gründenbereits an der jeweiligen Staatsgrenze zu enden hatte. Mit seinemSpott auf das perennierende und darum leere Sollen sowie der Ver-höhnung der Idee eines „Ewigen Friedens“ – bei gleichzeitiger Recht-fertigung kriegerischer Auseinandersetzungen mit humaner Distanz-waffentechnik („Feuergewehr“) – geht bei Hegel das aus dem ab-soluten Geist gezogene Vertrauen auf den vernünftigen Gang derWeltgeschichte und das Glück – nicht der Menschen, sondern einerIdee – einher, die sich auch angesichts unbeschreiblichen Elends un-beschädigt im Hintergrund halten und deshalb auch überleben könne.Diese eher vordergründige Argumentation zugunsten der a priori hin-terlistigen „Idee“ wurde inzwischen abgelöst von einer Affirmationjenes – für Hegel noch durchaus partikularen – Reichs der Bedürfnisseeiner kleinen wie großen Ökonomie, die, nun zugestandenermaßengeistlos, den Geist substituieren und blindlings das Allgemeine zumWohl, wenn auch nur weniger, befördern soll. Die im Gegenzug undmit Recht eingeklagte, weil ökonomisch nicht einlösbare Universalitätder Moral in der Form universaler Menschenrechte bleibt wiederumdann allzu abstrakt, wenn sie sich nicht mit der von Hegel höher-gestellten Sphäre der Sittlichkeit vermitteln, sich also in den jewei-ligen Staatswesen nicht zugleich auch – den Bedürfnissen aller undnicht nur weniger entsprechend – konkretisieren läßt. Dies aber, undnicht den Rückzug ins biedermeierlich verinnerlichte Private, meintKants Begriff der Moralisierung: mithin ihre Durchsetzung auch undgerade in jenen öffentlichen Sphären von Politik und Ökonomie, diemit Berufung auf die moderne Ausdifferenzierung der Geltungssphä-

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ren den dafür angeblich zu zahlenden Preis der Moral – aus Gründensogenannter Rationalisierung – billigend in Kauf nehmen.

Gelungen wäre, Kant zufolge, eine Moralisierung erst dann, wennMenschen in allen Bereichen und Dimensionen des gesellschaftlichenLebens niemals bloß als Mittel (von wem und zu welchen Zweckenauch immer) behandelt würden. Das Glück der Menschen ist, für Kantwenigstens, davon nicht zu trennen. Ein gängiges subsumtionslogi-sches Vorurteil gegenüber universalen Prinzipien ist die durch siegesetzte Reduktion des Besonderen auf ein abstrakt Allgemeines,während doch, was insbesondere für Erziehungsprozesse gilt, erstdurch die weitest mögliche universale Förderung des Besonderen dasAllgemeine, etwa das sogenannte Bildungswesen, auch wirklich zueinem werden könnte. Auch der Begriff der Toleranz ist ein abstrakterBegriff, der ohne seine Konkretion im Mannigfaltigen ohne Sinn undBedeutung wäre. Je umfassender, desto konkreter – das ist keineswegsein Widerspruch. Gleiches gilt für den curricular und bildungspoli-tisch unverzichtbaren Begriff der Allgemeinbildung.

9. „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man dieUnterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit,sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwangist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich sollmeinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden,und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu ge-brauchen.“ (A 32)

Dieses Problem ist, nicht nur zu Kants Zeiten, lange und breit dis-kutiert worden – von Friedrich Schillers Überlegungen zu einer ästhe-tischen Erziehung des Menschen angefangen bis hin zu Fragen undmehr oder weniger glücklichen Versuchen mit einer antiautoritärenErziehung. Das Problem, wie Autoritäten im Erziehungsprozeß ver-meiden können, autoritär zu sein oder es doch wieder zu werden, istnoch immer eines der Probleme, die demokratisch sich nicht nur be-zeichnende, sondern sich auch so verhaltende Gesellschaften zu lösenhaben. Der Weg zur Lösung dieses Problems aber beginnt bereits imzartesten Kindesalter. „Kinder“, so schreibt der sonst doch so trockenformulierende Kant, „müssen auch offenherzig sein, und so heiter inihrem Blick, wie die Sonne. Das fröhliche Herz allein ist fähig, Wohl-gefallen am Guten zu empfinden.“ (A 109) Kindern gegenüber hat die

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Verantwortung vor der Zukunft ihren Ort in der Gegenwart. Zwang inder Erziehung kann sich daher nur als ein negativer rechtfertigen,nämlich als ein solcher, der die Verhinderung einer freien Entwick-lung verhindert: als Vorsorge und Fürsorge und damit als Verpflich-tung einem – auch noch so kleinen – Anderen gegenüber, dem dasRecht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit a priori (in allenmöglichen Welten) zu lassen und deshalb auch empirisch (lebens-weltlich) einzuräumen ist.

10. „Im allgemeinen scheint doch [...] die öffentliche Erziehung vor-teilhafter, als die häusliche zu sein.“ (A 30 f.)

Kant schrieb dies im Hinblick auf die damals übliche Privaterziehungund Privatfinanzierung der Bildung und Ausbildung von Fürstenkin-dern, sonstigen Adligen und Kindern aus – wie auch immer – zuReichtum gekommenen Elternhäusern. Heute hat die Frage nach demVerhältnis oder der Alternative von privater oder öffentlicher Er-ziehung noch eine ganz andere Dimension hinzugewonnen. Privati-sierungen bieten nicht nur die Möglichkeit einer zwar nicht quantita-tiven, aber doch, weil gezielt intendierten qualitativen Verbesserungund selektiven Hebung von Bildungsstandards. Mit zunehmender Pri-vatisierung und damit einhergehender Ökonomisierung wächst zu-gleich die Gefahr, daß Bildung gänzlich den Marktmechanismen, ihrerKontrolle und damit auch ihren Zwängen unterstellt wird. Und warumsollte, wie es mehr oder (inzwischen eher) weniger verklausuliert ge-schieht, aus marktstrategischen Überlegungen heraus nicht gefragtwerden: Ob wir uns das alles überhaupt noch leisten können; ob esdenn rentabel und überhaupt notwendig sei, allen Menschen alles –mehr als Schreiben und Lesen – beizubringen; ob aus Gründen derKostenentwicklung das Nötigste bei vielen nicht genügen und anson-sten nur gezielt statt umfassend gefördert werden müsse; ob Hoch-begabten- und Elitenförderung nicht rentabler sei als die alte, zu teureund nicht mehr finanzierbare Bildungspolitik und ob die Idee, allenKindern in gleichem Umfange Bildungschancen zu eröffnen und sieihren spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnissen gemäß zu fördern,überhaupt noch an der Zeit sei. – So oder immer so ähnlich fragt undargumentiert eine kurzsichtige ökonomische Rationalität, welche dengesellschaftlichen Bildungsauftrag (und Generationenvertrag) auf reinbetriebswirtschaftliche Bilanzierung und das Bildungswesen kurzer-

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hand auf Rechnungswesen, also auf Wettbewerb und finanzielle Ren-tabilität reduziert. Mag sein, daß sich eine solche Einstellung kurz-fristig auch rechnet. Es rechnet sich aber nur auf Kosten einer Ideevon „Bildung“, die im Menschen etwas anderes als einen Wirtschafts-faktor und in seinem Dasein mehr und anderes sah als ein bloßesMittel zu kalkulierbaren Zwecken.

Das Recht (der Kinder vor allem) auf Bildung ist dann keines mehr,wenn ihm keine Verpflichtung (der Erwachsenen) mehr entspricht, esauch einzulösen. Zu Beginn der Neuzeit, gleichsam in der Geburts-stunde der Pädagogik als Wissenschaft, formulierte Jan Amos Come-nius als Motto und Programm seiner Didactica magna: allen Men-schen alles umfassend zu lehren. Dies bedeutet selbstverständlichnicht, daß jeder Mensch eine umfassende Ausbildung etwa als Zahn-techniker erhalten soll. Sondern es zielt darauf, daß es auch im Bil-dungssektor keine Klassengesellschaft geben dürfe, in welcher demgrößten Teil von Gottes Ebenbildern das Recht auf Bildung vorent-halten wird. Gegenüber einem solch emphatischen Begriff von Bil-dung erscheint es heute hoffnungslos anachronistisch, an einer „Idee“von Bildung und aus ihr folgender pädagogischer Verantwortungfesthalten zu wollen, der ihre gesellschaftliche Grundlage, wenn sie jeeine solche hatte, wieder entzogen wurde. Nicht erst für Adorno, auchschon für Kant war Erziehung eine Erziehung zur Mündigkeit, odersollte es wenigstens werden. Zweihundert Jahre nach der Publikationder Kantischen Vorlesungen Über Pädagogik wären die Dimensionenpädagogischer Verantwortung, aber auch ihre Schwierigkeiten undUntiefen von neuem zu sichten und auszumessen. Denn es bleibt da-bei: Das Problem der Erziehung ist das „schwerste“ – aber auch das„größte“. Inhuman aber, weil als Lösung mißverstanden, wäre geradedas Verschwinden des Problems.

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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

Zur Dialektik gesellschaftlicher Praxisund GeschichteBemerkungen zu Schleiermacher, Hegel und Marx1

Will man Grundsätzliches zur Dialektik von gesellschaftlicher Praxisund Geschichte aussagen, so kann man nicht umhin, mit Platon zubeginnen. Platon hat nicht nur, seine frühen sokratischen Dialoge ab-rundend, im Protagoras und im Menon die Frage aufgeworfen, obund inwiefern die Tugenden lehrbar seien, sondern er hat auch insZentrum der Politeia den Bildungsgedanken gerückt. Nur die, die eineperiagoge, eine sittliche Umkehr zur Idee des Guten vollzogen haben,sind befähigt, eine revolutionäre Umwälzung der Poleis zur Ge-rechtigkeit durchzuführen. Aber nicht nur Bildung und Polisgemein-schaft sind unabdingbar aufeinander bezogen, sondern der geschicht-liche Bestand der Menschheit selbst ist auf die Erneuerung der Ideesittlichen Menschseins von Generation zu Generation angewiesen.

Wir können jedoch an dieser Stelle nicht weiter auf Platon ein-gehen, sondern wollen in einem großem Sprung über zwei Jahrtau-sende hinweg jene Denker in das Zentrum unserer Überlegungenstellen, die, anknüpfend an Platon, zu Beginn des neunzehnten Jahr-hunderts – wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise – die Dialektikvon gesellschaftlicher Praxis und Geschichte systematisch neu her-ausgearbeitet haben.

I. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Seltsamerweise stehen Werk und Wirken Schleiermachers, des großenKontrahenten Hegels an der Berliner Universität, immer im Schattenanderer. So denken wir meist nicht zuerst an ihn, wenn es um Dia- 1 Teile dieses Beitrags erschienen unter dem Titel „Dialektik der gesellschaftli-

chen und geschichtlichen Praxis“, in: Ludwig Nagl/Rudolf Langthaler (Hrsg.),System der Philosophie? Festgabe für Hans-Dieter Klein, Frankfurt a.M. u. a.2000. Die vorliegende Fassung wurde auf die Bildungsfrage bezogen modifi-ziert und erweitert.

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lektik geht. Abgesehen von der Theologie und der Pädagogik, woSchleiermacher eine grundlegende wissenschaftsgeschichtliche Be-deutung zuerkannt wird, wird Schleiermacher heute fast nur noch alsBegründer der Hermeneutik als Wissenschaft genannt, die – ganzgegen seine eigenen Intentionen – über Wilhelm Dilthey bis Hans-Georg Gadamer zu einer philosophischen Methodik universalisiertwurde. Dabei verfährt Schleiermacher selber in seiner Hermeneutiknicht hermeneutisch, sondern wie in all seinen philosophischenSchriften dialektisch.

Unter Dialektik versteht Schleiermacher – der kongeniale Über-setzer Platons – die Kunst der Gesprächsführung.2 D. h. zunächst, daßdie Dialektik ihren Standort und ihren Entfaltungsraum nirgendsanders hat als in der Praxis menschlicher Kommunikation. Dialektikereignet sich als geschichtlicher Prozeß in der kommunikativen Aus-einandersetzung der Menschen miteinander in Bestimmung der Wirk-lichkeit, in der sie leben. Schon hier erkennen wir, daß die Dialektikals Kunst der Gesprächsführung, die sich als wissenschaftliche Ge-dankenbildung selbst thematisiert, die Selbstaufklärung ihrer eigenenPraxis ist, um so zu einem bewußten Vollzug kommunikativer Wirk-lichkeitsinterpretation zu gelangen. Doch nicht nur in der metho-dologischen Aufklärung ihrer selbst ist die Dialektik Analyse einervorfindlichen Praxis zur Orientierung bewußt geführter Praxis, son-dern auch in der inhaltlichen Erschließung unserer Wirklichkeit gehtes Schleiermacher um die dialektische Klärung von Praxis zur be-wußten Bewältigung dieser Praxis.

Beginnen wir mit der Klärung unseres Menschseins, wie esSchleiermacher in seinem System der Sittenlehre, der Güterlehreseiner Ethik thematisiert.3 Wir haben hier den umfassendsten Horizontgesellschaftlicher Praxis vor uns, in die wir geschichtlich gestellt sindund deren Bewältigung uns sittlich aufgegeben ist. Als Praxis, in derwir uns immer schon vorfinden, ist ihre dialektische Aufklärung nurvon innen her denkbar als Analyse der polaren Spannungen, in denensie sich durch unser Handeln hindurch vollzieht.

Die grundlegendste polare Spannung der gesellschaftlichen Praxisist die zwischen Individuum und Gesellschaft. Es ist kein mensch- 2 Friedrich Schleiermachers Dialektik, hrsg. v. R. Odebrecht, Darmstadt 1976;

Friedrich Daniel Ernst Schleichermacher, Dialektik (1811), Hamburg 1986;ders., Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833), Hamburg 1988.

3 F. D. E. Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06), Hamburg 1981; ders.,Ethik (1812/13), Hamburg 1981.

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liches Leben eines Individuums außerhalb der Gesellschaft möglich,aber es gibt auch keine Gesellschaft jenseits der sie vollziehendenIndividuen. Beide, Individuen und Gesellschaft, können sich nur alswechselseitig aufeinander bezogene Spannungspole realisieren, ab-strakt für sich genommen, sind sie weder denkbar noch wirklich.Allerdings gibt es mannigfaltige Formen verzerrter gesellschaftlicherPraxis, in denen entweder die Gesellschaft über die Individuen zudominieren trachtet oder die Individuen die Gesellschaft zu ignorierenversuchen. Doch wollen wir auf diese negativen Abgrenzungen, diebei Schleiermacher eine wichtige dialektische Rolle spielen, hier nichtnäher eingehen, um wenigstens in groben Zügen die Konturen derGesamtargumentation sichtbar machen zu können.

Orthogonal zu diesem ersten steht der zweite Spannungsbogen desgeschichtlichen Prozesses, d. h. wir befinden uns in der gesellschaftli-chen Praxis immer im Mittelpunkt der Gegenwart, der die vorausge-gangene Menschheitsgeschichte als bestimmte Gegebenheit vorliegtund der die künftige Menschheitsgeschichte als Handlungshorizontaufscheint. Auch hier ist menschliche Praxis nicht anders denkbar alseingespannt in diesen Spannungsbogen von Vorgegebenheit und Auf-gegebenheit. Jeder Versuch, die Vorgegebenheit der geschichtlichenSituation zu ignorieren oder die Zukunft als Vorbestimmtheit zu neh-men, zerstört den Kern der Praxis, die sich durch das menschlicheHandeln ereignet.

Damit kommen wir zum dritten, zu den beiden anderen erneutorthogonal stehenden Spannungsbogen: der hervorbringend-bildendenund der erkennend-symbolisierenden Tätigkeit. Auch diese beidengesellschaftlichen Tätigkeitsformen sind polar aufeinander bezogen,denn die gesellschaftliche Arbeit und Organisation ist genauso auf dieAusformung von Sprache und gesellschaftlichem Wissen angewiesenwie diese wiederum auf jene.

Es sollen hier jedoch nicht die Differenzierungen der gesellschaft-lichen Praxis in ihrer Dreidimensionalität weiterverfolgt werden, wiesie Schleiermacher durch eine immer feinere Vernetzung der sich ge-genseitig kreuzenden polaren dialektischen Spannungsbögen aufhellt,sondern es soll nur noch darauf hingewiesen werden, daß sich derletztgenannte Spannungsbogen von Theorie und Praxis – wie die vor-hergehenden auch – auf die durchgeführte dialektische Praxisanalyseselbst anwenden läßt. D. h. bezogen auf die Analyse der gesell-schaftlichen Praxis lassen sich selbst nochmals theoretische und prak-tische Wissenschaften unterscheiden, die sich mit dem gesellschaft-

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lichen und geschichtlichen Menschsein befassen. Ohne eine vollstän-dige Auffächerung vorlegen zu wollen, seien hier als theoretischeDisziplinen, bezogen auf die Gesellschaft, die Geschichte und, be-zogen auf die Individuen, die Psychologie genannt. Dem gegenüberstehen als praktische Disziplinen die Politik, die auf die Praxis dergesellschaftlichen Organisation gerichtet ist, und die Pädagogik, diesich auf die Praxis der Bildung der Individuen konzentriert. Auchdiese beiden praktischen Disziplinen sind polar-dialektisch aufeinan-der verwiesen, denn die pädagogische Praxis ist selbst Teil der politi-schen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, so wie die politischePraxis dem Anspruch der Bildung des Menschen zum Menschen un-terstellt ist.4

Für die praktischen Disziplinen ergibt sich daraus in dialektischerSelbstanwendung nochmals ein polarer Spannungsbogen, durch dendas dreidimensionale Grundgeflecht noch eine vierte Dimension hin-zubekommt: Die praktischen Wissenschaften – Politik und Pädago-gik – haben die vorfindliche Praxis aufzuklären, um dadurch die poli-tisch und pädagogisch Handelnden in ihrer Praxis zu orientieren.

Das Faszinierendste an Schleiermachers dialektischer Analyse ge-sellschaftlicher Praxis ist somit, daß er sich immer bewußt hält, daß essich bei jeder Analyse der Praxis zugleich um eine für die Praxishandelt. Dies schließt von vornherein aus, daß die Analyse der Praxisje als empirisch feststellende oder normativ vorschreibende Wissen-schaft mißverstanden werden kann. Vielmehr erfolgt die dialektischePraxisanalyse immer aus dem Horizont der praktisch Handelnden. Sieklärt die Praxis auf, in der der Handelnde immer schon steht, um ihmzu ermöglichen, bewußter in die Praxis einzugreifen, denn gesell-schaftliche Praxis ist ja selbst nichts anderes als das miteinander Han-deln der Individuen. Daher ist – wie Schleiermacher sagt – die Dig-nität der Praxis eine viel ältere als die der Theorie. Die Theorie derPraxisanalyse vermag nur die immer schon sich vollziehende gesell-schaftliche Praxis durch ihre Aufklärung zu einer bewußteren Praxisder Handelnden voranzubringen.5

Aus diesem Grund ist Schleiermacher der „Überzeugung“, daß dergesellschaftlichen Fortentwicklung der Menschheit in der Geschichte 4 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Dialektische Pädagogik. Vom Bezug der

Erziehungswissenschaft zur Praxis, München 1974; portug. Übers.: Pedagogiadialética. De Aristoteles a Paulo Freire, Sao Paulo 1983, 21988.

5 F. D. E. Schleiermacher, Pädagogische Schriften, 2 Bde., hrsg. v. Th. Schulze/E. Weniger, Düsseldorf 1957, Bd. I, S. 11.

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„eine reine Kontinuität der Praxis“ zugrunde liegt. Auf den sittlichenFortschritt der Menschheit in der Geschichte bezogen, bedeutet dies,daß das Vermögen zur Sittlichkeit immer schon in der gesellschaftli-chen Praxis selbst angelegt ist und von sich aus zur Verwirklichungdrängt. Es kommt also nur darauf an, daß die Individuen über die ge-sellschaftliche Praxis in ihrer sittlichen Struktur aufgeklärt werden,um sie mit Bewußtheit sittlich voranzubringen:

„So haben wir denn unser Augenmerk nur darauf hinzurichten, daß wir einesolche Theorie aufstellen, die, zwar immer anknüpfend an das Bestehende,doch auch zugleich dem natürlich, sicher fortschreitenden Entwicklungsgangentspricht. Je mehr dies uns gelingt, desto weniger dürfen wir dann um diePraxis bekümmert sein, da wir die Überzeugung haben, daß eine reine Kon-tinuität der Praxis, die aber zugleich Fortentwicklung der Theorie in sichschließt, daraus hervorgehen werde.“6

II. Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Hegel, der große Gegner Schleiermachers an der Berliner Universitätseit 1818, versteht unter Dialektik etwas völlig anderes. Für ihn istDialektik der Prozeß des Begreifens der Vernunft, die durch die For-men ihres Begreifens in der Logik und über das Begreifen der Ver-nunft in ihrem Anderen der Natur schließlich in den Gestalten des sichselbst begreifenden Geistes zu sich als absoluter Geist kommt, der sichund alle Wirklichkeit als Momente seiner selbst begreift.

Da Hegels Dialektik ein Selbstbegreifen der Vernunft durch alleihre Gestaltungen hindurch darstellt, ist sie auch dort, wo sie dieGestalten der gesellschaftlichen Praxis begreift, nicht – wie beiSchleiermacher – als Selbstaufklärung menschlicher Praxis durch undfür die Handelnden gedacht, sondern sie ist das begreifende Sich-selbst-Erfassen der der gesellschaftlichen Praxis innewohnenden Ver-nünftigkeit. Dies hat Hegel in seiner berühmten Vorrede zu denGrundlinien der Philosophie des Rechts ausdrücklich in einem schö-nen Bild ausgesprochen:

„Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, sokommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke derWelt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungs-prozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. [...] Wenn die Philosophie ihr

6 F. D. E. Schleiermacher, Pädagogische Schriften I, 132.

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Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mitGrau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule derMinerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“(7/27 f.)7

Hegels Philosophie ist in all ihren Teilen ein Argumentations- undBegreifensprozeß, der sich als Kreis von Kreisen vollzieht. So wirddie Idee der Sittlichkeit, die selbst als dritter Kreis nach dem abstrak-ten Recht und der Moralität die Philosophie des objektiven Geistesoder die Rechtsphilosophie beschließt, selber wiederum in einemKreis von Kreisen expliziert: der natürlichen Sittlichkeit der Familie,der entzweiten Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und schließ-lich der Sittlichkeit des Staates als bewußter Versöhnung von allge-meinem und individuellem Willen.

Die Reihe der Gestalten der Sittlichkeit stellt – wie auch die Ge-dankenbewegung des Hegelschen Systems insgesamt – keinen ge-schichtlichen Prozeß dar, sondern die Abfolge des Begreifens derSittlichkeit in ihrer Vernünftigkeit (7/86). In der gelebten Wirklichkeitdurchdringen sich alle drei Momente; hier ist sogar – wie Hegel betont– die gesellschaftliche Praxis des Staates die Voraussetzung für diesittliche Entfaltung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft als ihreingeordnete Teilbereiche gesellschaftlicher Praxis.

Die begreifende Folge der drei Gestalten der Vernunft des Sitt-lichen liegt darin, daß sich in der Familie die natürliche Basis allermitmenschlichen Beziehungen realisiert und durch sie reproduziert.Diese natürliche Basis des Sittlichen gründet zunächst in der Liebe derGeschlechter zueinander als einem wechselseitigen Sich-Finden derPartner aus dem jeweils Anderen, gerade indem sie sich ganz auf denAnderen beziehen. Weiterhin offenbart sich die natürliche Sittlichkeitin der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Ohne ein solches Heran-wachsen in einer sittlichen Gemeinschaft wie der Familie ist ein Er-wachen sittlicher Beziehungsfähigkeit im Kinde nicht denkbar. Aberdie Familie ist darauf angelegt, sich aufzuheben. Die Herangewach-senen lösen sich aus ihrer Herkunftsfamilie, suchen eigene Partner undgründen neue Familien. Gleichzeitig treten die Herangewachsenen indas Erwerbsleben der bürgerlichen Gesellschaft hinaus.

7 Die Schriften Hegels werden im Text zitiert (mit Angabe des Bandes vor und

Seitenangabe nach dem Querstrich) nach der Ausgabe: Georg Wilhelm Fried-rich Hegel, Theorie Werkausgabe, 20 Bde., hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M.Michel, Frankfurt a.M. 1970.

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Die bürgerliche Gesellschaft ist für Hegel die Sphäre der notwen-dig entzweiten Sittlichkeit. Gerade in seiner Darstellung der bürgerli-chen Gesellschaft ist es Hegel eindrucksvoll gelungen, unsere gesell-schaftliche Wirklichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit auf den Begriffzu bringen. Die bürgerliche Gesellschaft ist notwendig und unaufheb-bar zerrissen, da im Erwerbsleben jeder Agierende nur auf seine eige-nen Interessen bezogen ist; und doch sind alle Agierenden auf das sichhinter ihrem Rücken einstellende Allgemeine des ökonomischenSystems – nennen wir es Kapitalismus oder Marktwirtschaft – ange-wiesen. Der Verfolg „selbstsüchtiger Zwecke“ kann nur – wie Hegelzeigt – in einem „System allseitiger Abhängigkeit“ gelingen, und dieNotwendigkeit des Gesamtzusammenhangs wiederum funktioniert ge-rade nur dadurch, weil jeder für sich selbstsüchtig allein seine Zweckeverfolgt. Hegel scheut nicht davor zurück, die Wirklichkeit dieserZerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft ungeschminkt auszuspre-chen. Gerade dort, wo die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaftsich in ungehindertem Progreß und Wachstum befindet, führt diesdazu, daß sich einerseits „unverhältnismäßige Reichtümer in wenigeHände [...] konzentrieren“ und andererseits „die Abhängigkeit und Notder an [die] Arbeit gebundenen Klasse“ (7/389) wächst. Und Hegelfügt – die Notwendigkeit dieser Zerrissenheit unterstreichend – hinzu:

„Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums diebürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentüm-lichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaß der Armut und der Er-zeugung des Pöbels zu steuern.“ (7/390)

Gerade aber diese Einsicht deckt die der bürgerlichen Gesellschaftinnewohnende Möglichkeit einer Versittlichung auf, welche zwar nie-mals die Zerrissenheit der bürgerlichen Ökonomie überwinden, wohlaber die zyklisch wiederkehrenden Krisen und ihre Folgen für dieMenschen „abkürzen und mildern“ (7/385) kann. Die Möglichkeit, inder entzweiten bürgerlichen Gesellschaft wenigstens zu einer gebilde-ten Sittlichkeit zu gelangen, liegt im geschichtlichen Bildungsprozeß,der selbst ein doppelseitiger ist, bei dem sich beide Seiten miteinanderverschlingen. Bildung als geschichtlicher Prozeß meint einerseits dieHeranbildung des Wissens und Arbeitsvermögens der gesellschaft-lichen Individuen, zum anderen aber auch die Ausformung des gesell-schaftlichen Vermögens in ein sich nach Praxisfeldern ausgliederndesgesellschaftliches Gesamtgefüge. Je mehr in diesen sich gegenseitigverschlingenden Bildungsprozessen einerseits die grundsätzliche Zer-

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rissenheit der bürgerlichen Gesellschaft und andererseits die wech-selweise Abhängigkeit der Gesamtgesellschaft vom Bildungsvermö-gen der Individuen und dieses vom ausgebildeten gesellschaftlichenGesamtvermögen einsichtig wird, um so mehr reift von beiden Seitenher der versittlichende Gedanke gegenseitiger Angewiesenheit. Vonder Seite des allgemeinen Systems, das Hegel den „Not- und Verstan-desstaates“ nennt, sind es die regulierenden wirtschafts- und sozial-politischen Eingriffe in die blind gegenüber den Folgen für diearbeitenden Menschen und die bearbeitete Natur expandierenden öko-nomischen Gesetze – wir nennen dies heute die „soziale Marktwirt-schaft“. Wichtiger aber ist Hegel der Prozeß der anderen Seite, derZusammenschluß der arbeitenden Individuen zu Interessengemein-schaften, die er Korporationen nennt. Indem hier die einzelnen Indivi-duen ihr Vermögen – im doppelte Sinne des Wortes – in Interessenge-meinschaften zur gemeinsamen Sicherung und gegenseitigen Hilfeeinbringen, geht daraus eine „Versittlichung“ wenigstens in bestimm-ten Praxisbereichen hervor.

Ganz ist die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft niemals zuüberwinden, und deshalb treibt die Vernunft der Sittlichkeit auch überdie Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus in die Sphäre despolitischen Gemeinwesens, den Staat. Der Staat, das Gemeinwesen inseiner politischen Verfaßtheit, ist für Hegel die höchste Sphäre voll-kommener Sittlichkeit, weil der moderne Staat – nach den bürger-lichen Revolutionen – auf der bewußten Versöhnung und Durch-dringung von individuellem und allgemeinem Willen gründet. DieVerfassung der modernen Staaten erkennt die einzelnen Staatsbürgerin ihrer individuellen Besonderheit als Träger des Staates an, und dieStaatsbürger erkennen im Staat das Organ, durch das ihr Gesamtwohlorganisiert, gesichert und vorangebracht wird (7/399, 407).

So ausgesprochen, scheint die Darlegung Hegels selber wiederumeinen praktischen Aufforderungscharakter zu haben. Das aber ist einMißverständnis. Hegel argumentiert nicht aus der Perspektive der sitt-lich handelnden Individuen, sondern seine Dialektik entwickelt denBegriff und die Idee der gesellschaftlichen Praxis. Daher erscheint dasIndividuum in Hegels Philosophie gesellschaftlicher Praxis immer nureinbezogen in die Vernunft des Allgemeinen der Familie, der bürger-lichen Gesellschaft und des Staates (7/403).

Es kommt hier nicht auf Einzelheiten der Hegelschen Aussageselbst an. Es soll nur nochmals darauf verwiesen werden, daß HegelsDialektik des philosophischen Begreifens notwendig die Praxis, die

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sie übergreifend in den philosophischen Begriff der Praxis aufhebt,nicht mehr zur Praxis als einer bewußt zu vollziehenden zurückführt,sondern diese in ihrem „abgesonderten Heiligtum“ zu bewahrenversucht (7/343 f.). Die Dialektik, der sich Hegel bedient, ist – wiegezeigt – keine geschichtliche, sondern eine Dialektik des Begriffs,deren prozessuale Struktur sich im bewußtwerdenden Zusichselber-kommen des Geistes bewährt.

Nun thematisiert Hegel aber als die letzte Gestalt des Zusich-selberkommens des Geistes in seinen objektiven Verwirklichungs-formen die Geschichte, und damit scheint sich doch der ganze Be-greifensprozeß in einen geschichtlichen Werdeprozeß des Weltgeisteszu verwandeln. Denn gemäß der Hegelschen Dialektik hebt dieseletzte Gestalt des Weltgeistes alle vorhergehenden in sich auf, undd. h., anders gewendet, alle vorhergehenden Gestalten – Recht, Mora-lität, Sittlichkeit – werden nun als in das geschichtliche Zusichselber-kommen der Weltgeschichte getauchte erfaßt.

Sieht man aber genauer hin, so bemerkt man, daß für Hegel kei-neswegs der Prozeß der Menschheitsgeschichte ein Zusichselber-kommen darstellt, sondern daß sich für ihn das Zusichselberkommendes Geistes nur als sein eigener „Fortschritt im Bewußtsein der Frei-heit“ (12/32) manifestiert. Das Bewußtwerden des Fortschritts derFreiheit kann sich natürlich nur in Menschen vollziehen, sowohl in dergelebten Sitte der Völker als auch im geschichtsphilosophischen Be-greifen der sich hierin vollbringenden Freiheit des Weltgeistes, aberweder sind für Hegel dabei die Menschen die Subjekte des Emanzipa-tionsprozesses noch ereignet sich der Fortschritt in einer geschichtli-chen Kontinuität. Es geht allein um die Freiheit des absoluten Geistes,der – gleich einem unterirdisch wühlenden Maulwurf (20/462) – dieErgebnisse seiner Arbeit in die Geschichte hinaus auswirft. Die Stufendes Zusichselberkommens des Geistes durch die Weltgeschichte hin-durch stellen zwar eine geschichtliche Abfolge dar, trotzdem liegt fürHegel auch hier die Subjektivität und Kontinuität des dialektischenProzesses nicht in der Menschheitsgeschichte, sondern im Bewußt-werden der Freiheit des Weltgeistes.

Da es Hegel in der Philosophie der Geschichte nicht um ein Be-greifen des Werdeprozesses der Menschheitsgeschichte und ihrer nochausstehenden Aufgaben geht, sondern um die Einsicht in das Zusich-selberkommen des Geistes in der Geschichte, so ist die Perspektiveseiner Geschichtsphilosophie prinzipiell allein auf die Vergangenheitgerichtet, auf den Fortschritt des Hervorgetretenseins der Freiheit bis

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hin zur Gegenwart als dem grundsätzlichen Ende der bisherigen Ge-schichte und als Standort der Einsicht in das Weltgericht, das dieWeltgeschichte an Leben und Geist der Völker vollzog.

Dadurch, daß die Hegelsche Philosophie der Geschichte nur dieFreiheit zu Bewußtsein bringen kann, die der Geist bis in die jeweiligeGegenwart hinein verwirklicht hat, dies aber zugleich der höchsteHorizont von Freiheit ist, von dem das Bewußtsein weiß, bereitetHegel seiner Geschichtsphilosophie eine eschatologische Schlinge, diedas Ende, das jede Gegenwart strukturell gegenüber derVergangenheit darstellt, als das Ende der Geschichte schlechthin er-scheinen läßt.

„Mit diesem formell absoluten Prinzip kommen wir an das letzte Stadium derGeschichte, an unsere Welt, an unsere Tage.“ (12, 524) „Die Bestimmung dergermanischen Völker ist, Träger des christlichen Prinzips abzugeben. [...]Denn die christliche Welt ist die Welt der Vollendung; das Prinzip ist erfüllt,und damit ist das Ende der Tage voll geworden [...]“ (12/413 f.)

Auch aus dieser Aussage erwächst nach Hegel keine Aufforderungzum Handeln, denn seine Philosophie der Geschichte ist nicht auf diePraxis der Menschen gerichtet, sondern sie hat eine gottesdienstlicheFunktion. Sie hat die Funktion, dem Menschen das Vertrauen zugeben, daß der Geist in der Weltgeschichte, über die Schlachtbankhinweg, die sie für die Menschen und Völker bedeutet, mit Notwen-digkeit die Freiheit des Geistes voranbringt.

„Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werdendes Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten – diesist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nurdie Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit ver-söhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nichtohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.“ (12/540)

Gerade in dieser Einsicht, daß durch die Greuel der menschlichen Ge-schichten hindurch der Geist Gottes in der Weltgeschichte das „Wahr-hafte, Ewige, an und für sich Allgemeine“ (12/491) vollbringt, bahntsich der Übergang zur letzten Gestaltung des Zusichselberkommensdes Geistes an, in der der Geist im philosophischen Zusichselber-kommen sich als absoluter selbst „betätigt, erzeugt und genießt“(10/394).

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III. Karl Marx

Mit einer solchen Aufhebung der Praxis und der Geschichte ins phi-losophische Begreifen konnten sich die Junghegelianer und allenvoran Karl Marx nicht zufrieden geben. Doch bevor wir auf Marx’Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Geschichte eingehen, isthier eine Vorbemerkung zu Ludwig Feuerbach vorauszuschicken, vondem Marx die entscheidenden Impulse für seine Praxisphilosophieempfangen hat. Ludwig Feuerbach war an der Berliner Universitätunmittelbarer Schüler von Schleiermacher und Hegel. Zu seinemgroßen Leidwesen sah Schleiermacher, daß sich sein Schüler Feuer-bach während des Studiums mehr und mehr seinem Kollegen und In-timfeind Hegel anschloß. Jedoch vollzog Ludwig Feuerbach Ende der30er Jahre nach dem Tod seiner beiden Lehrer eine kritische Abkehrvon Hegel, deren Resultat man nicht anders als eine modifizierteRückkehr Feuerbachs zu Schleiermacher bezeichnen kann.

Der zentrale Kritikpunkt Feuerbachs ist, daß Hegel in seiner Phi-losophie die Vernunft und das Begreifen zum absoluten Geist hypo-stasiert habe, demgegenüber die wirklichen menschlichen Subjekte inihrer Sinnlichkeit und in ihren mitmenschlichen Beziehungen zu blo-ßen Prädikaten und Momenten degradiert werden. Trotzig schleudertFeuerbach in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843)Hegel entgegen:

„Der Mensch denkt, [...] nicht die Vernunft [...] Die neue Philosophie hat da-her zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht denabsoluten, d. i. abstrakten Geist kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sonderndas wirkliche und ganze Wesen des Menschen. Die Realität, das Subjekt derVernunft ist nur der Mensch. [...] Nur das Menschliche ist das Wahre undWirkliche; denn das Menschliche ist nur das Vernünftige; der Mensch dasMaß der Vernunft.“8

Wie Feuerbach, so kritisiert auch Marx an Hegel, daß dieser die Phi-losophie zur Subjektivität des absoluten Geistes verabsolutiere, fürden alle Gestalten des Wirklichen und der menschlichen Praxis nur zuPrädikaten oder Momenten seines Sich-selbst-Begreifens werden. MitFeuerbach – und damit indirekt mit Schleiermacher – holt auch Marxdie Philosophie in den Horizont der gesellschaftlich handelndenMenschen zurück. Die Subjektivität des Begreifens der Welt liegt nir-

8 Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Werke in sechs

Bänden, Frankfurt a. M 1975 ff., Bd. 3, S. 315.

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gend anders als in den praktisch handelnden menschlichen Subjektenselbst. Aber anders als Feuerbach, ja ausdrücklich gegen ihn argu-mentierend, hält Marx mit Hegel an einer prozessualen Dialektik fest,die jedoch nun – an die Subjektivität der praktisch handelnden Men-schen gebunden – keine strukturale des absoluten Geistes ist, sonderneine geschichtliche, menschheitspraktische (MEW 40/510 ff.).9 Dennanders als Hegel versteht Marx die geschichtliche Subjektwerdung dergesellschaftlich handelnden Menschen als einen realgeschichtlichendialektischen Prozeß gesellschaftlicher Praxis.

Indem jedoch die immer schon in Gesellschaft produzierendenMenschen zunächst die von ihnen selbst hervorgebrachten Gesell-schaftsverhältnisse nicht als ihre eigenen Produkte erkennen, sondernsie als gottgewollte Naturgegebenheiten hinnehmen, werden sie ihrerSubjektivität entfremdet, geraten in Abhängigkeit von den selbst her-vorgebrachten Verhältnissen. Erst wenn die Menschen sich ihrer Ent-fremdetheit und der Verkehrtheit bewußt werden und erkennen, daßnicht sie die Verhältnisse, sondern die Verhältnisse sie bestimmen,können sie in revolutionärer Praxis die verkehrten Verhältnisse um-wälzen und in solidarischer Praxis zu bewußten Subjekten ihrer ge-sellschaftlichen Praxis werden.10

Die Positivität sittlichen Menschseins liegt also nicht – wie beiFeuerbach und Schleiermacher – bereits in der vorfindlichen gesell-schaftlichen Praxis selbst, die nur der aufklärenden Bewußtmachungbedarf, um verwirklicht zu werden, sondern sie muß erst gegen dieentfremdeten Gestalten, in die die Menschen gesellschaftlich be-wußtlos geraten sind, und gegen deren herrschende Gewalt erkämpftwerden.

Dies erfordert Hegel gegenüber eine völlige Umkehr des Selbst-verständnisses der Philosophie der Praxis. Sie ist nicht, wie Hegel diesin der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts meint,das abschließende Begreifen eines vollendeten Bildungsprozesses,dem Flug der Eule der Minerva in der einbrechenden Abend-dämmerung vergleichbar, sondern ganz entschieden stellt Marx die-sem Bild Hegels ein anderes entgegen: Die Philosophie der Praxisgleicht dem „Schmettern des gallischen Hahns“, durch das die Men-

9 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke in 42 Bdn., Berlin 1956 ff. (= MEW)

10 Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. ZurGenesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie, Freiburg/München 1981.

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schen beim Anbrechen der Morgenröte einer neuen Epoche aufge-weckt werden, ihre revolutionäre Praxis zu vollbringen (MEW 1/391).

Die Marxsche kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis er-hebt sich nicht als „abgesondertes Heiligtum“ über die Praxis, sondernstellt sich bewußt in den Dienst der Praxis, d. h. sie dient derAufklärung der handelnden Menschen. In diesem Sinne kehrt Marx zuSchleiermachers Praxisanalyse zurück, allerdings muß er, weil ihm diegegenwärtige gesellschaftliche Praxis nicht eine aus sich heraussittliche und zur Sittlichkeit vorandrängende ist, die Aufgabe der Phi-losophie viel radikaler fassen. Denn sie hat gegen eine entfremdete, inihrer Sittlichkeit verstellte Praxis anzudenken und diese in ihrerEntfremdung und Verkehrung allererst bloßzustellen, damit die in ihrbefangenen Menschen sich ihrer Entfremdung bewußt werden, umsich dann in gemeinsamer revolutionärer Praxis aus ihr befreien zukönnen. Daher weiß sich die kritische Philosophie gesellschaftlicherPraxis – für die Emanzipation der Menschen zu Subjekten ihrer Praxisparteinehmend – in die politischen Kämpfe der Gegenwart einbezogen(MEW 1/345).

In diesem Sinne spricht Marx von der Aufhebung und der Ver-wirklichung der Philosophie. Die kritische Philosophie gesellschaft-licher Praxis hat sich als bloßes Begreifen der Praxis aufzuheben, umsich als Kritik zu verwirklichen; einer Kritik, die sich nicht schonselbst für die Erfüllung hält, sondern die ihr Ziel in der solidarischenPraxis jener sieht, die sich aus den entfremdeten, verkehrten Verhält-nissen zu befreien beginnen (MEW 1/384).

Was wir hier sehr allgemein umschrieben haben, gilt es zunächstan der Dialektik gesellschaftlicher Praxis näher zu erläutern, um diesdann am Geschichtsproblem zu konkretisieren. Daß der Staat – wieHegel meint – die versöhnte Sittlichkeit sei, dies gehört zur Illusionder gegenwärtigen politischen Wirklichkeit und wird von HegelsDialektik, die selbst Ausdruck dieser Illusion ist, treffend darlegt. DieTriebkräfte, die die gegenwärtige gesellschaftliche Wirklichkeit be-stimmen, liegen nicht in der politischen Sphäre und erweisen sichschon gar nicht als versöhnte Einheit von individuellem und allgemei-nem Willen, denn sie gründen in der ökonomischen Sphäre der bür-gerlichen Gesellschaft, die Hegel treffend als entzweite Sittlichkeitcharakterisiert hat. Die gesellschaftlichen Konflikte, welche die ge-genwärtige Gesellschaft zerreißen, sind soziale Gegensätze, die poli-tisch nicht aufhebbar sind, da sie tiefer in der ökonomischen Strukturder Gesellschaft wurzeln. Indem Hegel die Unaufhebbarkeit der öko-

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nomischen Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft darlegt, die derNot- und Verstandesstaat in seiner gebildeten Sittlichkeit allenfallsabmildern, aber nicht überwinden kann, spricht er ihre Wahrheiteinerseits ungeschminkt aus, verharmlost aber andererseits dabei zu-gleich die Widersprüche, da er sie nur von den Gestaltungen des ob-jektiven Geistes und nicht von den von diesen Verhältnissen be-troffenen Menschen her denkt.

Will die Philosophie die grundsätzliche Zerrissenheit der bürger-lichen Gesellschaft nicht nur – wie Hegel es unternimmt – in ihrergegenwärtigen Unaufhebbarkeit abbilden, sondern die Wurzeln ihrergrundlegenden Widersprüchlichkeit aufdecken, so muß sie nicht nurtiefer ansetzen, sondern die ganze Hegelsche Dialektik vom Kopf aufdie Füße stellen. Denn das Subjekt dieser Dialektik ist nicht mehr derabsolute Geist, der über seine weltgeschichtlichen Gestalten der Fa-milie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates begreifend zu sichselber kommt, sondern es sind die Menschen in ihrer gesellschaft-lichen und geschichtlichen Praxis. Was bei Hegel auf drei eigeneSphären der Sittlichkeit verteilt war, wird nun bei Marx als einegeschichtliche Dialektik begriffen. Die „natürliche Sittlichkeit“ liegtnun nicht in der separaten Sphäre der Familie, sondern in der gesell-schaftlichen Praxis der gemeinsam produzierenden und miteinanderhandelnden Individuen selbst (MEW 3/28 ff.).

Doch darf dieser Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Praxisnicht als geschichtlich fixierbare Gesellschaftsformation mißverstan-den werden, sondern stellt die substantielle Grundlage und Basis allerGesellschaften dar – inklusive der gegenwärtigen und aller denkbarkünftigen. Immer sind es die miteinander produzierenden und han-delnden Menschen, die die Produktion und Reproduktion des mensch-lichen Lebens – wenn auch zunächst noch gesellschaftlich bewußt-los – positiv fundieren. Die in Gesellschaft produzierenden undmiteinander handelnden Individuen sind es, die durch ihre gemeinsamvollzogene Praxis nicht nur ihr Leben und ihre sozialen Beziehungenreproduzieren, sondern auch die Verhältnisse insgesamt hervorbrin-gen, in denen sie leben (MEW 42/19).

In der näheren Kennzeichnung der substantiellen Basis aller ge-sellschaftlichen Praxis arbeitet Marx im wesentlichen die von Schlei-ermacher aufgezeigten dialektischen Spannungsbögen heraus: dieWechselbezogenheit von Individuen und Gesellschaft, die gegensei-tige Verwiesenheit von Arbeit und Erkenntnis, die geschichtliche Pro-zessualität; nur daß Marx, anders als Schleiermacher, gleichzeitig

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deutlich macht, daß diese substantielle Grundlage nicht einfach positivvorliegt, sondern – zumal in der gegenwärtigen gesellschaftlichenWirklichkeit – überlagert wird durch ihre Entfremdung. Gleichwohlist es entscheidend, die Praxis der in Gesellschaft produzierenden undmiteinander handelnden Individuen als die substantielle Basis allerGesellschaften und ihrer geschichtlichen Entwicklung sichtbar zumachen, da nur sie das Subjekt sowohl der Entfremdung in ihrer Ne-gation als auch der Aufhebung dieser Entfremdung als geschichtlichaufgegebene Negation der Negation sind (MEW 40/521, 533, 568 ff.).

Auch die Entfremdung ist keineswegs eine für sich bestehendeWirklichkeit – wie bei Hegel die entzweite Sittlichkeit der bür-gerlichen Gesellschaft –, sondern sie ist vielmehr das geschichtlicheProzeßmoment einer Verkehrung, durch das die gesellschaftlich han-delnden Individuen immer weiter von den selbsthervorgebrachtengesellschaftlichen Verhältnissen fremdbestimmt werden. Dieser Pro-zeß der Verkehrung bestimmt die ganze bisherige gesellschaftlicheMenschheitsgeschichte, und er wird auch noch solange fortdauern,wie die in Gesellschaft produzierenden und miteinander handelndenIndividuen sich nicht als die Produzenten ihrer gesellschaftlichen Le-bensverhältnisse durchschauen und deren Gestaltung in ihre bewußteund gemeinsame Verantwortung nehmen.

Mit der Aufdeckung dieses grundlegenden Widerspruchs in derbisherigen Gesellschaftskonstitution, durch den die gemeinsam agie-renden Menschen von den von ihnen hervorgebrachten Verhältnissenfremdbestimmt werden, verfolgt Marx die Aufklärung der von diesenVerhältnissen Betroffenen, um ihnen ihre entfremdete, ja bedrohteLage bewußt zu machen und sie dadurch zu einer Gegenbewegung zumobilisieren. Diese revolutionäre Gegenbewegung nennt Marx „Kom-munismus“, und ihr Ziel ist es, die bestehende Verkehrung um-zuwälzen, damit die Menschen in freier Assoziation beginnen können,die Gestaltung und Entwicklung ihres gesellschaftlichen Lebens ver-antwortlich in ihre Hände zu nehmen.

„Das Umschlagen des individuellen Verhaltens in sein Gegenteil, ein bloßsachliches Verhalten, [...] ist [...] ein geschichtlicher Prozeß und nimmt aufverschiednen Entwicklungsstufen verschiedene, immer schärfere und univer-sellere Formen an. In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft dersachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individuali-tät durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten unddamit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Siehat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse

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und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen überdie Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.“ (MEW 3/423 f.)

Weder kann die revolutionäre Umwälzung als ein einmaliger Akt ge-faßt werden, noch führt sie zu einem ein für allemal erreichbaren Zu-stand, sondern die revolutionäre Praxis kann nur als eine Bewegunggefaßt werden, die auf die Durchsetzung eines neuen Geschichtsbe-wußtseins abzielt, in der die Menschen zu solidarisch handelnden Sub-jekten ihrer gesellschaftlichen Lebensgestaltung im Horizont mensch-heitlicher Geschichte werden.

Erst in einer revolutionären Praxis in Permanenz, in der sich dieMenschen als verantwortliche Subjekte ihrer gesellschaftlichen Auf-gaben begreifen, kann die von Schleiermacher und Hegel geforderteEinheit von individuellem und allgemeinem Willen als höchste Ziel-bestimmung von Sittlichkeit verwirklicht werden. Denn dann ist – wieMarx ganz im Sinne Schleiermachers sagt – einerseits die „freie Indi-vidualität gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuenund die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichenProduktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens“, und haben an-dererseits „die universal entwickelten Individuen“ die „gesellschaft-lichen Verhältnisse als ihre eigenen, gemeinschaftlichen Beziehungenauch ihrer eigenen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen“ (MEW42/91, 95; vgl. 3/74).

Unter allen Junghegelianern hat Karl Marx am entschiedenstenHegels Dialektik zu einer geschichtlichen umgeformt. Marx geht esnicht mehr um den Prozeß des Begreifens des zusichkommenden Gei-stes in der Geschichte, sondern um das Begreifen des Prozesses derGeschichte selbst. Substrat und Subjekt dieses Prozesses sind dieMenschen, nicht die vereinzelten Einzelnen, sondern die Menschen,die in gemeinsamer Produktion ihr Leben erhalten und gestalten. Inder gemeinsamen Produktion und Reproduktion ihres Lebens sind dieMenschen unabdingbar an die Lebensprozesse der Natur rückver-mittelt. Daher sind die Menschen im letzten auch verantwortlich dafür,daß – wie Marx im dritten Band des Kapital unterstreicht (MEW25/784) – ihre Eingriffe in die Natur nicht die lebendige Grundlageihres Stoffwechselprozesses mit der Natur ruinieren.11

11 Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur

Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx,Freiburg/München 1984.

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Das den Geschichtsprozeß Vorantreibende liegt jedoch in der ge-sellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis, in der gesellschaft-lichen Ausformung der produktiven geistigen und materiellen Kräfteder Menschen, der Umgestaltung der natürlichen und sozialen Weltdurch sie und in der fortschreitenden Bewußtwerdung dieses gesell-schaftlichen Umwandlungsprozesses sowie der geschichtlichen Ver-antwortung der Menschen für ihn. Indem die Menschen in ihrergesellschaftlichen Produktion verändernd in die Welt eingreifen, ver-ändern sie auch ihre Lebensverhältnisse und damit sich selbst.

Es ist völlig klar, daß die Marxsche Geschichtsphilosophie, andersals die Hegelsche, in der Gegenwart nicht das Ende der Geschichteerblicken kann. Sie wendet sich vielmehr praxisphilosophisch an dieMenschen als Subjekte des Geschichtsprozesses, um sie durch kriti-sche Aufklärung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage zu be-fähigen, ihre zukünftige Praxis bewußt und solidarisch in die eigenenHände zu nehmen. Marx hat ausdrücklich und immer wieder davongesprochen, daß mit der revolutionären Bewegung, in deren Dienst erseine Praxisphilosophie stellt, die Vorgeschichte endet, d. h. dieeigentliche Geschichte allererst beginnt. Denn bisher haben die Men-schen sich nicht als Subjekte ihrer gesellschaftlichen Produktion,Arbeit und Praxis gewußt und sich daher von den selbst hervorge-brachten Verhältnissen fremdbestimmen lassen. Indem sie nun sichihrer gesellschaftlichen Produktion und deren sozialen Folgen bewußtwerden, können sie allererst beginnen, zu verantwortlichen Subjektender gesellschaftlichen Gestaltung der Geschichte zu werden. Nur indieser Weise eines dialektischen Vorgriffs auf die praktisch möglicheund notwendige Subjektwerdung der Menschen in der Geschichteantizipiert Marx die Zukunft als geschichtliche Aufgabe der frei asso-ziierten Individuen (MEW 40/533).

Marx hat dies nicht nur geschichtsphilosophisch postuliert, son-dern auch die Grundproblematik, in der wir uns in der gegenwärtigenkapitalistischen Produktionsweise befinden, in der Kritik der politi-schen Ökonomie herausgearbeitet. In dieser sind die in Gesellschaftproduzierenden Menschen keineswegs die autonomen Subjekte derökonomischen Prozesse, sondern das Kapital fungiert hier nach derLogik seines Wertgesetzes als „prozessierendes Subjekt“, das überden Produktionsprozeß und seine gesellschaftliche Fortentwicklungherrscht. Der Substanz nach sind zwar auch im Kapitalismus dieproduzierenden Menschen die Subjekte der Produktion und Repro-duktion des gesellschaftlichen Lebens und ihrer Entwicklung, aber sie

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werden hier von ihren eigenem Produkt, der Logik des Kapitals unddessen Akkumulationsgesetze, wie durch ein fremdes Subjekt diri-giert. Die Wertgesetze bestimmen über die Richtung der Produktion,Verteilung und Konsumtion, also gerade nicht die gesellschaftlichproduzierenden Menschen, deren lebendige Arbeit vielmehr struktu-rell zur Erneuerung und Vermehrung von Kapitalwerten ausgebeutetwird.

Während die Wertlogik des Kapitals grundsätzlich von der vam-pirartigen Einsaugung der lebendigen Arbeit lebt, behandelt sie diefrei zugängige lebendige Natur als ein zum Nulltarif beliebig ausplün-derbares Material. In ihrer grundsätzlichen Negation der lebendigenArbeit und der lebendigen Natur wirkt sich die kapitalistische Pro-duktionsweise destruktiv auf das gesellschaftliche Zusammenlebender Menschen und ihre natürlichen Lebensgrundlagen aus. So schreibtMarx im Kapital:

„Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., vonder großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, destorascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickeltdaher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktions-prozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt,die Erde und den Arbeiter.“ (MEW 23/529 f.)

Zwar kann die Politik die schlimmsten Auswirkungen für die Men-schen und die Natur abzumildern und abzubremsen versuchen, dochist der Spielraum der Politik aller gegenwärtigen Staaten grundsätzlichder kapitalistischen Ökonomie untergeordnet, so daß der kapita-listische Destruktionsprozeß gegen Mensch und Natur unaufhaltsamvoranschreitet.

Dies ist es, was Marx mit seinem gigantischen, Bruchstück geblie-benen Lebenswerk Kritik der politischen Ökonomie aufklärend deut-lich zu machen versucht. Nur eine grundlegende Revolutionierung derökonomischen Basis kann uns aus dieser fortschreitenden Destruktionbefreien, die in der Logik des Wertgesetzes verankert ist. Ziel dieserRevolutionierung ist es, daß nicht mehr die Verhältnisse über dieMenschen, sondern die Menschen über die Verhältnisse herrschen unddaß sie dadurch bewußt und solidarisch ihr gesellschaftliches Zu-sammenleben in menschheitsgeschichtlicher Verantwortung zu ge-stalten beginnen.

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IV. Schlußbemerkung

Wir haben hier versucht, in groben Umrissen drei historische Modelleder Dialektik gesellschaftlicher Praxis und Geschichte zu skizzieren.Aber es sind nicht nur historisch abgetane Modelle, sondern sie be-stimmen – auch wenn dabei die Namen Schleiermacher, Hegel undMarx nicht genannt werden – nach wie vor unser gegenwärtiges kul-turelles und politisches Denken und Handeln.

Das zivil-bürgerliche Leben der westlichen Industrienationen istweitgehend von einem dialektischen Selbstverständnis geprägt, das andie gesellschaftstheoretische Ethik von Schleiermacher erinnert. Inallen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vertraut man unre-flektiert auf die inneren vorwärtstreibenden Kräfte der menschlichenPraxis selbst, aber es kommt darauf an, daß sich die Menschen dieserinneren Logik der Praxis bewußt werden, damit sie sie reflektiertvoranzutreiben vermögen. Von Karl Poppers Konzept der „offenenGesellschaft“12 bis zu Jürgen Habermas’ Theorie „kommunikativenHandelns“13 stehen alle Aufklärungstheorien mehr oder weniger diffe-renziert in der Tradition Schleiermachers. Sie alle huldigen einemevolutionären Fortschrittsglauben, der naiv auf die positiven innerenKräfte der gesellschaftlichen Praxis setzt. Sie erweisen sich aber alsvöllig hilflos gegenüber allen negativen Entwicklungstendenzen undstrukturellen Destruktivkräften,14 die inzwischen immer massiver zumVorschein kommen. Der eigentliche Kampf um die dialektische Be-stimmung der gesellschaftlichen Praxis und der Geschichte wird je-doch zwischen den gesellschaftspolitischen Konzeptionen ausge-tragen, die – ohne es vielleicht zu wissen – entweder Hegel oder Marxzuzuordnen sind. Beide Konzeptionen wissen um das negative Mo-ment in der gesellschaftlichen Praxis und der geschichtlichen Ent-wicklung, sie gehen jedoch völlig unterschiedlich damit um.

Die Hegelsche Dialektik der gesellschaftlichen Praxis ist die in denIndustrienationen vorherrschende. So wie Hegel die inneren Wider-sprüche der bürgerlichen Gesellschaft aufdeckte, so sind auch dieheute führenden Kräfte in Wirtschaft und Politik in ihren eigenen 12 Karl Raimund Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Bern

1957.13 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt

a.M. 1981.14 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philoso-

phische Fragmente, Amsterdam 1947.

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strategischen Planungen keineswegs an einem Vertuschen der innerenWidersprüche in Ökonomie und Gesellschaft interessiert – ihreAußendarstellung in Wirtschaftsprognosen und Parteiprogrammenmag aus taktischen Gründen eine ganz andere sein. Dabei gehen siewie Hegel davon aus, daß diese inneren ökonomischen Widersprüchegrundsätzlich nicht aufhebbar sind, weil sie im „System der (mensch-lichen) Bedürfnisse“ selbst wurzeln, also systemimmanent sind. Sodient ihre Aufdeckung hier nur dazu, sie beherrschen zu lernen, um sieentweder zu nutzen oder sie abzumildern. Ähnlich, wie Hegel für dieökonomischen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit nurden geschichtlich begrenzten Ausweg der Kolonisation sah, so weißman heute am Ende dieser Entwicklung, daß die Marktwirtschaft nichtweltweit exportiert werden kann, und arbeitet daher an dengeschichtlich begrenzten Konzepten der Bollwerke Europas, Japansund der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Zwar glaubt man nichtmehr daran, daß der einzelne Staat, der Nationalstaat des 19.Jahrhunderts, die höchste Ausformung der Sittlichkeit sei, da die glo-balen, weltgeschichtlichen Probleme der ökologischen Krise und desÜberlebens in den Drittweltländern nicht mehr von einzelnen Staatenzu lösen sind, aber die derzeitigen weltpolitischen Konzepte laufen –entgegen den offiziellen Verlautbarungen – auf Interessengemein-schaften von Staaten mit totalitären Machtansprüchen über den Restder Welt hinaus.

Ganz anders geht die an Marx anknüpfende Konzeption der Dia-lektik gesellschaftlicher Praxis und Geschichte davon aus, daß dieWidersprüche, die unsere ökonomische und gesellschaftliche Wirk-lichkeit beherrschen, grundsätzlich aufhebbar sind, da sie nicht in dergesellschaftlichen Praxis als solcher angelegt sind, sondern aus derbisherigen Bewußtlosigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, derbewußtlos hervorgebrachten Formbestimmtheit der gesellschaftlichenPraxis, erwachsen. Diese gesellschaftlichen Widersprüche können da-her von den sich darin bewußtwerdenden Menschen in revolutionärerund solidarischer Praxis grundsätzlich aufgehoben werden. Will manjedoch die unbestreitbar vorhandenen Widersprüche nicht nur alssystemimmanente Gegebenheiten hinnehmen, so muß man mit derdialektischen Praxisanalyse tiefer, bis in die ökonomische Basis vor-dringen und auch bereit sein, diese Basis unserer gegenwärtigenLebensgrundlage kritisch in Frage zu stellen. Ziel dieser kritischenAnalyse ist es, daß die Menschen sich der Widersprüche ihres gesell-schaftlichen Lebens, ja der Bedrohtheit ihrer geschichtlichen Existenz

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bewußt werden, damit sie beginnen, bewußt und solidarisch Subjekteihrer gesellschaftlichen Praxis und Geschichte zu werden.15

Wir sind seit einigen Jahrzehnten vor ein völlig neues Mensch-heitsproblem gestellt. Wir besitzen heute die wissenschaftlich-techni-sche Fähigkeit, die Menschheit für immer auszulöschen. Wir könnendies nicht nur durch die gigantisch aufgehäuften atomaren, chemi-schen und biologischen Waffenarsenale, sondern wir betreiben bereitsdie Zerstörung unserer Lebensgrundlage durch die ungehemmte indu-strielle Expansion. Mit diesem Problem werden alle kommendenGenerationen, solange es noch Menschen auf dieser Erde geben wird,zu ringen haben.16

Uns scheint, daß angesichts dieser verschärften widersprüchlichenSituation der menschlichen Existenz weder das naive Vertrauen aufdie evolutionären Kräfte der gesellschaftlichen Praxis, wie wir es vonSchleiermacher kennen, noch die partiell mildernde und geschichtlichbegrenzte Bändigung der als unaufhebbar hingenommenen Wider-sprüche, wie sie Hegel uns anbietet, sondern daß einzig und allein dievon Marx begonnene kritische Reflexion der gesellschaftlichen Praxisdem fortschreitenden Destruktionsprozeß etwas entgegenzusetzenvermag.

15 Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Weg-

bahnungen zur praktischen Philosophie, Würzburg 1999.16 Vgl. Günther Anders, Endzeit und Zeitenende, München 1972; W. Schmied-

Kowarzik, Bildung, Emanzipation und Sittlichkeit. Philosophische und pädago-gische Klärungsversuche, Weinheim 1993.

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Anerkennung und IntersubjektivitätElemente einer philosophischen Anthropologieim Anschluß an Hegel

Einleitung

Im vorliegenden, von der Phänomenologie des Geistes und den Grund-linien der Philosophie des Rechts1 ausgehenden Text ist beabsichtigt,Argumente zu entwickeln, die die Möglichkeit einer philosophischenAnthropologie bei Hegel in den Blick rücken. Hierfür wird die Phä-nomenologie eingegrenzt und die Analyse auf den ersten Teil desKapitels IV beschränkt, das den Titel „Die Wahrheit der Gewißheitseiner selbst“ trägt; auch werden nur einige Paragraphen der Rechts-philosophie (§§ 166 bis 196) einbezogen. Im Rahmen dieser beidenWerke Hegels gewinnen drei Fragestellungen eine für unser Vorhabenbesondere Bedeutung. An erster Stelle steht die Idee der Aner-kennung, die als Grundlage der Thematisierung der Problematik derIntersubjektivität dient. Die zweite Fragestellung steckt in der be-kannten Dialektik von Herr und Knecht, wo Hegel die schöpferischeund erzieherische Rolle der menschlichen Arbeit herausstellt. Und diedritte Frage bezieht sich auf die Idee der Emanzipation oder Freiheit.Der Zugang zu diesem in der Phänomenologie gegenwärtigen Aspektwird durch Einsichten der Rechtsphilosophie ergänzt. Der Text ist alsoin drei Teile gegliedert und dient der Erörterung der genannten Frage-stellungen.

1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3,

hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a.M. 1986 (= Phän.);Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7 (= RPh).

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1. Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst und der Begriff der wechselseitigen Anerkennung

1.1 Das Hegelsche im Unterschied zum cartesianischen Ich

Um den Begriff wechselseitiger Anerkennung zu behandeln, muß mankurz auf Descartes zurückgreifen.2 Wie erinnerlich, wird der böseGeist im Moment der Radikalisierung des Zweifels eingeführt. Dessenerste Stufe ist mit dem Argument der Täuschung durch die Sinne be-gründet; denn die Frage ist, wie man auf die Sinne zählen könne,wenn diese uns hin und wieder täuschen. Deshalb zwingt der Zweifeldazu, zunächst einmal die Suche nach sinnlicher Erkenntnis aufzu-geben. Allerdings hat dieser Zweifel seine Grenze, weil Wissenschaf-ten wie die Arithmetik und die Geometrie gewisse und zweifelsfreieSachverhalte enthalten, wie das Faktum, daß das Dreieck drei Seitenhat. Das zweite Argument ist das des Traumes. Es kommt vor, daßInformationen des Bewußtseins uns täuschen können, weil wir sie ge-träumt haben können. Dieses Argument führt zur Ausdehnung desZweifels auf alle sinnliche Erkenntnis, sogar auf Wahrheitsbehauptun-gen wie die, das Quadrat habe vier Seiten. Selbst die Idee von einemgütigen Gott kann eine bloße Einbildung sein. Damit ist der Zweifelverallgemeinert, so daß Descartes sich fragt, ob er nicht an allemzweifeln könne, was er gelernt habe. Aus diesem Grund radikalisierter den Zweifel mit Hilfe der Kunstfigur des bösen Geistes, wobei erdie Möglichkeit unterstellt, es gäbe keinen wirklichen Gott, sondernjenen Geist, der ebenso trügerisch wie mächtig und nur darauf aus sei,ihn zu täuschen.

Wenn derart die Wahrheit nicht in der Sinnenwelt zu suchen ist,bleibt nur die innere Welt des Bewußtseins. Aus dem universellenZweifel entsteht etwas Neues: Die Wahrheit des ‚ich denke, also binich‘ ist so fest und gewiß, daß sie unmöglich durch irgendeine skep-tische Vermutung ins Wanken gebracht werden könnte. Der radikaleZweifel zerstört sich selbst und verwandelt sich in unbestreitbareGewißheit; denn um zweifeln zu können, muß ich zugestehen, daß ichbin. Also bricht der Zweifel, wenn er radikalisiert wird, in sich zu-

2 René Descartes, Von der Methode, Brasilia 1989.

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sammen. Das ‚cogito‘ bildet also die erste Gewißheit aus, das heißt,etwas, das nicht rückgängig zu machen ist.3

Wir müssen also von einer grundlegenden Differenz zwischen demcartesianischen ‚Ich‘ und dem ‚Ich‘ bei Hegel ausgehen. Das erst-genannte hat das Denken zu seinem Merkmal gemacht und darin dieunmittelbare Gewißheit seiner selbst. Die Anerkennung tritt auf, wodas ‚Ich‘ sich selbst denkt. Das zweite, das Hegelsche ‚Ich‘, muß demAnderen begegnen, um aus seinem unbestimmten Stadium herauszu-treten und sich zu vermitteln. Für Hegel brauchte Descartes die Un-terschiede im ‚Ich‘, das heißt im ‚cogito‘, nicht zu entwickeln. Das‚Ich‘ Descartes’ ist sich selbst genug, da in ihm schon die Gewißheitzu sein gelegen ist. Sein Merkmal ist das Denken, die unmittelbareGewißheit seiner selbst, die dem Zweifel standhält.4 Andererseits be-hauptet Hegel, mit dem cartesianischen ‚cogito‘ sei die Philosophieauf ihr wesentliches Feld zurückgekehrt, wo das Denken seinen Aus-gang von der Gewißheit der Existenz durch das Denken selbst nimmt.Mit anderen Worten, das Denken ist im Denken selbst begründet; diePhilosophie geht von dieser im eigenen ‚ich denke‘ gegründeten Frei-heit aus.5 Bei Hegel setzt sich das Bewußtsein selbst auf unmittelbareWeise im Sein. Der Hegelsche Ausgangspunkt ist nicht der Zweifel,wie im Falle Descartes’, sondern eine unmittelbare Gewißheit. DerZweifel taucht nur innerhalb der Logik der Identität auf, das heißt, indem Moment, in dem die Bewußtseine sich, eines vom anderen, ent-fremden. Der Zweifel konstituiert sich also in einem späteren Mo-ment, nicht schon im Ausgangspunkt. Bei Descartes sucht das Be-wußtsein selbst sich seiner eigenen Gewißheit zu versichern. AmBeginn des Prozesses steht eine hypothetische Verneinung, die sich ineine Behauptung verwandeln wird – in Gewißheit –, sobald man zur 3 Das Zweifelsargument war schon von St. Augustinus in De Trinitate benutzt

worden: „Selbst wenn [jemand] an anderen Dingen zweifelt, sollte er nicht anseinem Zweifel zweifeln. Existierte er nicht, dann wäre es unmöglich, anirgendeiner Sache zu zweifeln“ (Augustinus, De Trinitate, Sao Paulo 21994,X 10[14], S. 328).

4 Vgl. José Henrique Santos, Arbeit und Reichtum in der Phänomenologie desGeistes von Hegel, Sao Paulo 1993, S. 79. Siehe auch Jean Hyppolite, Genesisy estrutura de la fenomenologia del espiritu de Hegel, Barcelona ²1991;Alexandre Kojève, La dialectica del amo y del esciavo en Hegel, BuenosAires o.J.

5 Für Santos haben wir hier die zwei wichtigsten Elemente vor uns, die Hegelin der Dialektik von Herr und Knecht benutzt, nämlich das cogito von Descar-tes, das sich selbst als Gewißheit zu sein setzt, und die menschliche Freiheit.

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ersten Wahrheit, zum ‚ich denke‘ gelangt. In diesem Sinne präsentiertsich die cartesische Philosophie als Philosophie der unmittelbaren In-tuitionen, denn das ‚cogito‘ ist unmittelbar. Es wird gewonnen oderbehauptet, ohne irgendeine Vermittlungsnotwendigkeit, außer der desBewußtseins, zu durchlaufen. Bei Hegel braucht das Bewußtseinseiner selbst ein anderes Bewußtsein, um zur Selbstgewißheit zu kom-men. Ohne Vermittlung bliebe die Gewißheit bloß etwas Abstraktes,Unbestimmtes. Deshalb fordert das Bewußtsein immer Vermittlung.

1.2. Der Begriff der wechselseitigen Anerkennung

Der Titel dieses Teils der Phänomenologie des Geistes ist bezeich-nend für die von Hegel anvisierte Problematik und seine Kritik anDescartes. Es geht um die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst. FürHegel kann eine solche Gewißheit nicht durch das ‚ich denke‘ alsFundament des Denkens selbst gegeben sein. Die Gewißheit mußvermittelt sein; und dies geschieht nicht durch einen Denkakt, sondern„in der Bewegung des Anerkennens“ (Phän. 146) durch ein wirklichesAus-sich-Heraustreten in Richtung auf das andere Bewußtsein. Damitversucht Hegel, den cartesischen Solipsismus zu überwinden undeinen wichtigen begrifflichen Rahmen für das Denken der mensch-lichen Sozialität zu öffnen.

Hegel operiert mit zwei Bewußtseinen.6 Zunächst existiert nur dasBewußtsein 1 (B 1). Dies repräsentiert das Ich als unbestimmte undunmittelbare Identität; es ist das Für-sich-sein. B 1 wird im dialekti-schen Verfahren als These genommen. Das zweite Moment ist durchdas schlichte Auftreten eines Bewußtseins 2 (B 2) gegeben; dieses istdie Verneinung von B 1. B 2 ist die Verneinung von B 1 im Sinne desVerschiedenseins (des Unterschieds), des ein Anderes Sein, was durchdie bloße Tatsache des Auftretens von B 2 geschieht. B 2 ist zufällig,und sein Auftreten ist grundlegend dafür, daß eine Vermittlung mög-lich wird, denn andernfalls bliebe B 1 immer unbestimmt, wie wirnoch sehen werden. Das Auftreten von B 2 erschüttert jene erste Ge-wißheit seiner selbst und zeigt so deren Unbestimmtheit und Unmittel-barkeit. B 2 ist die Antithese im dialektischen Verfahren. Auf dieser

6 Aus didaktischen Gründen werden wir sie Bewußtsein 1 (B 1) und Bewußt-

sein 2 (B 2) nennen.

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zweiten Stufe bleiben beide an sich, unbestimmt.7 Hier liegt also eingrundlegender Unterschied zu Descartes vor, da die Logik der Iden-tität (und des Unterschieds) etwas erreicht, was dem täuschendenGeist unmöglich ist. In diesem zweiten Moment taucht die ‚Krise‘ derunbestimmten Gewißheit seiner selbst auf. Wenn wir, Hegel zufolge,das in sich geschlossene Sein ohne eine Öffnung betrachten, wie diesim cartesischen Ich geschieht, kann es keine Vergegenständlichunggeben. Damit aber ist ein dialektischer Prozeß des Aufhebens unmög-lich. In diesem Falle gäbe es nur die These; für die Komplettierungdes dialektischen Prozesses aber muß es auch Antithese und Synthesegeben.

Auf der dritten Stufe nun erfolgt der Prozeß der Objektivierung,d. h. Bewußtsein 1 geht in Richtung auf Bewußtsein 2 zu und umge-kehrt, wobei eine Art Fusion zwischen beiden statthat. Die Objek-tivierung ist mit Entfremdung gleichbedeutend. Hier treffen These undAntithese aufeinander, so daß sich daraus eine Synthese ergibt. Diesebedeutet dann, daß die Bewußtseine sich wieder unterscheiden. Siesind jetzt durch das dialektische Verfahren bereichert. Sie haben ihreanfängliche, unmittelbare Stufe überwunden, diese aber zugleich insich bewahrt. Man kann also sagen, daß B 1 und B 2 dieselbenBewußtseine der ersten Stufe sind und zugleich nicht sind. Sie sind es,weil sie eine ihrer Grundlagen bewahren; und sie sind es nicht, inso-fern sie jene anfängliche Unbestimmtheit überwunden haben und sichin der Vermittlung des einen durch das andere, im Prozesse ihrer Ob-jektivierung, bereicherten.

Auf der ersten Stufe des Prozesses hatten wir das Bewußtsein 1(B 1) vor uns. Dieses repräsentierte das Ich als unmittelbare Identitätin deren unbestimmten Zustand, dem Für-sich-sein. Die zweite Stufewar durch das einfache Auftreten eines Bewußtseins 2 (B 2) charak-terisiert; dieses war die Negation von B 1. Auch B 2 ist unbestimmtund unmittelbar, in sich geschlossen. B 2 ist die Verneinung von B 1,in dem Sinne unterschieden, ein Anderes zu sein. Auf dieser zweitenStufe zeigen sich beide an sich als unbestimmte. Jedes setzt sich als 7 So bemerkt Santos: „in der Begegnung der entgegengesetzten Bewußtseine

ihrer selbst [...] verhalten sich die Bewußtseine ihrer selbst zunächst wie ein-heitliche Seinsinstanzen, die sich selbst genügen; die Gewißheit ihrer selbst isteine unmittelbare. Sobald sie aber das andere Extrem als mit sich identischentdecken, entdecken sie zugleich die doppelte Unabhängigkeit und damit diedoppelte Abhängigkeit. Sie verlieren so ihren Absolutheitscharakter und wer-den relative eines zum anderen.“ (J. H. Santos, Arbeit und Reichtum, S. 80)

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unabhängiges und seiner selbst gewisses. Hier haben wir die Stufe derIdentität oder der unmittelbaren und abstrakten Gleichheit, die jedochdurch die Entdeckung des anderen Bewußtseins beeinflußt wird, da esbeobachtet, daß das andere zugleich identisch mit und verschiedenvon ihm ist. Deshalb schlägt die (unmittelbare) Unabhängigkeit derersten Stufe in Abhängigkeit um, oder: die Gewißheit seiner selbstmuß durch die Anerkennung des anderen Bewußtseins vermittelt wer-den. Andernfalls bliebe es unbestimmt, d. h. nicht anerkannt unddamit in einer Identitätskrise.8 Auf der dritten Stufe findet der Prozeßder Objektivierung statt. Es handelt sich, wie schon gesagt, um das aussich heraus und in Richtung auf das andere Gehen und umgekehrt.Auch dies ist risikoreich – kontingent – und geschieht, weil das Be-wußtsein sich niemals durch sich selbst anerkennen kann. Es brauchtdas Andere, das Zu-diesem-Hingehen. Andernfalls würde es niemalsaus seinem Stadium bloßer Unmittelbarkeit herauskommen. Nur mitHilfe des anderen Bewußtseins kann es sich bestimmen; wobei Be-stimmung hier gleichbedeutend mit Vermittlung ist und Vermittlungihrerseits mehr als nur ein Bewußtsein benötigt. Aber dieses aus sichheraus und in die Richtung des anderen Bewußtseins Gehen führt zumVerlust der Identität, zu einem Entleert-Werden, das nicht schon diedialektische Unterscheidung ist (diese setzt die dritte Stufe voraus).Der Prozeß der Objektivierung, des Verlusts seiner selbst, ist einreziproker.

Jedes Bewußtsein entfremdet sich im anderen als Modus des Zu-sich-zurückkehren-Könnens – Unterscheidung –, um sich als solchesanzuerkennen; d. h. seine wirkliche Identität zu gewinnen.

Die dritte Stufe beinhaltet eine doppelte Bewegung, in der einBewußtsein sich im anderen verliert – sich entfremdet. Aber das Sta-dium des miteinander Verschmelzens kann nicht von Dauer sein,wenn der Prozeß nicht stagnieren soll. Also muß – nach dem sich imjeweils anderen Entfremden – eine wechselseitige Unterscheidung insSpiel kommen, oder, anders gesagt, es ist nötig, daß jedes zu sichzurückkehrt, nun aber durch die Vermittlung mit dem anderen berei-chert. Sonst käme es zur Abhängigkeit. 8 Hier wird der Bruch Hegels mit dem cartesianischen Modell des cogito klar.

Wenn der böse Geist – der täuscht – nicht die Gewißheit seiner selbst inZweifel zu ziehen vermochte, so gelingt dies der Logik der Identität, die diesin der intersubjektiven Beziehung tut. Der Syllogismus der Anerkennung cha-rakterisiert sich dadurch, daß er zwei Bewußtseine ihrer selbst als Extremehat.

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Man muß schließlich von der abstrakten Gewißheit seiner selbst zueiner aus der Anerkennung hervorgehenden Gewißheit kommen. Hiersind B 1 und B 2 dasselbe, was sie auf der ersten Stufe waren, undsind es zugleich auch nicht: Sie sind es, weil sie wieder unterschiedensind und eine von dem anderen jeweils unterschiedene Identität be-sitzen; und sie sind es nicht, weil sie diese erste Stufe der Unbe-stimmtheit überschritten haben und sich im Prozeß der Objektivierungdurch die Vermittlung mit dem anderen bereicherten. Sie mußten sichverlieren, um sich in ihrer reicheren Identität wieder zu finden, dienun gegenüber dem anfänglichen Stadium in einem höheren Maßebestimmt ist.9

Dies ist das Motiv dafür, daß Dialektik immer ein Prozeß ist undIdentität/Unterschied, Verneinung/Behauptung, Überwindung/Bewah-rung (Aufhebung) einschließt. Der Widerspruch ist also seine Haupt-triebfeder.

Träten die Bewußtseine nicht aus sich heraus und verneinten siesich damit nicht, so würden sie sich niemals behaupten oder aner-kennen. Aufhebung ist nur möglich, wo es Verneinung gibt. WobeiVerneinung hier offenkundig nicht Zerstörung, sondern Überwindungmeint. Jedes der für sich seienden Bewußtseine, die sich gegenüber-stehen, ist ein in sich verdoppeltes und trägt die Andersheit so in sich,daß jedes sich als das andere seiner selbst erfährt und sich in derAndersheit wiedererkennt. So „fordert die innere Doppeltheit die Be-gegnung mit dem doppelten Außen, um sich selbst zu begegnen. Iden-tität und Unterschied sind in dieser Erfahrung als sich in einem

9 Jene anfängliche absolute Autonomie wird durch die Tatsache enthüllt, daß

ein Selbstbewußtsein nur in der Beziehung zum anderen Selbstbewußtsein be-stimmt werden kann, oder: „die volle Autonomie zerstört den Charakter desSelbstbewußtseins aller, da ein Selbstbewußtsein sich in der Beziehung zumanderen begründet. Damit es ein Selbstbewußtsein sei, ist die Zerstörung sei-ner vollen Autonomie nötig [...] die Vermittlung des Anderen in der Konsti-tution des Menschen als Subjektivität ist grundlegend: der Mensch ist we-sentlich Beziehung“ (M. Araújo Oliveira, Etica e sociabilidade, Sao Paulo1993, S. 194). Folglich „ist die Subjektivität nicht einfach reine Identität mitsich selbst, sondern vermittelte durch einen Prozeß der Interaktion, in dessenVerlauf die Subjektivität sich vermittels der Konstruktion einer objektivenWelt gewinnt, die das Hervorgehen des Menschen als Subjekt ermöglicht. DieSubjektivität ist die Bewegung des aus sich heraus und zu sich zurückkehrensvermittels der Andersheit: nur im Anderen und durch den Anderen konsti-tuiert sich Subjektivität als solche“ (ebd., S. 185). „Der Mensch ist kein ferti-ges Wesen, sondern eine beständige Selbstkonstruktion“ (ebd., S. 183).

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Bewußtsein bewegende, das weiß, daß es andere Bewußtseine gibt,die mit derselben Bewegung ausgestattet sind.“10

Für Hegel gibt es Anerkennung nur in der Sphäre menschlichenHandelns. Tiere z. B. besitzen keine Fähigkeit der Vermittlung. Siesind Mängelwesen. Ihre Bedürfnisse müssen durch die Beziehung zurNatur erfüllt werden. Das bedeutet, daß die Beziehung des Tieres zurNatur eine unmittelbare ist, d. h. das Tier verschlingt den Gegenstand.Hier gibt es keine Vermittlung, ohne die auch keine Anerkennungmöglich ist. Andererseits ist auch der Mensch ein Wesen mit Bedürf-nissen und Wünschen, die in der Beziehung mit der Natur befriedigtwerden. In Hegels Worten:

„Das Tier hat einen begrenzten Kreis von Mitteln und Weisen der Befrie-digung seiner gleichfalls beschränkten Bedürfnisse. Der Mensch beweist auchin dieser Abhängigkeit zugleich sein Hinausgehen über dieselbe und seineAllgemeinheit, zunächst durch die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Mit-tel und dann durch Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedürf-nisses in einzelne Teile [...] Das Tier ist ein Partikulares, es hat seinen Instinktund die abgegrenzten, nicht zu übersteigenden Mittel der Befriedigung. [...]Das Bedürfnis der Wohnung und Kleidung, die Notwendigkeit, die Nahrungnicht mehr roh zu lassen, sondern sie sich adäquat zu machen und ihre natür-liche Unmittelbarkeit zu zerstören, macht, daß es der Mensch nicht so bequemhat wie das Tier [...] Es ist zuletzt nicht mehr der Bedarf, sondern die Mei-nung, die befriedigt werden muß, und es gehört eben zur Bildung, das Kon-krete in seine Besonderheiten zu zerlegen.“ (RPh § 190 u. Zusatz)

Die Beziehung des Menschen zur Natur ist eine vermittelte, da derMensch die Gegenstände umwandelt, bevor er sie konsumiert. Des-halb ist die Arbeit für die Umwandlung der Natur und die Bildung desMenschen zentral. Die Beherrschung der Natur bedeutet die Unter-drückung der unmittelbaren menschlichen Begierden. Sie hemmt denKonsum, um den Gegenstand an die Bedürfnisse anzupassen.11 Durchdie Arbeit bildet sich der Mensch und wird ein Kulturwesen. Oder,wie Repa herausstellt, der Mensch „gewinnt“ durch die Bereiche derArbeit „ein technisches und theoretisches Wissen, eliminiert zuneh-

10 J. H. Santos, Arbeit und Reichtum, S. 84.11 Freud wird später festhalten, daß die Sublimierung des Instinkts ein Aspekt

ist, der aus der kulturellen Entwicklung erwächst: „Sie ist es, die den höheren,wissenschaftlichen, künstlerischen oder ideologischen psychischen Aktivitä-ten die Übernahme einer so wichtigen Rolle im zivilisierten Leben ermög-licht.“ (Sigmund Freud, Das Unbehagen an der Kultur, Sao Paulo, Abril cul-tural 1978. S. 157)

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mend seine unmittelbare und natürliche Einzelheit und schreitet imProzeß der Verallgemeinerung seines Bewußtseins voran.“12

Der Vermittlungsprozeß zwischen Mensch und Natur ist ein be-wußter, und in ihm gründet die Kultur. Kultur ist ein typisch mensch-licher Zug. Für Hegel besteht der Unterschied zwischen Mensch undTier in der Fähigkeit, eine vermittelte Beziehung zum Arbeitsmittelherzustellen. Deshalb ist nur der Mensch zur Anerkennung fähig. DieSelbstherstellung des Menschen erfolgt also mittels der Arbeit und derKultur. Das bedeutet, daß die Identität des Ich in der Beziehung mitdem Anderen hervorgebracht ist und Sozialität über und durch An-erkennung erfolgt.

2. Die einseitige Anerkennung und der Syllogismus der Herrschaft

Es ist sinnvoll, unseren Ausgangspunkt wieder aufzunehmen. Wir hat-ten festgestellt, daß das Bewußtsein seiner selbst (B 1) mit sich gleichist aufgrund der Ausgrenzung des „ganz Anderen seiner selbst“; es istunmittelbar. Dies gilt aber auch für das andere Extrem, weil dasandere Bewußtsein (B 2) auch ein unabhängiges Bewußtsein von sichund mit derselben Fähigkeit ausgestattes ist. B 2 ist die Negativitätvon B 1 und umgekehrt. Beide sind in das Sein des Lebens verwoben,d. h. sind unmittelbar lebendiges Sein, das in die Unterschiedslosigkeitder Natur gesetzt ist, weil sie noch nicht zum geistigen Leben vorge-drungen sind.

Das, was das bloß organische Leben überwindet, ist ein wechsel-seitiges Tun. Das Bewußtsein wird nur durch die Anerkennung desanderen zum Geist. Die Notwendigkeit, beim anderen identischen Be-wußtsein Anerkennung zu finden, führt zum Kampf auf Leben undTod (eine dialektische Spannung). Nur im Riskieren des eigenen Le-bens kann die Freiheit beider gesichert werden, da die unmittelbareWeise, in der das Bewußtsein auftritt, überwunden werden muß. Diesaber ist nur möglich im Zugehen auf das andere Bewußtsein.

Der Wunsch nach Anerkennung kann sich nur in einem Prozeßentfalten, in dem jedes dieser Bewußtseine sich dem Risiko des Todes 12 Luiz Repa, „Arbeit und Reichtum in der Phänomenologie des Geistes von

Hegel“, Rezension von J. H. Santos, in: Cadernos de Filsofia Alema, Nr. 1,Okt. 1996, Sao Paulo, S. 92.

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aussetzt. Der Kampf läßt zwei Möglichkeiten zu: der Tod eines derbeiden, so daß Anerkennung ausgeschlossen wäre; oder die Herr-schaftsbeziehung, in der eines der beiden besiegt würde, sein Lebenbehielte, aber zum Sklaven wird. Das natürliche Sein ist der Faktor,der die Freiheit des Individuums beschränkt, das Sein-für-sich. Darumbeinhaltet der Kampf das Aufs-Spiel-Setzen des eigenen Lebens, wo-bei der, der sich an das Leben klammert – an sein natürliches Dasein –unterliegt und zum Sklaven wird. Der Tod des unterworfenen Be-wußtsein ist unmöglich, weil er gerade das, was gefordert wird, dieAnerkennung, ausschlösse; das Selbstbewußtsein braucht, um fortzu-bestehen, die beständige Bestätigung durch das andere.13 Deshalb darfder Kampf nicht zum Tod, sondern nur zur Unterwerfung führen. DasRiskieren des Lebens ist grundlegend dafür, daß das Bewußtsein sichvon der Fixierung auf das natürliche Leben befreit und sich so zumunorganischen Leben erhebt.

Der Syllogismus der Herrschaft überwindet also den Syllogismusder wechselseitigen Anerkennung. Der Knecht wird vom Herrn derArbeit unterworfen und von diesem nicht als anderes Bewußtseinseiner selbst anerkannt.

Der Knecht seinerseits beherrscht die Natur, aber der Herr raubtihm das Produkt seiner Arbeit. Dies verursacht die Angst vor demTode. Zum Kampf führt der Umstand, daß die Bestätigung seinerselbst beim anderen gesucht werden muß. Wobei hier herausgestelltwerden soll, daß der Kampf keineswegs im Rahmen ethischer Über-legungen stattfindet – die die verwirklichte wechselseitige Anerken-nung unterstellten –, sondern in dem der Lebenswelt. Wir haben hierdas erste Moment der Entfaltung der Dialektik von Herr und Knechtvor uns. Der Syllogismus der Herrschaft besteht nämlich darin, daßder Herr den Knecht zwischen sich und die Natur stellt. Das macht dieBeziehung im Unterschied zur vorangegangenen zu einer asymme-

13 Lima Vaz sagt hierzu: „Der ‚Kampf um Leben und Tod‘, in den die Bewußt-

seine ihrer selbst sich einlassen, hat zum Ziel die Gewißheit zur Wahrheit zuerheben, daß sie für sich selbst sind, oder ihre Transzendenz gegenüber derUnmittelbarkeit des Lebens zu behaupten, und sie, mit dem Risiko des Le-bens, als Freiheit angesichts des eigenen Lebens zu zeigen. Auf dieser erstenStufe aber kann die Ungleichheit nicht durch den Tod eines der Beteiligtenunterdrückt werden, da dieser jede Möglichkeit verhinderte, in Beziehung aufdie Anerkennung voranzukommen.“ (Henrique Lima Vaz, „Herr und Knecht:eine Parabel der westlichen Philosophie“, in: Sintese Nova Fase, Nr. 25,1981)

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trischen. Es gibt einen Bruch zwischen Arbeit und Genuß, zwischenProduzent und Konsument. Jetzt ist der Knecht das mittlere Glied,durch das der Herr sich auf die Natur und auf sich selbst bezieht.Dieser Prozeß, kann, allgemein genommen, in den Worten von Santosfolgendermaßen zusammengefaßt werden:

„a) der Herr bezieht sich auf die Natur vermittels der Arbeit des Knechtes; b)dieser ist in der Natur befangen (die seine Kette ist), wobei er deren unbe-arbeitete Gestalt (den Grundstoff) in nützliche Dinge und Konsumgüter ver-wandelt, die vom Herrn ohne eigene Anstrengung verzehrt werden; c) alsobezieht sich der Herr auf sich selbst durch den Knecht, von dem er hin-sichtlich seines Konsums abhängig ist; d) der Herr bezieht sich mittels desKnechtes auch auf die Natur, da das, was er verzehrt, die durch die Arbeit desKnechtes geformte Natur ist; e) der Knecht seinerseits bezieht sich direkt aufdie unbearbeitete Natur und formt diese durch seine Arbeit. Da er aber indiesem Syllogismus dem Herrn unterstellt ist, ist seine Beziehung zur Naturzuvor durch seine Unterwerfung unter den Herrn bedingt; f) das heißt, daß derKnecht zur Arbeit verpflichtet ist und das Produkt der Arbeit dem Herrn ge-hört. Mit anderen Worten, der Knecht hängt auch im Blick auf seinen Kon-sum vom Herrn ab, wobei ihm nur das vom Herrn Zugestandene zur Verfü-gung steht, das zu seinem Überleben ausreicht.“14

Die Arbeit ist also als „unterdrückte Begierde und gehemmter Genuß“definiert, wenn man bedenkt, daß der Herr, weil zwischen Knecht undNatur stehend, dem Knecht nur erlaubt, seinen Wunsch zum Genußnur in Maßen zu erfüllen. Dies ermöglicht, das Verschwinden desGegenstandes zu verzögern und diesen anzuhäufen.15 Der Herr beziehtsich nicht auf die unbearbeitete Natur, sondern nur auf deren geform-ten Teil. Der Knecht aber bezieht sich auf die unbearbeitete Natur undhat, da er dem Herrn unterstellt und deshalb an die Natur gefesselt ist,nur Zugang zu den Gütern, die er produzierte, vermittels des Herrn.Der Herr bezieht sich auf den Gegenstand der Begierde und auf denKnecht in zweierlei Weise: „a) unmittelbar auf beide“ – er wünschtund verzehrt die Sache frei; was den Knecht betrifft, so kettet er die-sen an die Natur; und er bezieht sich auf sie; „b) mittelbar auf jedesdurch das andere“.16

Das Wesen des Bewußtseins des Herrn ist durch ein Unwesent-liches konstituiert. Der Knecht hängt von einem Bewußtsein ab,dessen Wesen durch ihn selbst hergestellt ist. In der Herrschaft und imGenuß beruht die Anerkennung des Herrn auf einem unwesentlichen 14 J. H. Santos, Arbeit und Reichtum, S. 91.15 Ebd.16 Ebd., S. 92; RPh § 190.

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Bewußtsein. Die Unwesentlichkeit liegt in der Umbildung der Sachedurch ein anderes Bewußtsein, wodurch letzteres von dieser abhängigwird. Das Tun des abhängigen Bewußtseins ist das Tun des Herrn, sodaß nur dieses für sich und wesentliches ist. Wenn aber die Wahrheitder Gewißheit seiner selbst, des Herrn – als unabhängiges Bewußt-sein – ein unwesentliches Bewußtsein – der Knecht – und ein unwe-sentliches Tun ist, dann ist seine Wahrheit das dienende Bewußtsein.

Da es sich um ein asymmetrisches Machtverhältnis handelt, hatder Herr (das unabhängige Bewußtsein) seine Wahrheit im unwesent-lichen Bewußtsein des Knechts. Der Herr wird durch ein abhängigesBewußtsein anerkannt, das nicht für sich, sondern nur für den Herrnist. Aber das knechtische Bewußtsein wird auch zu einem unabhän-gigen, und der Herr zeigt sich von einem solchen Bewußtsein abhän-gig. Also nur scheinbar oder illusorisch erfolgt die Anerkennung desHerrn durch den Knecht. Die Anerkennung findet durch gleicheSelbstbewußtseine statt. Im Syllogismus der Herrschaft wird derKnecht aber wie eine Sache behandelt und muß also auf seine Be-dingung, Subjekt zu sein, um Anerkennung zu ermöglichen, ver-zichten. Aus diesem Grund erweist sich die Knechtschaft als Ge-genteil dessen, was sie unmittelbar ist. Das dienende Bewußtsein wirdüberwunden und macht sich unabhängig. Damit kommen wir zurzweiten Stufe der Parabel. Jetzt geht es darum zu sehen, wie dasknechtische Bewußtsein sich an und für sich verhält, das heißt, wie essich befreien kann.

3. Der Prozeß der Emanzipation des knechtischen Bewußtseins

Zunächst ist seine Wahrheit die Negativität des anderen Bewußtseins.Das knechtische Bewußtsein erfuhr die Todesangst, eine Erfahrungder absoluten Negativität, die Knechtschaft. Der Knecht wählte eindem Tod ausgesetztes Leben, so daß der erste Schritt seiner Befreiungin der Einsicht besteht, daß er viel mehr Sklave des von ihm gewähltenLebens ist als Knecht des Herrn. Als sich der Knecht aus Angst vordem Tode zurücknahm, überantwortete er sich dem Leben und wurdedessen Gefangener. Sein Gefängnis war das Leben in Unfreiheit; einLeben, von dem er sich zu befreien beginnt in der Erfahrung derNegativität.

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Der zweite Schritt der Befreiung ist die Arbeit und die Disziplindes Dienens.17 Arbeit, als unterdrückte Begierde und gehemmterGenuß, erlaubt dem knechtischen Bewußtsein sich selbst zu finden,d. h. sie bildet. So hat sich die Begierde „das reine Negieren desGegenstandes und dadurch das ungemischte Selbstgefühl vorbehalten.Diese Befriedigung ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden,denn es fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen. DieArbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden,oder sie bildet.“ (Phän. 153) Aus diesem Grunde ergänzt Hegel: „Eswird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigenerSinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien.“(Phän. 154) Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zuetwas Dauerhaftem: „Denn in dem Bilden des Dinges wird ihm [demBewußtsein des Knechts] die eigene Negativität, sein Fürsichsein, nurdadurch zum Gegenstande, daß es die entgegengesetzte seiende Formaufhebt. [...] Nun aber zerstört es dies fremde Negative, setzt sich alsein solches in das Element des Bleibens und wird hierdurch für sichselbst ein Fürsichseiendes“ (Phän. 154).

Nun kehrt sich die Situation um, weil nun der Herr vom Knechtabhängig wird. Denn der Herr braucht den Knecht, um dessen Wesenzu verzehren und zu genießen, weil er selbst nicht die Herrschaft überdie Sache, sondern nur über den Knecht besitzt. Der Knecht bildetesich beim Bearbeiten der rohen Natur. Durch die Arbeit und seineeigene Bildung verkehrte er seine Situation in bezug auf den Herrn.18

17 In seiner Rechtsphilosophie wird Hegel anmerken: „Was der Mensch sein

soll, hat er nicht aus Instinkt, sondern er hat es sich erst zu erwerben“; und:„Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, denEigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürlicheausgereutet werde.“ (RPh § 174, Zusatz)

18 So bemerkt Santos (Arbeit und Reichtum, S. 96), daß die Verkehrung nicht inder Revolte erfolgt, sondern durch die Selbsterziehung; ein Umstand der diePädagogik Hegels als Pädagogik der Arbeit und Disziplin charakterisiert. Diegroße Differenz zwischen Herr und Knecht hinsichtlich des Prozesses derBefreiung liegt gerade in der Funktion der Form, wie jeder von ihnen sich aufArbeit bezieht. Deshalb stellt Oliveira heraus. „Die Arbeit ist Selbstbewußt-sein der Macht, das sich in dem Produkt bestätigt. Indem er die Dinge bear-beitet, ‚bildet‘ sich der Knecht in dem Maße, in dem er dem Sein die Formdes Selbstbewußtseins einschreibt. [...] Der Knecht macht sich zum arbeiten-den Menschen, die Arbeit ist der Ausdruck des Außer-sich-Setzens des Sub-jekts“ (M. A. Oliveira, Etica e sociabilidade, S. 192, Anm.) Siehe auch CarlosR. V.Cirne Lima, „Die Dialektik von Herr und Knecht und die Idee der

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Die Begierde des Herrn geht auf die Negation des Gegenstandes, d. h.auf das unmittelbare Verzehren der bearbeiteten Sache. Hier gibt esweder Dauerhaftigkeit des Gegenstandes noch des Bewußtseins, dasverzehrt. Auch um zu Verzehren ist der Herr vom Knecht abhängig.Der Syllogismus der Herrschaft kehrt sich um, obwohl der Herr einsolcher bleibt und, solange dies so fortdauert, den Prozeß der Aner-kennung hintertreibt. Durch die Arbeit findet das dienende Bewußt-sein sich wieder. Hierfür sind zwei miteinander verknüpfte Momentenötig: a) die Angst und das Dienen überhaupt, und b) die Bildung.Ohne die Disziplin des Dienens bleibt die Angst etwas Formales (alsonicht Wirkliches). Andererseits wird der Knecht zum Herrn seinerselbst,19 indem er durch die Arbeit Herr der Natur wird. So lernt er,die Natur zu beherrschen, indem er sie menschlichen Zwecken unter-wirft.

Der Knecht entdeckt in der Arbeit die Macht, die er besitzt, um dieWelt zu formen und sich in ihr wiederzufinden, da die Arbeit seineVergegenständlichung bedeutet. Mit der Arbeit durchläuft er einenLernprozeß, der ihm erlauben wird, das Bewußtsein seiner selbst zuentdecken, und der ihm aus der Vereinzelung heraus auf die Stufe derAllgemeinheit zu gehen erlaubt, auf der die Anerkennung möglichwird. Hier ist es wichtig, die Hegelsche Unterscheidung zwischenerster und zweiter Natur sowie die Rolle der Gewohnheit wieder auf-zunehmen. Hegel wird geltend machen, daß die Gewohnheit sich ineine zweite Natur verwandele, die den Ort der ersten, des bloß natür-lichen Willens einnehme (RPh § 151.). Und Hegel wird herausstellen,daß diese zweite Natur im Rahmen der Sittlichkeit ausgebildet werde.Es handelt sich also um Institutionen, die „das Ergebnis der Vermitt-

Revolution“, in: L. C.Bombassaro (Hrsg.), Ethik und Arbeit. Fünf Studien,Caxias do Sul 1989.

19 Für Lima Vaz eröffnet die Dialektik von Herr und Knecht aus der Sicht desKnechts wieder „den Weg für die wirkliche und wechselseitige Anerkennung,die sich aus der Perspektive des müßigen Herrn als ungangbar erweist. [...]Die bearbeitete Welt ist in der Tat der Vermittler der Beziehung des Knechtszum Herrn, aber unter der sozialen Form des Dienstes wird hier die Arbeit dasdienende Bewußtsein bilden, indem dieses die Begierde zurückhält, um einewirklich menschliche Beziehung zur Welt zu ermöglichen. Es wird also dazugebracht, zu sich als Selbstbewußtsein zurückzukehren.“ (H. Lima Vaz, „Herrund Knecht“, S. 22)

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lung der Willen oder der Konkretisierung der Idee der Freiheit sind“.20

Der natürliche Wille muß gebildet werden. Solange er auf dieser Stufeverharrt, wird er nicht in der Lage sein, den Vermittlungsprozeß inGang zu setzen, der nötig ist, um sich zum Allgemeinen zu erheben.Aus diesem Grunde wird Hegel behaupten, daß die „Pädagogik dieKunst“ ist, „den Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Men-schen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seineerste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß diesesGeistige in ihm zur Gewohnheit wird.“ (RPh. 302, Zusatz zu § 151)

Aber die Arbeit ist Vermittlung und noch nicht Verwirklichungdes wahrhaften Selbstbewußtseins. Letzteres geschieht im Rahmendes Wunsches nach Anerkennung und Gesellschaftlichkeit, der Kul-tur.21 Es ist immer wieder wichtig zu erinnern, daß für Hegel dieSphäre der Kultur die der Freiheit ist, der die Sphäre der Naturnot-wendigkeit gegenübersteht. Die Kultur ist also die komplementäreSeite zu dem Prozeß, in dem der Knecht durch Disziplin und Arbeitzum Herrn seiner selbst wird. Hier bildet sich die Brücke zwischenNotwendigkeit und Freiheit, wie wir sehen können:

„Der Übergang zur Kultur hebt die Natur auf, aber erhält sie zugleich; es istdieselbe Natur, deren Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Weshalb das Sy-stem der menschlichen Bedürfnisse an ein Naturbedürfnis gekoppelt ist, dasnicht außer Kraft gesetzt werden kann. Die Freiheit heißt nicht Unterdrükkungder Natur, sondern deren Organisation entsprechend der Bedürfnisse. Istdemgegenüber die Kultur ein Werk der Arbeit, so ist sie das Reich der Frei-heit, das der Mensch für sich errichtet und in dem er Anerkennung sucht.“22

Die Arbeit ist als Prinzip der Kultur aufgefaßt, d. h. sie ermöglicht dieAneignung von Kenntnissen zur Naturbeherrschung und zu derenUmwandlung in einen Gegenstand der Kultur. In diesem Sinne ist dieKultur grundsätzlich Frucht der Arbeit, wo die Natur in ihrer Unmit- 20 Thadeu Weber, Ethik und politische Philosophie. Hegel und der Kantische

Formalismus, Porto Alegre 1999, S. 114. Siehe auch T. Weber, Hegel: Frei-heit, Staat und Geschichte, Petrópolis 1993.

21 Vgl. Weber, der heraushebt: „Es gibt keine natürliche, unmittelbare Freiheit.Unmittelbar frei sein zu wollen heißt, auf abstrakte Weise frei sein zu wollen.Denn Freiheit gibt es nur in der Vermittlung der Willen, das heißt ein Wille istnur frei durch Bestimmtheit. Diese erfolgt in den sozialen Institutionen [...]Dank der sozialen Institutionen lassen wir das Stadium ‚unmittelbarer Sub-jekte‘ hinter uns, was soviel heißt wie das Stadium der Unfähigkeit zur Be-stimmung oder Konkretisierung der Willen.“ (T. Weber, Ethik und politischePhilosophie, S. 112)

22 J. H. Santos, Arbeit und Reichtum, S. 99.

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telbarkeit negiert, aber im Rahmen der Organisation menschlichen Le-bens überwunden und erhalten wurde. Daher die Hegelsche Definitionder Freiheit als ‚Organisation der Natur gemäß dem Bedürfnis‘.

Derart wird Kultur als eine „zweite Natur“ verstanden, „derenwirkliches Potential, Macht und Reichtum, oder Staat und bürgerlicheZivilgesellschaft das Problem der Versöhnung sozialer (ökonomischerUngleichheit) und politischer Konflikte (Machtungleichheit) wiederaufwirft.“23 Daher werden die Individuen nur wirklich freie durchwechselseitige Anerkennung, also im Rahmen intersubjektiver Be-ziehungen.

Letztlich wird Hegel den Staat als grundlegende Vermittlungs-instanz geltend machen, als das Allgemeine, das aus der Vermittlungder Willen als einzelner Interessen folgt:

„Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit, die konkrete Freiheitaber besteht darin, daß die persönliche Einzelheit und deren besondere Inter-essen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihresRechts für sich [...] haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des All-gemeinen [...] übergehen, [...] so daß weder das Allgemeine ohne das be-sondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daßdie Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben und nicht zu-gleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußteWirksamkeit haben.“ (RPh 406 f., § 260)

Der Staat wird das Ethische übersetzen; dieses ist das Allgemeine,d. h. das Ergebnis der Vermittlung zwischen dem Substantiellen unddem Einzelnen. Freiheit heißt solchermaßen Erhebung in die Sphäredes Allgemeinen, was nur vermittels der wechselseitigen Anerken-nung der Individuen geschieht. Eine solche Anerkennung ist etwasGesetztes, d. h. es fordert die Vermittlung der Subjekte innerhalbeines institutionellen Rahmens. Für Hegel bildet die Freiheit der Sub-jektivität das Prinzip der modernen Welt. (RPh § 273.) Mit dem Prin-zip der Sittlichkeit ist die Idee ethischer Totalität gewonnen und, mitdieser, eine organische Auffassung vom Individuum. Die HegelscheKonzeption der Moderne verbindet sich also nicht mit einem atomi-sierten Verständnis des Subjekts. Der Kampf um Anerkennung kannnur wirklich damit zusammenstimmen, wenn man die Sphäre der Sitt-lichkeit, die Institutionen mitbedenkt. Es handelt sich also um dieKonzeption eines Individuums, das immer schon in sein Umfeld ein-gebunden ist, und um eine vermittelte, also hergestellte Freiheit.

23 L. Repa, „Arbeit und Reichtum“, S. 95.

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Eldon Henrique Mühl

Moderne, Ausbildung und Emanzipationin der Sicht von Habermas

1. Bemerkungen zur Einleitung

Das zentrale Anliegen der Kritischen Theorie bestand immer darin,die kritisch-befreiende Macht der menschlichen Vernunft durch dasWiedererstarken des dialektischen, in der Moderne aufgekommenenDenkens neu aufzurichten. Bei ihrer Aufnahme der Ideale des Projektsder Moderne ging es den Theoretikern der Frankfurter Schule nichtnur um die Interpretation der zeitgenössischen Gesellschaft, sondernum ihre Verwandlung. Aufklärung, Autonomie, Emanzipation, Frei-heit, Gleichheit, Revolution sind Themen, die die Überlegungen derDenker der Kritischen Theorie andauernd beschäftigten. Habermassieht sich als Erbe dieses Anliegens und stellt sich selbst die Heraus-forderung, diese Arbeit fortzusetzen und Auswege für die von ihm vorallem bei Adorno und Horkheimer ausgemachten Aporien zu finden.Wie seine Vorgänger der ersten Generation glaubt Habermas an dieMöglichkeit einer rationalen Begründung des menschlichen Handelnsbzw. an die Möglichkeit, universale Prinzipien oder Voraussetzungenzu identifizieren, die das Denken und Handeln des Menschen als ge-schichtlichem, konkretem Wesen leiten können. In seiner Theorie deskommunikativen Handelns versucht der Autor, dieses Potential in derkommunikativen Interaktion zu begründen, und glaubt, hier im Ge-gensatz zu den reduktionistischen Abhandlungen seiner Zeit einerationale Lösung gefunden zu haben, ohne in eine neue Metaphysik zuverfallen.1 Im vorliegenden Text sollen die von Habermas entwickel-ten Argumente für die kommunikative Rationalität dargelegt und ana-lysiert sowie einige entsprechende emanzipatorische Potentiale aufge-

1 Für Habermas leben wir in einer postmetaphysischen Zeit, einer wesentlich

pluralistischen und von Fehlbarkeiten geprägten Zeit, in der für ein Denkenim Rahmen der metaphysischen Tradition des westlichen Denkens kein Platzmehr ist. Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophi-sche Aufsätze, Frankfurt a.M. 1988, insbes. das 3. Kapitel.

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zeigt werden, die der Autor im Erziehungs- und Bildungsprozeß iden-tifiziert.

2. Kommunikative Rationalität: die Möglichkeitsbedingungen des Erkennens

Um den Prozeß des menschlichen Verstehens zu erfassen, nimmt Ha-bermas die Fragestellung Kants im Blick auf die Möglichkeitsbedin-gungen des Erkennens auf. Er stützt sich dabei auf die Errungenschaf-ten der Sprachphilosophie, insbesondere auf die universale Pragmatik,die dem Autor zufolge „heute das Erbe einer (transformierten) Tran-szendentalphilosophie antreten“2 und die Darstellung der Möglich-keitsbedingungen für das menschliche Verstehen zur Aufgabe haben.

Wie Kant glaubt auch Habermas3 an die Existenz eines Systemsapriorischer Regeln, welches das Verstehen der Wirklichkeit ermög-licht; während bei Kant diese Bedingung jedoch durch die transzen-dentale Apperzeption des denkenden Ich gegeben ist, verwirklicht siesich bei Habermas durch das kommunikative Handeln einer Gemein-schaft von Sprechenden. Im Paradigma der Sprache4 wird das tran-szendentale Subjekt Kants durch die kommunikative Gemeinschaftersetzt, und die Verstehens-Kategorien werden als von der menschli-chen Spezies entwickelte Kompetenzen zur Schaffung symbolischerProdukte interpretiert. Daraus ergibt sich die Aufgabe der universalenPragmatik, diese tiefen und universalen Strukturen der menschlichenKompetenzen zu rekonstruieren und auszudrücken. McCarthy zufolge

„stellt sich die universale Pragmatik gleich wie die transzendentale Philo-sophie Kants die Aufgabe, Möglichkeitsbedingungen aufzudecken; das Zen-

2 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1994, S. 413.3 Habermas entwickelt diese Ideen in vorläufiger Form in Erkenntnis und In-

teresse, im Detail dann in J. Habermas, Theorie des kommunikativen Han-delns, Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1 u. 2, sowie in ders., Moralbewußtsein undkommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983.

4 Die Theorie der sprachlich-pragmatischen Wende (Sprach-Paradigma) stellteinen radikalen Bruch mit dem traditionellen Denken hinsichtlich Erkenntnisund Sprache dar. Die Pragmatik versteht die Sprache nicht mehr als reine Dar-stellung des Denkens, sondern sieht sie als dasjenige, was das Wissen konsti-tuiert. Die Sprache wird zum hermeneutischen Fundament aller und jeglicherBegriffs- oder Theoriebildung.

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trum der Aufmerksamkeit verschiebt sich jedoch von der Möglichkeit, dieObjekte zu erfahren, zur Möglichkeit, im Umfeld der gewöhnlichen Sprachezu einer Übereinstimmung in der Kommunikation zu gelangen. Zudem wirdder starke Apriorismus der kantischen Ausrichtung (die transzendentale De-duktion) zugunsten eines ‚relativierten Apriori‘ aufgegeben – eines Apriori,das empirische Rahmenbedingungen anerkennt, nämlich die phylogenetischeund ontogenetische Entwicklung der universalen Strukturen und die struktu-relle Vernetzung von Erfahrung und Handeln.“5

Für Habermas enthält die kommunikative Rationalität in sich selbstein emanzipatorisches Telos, das die Machterhaltung der Vernunft zurVeränderung ermöglicht. Im Telos der pragmatischen Sprache fin-det er Elemente zur Wiederherstellung der Macht der Vernunft, dasmenschliche Handeln zu regeln und ihm Gültigkeit zu verleihen. „Ichwerde die These entwickeln“, sagt Habermas, „daß jeder kommuni-kativ Handelnde im Vollzug einer beliebigen Sprechhandlung uni-versale Geltungsansprüche erheben und ihre Einlösbarkeit unterstellenmuß.“6 Als Sprechende nehmen die Menschen an einem rationalenVerstehensprozeß teil, bilden im pragmatischen Gebrauch der Spracherationale Verstehensformen und schaffen die Strukturen der Lebens-welt.

Indem Habermas die allgemeingültigen Bedingungen für die Er-fahrung des menschlichen Verstehens rekonstruiert, formuliert er denBegriff der Transzendentalität Kants um und erweitert wesentlich des-sen Konnotation. In den Worten McCarthys:

„Mit der analytischen Kant-Rezeption (beispielsweise durch Strawson) kannsich der Begriff ‚transzendental‘ nur in einem beschränkten Sinn halten, näm-lich [...] ohne die Absicht der transzendentalen Deduktion. Die ganze kohä-rente Erfahrung organisiert sich in einem Netz von Kategorien; insofern wirdasselbe System fundamentaler Begriffe hinter aller Erfahrung entdecken,können wir diese als ‚quasi transzendental‘ ansehen.“7

Wir müssen uns immer vergegenwärtigen – ohne dabei die übrigenGesprächspartner aus dem Blick zu verlieren –, daß die Kritik vonHabermas vor allem auf die reduktionistische Sicht von Rationalitätgerichtet ist, wie sie von Adorno und Horkheimer vertreten wird, diebehaupten, es sei der Vernunft unmöglich, ihren ursprünglichen

5 Thomas McCarthy, La teoría crítica de Jürgen Habermas, Madrid 1995,

S. 323.6 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Ergänzungen und Vor-

studien, Frankfurt a. M 1989, S. 354.7 Th. McCarthy, La teoría crítica de Jürgen Habermas, S. 342 f.

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Zweck zu erfüllen, nämlich die Menschheit zu emanzipieren. Haber-mas hält die These der Regression der Vernunft zu einem neuenMythos für allzu pessimistisch und zudem für paradox, denn dieseThese bezeichnet die Selbstkritik der Vernunft als den Weg, der zurWahrheit führen kann, gleichzeitig aber in Frage stellt, daß die Wahr-heit im derzeitigen Stadium der Entfremdung überhaupt erreicht wer-den kann. Mit dem Paradigmenwechsel will Habermas die Aporienüberwinden, auf die diese beiden Autoren gestoßen sind, und derVernunft ihre emanzipatorische Macht zurückgeben. Diese Absichtformuliert er ausdrücklich, wenn er behauptet:

„Ich werde zeigen, daß ein Paradigmenwechsel zur Kommunikationstheoriedie Rückkehr zu einem Unternehmen gestattet, das seinerzeit mit der Kritikder instrumentellen Vernunft abgebrochen worden ist; dieser erlaubt einWiederaufnehmen der liegengebliebenen Aufgaben einer kritischen Gesell-schaftstheorie.“8

Habermas akzeptiert nicht den Rückgriff auf die mimetische Ratio-nalität, wie sie von Adorno als Alternative zur Überwindung derGrenzen der instrumentalen Rationalität vorgeschlagen wird, denn siebleibt nicht nur „den Bedingungen der Subjektphilosophie verhaftet“,sondern ruft bei den Menschen auch Assoziationen hervor, die eben-falls beabsichtigt, identifizierend und somit instrumentell sind. Dasmimetische Vermögen steht von sich aus im Widerspruch zur Ver-nunft, ist reiner Impuls, der nicht die Ganzheit dessen erklären kann,von dem sie behauptet, es würde von der instrumentellen Rationalitätzerstört. Deshalb meint Habermas:

„[...] an den mimetischen Leistungen läßt sich der vernünftige Kern erstfreilegen, wenn man das Paradigma der Bewußtseinsphilosophie, nämlich eindie Objekte vorstellendes und an ihnen sich abarbeitendes Subjekt, zugunstendes Paradigmas der Sprachphilosophie, der intersubjektiven Verständigungoder Kommunikation aufgibt und den kognitiv-instrumentellen Teilaspekteiner umfassenden kommunikativen Rationalität einordnet.“9

Wenn Adorno die Ideen von Versöhnung und Freiheit als komplemen-tär behandelt, kommt er, Habermas zufolge, dem neuen Paradigma derSprache zum Greifen nahe. Dieser Übergang wird jedoch nicht voll-zogen. Diese Herausforderung übernimmt nun Habermas für sich undversucht zu zeigen, daß nur die freie Interaktion der Individuen durchdie Sprache eine echte Versöhnung zwischen den Menschen – und in

8 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 518.9 Ebd., S. 523.

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gewissem Sinn auch die Versöhnung zwischen Vernunft und Natur,wie sie von Adorno vorgeschlagen wurde – ermöglicht. Für Habermaswird es dem Menschen durch das kommunikative Handeln möglich,der Denaturierung seiner selbst Widerstand zu leisten, auch währender für seine Selbsterhaltung kämpft.

„Die kommunikative Vernunft läßt sich nicht, wie die instrumentelle, einererblindeten Selbsterhaltung widerstandslos subsumieren. Sie erstreckt sichnicht auf ein selbsterhaltendes Subjekt, das sich vorstellend und handelnd aufObjekte bezieht oder auf ein bestanderhaltendes System, das sich gegen eineUmwelt abgrenzt, sondern auf eine symbolisch strukturierte Lebenswelt, diesich in den Interpretationsleistungen ihrer Angehörigen konstituiert und nurüber kommunikatives Handeln reproduziert. So findet die kommunikativeVernunft nicht einfach den Bestand eines Subjekts oder eines Systems vor,sondern hat Teil an der Strukturierung dessen, was erhalten werden soll. Dieutopische Perspektive von Versöhnung und Freiheit ist in den Bedingungeneiner kommunikativen Vergesellschaftung der Individuen angelegt, sie ist inden sprachlichen Reproduktionsmechanismus der Gattung schon eingebaut.“10

Die Lebenswelt11 bildet also einen Komplementärbegriff zum kommu-nikativen Handeln, ein Substrat von kulturellen und sprachlichen Ge-wißheiten oder Evidenzen. Ausgehend von der pragmatischen Wendewird die Lebenswelt nicht mehr als Verhältnis zwischen Bewußtseinund Welt, sondern als Verhältnis zwischen Sprache und Welt verstan-den. Die Lebenswelt ist für Habermas das Substrat von Inhalten, von

10 Ebd., S. 532 f.11 Die Lebenswelt umfaßt in der Theorie der Moderne bei Habermas die Sphäre,

die zur Erhaltung der sozialen und individuellen Identität beiträgt und denSchatz an Interpretationsmustern beinhaltet, die kulturell weitergegeben undsprachlich organisiert werden. Sie ist die intersubjektive Instanz, die sich imPrinzip am kommunikativen Handeln orientiert. Die andere konstitutiveSphäre der sozialen Wirklichkeit ist das System, das von Habermas als Ge-samtheit der strategisch ausgerichteten und regulierten Aktivitäten verstandenwird, die Erfolg und die Garantie des wirtschaftlichen und politischen Über-lebens der Institutionen zum Ziel haben. Sie wird deshalb durch wirtschaftli-che (Geld) und politische (Macht) Kriterien bestimmt. Die Unterscheidungzwischen System und Lebenswelt geschieht in der Sicht von Habermas durchdie Unterscheidung der Formen von Rationalität, die in jeder dieser Instanzenenthalten sind. Während die Evolution des Systems an der zunehmendenFähigkeit zur Leitung der Institutionen gemessen wird, bemißt sich die Evolu-tion der Lebenswelt an der wachsenden Autonomie der Bereiche von Kultur,Gesellschaft und Persönlichkeit. (Vgl. David Ingram, Habermas e a dialéticada razão, Brasília 1993, S. 153 f., u. J. Habermas, Theorie des kommunikati-ven Handelns, Bd. 2, S. 173 f.)

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„ursprünglichen Evidenzen“, das die Stütze für den argumentativenProzeß bildet; sie ist der Hintergrund, der Horizont, vor dem die kom-munikative Rationalität abläuft und die Möglichkeit eines Grundkon-senses aufrecht erhalten wird. Habermas formuliert die Annahme,„daß auch das kommunikative Handeln in eine Lebenswelt eingebettetist, die für die risikoabsorbierende Rückendeckung eines massivenHintergrundkonsenses sorgt.“12 Indem die Lebenswelt intersubjektivgeschaffen wird, ist sie gleichzeitig eine Ergänzung zum kommunika-tiven Handeln und konstitutiv für die kommunikative Rationalität. DieLebenswelt wird somit aus den transzendentalen Regeln gebildet, dieuns durch die Elemente gegeben werden, welche das Verstehen er-möglichen, und sie macht unserem Erkennen die Regeln für den Kom-munikationsprozeß zugänglich. Für Habermas hat die Lebenswelt zu-mindest teilweise einen Status, der aus den transzendentalen Regelndes Kommunikationsprozesses abgeleitet ist, und deshalb macht siedie transzendentalen Bedingungen sichtbar, die dem kommunikativenHandeln zugrunde liegen. Für die Lebenswelt werden die transzenden-talen Regeln der Kommunikation objektiv.

Die von Habermas unternommene Rekonstruktion der universalenPragmatik ist inspiriert von verschiedenen theoretischen Abhandlun-gen: vom logischen Empirismus Carnaps, Wittgensteins Haltung inseinen beiden Phasen, der Theorie der Sprechhandlungen der Oxford-Schule, der strukturalistischen Theorie und der generativen Gramma-tik Chomskys. Weitere drei Quellen, die diese Rekonstruktion bei Ha-bermas stark beeinflußt haben, sind das Paradigma der Sprachphilo-sophie, wie es durch Austin eingeführt wurde, die ausgehend von dergenetischen Epistemologie Piagets von Kohlberg entwickelte Theorieder moralischen Entwicklung und die soziologische Theorie von Par-sons, bei der phänomenologische und hermeneutische Kategorien derLebenswelt mit systemischen Kategorien verbunden werden. Ange-sichts der Ausrichtung des vorliegenden Textes kann auf die genann-ten Einflüsse an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Siewerden lediglich erwähnt, sofern dies für die Klarheit des Gedanken-gangs unumgänglich ist.

Ausgehend von diesen Referenzen stellt sich Habermas der Her-ausforderung, durch eine rekonstruktive Wissenschaft die universalenBedingungen darzustellen, die das menschliche Verstehen ermög-lichen: 12 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 85.

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„Ich möchte die These vertreten, daß nicht nur Sprache, sondern auch Rede,also Verwendung von Sätzen in Äußerungen, einer formalen Analyse zugäng-lich ist. Wie die elementaren Einheiten der Sprache (Sätze), so lassen sichauch die elementaren Einheiten der Rede (Äußerungen) in der methodischenEinstellung einer rekonstruktiven Wissenschaft analysieren.“13

Ausgehend von Chomskys14 Unterscheidung zwischen Sprachkompe-tenz und Sprachverwendung – anhand derer Chomsky aufzeigt, daßder Handlungsträger in jeder Kommunikation a priori ein abstraktesSystem von Regeln beherrschen muß, welche die Sprache hervorbrin-gen – entwickelt Habermas die These, daß alle Strukturen der Spracheals von einem Kommunikationsprozeß abgeleitet zu verstehen sindund sogar die universalen Strukturen möglicher Sprechsituationenihrerseits sprachlich hervorgebracht werden. Die Potentialitäten undalle Grenzen der Sprache sind somit von diesem Handlungsmecha-nismus des Menschen in der Welt abhängig, der Sprache genanntwird. Obwohl Habermas die Bedeutung der linguistischen Untersu-chungen für das Verständnis der Sprachstruktur anerkennt, muß dieseStruktur seiner Ansicht nach als ein in den kommunikativen Interak-tionen angewandter Mechanismus analysiert werden. In diesem Sinnwidmet er sich der Rekonstruktion des Regelsystems, nach dem dieIndividuen Sprechsituationen schaffen und sich über die Welt verstän-digen. Es handelt sich darum, den Prozeß zu beschreiben, wie dieSprechakte entstehen, und ihm die universalen Elemente zu entneh-men, die das menschliche Verstehen ermöglichen. Die Gültigkeit desGesprochenen bildet die Basis, der Habermas die apriorischen Bedin-gungen des Verstehens entnimmt:

„Ich werde die These entwickeln, daß jeder kommunikativ Handelnde imVollzug einer beliebigen Sprechhandlung universale Geltungsansprüche erhe-ben und ihre Einlösbarkeit unterstellen muß. Sofern er überhaupt an einemVerständigungsprozeß teilnehmen will, kann er nicht umhin, die folgenden,und zwar genau diese universalen Ansprüche zu erheben: sich verständlichauszudrücken; etwas zu verstehen zu geben; sich dabei verständlich zumachen; und sich miteinander zu verständigen. Der Sprecher muß einen ver-ständlichen Ausdruck wählen, damit Sprecher und Hörer einander verstehenkönnen; der Sprecher muß die Absicht haben, einen wahren propositionalenGehalt mitzuteilen, damit der Hörer das Wissen des Sprechers teilen kann; derSprecher muß seine Intentionen wahrhaftig äußern wollen, damit der Hörer andie Äußerung des Sprechers glauben (ihm vertrauen) kann; der Sprecher muß

13 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Ergänzungen und Vor-

studien, S. 359.14 Noam Chomsky, Aspekte der Syntaxtheorie, Frankfurt a.M. 1969, S. 13-87.

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schließlich eine im Hinblick auf bestehende Normen und Werte richtigeÄußerung wählen, damit der Hörer die Äußerung akzeptieren kann, so daßbeide, Hörer und Sprecher, in der Äußerung bezüglich eines anerkanntennormativen Hintergrunds miteinander übereinstimmen können“.15

Habermas will die pragmatischen Regeln darlegen, welche die Infra-struktur der Sprechsituationen an sich konstituieren, und richtet seineAufmerksamkeit auf die symbolische Bildung der Welt sowie auf daskategoriale Wissen, das den Sprechhandlungen inhärent ist. Dies wirdbesonders deutlich, wenn er von der Aufgabe der universalen Prag-matik spricht:

„Die Universalpragmatik hat die Aufgabe, universale Bedingungen möglicherVerständigung zu identifizieren und nachzukonstruieren. In anderen Zusam-menhängen spricht man auch von ‚allgemeinen Kommunikationsvoraus-setzungen‘; ich spreche lieber von allgemeinen Voraussetzungen kommunika-tiven Handelns, weil ich den Typus des auf Verständigung abzielenden Han-delns für fundamental halte. Ich gehe also (ohne an dieser Stelle den Nach-weis anzutreten) davon aus, daß andere Formen des sozialen Handelns, z. B.Kampf, Wettbewerb, überhaupt strategisches Verhalten, Derivate des ver-ständigungsorientierten Handelns darstellen“.16

Habermas greift bei seiner Rekonstruktionsarbeit auf eine Referenzzurück, die ihm ausgesprochen wichtig ist, nämlich die von Kantgestellte Herausforderung, die Möglichkeitsbedingungen für dasmenschliche Erkennen zu verstehen. Wie bereits weiter oben aus-geführt, sucht Habermas diese Möglichkeitsbedingungen jedoch nichtin einem „transzendentalen Ich“, sondern in den Kommunikationspro-zessen der Individuen in Interaktionen innerhalb der Lebenswelt. Dasermöglichende a priori bei Habermas ist – im Gegensatz zum a prioribei Kant – relativ und durch die Bedingungen der empirischen Um-stände der Sprechhandlungen bestimmt. Die Herausforderung derHabermasschen Universalpragmatik besteht darin, einen Ausweg ausder von Kant nicht gelösten Dichotomie zwischen Sein und Sein-Sollen, zwischen Theorie und Praxis, also zwischen theoretischer undpraktischer Vernunft zu finden.

Bei Habermas hängen die Möglichkeitsbedingungen für dasmenschliche Erkennen, ihre universale Struktur und die strukturelleVerbindung zwischen Erfahrung und Handeln von der phylogene-tischen und ontogenetischen Entwicklung der Menschheit ab. Haber- 15 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Ergänzungen und

Vorstudien, S. 354 f.16 Ebd., S. 353.

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mas will durch die Darlegung der operativen Regeln bei der Auf-stellung der Argumente über die Wirklichkeit die Dichotomie zwi-schen dem abstrakten und dem konkreten Charakter des Wissens,zwischen Objektivität und Wahrheit überwinden. Diese Überwindungfindet er in der kommunikativen Interaktion und behauptet:

„Das ist nicht möglich; denn die Objektivität der Erfahrung könnte selbst fürelementare Beobachtungsaussagen eine hinreichende Wahrheitsbedingung nurdann sein, wenn wir den theoretischen Fortschritt nicht als eine kritischeFortbildung theoretischer Sprachen, die den vorwissenschaftlich konstituier-ten Gegenstandsbereich immer ‚angemessener‘ interpretieren, begreifen müß-ten. Die ‚Angemessenheit‘ einer theoretischen Sprache ist eine Funktion derWahrheit der in ihr möglichen theoretischen Sätze; würde deren Wahrheits-ansprüche nicht durch Argumentation eingelöst, sondern durch Erfahrungen,wäre theoretischer Fortschritt nur als Produktion neuer Erfahrungen und nichtals neue Interpretation derselben Erfahrungen denkbar. Plausibler ist daher dieAnnahme, daß die Objektivität einer Erfahrung nicht die Wahrheit einer ent-sprechenden Behauptung garantiert, sondern nur die Einheit dieser Erfahrungin der Mannigfaltigkeit der Behauptungen, durch die sie interpretiert wird“.17

Habermas vermeidet es jedoch, in den Relativismus und Skeptizismuszu verfallen, von denen die Kritik an Kant häufig begleitet ist. Obwohler den Begriff des „transzendentalen Subjekts“ ablehnt, gibt er dochKants Vorhaben nicht auf, in den Bedingungen einer argumentativenLegitimation die Grundlage für universale Geltungsansprüche zuschaffen. Dafür entwickelt er die Theorie der erkenntnisleitenden In-teressen, die im Verständnis des zweifachen Prozesses besteht, der dieKonstitution der Wirklichkeit bestimmt: Die Objekte sind durch dasinstrumentelle und durch das kommunikative Handeln konstitutiert.Indem der Mensch mit der Natur umgeht und mit den anderen Men-schen in Interaktion steht, schafft er die erkennbare Objektivität; dieinstituierende Instanz der Objekte ist die Lebenswelt, die in ihremWesen aus der Verbindung zwischen Arbeit und Interaktion bestehtund von der wesentlich der Bildungsprozeß des Geistes und dermenschlichen Gattung abhängt.18 Die Konstitution der Objektivität istbei Habermas also aus dem instrumentellen und dem pragmatischenHandeln der Menschen in der Welt abgeleitet. Seit der MenschMensch ist, hat er immer in der Welt in derselben Weise und unterGebrauch derselben Grundkategorien gehandelt: Interaktion und

17 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 408.18 Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a.M.

1971, S. 47.

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Arbeit. Durch diese beiden Interessen wird somit die Wirklichkeitobjektiv.

Die von Habermas unternommene sprachliche Rekonstruktion istalso von einer kontingenten, situierten und historischen Rationalitätgeprägt; gleichzeitig verliert sie jedoch nicht ihre Beziehung zurUniversalität und Unbedingtheit. Für die kommunikative Vernunft istsomit fast alles kontingent; die Bedingungen, die ihrer eigenen sprach-lichen Vermittlung zugrundeliegen, bleiben jedoch als unbedingtebewahrt, wenn auch nicht in absoluter Form. Die kommunikativeRationalität negiert nicht die Vielfalt, die Unterschiede und Wider-sprüche; damit jedoch eine Geltung beanspruchende Vermittlungmöglich ist, sind – nach Ansicht von Habermas – die Strukturen dessprachlichen Verstehens unübertragbar. Sie sind notwendige Bedin-gungen für das Verstehen an sich bzw. Bedingungen, die symmetri-sche Beziehungen gegenseitiger Anerkennung ohne jeglichen Zwangvorwegnehmen.

Die Herausforderung von Habermas besteht darin, eine Lösung fürdas traditionelle Problem des Konflikts zwischen situierter Vernunftund Unbedingtheit zu finden. Deshalb behandelt er in der universalenPragmatik die Voraussetzungen, die zur Lösung der Aporien führen,die sowohl den universalistisch-transzendentalen als auch den empi-risch-kontextuellen Abhandlungen inhärent sind.

„Das Spezifikum der kommunikativen Vernunft, wie sie bei Habermas ver-standen wird, besteht darin, daß sie gleichzeitig immanent, also nur in kon-kreten Kontexten der Sprachspiele und Institutionen des menschlichen Lebenszu finden ist, aber andererseits transzendent, also in gleicher Weise eine‚regulative Idee‘ ist, an der wir uns orientieren, wenn wir unser geschicht-liches Leben kritisieren. Für Habermas erweist die kommunikative Vernunftdie in der Tradition formulierten Dilemmata als illusorisch; mit anderen Wor-ten: für ihn müssen wir nicht mehr zwischen Kant und Hegel wählen, sonderndie Spannung zwischen Unbedingtheit / Faktizität, Transzendentalität / Em-pirie, Universalität / Besonderheit, Notwendigkeit / Kontingenz denken.“19

Um sein Ziel zu erreichen, muß Habermas den quasi-transzendentalenCharakter der Sprache erklären und belegen sowie Elemente finden,die seine These im Blick auf die Gültigkeit des Arguments als Wahr-heitskriterium stützen. Dafür greift er auf Piaget und Kohlberg zurück,um die dem kommunikativen Handeln inhärenten Verstehensstruktu-ren zu verdeutlichen. Das Habermassche Schema beinhaltet verschie- 19 Manfredo Oliveira, Reviravolta lingüístico-pragmática na filosofia contempo-

rânea, São Paulo 1996, S. 347.

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dene Arten von Gültigkeitsregeln, die seiner Ansicht nach in denSprechakten der Individuen immer, wenn auch intuitiv, gegenwärtigsind. White faßt dieses Schema folgendermaßen zusammen:

„1 Kognitive Kompetenz: Beherrschen der Regeln formallogischer Operatio-nen (Piaget).

2 Sprachkompetenz: Beherrschen der sprachlichen Regeln, um Situationenzu schaffen, in denen das Verstehen möglich ist.a) Beherrschen der Regeln, um grammatisch wohlgeformte Sätze zu bil-

den (Sprachkompetenz bei Chomsky).b) Beherrschen der Regeln, um wohlgeformte Ausdrucksformen zu schaf-

fen (universale oder formale pragmatische Regeln). 3 Interaktive Kompetenz oder ‚Rollenkompetenz‘: Beherrschen der Regeln,

um an immer komplexeren Interaktionsformen teilnehmen zu können.“20

Der kompetente Handlungsträger bei Habermas ist derjenige, der zu-nächst die Regeln der formalen Operationen beherrscht, also dieFähigkeiten, die ihn umgebende objektive und soziale Welt zu assimi-lieren, Handlungen und Sichtweisen anderer zu verinnerlichen (Assi-milation) und gleichzeitig die eigenen kognitiven Strukturen undmentalen Schemata neu zu organisieren (Akkomodation), um seineInteraktion immer überlegter und bewußter gestalten zu können. Dafürmuß der Handelnde fähig sein, zu argumentieren und dabei die inter-subjektiven Regeln des Sprachgebrauchs einer bestimmten Sprachge-meinschaft anzuwenden, seine Sätze syntaktisch und semantischverständlich zu machen, die erhobenen Ansprüche mit Begründungenzu rechtfertigen und zu bewirken, daß seine Rechtfertigungen aufverantwortliche Weise von allen akzeptiert werden. Damit ist ein Ent-wicklungsprozeß der Dezentrierung bzw. des Übergangs von den sen-somotorischen, präoperativen und operational-konkreten Stadien hinzum formaloperationalen Stadium verbunden.21 Habermas ist der An-sicht, daß die Entwicklung der Regeln für die formalen Operationenjedem Individuum und der menschlichen Spezies als Ganzer zu-nehmend erlaubt, kognitiv und moralisch immer stärker dezentrali-sierte und universale Schemata einzuführen, bis die soziale Rationa-lität höchst ausgeklügelte, ausgearbeitete und zu verallgemeinerndeFormen des kollektiven Bewußtseins erreicht. In diesem Sinn gibt es

20 S. Stephen K. White, Razão, justiça e modernidade. A obra recente de Jürgen

Habermas, São Paulo, 1995, S. 38.21 Habermas fügt hier als Bezugspunkt für die Analyse den genetischen Struk-

turalismus von Piaget ein. Zu diesem Aspekt vgl. Bárbara Freitag, Piaget. En-contros e desencontros, Rio de Janeiro 1985, S. 103 f.

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eine fortschreitende Entwicklung sowohl der individuellen als auchder kollektiven praktisch-kognitiven Fähigkeiten, woraus sich neueSichtweisen und Strukturen der Welt ergeben. Die Gesellschaft unddas Individuum entwickeln sich weiter, weil sie bereits die Fähigkeitbesitzen, neue Ebenen des Lernens zu erreichen, und weil neue Sicht-weisen der Welt – wenn auch latent – bereits zur Verfügung stehen.22

Die Sprachkompetenz ist die Fähigkeit der Individuen, in derInteraktion ihre Ausdrucksformen so zu gebrauchen, daß sie das Ver-stehen der objektiven, der sozialen und der subjektiven Realität er-möglichen. Das Verständnis des Sinns einer Aussage hängt von derFähigkeit des einzelnen Individuums ab, die sprachlichen Regelnangemessen anzuwenden, nämlich die Klarheit der Bedeutung, dieAufrichtigkeit des Handelns und die Ernsthaftigkeit der Tat.23 DieSprachregeln garantieren, daß jedes zum Sprechen und Handelnfähige Subjekt das Recht hat, an den Diskursen teilzunehmen, jedenVorschlag vorbringen oder in Frage stellen sowie seine Einstellungen,Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen kann; zudem darfniemand daran gehindert werden, sein Recht zur Teilnahme und Mani-festation in den Diskursen wahrzunehmen und Argumente zur Be-gründung seines Denkens und Handelns vorzubringen. Zusammen-fassend kann gesagt werden, daß jedes argumentierende Subjekt freiund autonom ist und die gleichen Rechte zur Teilnahme an der Argu-mentation hat.24

Die Interaktion stellt sich als die Fähigkeit der Kommunikations-träger dar, ihr Verhalten auf der Basis der gegenseitigen Anerkennungvon Geltungsansprüchen zu koordinieren, bei der sich die Teilnehmer 22 Bárbara Freitag zufolge führt dies Habermas nicht dazu zu meinen, es könnte

keine Momente der intellektuellen und moralischen Rückbildung und Regres-sion in der Menschheitsgeschichte geben. Er selber entwickelt verschiedeneKritikpunkte, wenn er die geschichtlich hervorgebrachten Schlappen Rück-schläge aufzeigt. Habermas sieht jedoch neben den Pathologien, den Verzer-rungen und Verirrungen der Vernunft auch, daß sie sich ihre Fähigkeit der„Dezentrierung“ erhält, immer komplexer organisierte Systeme und Prozessehervorbringt, rationalere Formen der Leitung dieser Organisationseinheitenentstehen läßt und gleichzeitig die Lernfähigkeit der Menschen und die wach-sende Universalisierung der Entscheidungen über die sozialen Prozesse för-dert (vgl. B. Freitag, Piaget, S. 15).

23 Vgl. Th. McCarthy, La teoría crítica de Jürgen Habermas, S. 340 f.24 Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Ergänzungen und

Vorstudien, S. 159 ff.; s. a. S. K. White, Razão, justiça e modernidade, Kapitel2 u. 3.

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gegenseitig die Verantwortung für die rationale Begründung der Aus-sagen beimessen. Mit anderen Worten: die Teilnehmer eines kom-munikativen Handelns können nicht die normativen Implikationenihrer Sprechakte negieren, denn dies würde bedeuten, daß sie in einenperformativen Widerspruch verfallen. Für Habermas beinhaltet derGesprächsakt deshalb immer eine Pflicht, denn er setzt die gegen-seitige Verantwortung im Blick auf die Wahrhaftigkeit des Kommu-nizierten voraus.

Die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit ist von der Ent-wicklung dieser miteinander verflochtenen Einzelkompetenzen abhän-gig, denn nur so kann die Kommunikation den drei Geltungsansprü-chen genügen, die an jeden Sprechakt gestellt werden: etwas (Wahres)in der Welt darzustellen, die Absicht des Sprechers auszudrücken undlegitime zwischenmenschliche Beziehungen herzustellen. Diese Re-geln begleiten den Verstehensprozeß, wenn die Subjekte in kommu-nikativer Interaktion stehen; sie können deshalb als allgemeine Theo-rie der Sprechhandlungen rekonstruiert werden. „Das Medium dernatürlichen Sprache und das Telos der Verständigung interpretierensich vielmehr wechselseitig – eins läßt sich ohne Rekurs auf dasandere nicht erklären.“ „[...] aber die spezifische Verwendungsart desWissens entscheidet über den Sinn der Rationalität“.25 Diese Regelnbleiben auch dann wirksam, wenn das Subjekt in eine durch einenKonflikt geprägte Sprechbeziehung eintritt, denn zur Lösung dieserSituation verfügen die Subjekte nur über eben diese Regeln. Die An-wendung der Regeln der kognitiven und der Sprachkompetenz istdeshalb unter allen Umständen unumgänglich für die Entwicklungeines Verständnisses, das auf Verstehen ausgerichtet ist. Habermasgeht von einer neuen Sicht des Handelns und der Erkenntnis aus. DieErkenntnis wird in der Interaktion der Individuen ausgehend von derihnen gemeinsamen sprachlichen Infrastruktur formuliert. Diese Infra-struktur ist aus Eigenschaften zusammengesetzt, die der Sprache inne-wohnen und mit denen die in Interaktion stehenden Individuenschlüssige Argumente produzieren, indem sie Geltungsansprüche desobjektiven Erkennens, des praktischen Handelns und des Ausdrucksaufnehmen oder zurückweisen. Sie beinhalten Regeln, die auf dreiEbenen angesiedelt sind: auf der logisch-semantischen Ebene, auf derdialektischen Ebene der Vorgänge und auf der rhetorischen Ebene derProzesse. In jedem kommunikativen Handeln müssen die in Inter- 25 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 66 u. 67.

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aktion stehenden Individuen also logisch-semantische, prozeduraleund Prozeß-Regeln respektieren, um nicht in performative Wider-sprüche zu verfallen.26

3. Die universale Pragmatik und die Möglichkeit, das Projekt der Moderne zu rekonstruieren

Mit seiner pragmatischen Sicht der Konstruktion des Wissens gewinntHabermas über die konkrete Dimension des Wissens, also über diereale Situation der Rationalität hinaus den rekonstruktiven Charakterder Wissensformen zurück. Daraufhin rekonstruiert er das kritischePotential der modernen Rationalität und liefert Elemente für ein wie-derhergestelltes Vertrauen in die Kompetenz der Individuen, durch dieKommunikation echte Erkenntnisse, begründbare Werte und authen-tische subjektive Manifestationen zu schaffen.

Indem Habermas die Strukturen der kommunikativen Rationalitätder Moderne wiederherzustellen versucht, manifestiert er seine Über-zeugung, daß sich im menschlichen Lernen ein deutlich fortschrei-tender Entwicklungsprozeß vollzieht. Die Moderne und ihre rationalenErrungenschaften machen die universal bedeutsame Verwirklichungdieses Lernens deutlich; der rekonstruktive Charakter der Wissensfor-men zeigt, daß die Moderne ihr Entwicklungspotential nicht ausge-

26 Habermas gibt einige Beispiele für solche Regeln: logisch-semantische Re-

geln: „(1.1) Kein Sprecher darf sich widersprechen. (1.2) Jeder Sprecher, derein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auf jedenGegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. (1.3)Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenenBedeutungen benutzen.“ Prozedurale Regeln: „(2.1) Jeder Sprecher darf nurdas behaupten, was er selbst glaubt. (2.2) Wer eine Aussage oder Norm, dienicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund an-geben.“ Prozeßregeln: „(3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darfan Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisie-ren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf sei-ne Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darfdurch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran ge-hindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen.“(J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 97-99)

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schöpft hat. Im Gegenteil, die Tendenz zur Weiterentwicklung27 be-steht weiterhin, denn jede Instanz sucht dauernd, die eigenen Refe-renzpunkte für die Gültigkeit zu revidieren.

Habermas besteht in seiner Argumentation darauf, daß wir nicht ineiner Zeit leben, in der sich alle utopischen Energien der in der Auf-klärung entstandenen Rationalität erschöpft haben, sondern lediglichdie Erschöpfung eines bestimmten Modells von Rationalität wahrneh-men, das aus einem Reduktionismus heraus mit dem Interesse, dieäußere Natur und die innere Natur des Menschen zu kontrollieren undzu manipulieren, seit den Anfängen der Moderne die Vorherrschaftinnehatte. Habermas’ Anliegen ist einerseits eine harsche Kritik andiesen reduktionistischen Vorgehensweisen und die Aufdeckung ihrerWidersprüche und Grenzen; andererseits vollzieht er in minutiöserArbeit die Rekonstruktion des reflexiven und kritischen Potentials derVernunft und nimmt dabei das Projekt der Moderne aus der Sicht desParadigmas der Sprache wieder auf, um die von der menschlichenRationalität erreichten Entwicklungen zu erklären.

Für Habermas manifestiert sich die soziale Entwicklung nicht nurim Bereich der Produktivkräfte, sondern auch im Bereich der normati-ven Struktur und der Persönlichkeit. Dazu schreibt er :

„Wie Lernprozesse nicht nur in der Dimension des objektivierenden Denkens,sondern auch in der Dimension moralisch-praktischer Einsicht stattfinden, soschlägt sich die Rationalisierung des Handelns auch nicht nur in Produk-tivkräften nieder, sondern, über die Dynamik sozialer Bewegungen vermittelt,in Formen der sozialen Integration. Rationalitätsstrukturen verkörpern sichnicht nur in den Verstärkern zweckrationalen Handelns, also in Technologien,Strategien, Organisationen und Qualifikationen, sondern auch in den Vermit-tlungen kommunikativen Handelns, in den Identitätsformationen. Ich möchtesogar die These vertreten, daß die Entwicklung dieser normativen Strukturender Schrittmacher der sozialen Evolution ist, weil neue gesellschaftlicheOrganisationsprinzipien neue Formen der sozialen Integration bedeuten; und

27 Der Begriff Evolution hat bei Habermas eine ganz spezifische, von Piagets

(und Kohlbergs) Konzeption abgeleitete Bedeutung, der zufolge die sozialeEvolution auf dem Erfahrungsfortschritt der menschlichen Gattung beruht alsFolge des Erwerbs und der Perfektionierung kognitiver Strukturen oder Kom-petenzen. Dieser Prozeß geschieht nicht auf natürliche Weise, sondern ergibtsich aus dem Lernen – der assimilierenden Tätigkeit – und ermöglicht dieKonstitution der Rationalität. Habermas selbst behauptet, der genetischeStrukturalismus Piagets sei offenbar ein äußerst vielversprechendes Modellfür die Analyse der sozialen Evolution, der Entwicklung der Weltbilder, derGlaubens- und Moralsysteme sowie des Rechtssystems. Vgl. J. Habermas,Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, S. 127 f.

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diese ermöglichen ihrerseits erst die Implementierung vorhandener oder dieErzeugung neuer Produktivkräfte sowie die Steigerung gesellschaftlicherKomplexität.“ 28

Die Evolution der menschlichen Rationalität drückt sich in der Ent-wicklungsfähigkeit aus, welche die menschliche Spezies in ihrerstrukturellen Unterscheidung der Dimensionen von Kultur, Gesell-schaft und Persönlichkeit manifestiert. Je autonomer jede dieserStrukturen wird, desto mehr eigene Kriterien der Argumentation, derSelbstvergewisserung gewinnt sie. Diese Kriterien haben jedoch keineabsolute Gültigkeit, sondern sie sind fehlbar und bedürfen einer immerneuen Bestätigung. Daraus ergibt sich ihr kontingenter Charakter unddie Notwendigkeit ihrer fortgesetzten Rekonstruktion. Diese Kontin-genz der Formen des Wissens führt jedoch nicht zu dem Schluß, dasemanzipatorische und kreative Potential der menschlichen Vernunfthabe sich erschöpft; genausowenig veranlaßt es zu glauben, deshalbsei auch die Vernunft selber kontingent. Die Vernunft behält ihrentranszendentalen Charakter, wenn auch nicht so, wie ihn sich die Me-taphysik jeweils vorstellte, sondern als universale Kompetenz derSpezies, die dadurch ihre Welt verständlich machen, Wahrheiten auf-stellen, Konsense entwickeln und sich von reduktionistischen Verste-hensweisen und Praktiken emanzipieren kann. Die Fehlbarkeit derFormen des Wissens in der Habermasschen Sicht weist auf die Not-wendigkeit hin, andauernd neue Verstehensprozesse in Gang zu set-zen, was nur durch rationale Argumentation, also durch Reflexivitätermöglicht wird. Auf diese Weise können alle Kontingenzen über-wunden werden: auf der Ebene der Kultur, wenn die Traditionen flexi-bel und reflexiv werden, auf der Ebene der Gesellschaft durch denÜbergang von formalen Legitimationen zu Legitimationen durch Nor-men und auf der Ebene der Person mit der selbstgeleiteten Stabi-lisierung durch eine abstrakte Identität. Dafür greift die menschlicheSpezies auf das kommunikative Handeln zurück, denn nur wenn dieHandlungsträger eine performative Haltung gegenüber den verschie-denen Geltungsansprüchen einnehmen, wird die Konstruktion einesgültigen, rational begründeten Wissens möglich.

In seiner ausführlichen Arbeit zum Projekt der Moderne be-schränkt sich der deutsche Intellektuelle Habermas nicht darauf, dieReduktionismen aufzudecken, denen die Vernunft in letzter Zeit un-

28 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt

a.M. 1995, S. 35.

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terworfen wurde, und stattdessen ihr kritisches Potential hervorzu-heben, sondern es geht ihm darum, ein konsistentes und produktivesargumentatives Gerüst für die Entwicklung einer neuen kritischenPerspektive zu schaffen. Er unterstützt eine erweiterte Begründung derRationalität und vermeidet dabei, in Fundamentalismen oder Kontex-tualismen zu verfallen. Beim Fundamentalismus kritisiert er die Gren-zen der traditionellen und positivistischen philosophischen Sichtwei-sen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, der Vernunft einetranszendentale und absolute Macht beizulegen; stattdessen vertritt erein historisch-pragmatisches Verständnis von Rationalität, denn dieseschlägt sich von vorneherein in der Lebenswelt nieder. Vom Kon-textualismus distanziert er sich, indem er die Theorie der kommuni-kativen Rationalität entwickelt und dabei aufzeigt, daß diese Vor-aussetzungen in sich birgt, welche die von den Konventionen derLebenswelt und der systemischen Instanzen bestimmten Zwänge über-steigen. Daraus ergibt sich für ihn die Herausforderung, neue Wegefür das Verständnis der Rationalität in einem quasi-transzendentalenBezugspunkt zu suchen.

„Noch der Begriff der kommunikativen Vernunft wird vom Schatten einestranszendentalen Scheins begleitet. Weil die idealisierenden Voraussetzungenkommunikativen Handelns nicht zum Ideal eines künftigen Zustandes defini-tiven Verständigtseins hypostasiert werden dürfen, muß das Konzept hinrei-chend skeptisch angelegt werden. Eine Theorie, die uns die Erreichbarkeiteines Vernunftideals vorgaukelt, würde hinter das von Kant erreichte Argu-mentationsniveau zurückfallen; sie würde auch das materialistische Erbe derMetaphysikkritik verraten. Das Moment der Unbedingtheit, das in den Dis-kursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist keinAbsolutes, allenfalls ein zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes.[...] Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwankende Schale – abersie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern aufhoher See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen ‚bewältigt‘.“29

Habermas entwickelt seine Argumentation zugunsten eines nicht kon-tingenten Charakters der Vernunft mit Hilfe des Begriffs „quasi-tran-szendental“.30 Seiner These zufolge hat die Vernunft eine universa- 29 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 184 f.30 Habermas schafft diesen Begriff, um seine Vorstellung der Möglichkeitsbe-

dingungen für die Erkenntnis von der transzendentalen Sicht Apels zu unter-scheiden. Obwohl er den apriorischen Charakter dieser Bedingungen beibe-hält, können diese seiner Ansicht nach eines Tages Veränderungen erleben –dies im Widerspruch zu Apel, der diese Bedingungen als transzendental an-sieht. Auch wenn sie apriorisch sind, sind sie doch auch durch die Grund-

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listische, aber nicht fundamentalistische Dimension; sie ist imstande,einen universalen Konsens zu fördern, kann aber diese Universalitätnicht in endgültig unbestreitbarer Weise garantieren. Habermas ist derAnsicht, daß auf der Basis des von Apel entwickelten Prinzips des„performativen Widerspruchs“ vom Gedanken einer postmetaphysi-schen, quasi-transzendentalen Begründung ausgegangen werden kann.Dieses Prinzip ist einfach: um gültig zu sein, muß jedes Argument dieGültigkeit des Argumentationsprinzips voraussetzen, um sich nicht imeigenen Argumentieren zu widersprechen.31 Das Prinzip des performa-

bedingungen der menschlichen Gattung geprägt, insofern diese sich in derGeschichte selbst konstituiert. Vgl. Flavio Benno Siebeneichler, Jürgen Ha-bermas. Razão comunicativa e emancipação, Rio de Janeiro 1989, S. 79.

31 Der performative Widerspruch ist ein Zentralbegriff in der HabermasschenTheorie. Habermas anerkennt, daß seine Vorstellung auf dem von Apel ent-wickelten Prinzip basiert, das dieser wie folgt beschreibt: „Etwas, das ichnicht, ohne einen aktuellen Selbstwiderspruch zu begehen, bestreiten undzugleich nicht ohne formallogische petitio principii deduktiv begründen kann,gehört zu jenen transzendentalpragmatischen Voraussetzungen der Argumen-tation, die man immer schon anerkannt haben muß, wenn das Sprachspiel derArgumentation seinen Sinn behalten soll.“ (Zit. n. J. Habermas, Moralbewußt-sein und kommunikatives Handeln, S. 92) Eine detaillierte Beschreibungdieses Prinzips nimmt Xavier Herrero vor: „Die Begründung der transzen-dentalen Möglichkeitsbedingung kann nicht auf logisch-deduktive Weiseerfolgen, denn jede logisch-deduktive Begründung setzt ihrerseits wiederdiese transzendentale Möglichkeitsbedingung voraus. Der Versuch, objektivzu begründen, was diese Begründung selbst voraussetzt, bedeutet offensicht-lich, in einen Teufelskreis zu geraten. Die transzendentale Möglichkeits-bedingung ist immer in jedem Begründungsversuch präsent und kann deshalbnur durch eine strenge Selbstreflexion über die logisch-deduktive Begründungentdeckt und erklärt werden. Diese Erklärung durch strenge Selbstreflexion istdie letztgültige Begründung. Sie ermöglicht anzuerkennen und bewußt zumachen, was wir von je her in jeder objektiven Begründung implizit voraus-setzen. Als transzendentale Bedingung der Tatsache der transzendentalenBedingung jeglicher Interpretation oder logisch-deduktiven Begründung kannsie nicht ohne Selbstwiderspruch explizit negiert werden, denn sie ist not-wendigerweise in dieser Negation selbst vorhanden. Daraus ist abzuleiten, daßdas letztgültige Kriterium für eine echte transzendentale Möglichkeitsbe-dingung und für ihre Unterscheidung von anderen Widersprüchen im per-formativen Selbstwiderspruch liegt. Damit ist der Widerspruch gemeint, derentsteht, wenn man mit einer expliziten Aussage das zu negieren versucht,was in dieser Aussage selbst notwendigerweise vorausgesetzt ist, oder wennman mit einer expliziten (logisch-deduktiven) Begründung das zu negierenversucht, was in dieser Begründung notwendigerweise selbst vorausgesetztist. Das letztgültige Kriterium jeder Begründung ist deshalb [...] die Kohärenz

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tiven Selbstwiderspruchs ist das Testkriterium, das die Methode derquasi-transzendentalen philosophischen Begründung von jeder ande-ren empirischen Untersuchung fehlbarer Hypothesen unterscheidet.Als reflexiver Rückgriff auf die Geltungsbedingungen der Argu-mentation ist diese Begründungsnorm auf keine spezifische Situationbezogen und zieht sich auch nicht ins Unendliche zurück. Die letzt-gültige Begründung der pragmatischen Sprache beschränkt sich somitdarauf, sich der Voraussetzungen zu vergewissern, die nicht bestrittenwerden können, ohne in einen performativen Widerspruch zu ver-fallen. Zusammenfassend heißt das: Jeder, der in ein Gespräch eintritt,setzt dabei bereits die Gültigkeit des Argumentationsprinzips undseine Regeln voraus, die apriorisch universale Gültigkeit besitzen. DieArgumentationsfähigkeit ist somit die höchste Instanz der menschli-chen Vernunft, denn sie allein ermöglicht es, daß jeder Handlungs-träger der Kommunikation an einer öffentlichen Diskussion teil-nehmen und argumentativ Wahrheiten, Werte und Ausdrucksformenbegründen kann.

Aber die kommunikative Vernunft bei Habermas ist weder volleAutonomie noch reine Spontaneität; sie ist immer geschichtlich situ-iert und manifestiert sich damit in der Spannung zwischen den Un-bedingtheitsansprüchen und den Kontingenzen der faktischen Realität.So schreibt Habermas:

„Die kommunikative Vernunft ist weder wie die Spontaneität einer welt-konstituierenden, aber selbst weltlosen Subjektivität körperlos, noch beugt siedie für die absolute Selbstvermittlung eines historisierten Geistes in Anspruchgenommene Geschichte unter eine sich kreisförmig schließende Teleologie.Das transzendentale Gefälle zwischen intelligibler und erscheinender Weltmuß nicht mehr natur- und geschichtsphilosophisch überwunden werden; esmildert sich vielmehr zu einer in die Lebenswelt der kommunikativ Handeln-den selbst eingewanderten Spannung zwischen der Unbedingtheit der kontext-sprengenden, transzendierenden Geltungsansprüche einerseits und anderer-seits der Faktizität der kontextabhängigen und handlungsrelevanten Ja-/Nein-Stellungnahmen, die vor Ort soziale Tatsachen schaffen. Kants unversöhn-liche Welten, die objektive Welt der Erscheinung und die moralische Welt desnormenregulierten Handelns, verlieren ihre transzendentalontologischeWürde; zusammen mit der inneren Welt des empirischen Subjekts kehren siein der kommunikativen Alltagspraxis wieder als mehr oder weniger triviale

oder die pragmatische Konsistenz zwischen der aufgestellten Behauptung undihren im performativen Akt der Behauptung vorausgesetzten Möglichkeitsbe-dingungen.“ (Xavier Herrero, „O problema da fundamentação última“, in:Kritérion 91, 7/1995, S. 8 f.).

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Gemeinsamkeitsunterstellungen, die den kognitiven, regulativen oder expres-siven Sprachgebrauch ‚und damit die Referenz auf etwas in einer Welt‘ er-möglichen.“32

Die kommunikative Vernunft ist somit apriorisch in der Lebenswelt ineffektiver und idealisierter Form vorgegeben. Sie ist es, die Begriffeund Werte fehlbar und damit kritisierbar und rekonstruierbar werdenläßt. Die universale Struktur der für die Konstitution der Lebensweltverantwortlichen Kommunikation bietet sich selbst als kritischesInstrument zur Erfassung und Überwindung der bestehenden ge-schichtlichen Kontexte an, indem die in ihnen manifeste Irrationalitätaufgedeckt wird. Mit anderen Worten: Dieselben in der Lebensweltvorhandenen Verstehensstrukturen sind auch verantwortlich für dieMöglichkeit einer reflexiven Selbstkontrolle des Verstehensprozesses.

In diesem Verständnis der kommunikativen Rationalität sieht Ha-bermas die Möglichkeit begründet, das emanzipatorische Projekt derModerne beizubehalten. Diese Macht der kommunikativen Vernunftist aus drei in enger gegenseitiger Abhängigkeit stehenden Faktorenabgeleitet: der Universalität, der Einheit und der Reflexivität. Alsverallgemeinernde Kraft stellt die Universalität die Dimension dar, diezur Überwindung der kontextualistischen, relativistischen, partiku-laren Wirklichkeitskonzeptionen führt und ihnen das Kriterium derGanzheit für die Herstellung eines gültigen Denkens gegenüberstellt.Die Einheit bildet die Untrennbarkeit der verschiedenen Instanzen derVernunft, die zwar jeweils besondere Charakteristiken aufweisen kön-nen, aber immer in einer Beziehung der gegenseitigen Beeinflussungstehen. Theoretische, praktische und sinnliche Vernunft haben somitzwar spezifische Eigenschaften, bleiben jedoch grundlegend vereintals kommunikative Rationalität. Die Reflexivität ist schließlich daseigentliche Wesen der Vernunft, ihr Bedürfnis nach Selbstvergewis-serung und Gültigkeit. Die Negierung der Reflexivität bedeutet eineNegierung der Vernunft selbst.

Habermas geht von dieser erweiterten Vorstellung von Vernunftaus, wobei sowohl die transzendentalistische als auch die szientisti-sche Sicht der Vernunft durch die Vorstellung einer kommunikativenVernunft ersetzt wird. Für Habermas manifestiert sich die Vernunftgeschichtlich in sprachlicher Form, insofern die Sprache der Raum ist,in dem sich die Welt ausdrücken kann; sie ist die Instanz, wo die Weltverständlich wird. Mit der sprachlich-pragmatischen Wende über- 32 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 182.

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nimmt die Sprache ihre eigentliche Rolle als Begründerin allen undjeglichen menschlichen Wissens. Man kann also behaupten, es seiunmöglich, die Welt ohne Sprache zu verstehen. Die Sprache ist dastelos, durch die die Welt verständlich wird. Mit anderen Worten: DieKonstruktion der verschiedenen Formen des Wissens hängt von denformalen Bedingungen des kommunikativen Handelns ab. Indem siekommunikativ ist, ist die Vernunft die ungehinderte Instanz für dasVerstehen, da die Verwirklichung des Verstehens immer wieder neueinen gemeinsamen Interpretationsprozeß und intersubjektive Aner-kennung erfordert.

Das kommunikative Handeln ist andererseits vergewissernd undreflexiv, denn es setzt das Verstehen dauernd einem Argumentations-prozeß aus, in dem als einziges Gültigkeitskriterium das beste Argu-ment gelten darf. Wenn sich die Subjekte in der argumentativenAuseinandersetzung befinden, müssen sie ihre Argumente rationalabstützen. Damit wird die ganze Struktur deutlich, wie die Formen desWissens hervorgebracht werden, und die Gründe für die Annehm-barkeit der Argumente werden explizit.

Schließlich ist zu betonen, daß sich das Habermassche Emanzipa-tionsprojekt nicht auf die Schaffung eines emanzipierten „Zustandes“bezieht, sondern auf einen Prozeß, in dem die notwendigen Bedin-gungen für das allgemeine Verstehen geschaffen werden, also auf dieEntwicklung symmetrischer Bedingungen für die gegenseitige undfreie Anerkennung der Subjekte, die miteinander kommunikativhandeln.

4. Abschluß: Universale Pragmatik, Geltung und emanzipatorische Erziehung bzw. Pädagogik

Im rekonstruktiven und kritischen Charakter der Wissensformen wirdunserer Ansicht nach die Produktivität der Habermasschen Theorie fürdie Erziehung bzw. Pädagogik deutlich. Insofern Habermas die Gül-tigkeit der Normen und Erkenntnisse in der aktiven/performativenBeteiligung der Betroffenen verankert, stellt er die Autonomie desHandelns und Denkens der in Interaktion stehenden Subjekte wiederher. Begriffe und Normen sind Ergebnis der getroffenen Optionen,ausgehend von der auf Argumenten basierenden Begründung, unterKenntnisnahme und Zustimmung aller Beteiligten, ohne jegliche Un-

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terscheidung. Die Rationalität ist damit eine Errungenschaft der gan-zen menschlichen Spezies und nicht Frucht der Begabung lediglicheiniger Spezialisten. Das bedeutet, daß alle Individuen als Trägerdieses Potentials auf diese Rationalität in einem fortschreitenden undkollektiven Lernprozeß zurückgreifen können. Das Potential der Ra-tionalität ist noch nicht ausgeschöpft, woraus wir entnehmen können,daß die Geschichte weiterhin in den Händen der Menschen liegt, auchwenn sie voller Kontingenzen ist und weder vorbestimmte Inhaltenoch ebensolche Ziele besitzt. Die Menschheit besitzt die Mittel zuihrer Emanzipation, aber diese hängt von rational begründeten Optio-nen ab.

Das Befreiungspotential der Rationalität, wie es im kommunika-tiven Handeln enthalten ist, ist ein Prozeß, der sich in der Mensch-heitsgeschichte als Kraft erweist, die alle Versuche zum Reduktionis-mus und jegliche verzerrte Kommunikation überwindet. Diese Krafthandelt ganz konkret im geschichtlichen Prozeß, im Leben vonIndividuen und Gruppen; sie fördert die zunehmende Rationalisierungdes menschlichen Handelns und die Differenzierung der symbolischenStruktur der Welt. Die kommunikative Rationalität kann somit vonargumentierenden Subjekten gefunden und rekonstruiert werden, dieversuchen, gute Gründe für die Würdigung ihrer Erlebnisse, ihresWissens und ihres moralischen Handelns darzulegen.

Habermas glaubt, daß die menschliche Emanzipation von derwachsenden Reflexivität der bestehenden Traditionen und Sichtweisender Welt abhängt; nur die permanente Rekonstruktion der Werte undPrinzipien der Tradition durch öffentliche Argumentationsprozessewird Werte und Normen hervorbringen, die immer stärker univer-salisiert werden können. So wird der Fortschritt der Koordinations-prozesse der verschiedenen Gesellschaftsinstanzen mit Hilfe der durchdie Teilnehmer selbst mit ihren Argumenten geschaffenen Konsensegefördert. Habermas’ Konzeption basiert auf einer Rationalität, bei derder kollektive Prozeß der Suche nach Wahrheit und Werten im Vor-dergrund steht, welcher wiederum auf der Möglichkeit eines idealen,wenn auch immer provisorischen und neuen Rekonstruktionen unter-worfenen Konsenses beruht. Der Konsens weist als Gültigkeitskri-terium für das menschliche Denken und Handeln auf die Konstruktionin einem Prozeß hin, der durch den Einsatz und die verantwortlicheBeteiligung der in Interaktion stehenden Subjekte in Gang gehaltenwird. Die kommunikative Kompetenz der Subjekte in Interaktionenläßt laut Habermas den Schluß zu, daß die Menschheit ihren Weg der

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Befreiung durch Vervollkommnung ihres Willens in einem kollek-tiven Lernprozeß fortsetzen kann. Die Entwicklung des kommunika-tiven Potentials ist somit immer mit einer politisch-pädagogischenDimension verbunden. Daraus ergibt sich, daß das Subjekt nicht nurfähig ist, rational durch Argumente sein Handeln und Denken zubegründen, sondern auch für seine Taten die Verantwortung zu über-nehmen.

Die menschliche Emanzipation ist nicht von irgendeiner Form vontranszendentalem oder technisch-instrumentalem Determinismus ab-hängig. Sie kann sich nur verwirklichen, insofern sie an die demokra-tische Willensbildung gebunden ist, die durch den öffentlichen Be-reich und durch Befreiungsprozesse der Diskurse vermittelt wird. DerEinsatz der kritischen Wissenschaften und der Bildung und Erziehungfür Befreiung ist deshalb gegen die aktuelle Realität gerichtet, diedurch die Vorherrschaft der technisch-wissenschaftlichen Rationalitätgeprägt ist und in der sich der Szientismus als vollkommenste Mani-festation der modernen Ideologie des späten Kapitalismus präsentiert.Indem die Wissenschaft als einzige mit Sinn verbundene Aktivität unddas Ideal der wissenschaftlichen Methode als sicherer Weg zum wah-ren Wissen vertreten wird, disqualifiziert der Szientismus die übrigenBereiche des Wissens und bezeichnet jegliche nicht-technische Formdes Handelns und Denkens als sinnlos. Die Kritik muß sich dieserreduktionistischen Ideologie über die menschliche Rationalität durcheine Zerstörung der objektivistischen Illusion entgegenstellen und zei-gen, daß jedes wissenschaftliche Experiment genau wie jeder rationaleProzeß von jeher bereits auf einen vorgeprägten intersubjektivenVerständnis- und Interpretationshorizont bezogen ist, der sich dergemeinsamen Sprache verdankt, wie sie in der Lebenswelt vorzu-finden ist. Außerdem handelt die Menschheit nicht nur aus techni-schen, sondern auch aus praktischen und emanzipatorischen Interessenheraus. Die Wiedereinführung der globalisierten Sicht der leitendenInteressen des menschlichen Handelns und Denkens ist von grund-legender Bedeutung für die Entwicklung einer Ausbildung, die aufganzheitliche Bildung von Schülern und Lehrern ausgerichtet ist,damit die Schule zu einer pädagogischen kommunikativen Gemein-schaft werden kann. Die Schule soll deshalb die Reflexion über dieVoraussetzungen und Interessen fördern, die den von ihr entwickeltenFormen des Wissens und der Praxis zugrunde liegen, und damit er-möglichen, daß die ganze Schulgemeinschaft zu einer Organisationwird, die ihr wissenschaftliches, ethisches und ästhetisches Handeln in

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der kommunikativen Praxis begründet. Die Freiheit hängt von derVerständlichkeit und von der allein aufgrund rationaler Argumentegefällten kollektiven Entscheidung ab, und der emanzipatorische Pro-zeß der Menschheit findet in der täglichen Kommunikationspraxis, inder ohne Zwänge ausgeübten Suche nach Verstehen statt.

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Hans-Georg Flickinger

Pädagogik und HermeneutikEine Revision der aufklärerischen Vernunft

Die Frage danach, ob die Ideale der Aufklärungstradition – also u. a.Autonomie menschlicher Vernunft, Objektivität des Wissens, indivi-duelle Freiheit – heute noch für die Bearbeitung der an die Pädagogikgestellten Herausforderungen als verbindliche Orientierungen anzuer-kennen sind, bildet den Horizont meiner folgenden Überlegungen. Ichnähere mich dem von mir im Titel umschriebenen Thema deshalbüber eine Vorbemerkung, die auf den ersten Blick abzuschweifenscheint. Die Vorbemerkung soll jedoch nachvollziehen helfen, warumsich mir Überlegungen zur Hermeneutik aufdrängten, wo es darumgeht, sich über die Aktualität des Aufklärungsgedankens für die ge-genwärtigen Debatten in den Erziehungswissenschaften zu verstän-digen.

I. Vorbemerkung

Die beiden vergangenen Jahrzehnte werden von einer Auseinander-setzung geprägt, die in Teilen den Charakter von Glaubenskämpfenanzunehmen drohte und immer noch schwelt. Man streitet darüber, obdas Projekt der Moderne schon gescheitert und vom Pluralismus post-moderner Regionalismen der Vernunft abzulösen sei oder ob diemenschliche Vernunft nach wie vor die letztgültige Instanz der Recht-fertigung unseres Wissens und Handelns bilden solle. Ein wichtigesMotiv für diesen Streit ist die Erfahrung, derzufolge die Herrschaft derVernunftautonomie hinter dem Rücken ihrer unbestreitbaren Erfolgegefährliche Destruktivkräfte freigesetzt hat. Die Verdinglichung desMenschen im Namen instrumenteller Rationalität oder die ökolo-gischen Krisen als Folge der Naturbeherrschung durch den Menschensind nur zwei, allerdings sinnfällige Beispiele. Der Streit läßt sich aufdie Vision einer Alternative reduzieren. In Frage steht, ob der Ratio-nalitätsbegriff der Aufklärung verbraucht ist und Neuorientierungenerzwingt, oder ob er noch nicht voll entfaltet wurde, an ihm also erst

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noch weiterzuarbeiten sei. So wenden sich Verteidiger der Aufklä-rungstradition – Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer, Karl Otto Apelu. a. – gegen die Phalanx der Theoretiker der Postmoderne mit demArgument, auf die universelle Geltung vernunftbegründeten Wissensund Handelns dürfe nicht verzichtet werden, soll ein Rückfall in vor-rationale, mythenanfällige Begründungskonzepte vermieden werden.Umgekehrt können die Vertreter der Postmoderne darauf verweisen,es gehe ihnen ja gerade darum, die irrationalen Implikationen des mo-dernen Rationalitätsbegriffs aufzugreifen und gegen sie anzukämpfen.

Spätestens seit Kants Metaphysikkritik, mit der die Metaphysik janicht verabschiedet, sondern auf ihren wissenschaftlich legitimen Ge-brauch eingegrenzt wurde, gehört der Weg immanenter Kritik zumanerkannten philosophischen Argumentationsstil. Nur im Ernstneh-men der Argumente des Anderen kann ich mich über meine eigenePosition aufklären. Weshalb schon Lessing denjenigen verachtete,„der die beste, edelste Wahrheit als Vorurteil, mit Verschreiung seinerGegner, auf alltägliche Weise verteidigt.“ Aufklärung heißt nicht inerster Linie, einen Sachverhalt aufzuklären, sondern sich über dieeigene Person zu verständigen. Ein solches Verfahren verhindert bloßideologisch begründbare Positionskämpfe. Man müsse, meinte Hegel,„in die Kraft des Gegners einsteigen, um ihn bekämpfen zu können“.

Nimmt man diese Hinweise ernst, dann ist meine Option hinsicht-lich des hier zu verhandelnden Themas vorgezeichnet. Statt den post-modernen Propheten zu folgen, die der Vernunft nicht zutrauen, auchderen Kehrseite, d. h. das Vor- und Irrationale als ihr zugehörigeMomente bedenken zu können, will ich zunächst diejenigen Impulseausreizen, die die Idee einer aufgeklärten Vernunft hervortrieben. Dasgilt insbesondere dort, wo der moderne Rationalitätsbegriff diese Im-pulse nicht mehr erinnert, weil er zu bloß instrumenteller Vernunftregredierte. Ich schlage also vor, diejenigen Momente des Aufklä-rungsgedankens sichtbar zu machen, über die dessen Vernunftbegriffzwar nicht verfügen kann, die ihn aber erst ermöglichten. Vernunftwird durch etwas in Gang gesetzt, was nicht selbst schon Vernunft ist.Unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet, bewege ich mich alsoauf den Spuren derjenigen zeitgenössischen Verteidiger des Aufklä-rungsideals, die vor allem auf die Dialektik der Aufklärung (Hork-heimer/Adorno) zurückgreifen. Auch ich möchte gegen die vorzeitigeVerabschiedung des aufgeklärten Vernunftbegriffs dessen selbstkriti-sches Potential aktivieren. Inhaltlich gehe ich aber einen anderen Wegals diejenigen, die – wie Habermas, Apel u. a. – aus der Rationalitäts-

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vorstellung der Aufklärung die Forderung nach einer – transzendentalbegründeten – kommunikativen Vernunft zu begründen versuchen. Esleuchtet zwar ein, gegen die vorherrschende instrumentelle Vernunfteinen kritischen Vernunftbegriff aufzubieten. Dieser muß aber auchselbstkritisch sich über seine Herkunft und seinen Geltungsanspruchverständigen. Genau dies ist in der Idee einer kommunikativen Ver-nunft nicht gewährleistet, weil sie den Geltungsanspruch der Vernunftselbst schon voraussetzt. Ihr geht es um die Begründung spezifischerBedingungen, die die Umsetzung der Vernunft garantierten. Nicht the-matisiert werden kann aber die vor-rationale Erfahrung, die die Bewe-gung der Reflexion motiviert und in Gang setzt. Vor-rational ist sie,weil sie zwar nicht vorab kalkulierbar und begründbar, aber doch zurGenese vernünftiger Reflexion zu rechnen ist. Nicht zuletzt KantsÜberlegungen hinsichtlich der „Beantwortung der Frage: Was ist Auf-klärung?“ (1783) spielen auf solche Voraussetzungen an. Es gehöreMut dazu, mündig zu sein und „von seiner Vernunft in allen Stückenöffentlichen Gebrauch zu machen“, so lesen wir dort. Beide Bemer-kungen verweisen auf einen gemeinsamen Kern, den aufzudecken diedeutsche Sprache erleichtert. „Mündigsein“ ebenso wie „Entmündi-gung“ beziehen sich auf die Fähigkeit, den Mund, also die Spracheund den Dialog zu nutzen. „Entmündigung“ heißt, nicht mehr ernstnehmen zu müssen, was der sagt, der entmündigt wurde; der Betrof-fene braucht deshalb einen „Vor-mund“. Als Mündiger hingegen mußich selbst vertreten, was ich gesagt habe; ich muß für die Folgen ein-stehen, bin also auch dem Anderen gegenüber „ver-antwort-lich“,habe die Verpflichtung übernommen, ihm zu antworten. Damit geheich das Risiko ein, meine Überzeugung oder Haltung der Kritik undmöglicherweise Korrektur durch Andere auszusetzen. Solange dies imBereich des privaten Gesprächs geschieht, ist dieses Risiko handhab-bar, weil der Gesprächsrahmen und die -teilnehmer überschaubar sind.Wirkliches Risiko des „Mündigseins“ erfahren wir erst im öffentli-chen Raum, wo die Vielfalt fremder Überzeugungen nicht absehbarund der Raum für die Auseinandersetzung offen ist. Vernunft imKantischen Verständnis der Aufklärung konstituiert sich erst im öf-fentlichen Dialog, im öffentlichen Raum, weil nur dort die Teilnehmerdazu gezwungen sind, radikale Kritik aufzunehmen und sich selbstgegenüber kritikfähig zu werden. Wo die Vernunft sich – wie im Fort-schrittsmythos der Moderne geschehen – als bloß instrumentelle miß-brauchen läßt, d. h. für andere, ihr fremde Zwecke verfügbar ist, hatsie ihren Konstitutionsprozeß im öffentlichen Dialog längst vergessen.

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Was wir im Rückgriff auf Kants Argumentation erinnern, hat Fol-gen für mein weiteres Vorgehen. Den Aufklärungsgedanken gegen dieinstrumentell verkürzte Vernunft geltend zu machen heißt, die inter-subjektiven, vor-rationalen Erfahrungen, die diesen Gedanken tragen,wieder in dessen Vernunftbegriff einzubilden. Der Vernunftidee derAufklärung liegt eine dialogische, kommunikative Erfahrung voraus,um die sie die instrumentelle Vernunft betrog. Was dies für die De-batte über Pädagogik bedeutet, können wir aus Kants Einleitung zurAbhandlung über Pädagogik erfahren.1 Dort wird auch der Anknüp-fungspunkt liegen, der mich zur dialogphilosophischen Erweiterungdes Vernunftgedankens in der Hermeneutik veranlaßte und den ich fürdie Pädagogik fruchtbar zu machen versuche.

II. Zu Kants Bemerkungen über Pädagogik

Bekanntlich sind Kants schriftliche Äußerungen zur Pädagogik ausinstitutionellen Gründen, nicht aber von seinem Wunsch nach einersystematischen Bearbeitung dieses Arbeitsfeldes veranlaßt worden.Seine „hingeworfenen Bemerkungen“, wie ihr Herausgeber Rink sienannte, fördern die Gefahr, einzelne Aspekte und Begriffe herauszu-greifen und für eigene Argumentationen des Lesers zu instrumen-talisieren. So haben Kants häufige Verweise auf die Einhaltung derDisziplin im Erziehungsprozeß, d. h. auf die Überwindung der ur-sprünglichen Roh- und Wildheit der menschlichen Natur, ein einseitigkonservatives Verständnis ihres Autors in Sachen Erziehung nahege-legt. Kant als Zuchtmeister der Nation – dieses Mißverständnis istoffenbar nicht auszurotten. Es verdankt sich vor allem zwei Umstän-den. Wer heute Kants pädagogisches „Konzept“ liest, hat die Erfah-rungen der anti-autoritären Erziehung im Rücken; eine Geschichte, diein ihrer radikalen Zuspitzung Autorität jedweden Typs ablehnte, ob-wohl diese Bewegung selbst nur gegen die institutionell verordneteAutorität angetreten war, in der sachlich begründete Autorität wir-kungslos bleiben müßte. Wie gleich zu sehen sein wird, lehnt Kantausschließlich institutionell begründete Autoritätsstrukturen ab, umsachlicher Autorität zur Geltung zu verhelfen. Das zweite Motiv fürdas konservative Mißverständnis ist bei Kant selbst zu finden. Das,was ich Kants Angst vor dem Chaos nenne, ist nur einsehbar, wenn 1 Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. IX, hier zit. als PÄ.

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man seine Idee vom Fortschreiten der Vernunft ernst nimmt. Denn mitseiner Abwehr jeglicher ungeordneter sozialer Struktur will Kant umjeden Preis den Rückfall hinter den schon erreichten Stand rationalerOrdnung verhindern. Das gilt in Kants Augen auch dort, wo dieseOrdnung grundlegende Mängel aufweist. Am Fall seiner Zurückwei-sung eines politischen Widerstandsrecht gegen auch ungesetzlichesstaatliches Handeln läßt sich das studieren. Für unseren Philosophenist der Gedanke nicht beherrschter menschlicher Wildheit unvereinbarmit jeder Vorstellung von vernünftiger Ordnung. Deshalb Disziplinund Zucht; deshalb auch Kants Kritik an Rousseaus Konzeptionmenschlicher Freiheit.

Man kann das genannte Mißverständnis vermeiden, wenn man sichauf die für Kants pädagogische Überlegungen zentralen Gesichts-punkte konzentriert und einzusehen versucht, wie sehr sie in seinerpraktischer Philosophie vorgezeichnet sind. Die Erziehung müsse„alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßigentwickeln und so die ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmungführen“ (PÄ 446); „die Menschheit“, so Kants Überzeugung, sei „ausihren Keimen zu entfalten und zu machen, daß der Mensch seineBestimmung erreiche“ (PÄ 445). Mit der Analogie zum Wachstumder Pflanze aus dem Keim verbinden sich Assoziationen zur klassisch-griechischen Bildungskonzeption; denn diese verweist auf den künst-lerischen Formungsprozeß, der aus dem Material, mit dem gearbeitetwird, dem diesen einwohnenden Formen zur äußeren Gestalt verhilft.Kant sieht in den zu entwickelnden Naturanlagen des Menschen einPotential, das zur Realisierung drängt. Eine ‚dynamis‘ also, die‚enérgeia‘ werden, d. h. Gestalt annehmen will. Daran läßt sich schonerkennen, daß mit den Naturanlagen des Menschen hier nicht die die-sen im ungebildeten Zustand beherrschenden Naturrohheiten und -im-pulse gemeint sind, sondern jene, die sich als Anlagen zur Vernunftbezeichnen lassen. Der Verwirklichung dieser Vernunftanlage, der nurdem Menschen zukommenden Fähigkeit zur Gestaltung, hat der Er-zieher unterstützend zur Seite zu stehen, um möglichen Gefahren zusteuern. Hier scheint durch, was die Kunst der Maieutik, die der Heb-amme, ausmacht: nicht Beherrschung und Organisation des Prozesses,sondern das helfende, den Naturprozeß unterstützende Fördern derErkenntnis und Erfahrung dessen, der diesen Prozeß durchmacht.2

2 Vgl. Gernot Böhme, in: Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1980,

S. 27 ff.

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Hier den richtigen Weg, genauer: das richtige Maß zwischen Eingriffund Gewährenlassen zu finden, ist das Geheimnis. Und dieses gilt vorallem für diejenige Erziehung, der es um die „proportionierliche undzweckmäßige“ Entwicklung „der Naturanlagen des Menschen“ geht.Im Begriff der Proportion, dem angemessenen Verhältnis, ist dieserGedanke gegenwärtig. Deshalb stellt Kant die Erziehung als eineKunst vor, die zu den schwersten „Erfindungen der Menschen“ zuzählen sei: „die der Regierungs- und die der Erziehungskunst näm-lich“ (PÄ 446).

Ich will hier nicht verfolgen, inwieweit Kant mit dem Begriff derErziehungs-Kunst an die Tradition der ‚techné‘ und ‚poiesis‘-Begriffeanknüpfen wollte und ob ihn die darin gelegene Differenz zwischenKunstfertigkeit und hervorbringendem Gestalten im Rahmen seinerÜberlegungen zur Pädagogik beschäftigte. Daß er die sokratischeMethode für die Ausbildung der Vernunftanlagen des Menschen be-sonders geeignet hält, wird ausdrücklich hervorgehoben: „Bei derAusbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren“ (PÄ 477).Der Sache nach finden wir die Spuren der platonisch-sokratischenUnterscheidung von techné und poiesis ohnehin in Kants Charakteri-sierung der Erziehungskunst wieder, wenn er die ‚mechanische‘ vonder ‚judiciösen‘ abhebt und behauptet: „Der Ursprung sowohl als derFortgang dieser Kunst ist entweder mechanisch, ohne Plan nach gege-benen Umständen geordnet, oder judiciös“ (PÄ 447). Einer Erzie-hungskunst, die „bloß mechanisch entspringt“, ist der Vorwurf zumachen, sie fördere nur die Nachahmung, die ‚imitatio‘ von Vorbil-dern und passe den Erziehungsprozeß an die Bedingungen an, dieihm – sei es institutionell, konzeptionell oder als Verfahren – voraus-gesetzt seien. Sie verfehle damit die Aufgabe, das Potential der zuErziehenden freizusetzen und ihm Raum für seine Entfaltung zuschaffen.

Dem heutigen Leser dieser Kantischen Ausführungen fallen Erfah-rungen aus dem pädagogischen Alltag ein, die einem solchen, vonKant diskreditierten „mechanischen“ Arsenal entsprechen. Lernzielbe-stimmung, Curriculum-Forschung, quantifizierende Kalküle bei derEvaluation des Erziehungsprozesses oder dessen bürokratische Sach-zwänge werden im Blick darauf legitimiert, sozial-ökonomischen Er-wartungen und entsprechenden gesetzlichen Vorgaben entsprechen zumüssen. Dem Prozeß ist vorgegeben, was sich als Resultat allererstherausbilden sollte. Anders gesagt: Instrumentelle Beherrschung desProzesses weiß immer schon, was an dessen Ende zustande gekom-

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men sein wird. So ist die Logik eines Curriculums an das vorabformulierte idealtypische Leitbild so gekoppelt, daß sich aus diesemder richtige Prozeß deduzieren läßt. Was der Ausgebildete wissen undkönnen müsse, ist Voraussetzung, nicht Resultat der pädagogischenAnstrengung. Das Individuum wird, statt sich zu bilden, von anderengeformt. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich der Verbürokratisierungdes Bildungsprozesses. Mit ihr wird zwar einerseits Chancengleichheitund Verläßlichkeit der Verfahren gesichert, dies aber auf Kosten jenerproduktiven, weil offene Gestaltungsspielräume ermöglichenden Irri-tationen, Konflikte und Kritik, die den Geltungsanspruch des Beste-henden in Frage stellen. Welcher Lehrende erlaubt sich noch dieFreiheit, seine intellektuelle Identität preiszugeben, und welcher Stu-dierende, den eigenen Standpunkt in der Auseinandersetzung mitsachlicher Autorität zu entdecken?

Kants Forderung, „die Erziehungskunst oder Pädagogik muß alsojudiciös werden, wenn sie die menschliche Natur so entwickeln will,daß sie ihre Bestimmung erreiche“ (PÄ 447), hebt auf die Über-windung des jeweiligen status quo ab. Paradox formuliert könnte mansagen, Lehrende und Eltern seien nur dann gute Vor-bilder, wenn siedie zu Erziehenden gerade nicht zur Nachahmung des Vorbildes ver-pflichten, sondern dieses dazu dient, sich an ihm abarbeiten zumüssen. Nur auf diesem Weg wird jenes Potential freigesetzt, dessenEntfaltung anfangs nicht Vorhersehbares hervorbringt und damit indie Zukunft weist. Hier zeichnet sich ab, daß Kant den Erziehungs-und Bildungsprozeß in die Nähe des Experimentierens rückt, einessozialen Probehandelns, dessen Ausgang ungewiß ist und gerade des-halb von den Beteiligten verantwortliches Handeln verlangt. JudiciöseErziehungskunst ist zukunftsorientiertem Experimentieren vergleich-bar, das den Beteiligten aufgibt, sich immer wieder selbst innerhalbdieses Prozesses zu verorten. Nur wenn dieser reflexive, d. h. ver-nunftgenerierende Prozeß gelingt – so läßt sich Kant interpretieren –,überschreiten wir die Grenzen bloß instrumenteller (Un-)Vernunft.Voraussetzung für das Gelingen ist, Fragen ernst zu nehmen, sichihnen gegenüber ver-antwortlich zu verhalten. Und das setzt das Ge-spräch, den Dialog in Gang. Die „Bestimmung des Menschen“ zusuchen ist deshalb, so Kant, eine moralische Aufgabe.

Kant selbst hat in seinen pädagogischen Überlegungen mehr überkonkrete Hinweise beim Umgang Erwachsener mit Kindern nachge-dacht als systematische Gesichtspunkte auszuarbeiten. Letztere wer-den zwar eingefordert, aber nicht argumentativ gerechtfertigt. Daß es

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um die Ausbildung des menschlichen Vernunftvermögens geht, istdem pädagogischen Prozeß aufgegeben; wie aber das vor-rationaleStadium in vernünftige Einsicht überführt werden soll, d. h. wieBildung auf die Genese der Vernunft angewiesen ist, darüber findenwir bei Kant keine befriedigende Antwort. Wir müssen sie dort su-chen, wo das Verhältnis von Genese und Geltung der Vernunft Themaist, wo also ihre Genese selbst als Moment der Vernunft anerkanntwird: im Prozeß des Verstehens, der sich aus einer vorgängigen onto-logischen Erfahrung speist.

III. Dialogphilosophische Begründung der Vernunft

Angesichts der Auseinandersetzungen über die erkenntnistheoretischeEinschätzung der philosophischen Hermeneutik wird immer wenigererinnert, daß ihr Kern, ja man könnte sogar sagen: ihr ursprünglichesMotiv kein epistemologisches, sondern ein praktisch-moralisches war.Dies gilt zumindest für Hans Georg Gadamer, dessen Widerstandgegen den einseitig dominierenden Gestus instrumenteller Vernunftsich in der Rückerinnerung an die im sokratischen Dialog wirksameethische Haltung formulierte. Zwar kann es keinen Zweifel darangeben, daß eine solche Bezugnahme auch Auswirkungen auf erkennt-nistheoretische Antworten hat; aber das primäre Interesse Gadamerslag seit seiner Beschäftigung mit der griechischen Philosophie in derFrage, was die modernen Wissenschaften aus der dialektischen EthikPlatons, die eine dialogische ist, zurückgewinnen könnten, ja müßten.Es läßt sich absehen, daß es um die Korrektur einer subjektzentriertenund d. h. auf Herrschaft abzielenden Wissenschaft hin zu einer imDialog sich konstituierenden Vernunft geht. Die HabilitationsschriftGadamers über Platons dialektische Ethik zeugt davon.3

Gegen den inflationären Gebrauch des Dialektik-Begriffs ist esratsam, wieder auf dessen ursprüngliche, am sprachlichen Ausdruckanknüpfende Konnotation aufmerksam zu machen. Es geht zunächstdarum, einen Sachverhalt von zwei Seiten her zu lesen und damitunterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich derselben Sache ins Spiel zubringen. So etwa läßt sich der Wortsinn eingrenzen. Die unterschied-

3 Hans Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 5, Tübingen 1985, S. 3; hier

zit. als PdL.

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lichen Auffassungen treffen dabei so aufeinander, daß jede jeweilsetwas an der Sache sichtbar macht, was der anderen entgangen istbzw. sich ihr verbarg. Dialektik hat offenbar damit zu tun, demunmittelbaren Zugriff Verborgenes thematisieren zu können. DerErfolg dieses Vorgehens hängt dabei von der Erfüllung mindestenszweier Bedingungen ab. Die Beteiligten müssen – erstens – bereitsein, die Gründe offenzulegen, die sie zur Rechtfertigung ihrer Auf-fassung beibringen können. Diese Gründe werden beurteilt. Hält dieRechtfertigung der Beurteilung stand, so ist damit ein Schritt zurEinsicht in die Wahrheit, also zu deren Herausbildung getan. WahresWissen ist – zweitens – nicht verfügbar, sondern immer neu zu bil-dendes. Wissen sei zur Zeit Platons – so Gadamer – „nicht mehr alsweise Verkündigung der Wahrheit möglich“, sondern müsse sich „inder dialogischen Verständigung, also in der grenzenlosen Bereitschaftzur Rechtfertigung und Begründung des Gesagten bewähren“(PdL 39). Statt einen unvordenklichen Wahrheitsanspruch zu setzen,wie dies etwa beim Orakelspruch der Götter der Fall war, der nur nochentschlüsselt wurde, initiiert die dialektische Bewegung die Einsichtin eine Wahrheit, die sich in dieser Bewegung selbst erst herstellt undüber die keiner der Beteiligten im voraus verfügt. Insofern ist dieseErfahrung nicht selbst aus Vernunft herzuleiten, sondern hängt vonder Bereitschaft der Beteiligten ab, sich wechselseitig ernst zu neh-men. Der Möglichkeit der Vernunfteinsicht liegt also eine ethischeHaltung der Beteiligten zugrunde. Ohne diese vor-rationale Haltungist der Weg zum wahren Wissen versperrt.

Die beiden genannten Bedingungen für das Gelingen des dialekti-schen Vorgehens lassen erkennen, daß wir auf letztgültiges Wissenwerden verzichten müssen. So zustande gekommene Einsicht bleibtimmer vorläufig, Wahrheitssuche ein nicht endender Prozeß. Wirhaben keine Definitionsmacht hinsichtlich dessen, was Wahrheit ist.Der herrische Gestus instrumenteller Vernunft wird einer Wahrheits-suche geopfert, in deren Verlauf die Beteiligten sich über ihre eigenenpraktisch-ethischen Haltungen Rechenschaft abgeben lernen oder, an-ders formuliert: Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen.Der Begriff der ‚areté‘ ist von dieser intimen Verbindung von Wissenund verantwortlichem Handeln geprägt. Keines der beiden Momentekann ohne das jeweils andere thematisiert werden. Wie anders dage-gen das moderne Verständnis instrumenteller Vernunft! Hier stelltsich die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft und Technikallenfalls als Folgeproblem ihrer Anwendung. Der das Wissen gene-

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rierende Prozeß bleibt dem ethischen Problem gegenüber gleichgültig,von ihm unberührt. Mit dem Rückgriff auf die Grundmotive der philo-sophischen Hermeneutik in Platons dialektischer Ethik wird dieseGleichgültigkeit denunziert. Mit ihm gewinnen wir die Einsicht in dieethische Grundlegung der Vernunft zurück, ohne die Vernunft nichtsein kann, was sie zu sein beansprucht.

Ich kann in dieser kurzen Skizze, die ein Forschungsprogrammumreißt, nur einige Argumentationslinien angeben, von denen her diehermeneutische Kritik am aufklärerischen, aber instrumentell verkürz-ten Vernunftbegriff gerechtfertigt wird. Hier sind vor allem die Vorur-teilsstruktur des Verstehens, die Priorität des Fragens und die Ge-schichtlichkeit des Wissens zu nennen.

Das Vorurteil der Aufklärung, „das ihr Wissen trägt und be-stimmt“, sei, so Gadamer, „das Vorurteil gegen die Vorurteile über-haupt und die Entmachtung der Überlieferung“.4 Wir sind gewöhnt,von anderen und von uns selbst „vorurteilsfreies Urteilen“ in wis-senschaftlichen Auseinandersetzungen zu verlangen. Gemeint ist da-mit, die je eigenen individuellen Erwartungen, Interessen oder Er-fahrungen auszublenden und den Prozeß des Wissens ausschließlichan der Logik der Sache zu orientieren. Eine Forderung, die mit demBegriff der Objektivität wissenschaftlicher Forschung belegt ist. DieMotive, die unsere Neugier treiben, oder die Vorerfahrungen, dieunsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Gesichtspunkte lenken, bleibendabei außer Betracht. Selbst die Eingrenzung des Gegenstandsbe-reichs, den zu untersuchen wir uns vornehmen, scheint einer sach-lichen Vorgabe zu folgen, an der wir keinen Anteil haben. Daß diesnicht stimmen kann, läßt sich an einfachen Überlegungen demonstrie-ren. Die Definition des zu untersuchenden Sachverhalts folgt selbstKriterien, die mit den rationalen Regeln wissenschaftlichen Vorgehensnicht gerechtfertigt werden können; denn die Regeln konstituierennicht den Gegenstand, sondern werden auf ihn angewandt. So will esdie instrumentelle Vernunft.5 Daß unsere Vorerfahrungen einen wich-tigen Anteil an der Formulierung eines zu bearbeitenden Problemshaben, zeigt sich gleichermaßen an den Schwierigkeiten interkultu-rellen Verstehens wie auch daran, daß sozialisationsbedingte Normen,die wir für verbindlich halten, für andere Menschen keinesfalls eben- 4 H. G. Gadmer, Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986, S. 2755 Hans-Georg Flickinger, „O lugar do novo paradigma no contexto da theoria

moderna do conhecimento“, in: Hans-Georg Flickinger/Wolfgang Neuser,Teoria de Auto-organização, Porto Alegre 1994, S. 34.

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falls akzeptabel sind. Die Beispiele ließen sich etwa auf den Bereichder empirischen Sozialforschung oder auf Konflikte zwischen profes-sionell unterschiedlichen Interpretationen u. a. vielfältig ausdehnen.Worauf es ankommt, ist die diesen Fällen gemeinsame Einsicht in dieUnhaltbarkeit der Forderung, auf Vorurteile verzichten zu müssen,wenn es um den Prozeß des Wissens geht. Im Gegenteil, Vorurteileerweisen sich als notwendige Voraussetzung für unser Fragen. Mitihnen macht sich der je eigene Erfahrungshorizont geltend, von demher sich unsere Neugierde speist. Man kann sie nicht auslöschen. Wirbrauchen Vorurteile, weil sie uns die Perspektive öffnen, in die hineinsinnvolles Fragen erst möglich wird. Sie sind die Tür, durch die hin-durch erst der Raum Konturen erhält, innerhalb dessen sich Sinnkonstituiert. Daß Vorurteile standhalten oder revidiert werden müssen,je nach dem dies unsere weitere Erfahrung erzwingt, wird schon vomFalsifikationsprinzip Popperscher Forschungslogik gesehen.6

Der Gedanke, dem Fragen Vorrang vor dem Antworten zuzuge-stehen, ist für instrumentelle Vernunft unerträglich. Der moderneRationalitätsbegriff rechtfertigt sich durch richtige Antworten, nichtdurch die angemessene Frage. Letztere aber ist entscheidend auch fürdie Richtigkeit der Antworten, weil mit der Frage der Horizont mög-licher Antworten markiert wird. Man kann nicht beliebig viele Ant-worten auf eine Frage geben, weil die Frage die Richtung der Antwor-ten vorzeichnet. Gerade die Erfahrung im pädagogischen Prozeß zeigt,wie viel schwieriger es ist, in einer bestimmten Situation eine ange-messene Frage zu formulieren oder eine Antwort zu finden, die derFragerichtung dessen, der die Frage gestellt hat, gerecht wird. DieFrage öffnet den Ort des Gesprächs. Sie hat Vorrang auch deshalb,weil sie die Suche nach einer Antwort, d. h. aber Reflexion allererst inGang setzt. Wäre keine Frage, überlegte ich mir auch keine ange-messene Antwort. Dialogische Vernunft ist weit mehr eine Kunst desFragens als eine Kunst, die richtige Antwort zu finden. Der sokra-tische Dialog ist deshalb hier Vorbild.

Bleibt noch eine Bemerkung zur hermeneutischen Einsicht in dieGeschichtlichkeit unseres Wissens. In den Überlegungen zur Funktionder Vorurteile klang sie schon an.

„Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergan-genheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es histo-rische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte [...] Die hermeneutische

6 Karl Popper, Logik der Forschung, 6. Aufl., Tübingen 61976, insb. Kap. 4.

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Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzu-decken, sondern bewußt zu entfalten“.7

Was Gadamer geltend macht, ist in zweierlei Richtung bedeutsam.Wissen und Verstehen kann nicht darauf hoffen, einen letztgültigen,authentischen Sinn zu entziffern, da mit der Erfahrung des je Frem-den – sei es ein historischer Text, sei es ein Gesprächspartner – auchunser jeweiliger Erfahrungshorizont sich modifiziert. Wir könnenalso den Anderen oder das Andere nicht instrumentalisieren, ohnedamit uns selbst zu treffen. Und – zweitens – Geschichtlichkeit desVerstehens steht für die Erfahrung der Distanz, die das Verstehen vor-antreibt; eine Distanz, die prinzipiell nicht aufhebbar ist, wenn Ver-stehen nicht unmöglich werden soll. Auch hier läßt sich an pädago-gischen Erfahrungen appellieren: Distanzlose Einfühlung, die sichdurch den Verlust der Grenze zwischen Eigenem und Fremden aus-zeichnet, sabotiert den Bildungsprozeß ebenso wie die Haltung, dievergißt, daß der Andere Anderer für mich ist.

IV. Nachbemerkung

Meine Option, die Prinzipien der Aufklärung gegen ihre instrumen-telle Verkürzung zu retten, führte zu dem Verdacht, man könne siedurch die Erweiterung um die dialogphilosophische, hier: hermeneu-tische Reflexion stärken. Wenn die philosophische Hermeneutik Ga-damers ihre eigene Herkunft aus der Erfahrung der dialektischen EthikPlatons unterstreicht, dann nimmt sie nicht nur die dialogische Kon-stituierung der Vernunft wieder in den Blick, sondern macht auf derenethische Grundlage aufmerksam. Der moderne Rationalitätsbegriff ist,so die These, ohne seine Herkunft aus dieser ethischen Haltung, diesich im Dialog manifestiert, nicht denkbar. Wenn er diese Herkunftverleugnet, bringt er sich um seinen eigenen Anspruch, Vernunft zusein. Diese Einsicht hat Folgen auch für den pädagogischen Prozeß,genauer: für die Voraussetzungen, deren Erfüllung ihn allererst zumErfolg bringt. Wenn also von Pädagogik heute die Rede ist, muß dieRede nicht nur von den technisch-instrumentellen Vorkehrungen ihrerkonkreten Umsetzung sein, sondern vor allem auch von den diesenselbst noch vorausliegenden ethischen Wurzeln. Die philosophischeHermeneutik bringt sie zur Sprache. 7 H. G. Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 311.

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Gerson Luís Trombetta

Die Pädagogik der ästhetischen Erfahrungim Kontext der Kulturindustrie

Der allgemeine Bildungs- und Erziehungsprozeß, insbesondere imformalen Bereich, ist zweifellos auch das Umfeld, in dem sich dieästhetische Dimension entwickelt. Es handelt sich um die Zeit, in derwir einen großen Teil unseres Bezugssystems für Geschmack undSchönheit sowie für das festlegen, was später unsere kulturelle Weltdarstellt. In dieser Zeit entwickeln wir auch eine Gesamtheit vonFähigkeiten, die wir allgemein als künstlerische bezeichnen können.

Wenn wir jedoch Fragen auf der Grenze zwischen Ästhetik undBildung bzw. Erziehung analysieren wollen, beziehen wir uns nichtauf diese Elemente. Eine begriffliche Untersuchung, wie sie die Phi-losophie vornimmt, beschränkt sich nicht darauf, die Art und Weisenachzuzeichnen, wie sich die Fähigkeiten oder die subjektiven Be-zugspunkte entwickeln, aus denen die ästhetische Welt jedes Indi-viduums zusammengesetzt ist. Die vom Titel des vorliegenden Textesvorgegebenen Absichten weisen deshalb spezifisch auf folgendesProblem hin: Welche Form von pädagogischer Potentialität läßt sichauf der Basis der ästhetischen Erfahrung in einem Kontext finden, derdurch vereinheitlichte Vorgaben und durch die Verwandlung von kul-turellen und künstlerischen Objekten in Massenprodukte geprägt ist?

Für diese Debatte stellt der vorliegende Text einige Thesen zu-sammen, die sich auf Verbindungselemente zwischen der ästhetischenErfahrung und der Entwicklung eines Modells für eine nichtobjektivierende oder instrumentalisierende pädagogische Beziehungstützen. So wird die ästhetische Erfahrung als kontroverse Figur in derobjektivierenden Tätigkeit des Bewußtseins verstanden. Die Strukturdes vorliegenden Textes ist dreigeteilt: Zunächst (1) werden dieGrenzen einer ästhetischen Analyse aufgezeigt, die von den sub-jektiven Bedingungen ausgeht, wie sie im Kontext der Kulturindustriegeschaffen wurden. Auf der Basis von Adornos Kritik an derVerwandlung der Kulturgüter in Massenprodukte soll versucht wer-den, den Geschmack als Verortung der grundlegenden ästhetischenErfahrung zu dekonstruieren. Als Illustration für das harmonisierende,

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Spannungen lösende Element, das in den in Waren verwandeltenKulturgütern vorhanden ist, soll dann (2) ein kurzer Abriß der Ge-schichte der Wahrnehmung gegeben werden, die sich innerhalb derwestlichen Musikgeschichte ergeben hat. Als dritter Punkt (3) sollschließlich der Begriff der ästhetischen Erfahrung wieder neu begrün-det und dem Bereich einer reflexiven Vernunft entnommen werden,der sich aus der Anerkennung der enigmatischen Ausdrucksweise derKunst ergibt. Diese Anerkennung zeigt dem Bewußtsein die Grenzenseiner objektivierenden Macht auf und stellt eine privilegierte Instanzfür die Selbstkritik sowie für die Wiederherstellung der Idee einesSubjekts dar, das seine Spuren in der Welt hinterläßt und sich denVersuchen der Massenproduktion, wie sie der Kulturindustrie eigensind, widersetzt.

1

Der Ausdruck Kulturindustrie wurde erstmals von Adorno verwendetund bezeichnet den Prozeß der rationalen Ausbeutung der Kulturgüter,ausgehend von kommerziellen Interessen. Er bezieht sich also auf dieSubversion des Gebrauchswerts dieser Güter im Namen eines angebli-chen Tauschwerts, den sie mit ihrer Einfügung in den Markt erwerbenkönnen. Der Grundmechanismus der Kulturindustrie besteht in derVerwandlung der kulturellen Elemente in berührbare (und somit äs-thetische) Güter, die dem Konsum zugänglich sind. In diesem Sinnübernimmt die Kulturindustrie eine Vermittlerrolle zwischen der ob-jektiven Welt der Kulturgüter und der subjektiven Welt. Indem sieauswählt, was angeboten werden soll, noch bevor die Güter überhauptgeschaffen werden, bereitet die Kulturindustrie die direkten Daten soauf, daß sie durch das Bewußtsein aufgenommen werden können. IhreVermittlungsfunktion bringt es mit sich, daß sich daraufhin die bei derKunst aufgestellten Unterscheidungen bereits nicht mehr auf denkünstlerischen Inhalt, sondern auf das potentielle Zielpublikum rich-ten. Die qualitativen Unterschiede zielen nur darauf ab, mehr Konsu-menten zu erreichen.

Diese Verwandlung in Massenprodukte und die daraus folgendelineare Rezeption verhindern jegliche Möglichkeit, die Kategorie desGeschmacks als bevorzugte Verortung der ästhetischen Erfahrung bei-

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Gerson Luís Trombetta134

zubehalten.1 Für Adorno ist der Begriff Geschmack überholt. Wennwir jemanden fragen, ob ihm ein auf dem Musikmarkt mit einigemErfolg lanciertes Stück gefällt oder nicht, können wir den Verdachtnicht vermeiden, daß die Antwort wesentlich stärker dadurch moti-viert sein wird, ob das Stück bekannt ist, als durch seinen eigentlichenWert. Einen Schlager „mögen, ist fast geradewegs dasselbe wie ihnwiedererkennen“.2

Die von der Kulturindustrie ausgeübte Kontrolle über die Konsu-menten wird durch die Unterhaltung vermittelt, die im späten Kapi-talismus als Schmieröl für die Arbeit funktioniert. Im Wissen umdiese Funktion verlangt die Kulturindustrie trotz ihrer Macht vomKonsumenten keinerlei Anstrengungen, denn das könnte den „Genuß“beeinträchtigen. Das Publikum muß auf ihre Produkte nicht speziellreagieren. Alles ist schon vorbereitet und eingeleitet in Form von di-daktischen Signalen, die keinerlei intellektuelle Anstrengung vor-aussetzen. In der Komposition der Erfolgsware ist immer eine

1 Zu diesem Aspekt ist noch klarzustellen, was an dieser Stelle unter Ge-

schmack verstanden werden soll und worin sich die vorliegende Unter-suchung von der Sichtweise der eher traditionellen Auffassungen von Ästhe-tik wie beispielsweise bei Kant unterscheidet. Es ist auch noch zu fragen, obdie von Adorno geäußerte Kritik am Geschmack wirklich die Art und Weisetrifft, wie dieser Begriff in der Kritik der Urteilskraft behandelt wird: „DieDefinition des Geschmacks, welche hier zum Grunde gelegt wird, ist: daß erdas Vermögen der Beurteilung des Schönen sei“ (KdU, B 3). Unserer Ansichtnach sind im Werk Kants verschiedene Bilder zu finden, die die Funktion desGeschmacks als Instanz für die autonome Ausübung des Subjektseins wiederherstellen. Dies gilt beispielsweise für den reflexiven Charakter der ästheti-schen Beurteilung, die für das Hervorbringen des Urbilds des Geschmacksverantwortlich sind, daß sie „eine bloße Idee sei, die jeder in sich selbsthervorbringen muß, und wonach er alles, was Objekt des Geschmacks, wasBeispiel der Beurteilung durch Geschmack sei, und selbst den Geschmackvon jedermann, beurteilen muß“ (KdU, B 54). Zum autonomen und reflexivenCharakter der ästhetischen Erfahrung bei Kant und einigen möglichen Folge-rungen für die Pädagogik vgl. meine Artikel „A operação reflexiva como baseprodutiva da experiência estética em Kant“, in: Angelo V. Cenci, Temas sobreKant: metafísica, estética e filosofia política, Porto Alegre, 2000, S. 77-108,und „O papel da operação reflexiva no ensino e no exercício da filosofia“, in:A. Fávero/J. Rauber/W. Kohan, Um olhar sobre o ensino de filosofia, Ijuí2002. S. 235-247.

2 Theodor W. Adorno, „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Re-gression des Hörens“, in: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, Ge-sammelte Schriften, Bd. 14. Frankfurt a.M. 41996, S. 14.

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schematische Struktur vorhanden, die leicht zu behalten ist und das„tröstende“ Gefühl vermittelt, mit etwas Bekanntem in Kontakt zustehen.

Der Mechanismus der Kulturindustrie schafft somit einen Genuß,der andauernd angeboten, aber nie wirklich konsumiert wird:

„Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, wassie immerwährend verspricht. Der Wechsel auf die Lust, den Handlung undAufmachung ausstellen, wird endlos prolongiert: hämisch bedeutet dasVersprechen, in dem die Schau eigentlich nur besteht, daß es zur Sache nichtkommt, daß der Gast an der Lektüre der Menükarte sein Genügen findensoll.“3

Dieser aufgeschobene Genuß bedeutet letztlich eine Apologie des All-täglichen, dem man entkommen möchte. Die Kulturindustrie hat dabeidie Funktion, gleichzeitig anzubieten und vorzuenthalten. In einer vonungelösten Spannungen geprägten Welt erweisen die Produkte derKulturindustrie ihre harmonisierende, Spannungen lösende Macht.Was dabei jedoch gelöst wird, ist in Wahrheit die Spannung, die dasProdukt selber geschaffen hat, woraus sich ein flüchtiger, im Vorauskontrollierter Genuß ergibt.

Die Kulturindustrie stellt sich dem Konsumenten somit als Filterfür die Wahrnehmung der Welt dar; sie nivelliert und rationalisiertderen kritische Elemente. Unter diesem Gesichtspunkt scheinen Wertewie Autonomie, die Fähigkeit zum eigenen, nicht von anderen ange-leiteten Urteil endgültig von der Bühne abgetreten zu sein, oder, wieAdorno sagt:

„Für das ‚Individuum‘ ist zwischen ihnen kein Raum. Dessen Anforderungen,wo etwa sie noch ergehen, sind scheinhaft, nämlich den Standards nach-gebildet. Die Liquidierung des Individuums ist die eigentliche Signatur desneuen musikalischen Zustands.“4

So gesehen, steht der Geschmack unter Fremdherrschaft und hat diePerspektive des ästhetischen Urteils verloren. Die deutliche Absichtzur Unterhaltung bringt als notwendige Folge auch das Verstummenund den Tod der Sprache als Ausdruck des ästhetischen Erlebnissesmit sich. Der Geschmack wird zum Ort für rein fühlbare Genuß-erlebnisse, die auf dem Erleben von „Jubel-“Momenten gründen,welche wiederum durch genau für diesen Zweck geschaffene Kul-

3 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam

1947, S. 166.4 Th. W. Adorno, „Über den Fetischcharakter in der Musik ...“, S. 21.

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turgüter ausgelöst werden. Das Produkt der Kulturindustrie enthält ansich Lösungselemente, die das Leben nicht zur Verfügung stellt, unddaraus ergibt sich seine Faszination. Das Subjekt des Geschmacksverliert dabei die Fähigkeit, irgendeinen Wert in dem zu sehen, wassich von der Logik des sofortigen Genusses entfernt. So werden Be-dingungen für eine Art „subjektive Barbarei“ geschaffen, die durchdie Unfähigkeit gekennzeichnet ist, außerhalb des Horizonts des be-reits Bekannten und Verstandenen etwas Wertvolles zu erkennen. Einder Barbarei verfallener Geschmack hält paradoxerweise jedes nichtleicht „verdauliche“ oder fremde Element für „barbarisch“, für außer-halb der Grenzen des Sinnvollen liegend. Das in einen simplenEmpfänger verwandelte Subjekt wird zum Opfer sowohl der Logikder Kulturindustrie als auch seines eigenen „Despotismus“. Die innereBarbarei ist die „Regression des Ich in der Desertion vom Anderen,denn das Ich des Subjekts, das sein eigenes Licht reflektiert ohneirgendetwas anderes über sich hinaus zu erleuchten, erschöpft nichtdie Menschlichkeit des Denkens“.5

2

Um den harmonisierenden und „Bekanntheit“ vorgebenden Aspekt beiden Objekten der Kulturindustrie klarer in den Blick zu nehmen,mache ich einen kurzen Abstecher in die Geschichte der Entwicklungeiner spezifischen Form der Kunst, nämlich der Musik. Auf derGrundlage des Textes Der Klang und der Sinn (O som e o sentido)von José Miguel Wisnik6 läßt sich die Musikgeschichte in ihrer Be-ziehung zum begrifflichen Sinn in drei Momenten rekonstruieren: diemodale, die tonale und die posttonale Welt.7

5 Jean-François Mattéi, „Civilização e barbárie“, in: Denis Rosenfield (Hrsg.),

Ética e estética, Rio de Janeiro 2001, S. 76.6 José Miguel Wisnisk, O som e o sentido, São Paulo 1989.7 Die Klassifizierung der Musikgeschichte in drei Welten wird an dieser Stelle

in adaptierter Form wiedergegeben. Da wir nicht auf technische Details ein-gehen, sondern lediglich den Geist der Entwicklung der Musikgeschichteerfassen wollen, haben wir uns die Freiheit genommen, die ab dem 20. Jahr-hundert aufkommenden Nuancen unter dem Begriff posttonal zusammen-zufassen. Im Text von José Miguel Wisnik sind die entsprechenden Aus-führungen natürlich wesentlich präziser.

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Die modale Welt ist diejenige Epoche der Musikgeschichte, dievon den ersten Ordnungsbemühungen in der Welt der Geräusche8 biszum Ende des Mittelalters reicht. Die Musik ist in dieser Zeit vorallem durch einen stark festgelegten Puls und einen zirkulären Cha-rakter der rhythmischen und melodisch-harmonischen Strukturengekennzeichnet. Aus dieser bemerkenswert repetitiven und zirkulärenStruktur ergeben sich zwei Grundbedeutungen: 1. Die Musik repro-duziert eine ebenfalls unveränderliche Weltsicht, und zwar einer Welt,die sich in wiederholter Kreisbewegung befindet. Die Musik ist eineKraft gegen die Erneuerung, ist an eine ewige und unveränderlicheGesellschaftsordnung gebunden und kommt jedem Anflug von Fort-schritt zuvor. 2. Als in der Wiederholung verankerter Klang ist diemodale Musik Trägerin einer (rituellen) Opfer-Ordnung. Ihre in hyp-notischem Rhythmus ablaufende Struktur ist für die Trance desKörpers sehr geeignet. Es handelt sich also um einen Soundtrack, derdie Rituale mit religiösem Hintergrund dauernd begleitet.

In der modalen Welt hat die Musik deshalb keine innere Bedeu-tung; der Klang hat keinen Wert an sich. Die Musik ist kein Ort fürdie Darstellung subjektiver Ideen oder Gefühle. Ihr Sinn läßt sich nurin Verbindung mit einer übernatürlich geprägten Ganzheit finden.Durch den Klang kann man mit dieser anderen Ganzheit in Kontakttreten, und er bekommt dadurch kultischen Wert. Zu diesem speziel-len Aspekt lohnt es sich beispielsweise, die Entstehung der Töne derwestlichen diatonischen (oder heptatonischen) Tonleiter genauer zubetrachten. Die Tonleiter mit 7 Tönen wurde wahrscheinlich vonPythagoras festgelegt und steht in enger Symmetrie zur kosmischenOrdnung. Die Griechen kannten 7 Planeten und teilten die Zeit inZyklen von 7 Tagen auf. Der Klang mußte deshalb ebenfalls dieserOrdnung zugehören. Infolgedessen wurde das natürliche Klangfeld9 in

8 Wisnik zufolge ist die „Musik in ihrer Geschichte ein langes Gespräch zwi-

schen Klang (als symbolische Wiederkehr, Erzeugung von Konstanz) undGeräusch (als Störung im Blick auf die Stabilität, als Überlagerung durchkomplexe, irrationale, verschobene Pulse)“ (O som e o sentido, S. 27). Somitist die Musik immer auch eine kulturelle Option für einen geordneten undperiodischen Klang im turbulenten Umfeld der Geräusche.

9 Das natürliche Klangfeld ist dasjenige, das von einer Note bis zur ent-sprechenden Note eine Oktave höher oder tiefer reicht – von C bis C bei-spielsweise. Es läßt sich beobachten, wenn wir eine Saite spannen, zumSchwingen bringen und damit einen bestimmten Ton erzeugen und diese Saitedann in der Mitte teilen und wieder zum Schwingen bringen. Das Klangfeld

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sieben musikalische Töne aufgeteilt10. Die untenstehende Tabelle, wiesie von Wisnik vorgeschlagen wird,11 stellt die Symmetrie zwischenTon, Raum und Zeit dar:

D G C F H (B) E A

Lundi Mardi Mercredi Jeudi Vendredi Samedi Dimanche

Monday Tuesday Wednes-day

Thursday Friday Saturday Sunday

Tag desMondes

Tag desMars

Tag desMerkur

Tag desJupiter

Tag derVenus

Tag desSaturn

Tag derSonne

Der Bruch mit der modalen Welt geschah mit dem Aufkommen vonWidersprüchen innerhalb des gregorianischen Gesangs. Die Musik,welcher der gregorianische Gesang entspricht, entwickelt sich auf derEbene der Höhen (Frequenz) und lehnt den wiederkehrenden Rhyth-mus sowie die symmetrischen Strukturen des Volkslieds ab, um aufden Tonsilben zu fließen. Im Gegensatz zur Musik der Trance wird sieekstatisch. Die Trance ist dynamisch und geht von der Bewegung desKörpers und der Ausschaltung des Bewußtseins aus; die Ekstase istdemgegenüber statisch, der Körper bleibt unbeweglich und greift aufdie geistige Energie zurück. Daraus ergibt sich in der gregorianischenMusik die Ablehnung von jeglichem Puls, und dies sollte ein Substratder tonalen Welt werden. Der gregorianische Gesang stellt somit dasSchlachtfeld zwischen der asketischen Erhebung und der fühlbarenVerführung des Gehörs dar. Jegliche Dissonanz wird hier unterdrückt.Der Tritonus, der stellvertretend für die Dissonanz überhaupt steht,12

wird schlicht im Namen der Harmonie der mittelalterlichen Poly-phonie unterdrückt. Die musikalischen Konfigurationen dürfen sich

zwischen der nur gespannten und der in der Mitte geteilten Saite entsprichtdem natürlichen Klangfeld.

10 Dabei ist hervorzuheben, daß die Aufteilung des natürlichen Klangfeldes insieben Noten eine Option der westlichen (griechischen) Kultur darstellt. Inanderen Kulturen, wie beispielsweise in einigen Regionen Indiens, ist das na-türliche Klangfeld in über 70 Noten aufgeteilt.

11 J. M. Wisnisk, O some e o sentido, S. 97.12 Der Tritonus entspricht der erweiterten Quarte – ein Intervall von drei Ganz-

tönen, das beispielsweise zwischen F und H oder zwischen C und Fis zu fin-den ist.

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nicht von der Ordnung entfernen, die sie selber darstellen. Die Disso-nanz darf und kann sich deshalb niemals „materialisieren“, denn siestünde in der mittelalterlichen Weltsicht für einen „kosmischen Feh-ler“, für ein Abbild des Bösen, des Unvollkommenen, des Teufels. Mitdem Tritonus konnte deshalb nicht anders umgegangen werden, alsihn unter allen Umständen zu vermeiden, was sogar in einer päpst-lichen Bulle festgehalten wurde. In den übrigen modalen Traditionenwurde dem Tritonus keine derartige (negative) Bedeutung zuge-messen, weil er im Inneren des Rhythmus „unterging“.

Die im Mittelalter zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert auf-kommende Polyphonie mit ihrer simultanen Vernetzung der Stimmenbringt ein konkretes und sehr irdisches Problem hervor: die Frage derDissonanz und ihrer Auflösung. Dieses Element löst wiederum eineneue musikalische Epoche aus: die tonale Welt; die Welt der „Rachedes Tritonus’“, des „Paktes mit dem Teufel“.13 Das Negierte – die Dis-sonanz – erwacht wieder zum Leben als Element, das ein neues, aufdem Wechsel zwischen Spannung und Ruhe basierendes System her-vorbringt.

Ab der Renaissance übernehmen die tonalen Charakteristiken14

immer stärker die Vorherrschaft. In dieser Welt werden die klangli-chen Möglichkeiten weitgehend rationalisiert. Das Spiel von Span-nung und Auflösung (Ruhe) macht das ganze musikalische Gewebeaus. Mit dem Vorhandensein von Spannungsmomenten gewinnt dieMusik eine narrative Dynamik und inkorporiert die Idee des Fort-schritts. Die Spannung und ihre sofortige Auflösung schaffen ausge-

13 Der Pakt mit dem Tritonus (auch als „diabolus in musica“ bezeichnet) – der

nur als Versprechen seiner eigenen Auflösung überhaupt möglich ist – ist einSymbol der vom aufgeklärten Menschen erreichten Autonomie. DieserMensch, der die Angst vor den übernatürlichen Kräften verloren hat, findetdie rationalen Bedingungen, um mit ihnen zu verhandeln, so wie es der Ge-danke des Paktes suggeriert.

14 Der Bruch mit der modalen Welt fügt sich in die von Walter Benjaminaufgezeigte Perspektive einer Veränderung im eigentlichen Wert der Kunst-werke ein. Insofern diese Werke sich von ihrem rituellen Gebrauch emanzi-pieren, mehren sich die Gelegenheiten für ihre Zurschaustellung. Der kulti-sche Wert, der den Sinn der Kunst begründete, wird durch den Wert derZurschaustellung ersetzt. Immer mehr wird die Kunst in der Perspektive derZurschaustellung und nicht mehr für den exklusiven Zugang derjenigengeschaffen, die eine Initiation durchlaufen haben. Vgl. dazu den Aufsatz „DasKunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“, in: Walter Benjamin, Ge-sammelte Schriften, Bd. I.1., Frankfurt a.M. 31990, S. 431-508.

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sprochen verführerische Elemente innerhalb der Stücke.15 In der to-nalen Welt kann der Komponist das Klangfeld seinem rational (odertechnisch) vermittelten Willen entsprechend ausschöpfen und somit zueiner klaren Behauptung seiner Fähigkeiten als Subjekt gelangen. DieHierarchisierung der Töne und die Festlegung einer musikalischenGrammatik bieten das Material und die technischen Bedingungen fürden Gebrauch einer methodischen Rationalität, die all ihre Themen inMusik zu verwandeln vermag.

Der in der tonalen Welt ausgedrückte Optimismus im Blick aufden versprochenen Fortschritt und auf die Fähigkeit der Vernunft zurAuflösung werden bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts in derposttonalen Welt stark kritisiert. Die Zwölftonmusik von Schönbergbedeutet die Erweiterung des traditionellen Klangfeldes (7 Töne) aufalle 12 Töne (7 Töne und 5 Halbtöne). Daraus ergibt sich direkt dasVerschwinden der einfachen und genüßlichen Auflösung. Die post-tonale Musik wird prinzipiell spannungsgeladen. Mit anderen Worten:Um in der Welt zu bleiben, muß die Kunst jene Effekte der Schönheitund Verführung aufgeben, auf die sie sich in der tonalen Zeit gestützthatte. So „ent-kunstet“ sich die Kunst, um ihren Ort in der Welt zumarkieren. Im Gegenzug bilden die Elemente von Verführung undSchönheit, wie sie im tonalen Spiel von Spannung und Auflösungvorhanden sind, den Kern der Produkte der Kulturindustrie. Daraus er-gibt sich eine neue Dialektik: Diejenigen Elemente, die der Kunst ihreEmanzipation vom Kultwert ermöglichten (die Wiederaufnahme desim Mittelalter Unterdrückten sowie die technischen Strategien für denAusdruck des rationalen Subjekts), verwandeln sich in ein Mittel zurBeherrschung des Subjekts. Das Vorhandensein von Auflösungsmo-menten ist kein Beweis mehr für die fortschreitende Fähigkeit desSubjekts zur Auflösung (die in der tonalen Zeit eine revolutionäreCharakteristik bildete) und wird stattdessen zur Ideologie. Eine Mög-lichkeit, den Sinn der ästhetischen Erfahrung in einem Kontext zu-rückzugewinnen, der von der Verbreitung Auflösung vorgebenderProdukte geprägt ist, liegt deshalb in der Vertiefung der Widersprüchezwischen dem objektivierenden Bewußtsein des modernen Subjektsund der Struktur des künstlerischen Objekts an sich. Dieser Gedan-kengang soll im Folgenden näher ausgeführt werden.

15 Dieser Effekt läßt sich in vielen Kompositionen Mozarts und vor allem Beet-

hovens wiederfinden.

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3

Unter Bezugnahme auf die künstlerischen Produktionen der Avan-tgarde,16 behauptet Adorno: „In oberster Instanz sind die Kunstwerkerätselhaft“.17 Dieser enigmatische Charakter hat nichts mit ihrermateriellen Beschaffenheit oder mit der angewandten Technik zurHervorbringung dieser Werke zu tun, sondern zielt auf den Wahrheits-gehalt, der sie durchdringt. Das Verstehen eines künstlerischen Wer-kes ist somit gleichzeitig eine Erfahrung des Wissens und des Un-wissens: des Wissens, denn der „Wahrheitsgehalt der Kunstwerke istdie objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen“;18 desUnwissens, da das Bewußtsein seines eigenen Ungenügens gewahrwird beim Versuch, den ganzen Sinn dieses Werkes zu erfassen. DerInterpretationsvorgang ist so gesehen analog zum Regenbogen, der fürdenjenigen, der sich auf den Weg macht, verschwindet.

Der von Adorno angewandte Vergleich mit dem Rätsel beinhaltetnoch eine andere Bedeutung. Das Rätsel enthält in seiner Struktur dasElement der Lösung. Es „gibt Hinweise“ und verstummt. Das, woraufes hinweist, entspricht dem Wahrheitsgehalt des künstlerischen Wer-kes. Im Gegensatz zu den diskursiven Rätseln wird jedoch das ästheti-sche Rätsel niemals erschöpfend und abschließend gelöst.

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Blick auf diesen paradoxenCharakter des von der Kunst aufgegebenen Rätsels ist seine enge Ver-bindung mit der philosophischen Reflexion: „Indem es die Lösungverlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch phi-losophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes rechtfertigtÄsthetik. Während kein Kunstwerk in rationalistischen Bestimmungenwie dem von ihm Geurteilten aufgeht, wendet gleichwohl ein jeglichesdurch die Bedürftigkeit seines Rätselcharakters sich an deutende Ver- 16 Der vorliegende Artikel zielt nicht auf die vertiefte Diskussion der Kriterien

Adornos im Blick auf die Unterscheidung, was als Kunst zu bezeichnen istund was schlicht ein Kulturgut ist, das man zur Ware gemacht hat. An dieserStelle soll lediglich hervorgehoben werden, daß unserer Ansicht nach gewissevon Adorno als typisch für die moderne Kunst aufgezeigte Züge – wie bei-spielsweise ihr enigmatischer Charakter – auch in Erzeugnissen anzutreffensind, die einem größeren Publikum bekannt sind. Diese Hypothese läßt an Ge-legenheiten für genuine ästhetische Erfahrungen denken, in Kontexten, wo derZugang zu Museen, Ausstellungen oder entsprechenden Einrichtungen beein-trächtigt ist.

17 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1990, S. 192.18 Ebd., S. 193.

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nunft.“19 Die Interpretation wird also von der Kunst erwartet, kommtjedoch paradoxerweise niemals zum Ziel. Die Bestimmung des enig-matischen Charakters ist das Argument gegen die Verdinglichungoder die ideologische Integration; die Bewahrung des Rätsels be-kämpft den Auflösungstrieb des instrumentellen Bewußtseins.20 DasKunstwerk befindet sich somit in einem permanenten Spannungs-zustand hinsichtlich seines Wahrheitsgehalts.

Aus der Sicht Adornos ist die Definition der ästhetischen Erfah-rung deshalb weit von dem entfernt, was wir gewöhnlich mit Ge-schmack oder Unterhaltung verbinden. Die ästhetische Erfahrungzeigt sich im Versuch, den vom Werk postulierten Wahrheitsgehalt zuverstehen. Diese Erfahrung stigmatisiert sich als konstantes Ungenü-gen, wodurch der Raum für den rein fühlbaren (auflösenden) Genußeliminiert wird, unter Umständen jedoch ein intellektuell geprägterGenuß erlebt werden kann. Die „ästhetische Erfahrung ist die vonetwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schonhätte, Möglichkeit, verhießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist dasVersprechen des Glücks, das gebrochen wird.“21

Die Lösung des Rätsels entspricht nicht der Wiederaufnahme dersubjektiven Idee oder der vom Künstler im Werk umgesetzten Ab-sicht. Der Entstehungsprozeß der Kunst macht sie selbst autonom underlaubt es dem Betrachter-Interpreten, an der Konstruktion der nichtmythisierten Wahrheit, am Prozeß der Enthüllung des Rätsels teilzu-nehmen: „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist kein unmittelbar zuIdentifizierendes. Wie er einzig vermittelt erkannt wird, ist er vermit-telt in sich selbst. Was das Faktische am Kunstwerk transzendiert, seingeistiger Gehalt, ist nicht festzunageln auf die einzelne sinnliche Ge-gebenheit, konstituiert sich durch diese hindurch.“22

Die Autonomie der Kunst – und darin liegt die Quelle ihresRätsels – beinhaltet die Idee ihrer eigenen Vergeistigung. Hier geht

19 Ebd., S. 193 (Hervorhebung von mir, G.L.T.)20 Die Kritik Adornos betrifft auch die sogenannte engagierte Kunst, die ebenso

an einem Instrumentalisierungsversuch teilhat: „Das engagierte Werk ist gera-de mit derjenigen Ideologie verwandt, die es denunziert. Das Engagement gibtvor, den enigmatischen Charakter zu erklären, verfälscht jedoch gänzlich denWahrheitsgehalt und führt damit das Werk und in der Folge auch diejenigen,die es betrachten, dazu, das gleiche Urteil abzugeben“ (Marc Jimenez, Paraler Adorno, Rio de Janeiro 1977, S. 179).

21 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 204 f.22 Ebd., S. 195.

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Adorno einen Hegel entgegengesetzten Weg. Für Hegel ist es derProzeß des Sich-selbst-Denkens der Vernunft bzw. der Prozeß, in demdie Vernunft über sich selbst reflektiert, der die Kunst hervorbringt.Die Kunstwerke sind Produkte des menschlichen Geistes, und deshalbist das künstlerische Schöne dem natürlichen Schönen überlegen. Imkünstlerischen Schönen ist eine Rationalität, eine Vernunft enthalten,die sich im Objekt entäußert hat, und dies steht im Gegensatz zurNatur. Hegel meint, die Natur könne sogar schön sein, aber nur ineinem dem Geist untergeordneten Sinne. Das Schöne ereignet sich,wenn sich eine Idee der Vernunft entäußert und – im Kunstwerk –spürbar wird und der Künstler für diesen Inhalt – Idee – seine ange-messenste Form findet. Der davon abgeleitete Begriff des Schönenwird von Hegel folgendermaßen dargelegt: „Das Schöne ist die Ideeals unmittelbare Einheit des Begriffs und seiner Realität, jedoch dieIdee, insofern diese ihre Einheit unmittelbar in sinnlichem und realemScheinen da ist.“23

Mit anderen Worten: das Schöne entäußert den idealen Inhalt, derin dieser Entäußerung eine sinnlich wahrnehmbare und ihm angemes-sene Form findet. Der Inhalt ist eine Idee, die bei ihrer Entäußerungeine wahrnehmbare Erscheinungsweise erhält. Die abstrakte Idee wirdim Werk konkret, und wenn sie ihre angemessenste Form findet, hatman das künstlerische Schöne. Die Vernunft findet in der Kunst nichtnur einen Mechanismus, um über sich selbst nachzudenken, sondernauch angemessenere Formen, um in dieser Selbstreflexion der eigenenDynamik bewußt zu werden. Die Kunst ist damit ein Moment, in demdie Vernunft sich selbst versteht. Dieser Moment erschöpft sich je-doch mit der Zeit und wird dann durch die Religion und die Philo-sophie ersetzt. Die Vernunft selbst findet Formen, die nicht denBeschränkungen der Kunst – Erscheinung und Empfindung – unter-worfen sind, um sich selber besser zu verstehen. Sie setzt also denProzeß fort, die durch die sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsweiseder Kunst gegebenen Probleme zu überwinden, und schreitet voran zueinem absoluten Verstehen ihrer selbst. Daraus ist die Behauptung ab-geleitet: „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nachder Seite ihrer höchsten Bestimmungen für uns ein Vergangenes.“24

Es handelt sich um die berühmte Theorie vom Ende oder dem Tod der

23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd.

13, Frankfurt a.M. 1970, S. 157.24 Ebd., S. 25.

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Kunst, die die drastischste Folge des Vorhandenseins systematischerPrinzipien in der Analyse dieser besonderen menschlichen Erfahrungdarstellt.25

Schon mit Adorno läßt sich in einer anderen Richtung wahr-nehmen, daß die „Schwierigkeit“ des Bewußtseins, das von ihm selbsthervorgebrachte Produkt zu verstehen, nicht mehr das Ende, sondernden Beginn einer neuen Form von Kunst und ästhetischer Erfahrungdarstellt. In dieser Form von Erfahrung ist das Bewußtsein von einem„Schauer“ ergriffen. Ohne diesen Schauer bleibt das Bewußtsein ver-dinglicht, passiv und auf den flüchtigen Genuß ausgerichtet, der sichmit der vollendeten Ausführung des Kunstwerks erschöpft. DieserSchauer bedeutet, „vom anderen angerührt worden zu sein“. Aus-gehend von diesem „Angerührtsein“ entsteht ein ästhetisches Verhal-ten. Angerührtsein heißt, ein Vorhandensein anzuerkennen, statt es zuunterwerfen. Adorno formuliert: „Solche konstitutive Beziehung desSubjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise ver-mählt Eros und Erkenntnis“.26

In diesem Fall ist die ästhetische Erfahrung auch eine Erfahrungintellektueller Bildung mit tiefen pädagogischen Implikationen. ImZusammenhang mit ihrer Annäherung an die philosophische Re-flexion ist die ästhetische Erfahrung der Raum, in dem die sichentwickelnden Begriffe sowie die Ausübung einer Gewissensauto-nomie anerkannt und entdeckt werden, die nicht durch einfache Auf-lösung unterdrückt wird. Die ästhetische Erfahrung ist damit dieEinübung eines Diskurses sui generis, der von Ungenügen und Ent-decken gekennzeichnet ist. Die von der Kulturindustrie geprägtenBedingungen stellen sicherlich eine starke Hemmschwelle für dieseForm von Erfahrung dar: „Dem gegenwärtigen Bewußtsein, fixiert ansHandfeste und Unvermittelte, fällt es offensichtlich am schwersten,dies Verhältnis zur Kunst zu gewinnen, während ohne es ihr Wahr-heitsgehalt nicht sich eröffnet: genuine ästhetische Erfahrung mußPhilosophie werden oder sie ist überhaupt nicht“.27

25 Die Theorie über den Tod der Kunst bei Hegel ist selbstverständlich we-

sentlich komplexer als an dieser Stelle in Kürze dargestellt. Mit Rücksicht aufden Charakter der vorliegenden Arbeit sollte an dieser Stelle lediglich ihrlogischer Aspekt als Folge der Anwendung eines systematischen Prinzips her-vorgehoben werden.

26 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 490.27 Ebd., S. 197.

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Im Blick auf die Konsequenzen des Dargelegten für den Bildungs-prozeß scheint uns die Aufnahme der ästhetischen Erfahrung in einerzweifachen Perspektive vielversprechend zu sein: 1. als Trägerin einereigenen, von nicht objektivierenden Beziehungen geprägten Pädago-gik, die gerade deshalb vom Bewußtsein sowohl die Anerkennungeines Anderen verlangt, das nicht sofort reduziert werden kann, alsauch ein effektiveres Selbstverständnis hinsichtlich dessen, was esnicht ist; 2. als Trägerin der Notwendigkeit, den Geschmack aus-gehend von der Reflexion über seine Entstehung zu rekonstruieren.Dabei ist zu untersuchen, inwiefern und in welcher Form solche Er-fahrungen zur Schaffung von Autonomie motivieren können und esermöglichen, an eine wahrhaft ästhetische Erziehung und Pädagogikzu denken.

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Frank Hermenau

„Im Grunde erziehen wir immer schonfür eine aus den Fugen geratene Welt“Zum Verhältnis von Politik und Erziehungbei Immanuel Kant und Hannah Arendt1

Heute stehen alle modernen Staaten, wie auch immer gebrochen, inder Tradition der Aufklärung. Die politische Konzeption der Aufklä-rung ist im wesentlichen immer auch eine Konzeption der Erziehung,und die Idee der Erziehung ist in ihrem Keim zugleich eine politische.Das Verhältnis von Politik und Erziehung ist hier also sehr eng. Diesmöchte Ihnen heute im ersten Teil meines Vortrags anhand von KantsVorlesungen über Pädagogik verdeutlichen, in denen sich geradezuklassische Formulierungen für dieses Verhältnis von Politik und Er-ziehung finden, die zugleich aber weit über das hinausgehen, washeute staatliche Erziehungspolitik im Zeichen der neoliberalen Globa-lisierung noch als ihr Ziel betrachtet.

In einem zweiten Teil möchte ich Ihnen einige ÜberlegungenHannah Arendts zum Verhältnis von Politik und Erziehung vorstellen,und zwar anhand ihres Aufsatzes über „Die Krise in der Erziehung“.Ausgehend von Problemen im Erziehungssystem in den USA der 50erJahre, plädiert Arendt für einen gewissen Konservatismus in derErziehung einerseits, für ein revolutionäres Konzept von Politik an-dererseits. Was beides bedeutet, möchte ich Ihnen zu erläutern ver-suchen.

Ich stelle Ihnen also einen liberalen Philosophen vor, der nichtneoliberal ist, und eine in Fragen der Erziehung konservative Phi-losophin, die nicht politisch konservativ ist. Abschließend soll es umeine Einschätzung der Aktualität der vorgestellten Konzeptionengehen.

1 Den folgenden Text hat der Autor im April 2001 an der Fakultät für Erzie-

hungswissenschaft der Universität Passo Fundo vorgetragen. Es handelt sichum einen ersten Versuch des Autors, das Verhältnis von Pädagogik undPolitik unter einer Perspektive zur Diskussion zu stellen, die ein fruchtbaresGespräch zwischen Philosophie und Erziehungswissenschaft ermöglichensoll. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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Vorab möchte ich allerdings einige Einschränkungen machen, dieSie vielleicht enttäuschen werden. Ich kann Ihnen heute nichts überErziehungswissenschaft im engeren Sinne sagen, nichts über Didaktik,nichts über Unterrichtsgestaltung, nichts über Schulsysteme oderEntwicklungspsychologie, obwohl sich auf diese Gebiete doch sicherdie brennendsten Fragen beziehen, für die praktisch tätige Pädagogennach Antworten suchen, ja täglich suchen müssen, um den ihnengestellten Aufgaben gerecht werden zu können. Zwar fehlt es auch beiKant und Arendt nicht an praktischen Vorschlägen in der einen oderanderen Richtung. Doch Kants Kenntnisse, die er etwa über dieEntwicklung der Kindheit hatte, oder Arendts Vorstellungen über dasSchulsystem sind für uns heute kaum noch relevant: Zu rudimentäroder zu veraltet sind hier die einzelnen Beobachtungen, für die diebeiden Autoren aber auch keine Allgemeingültigkeit reklamieren. Undbeide Autoren waren schließlich auch nicht primär Pädagogen. Wozudann überhaupt philosophische Reflexionen über das Verhältnis vonPolitik und Erziehung? werden Sie vielleicht fragen. Und meine vor-läufige Antwort kann hier nur lauten: Um eine Distanz zu gewinnenvon den Anforderungen des Tages, um einen Denkhorizont zu ge-winnen, innerhalb dessen wir den Sinn und Zweck pädagogischerTätigkeit reflektieren können. Ob die beiden Autoren uns hier etwaszu sagen haben? – Wir werden sehen, und wir sollten ihre Antwortenkritisch prüfen.

1.

Kants Vorlesungen über Pädagogik, die 1803 veröffentlicht wurden,2verdanken wir einem glücklichen Zufall. Es war Kants Pflicht als Pro-fessor der Philosophie an der Universität Königsberg, seinen Studen-ten ab und an Vorlesungen über Pädagogik zu halten. Er hat dieseVorlesungen selbst nicht veröffentlicht, was für uns heute ein Vorteilist, weil Kant sich hier viel freimütiger auch über Politik äußert, als eres zu dieser Zeit in einer veröffentlichen Schrift hätte tun können. DaßKant sich nur beiläufig über Pädagogik Gedanken macht, hängt nichtmit einer Geringschätzung für die Pädagogik zusammen. „Der Mensch 2 Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Werke in 6 Bdn., hrsg. von Wilhelm

Weischedel, Darmstadt 1998, S. 699. Im folgenden zitiert als PÄ mit Angabeder Seitenzahl.

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kann nur Mensch werden“, sagt Kant, „durch Erziehung. Er ist nichts,als was die Erziehung aus ihm macht“ (PÄ 699). Und: „Hinter derEdukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit dermenschlichen Natur“ (PÄ 700). „Die Erziehung „eröffnet uns denProspekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlecht“ (PÄ700). Und ein weiteres Zitat zeigt auch sogleich die enge Verbindungzwischen Politik und Erziehung und welche herausragende BedeutungKant, der uns doch eher als Erkenntnistheoretiker bekannt gewordenist, der Erziehung zuschreibt: „Zwei Erfindungen der Menschen kannman wohl als die schwersten ansehen: die der Regierungs- und die derErziehungskunst“. (PÄ 703) Sie sehen, welche großen Hoffnungenund damit zugleich auch welche große Lasten Kant der Erziehungaufbürdet.

Aufgabe der Erziehung ist nach Kant die vollkommne Ent-wicklung der menschlichen Naturanlagen (PÄ 697). Und daß dieseIdee vielleicht nicht vollkommen realisiert werden kann, besagt nichtsgegen ihre Wahrheit, ebenso wie die Idee einer vollkommenen, nachden Regeln der Gerechtigkeit regierten Republik doch eine wahre Ideebleibt, auch wenn wir eine solche Republik in der Realität nichtvorfinden sollten (PÄ 701).

Die Erziehung hat in ihrem letzten sittlichen Ziel eine politischeDimension. Sie dient nicht nur der Optimierung der Fertigkeiten undKenntnisse des einzelnen oder seiner Einordnung in die Gesellschaft,sondern – in weltbürgerlicher Perspektive – der Vorbereitung auf einglücklicheres Dasein der Menschheit. „Kinder sollen“, schreibt Kant,„nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessernZustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Mensch-heit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“(PÄ 704) Die Idee der Menschheit meint eine Übereinstimmung vonindividueller Glückseeligkeit und allgemeinem Wohl. Hier vertrittKant eine liberale Position, weil er vom einzelnen Subjekt ausgeht.Aber er vertritt keine klassisch liberalistische und erst recht keineneoliberale Position: Die Idee der Menschheit bezeichnet eine sittlicheAufgabe und nicht einen Zustand, der sich von selbst durch dieKonkurrenz schon ergeben werde, wie es die klassisch liberalistischeTheorie behauptet mit ihrem Optimismus, daß das freie Spiel derKräfte am Markt irgendwie auch zum Gemeinwohl führen könnten.

Kant sieht bei der Verwirklichung seiner Idee der Erziehung, dieauf die umfassende Verwirklichung der menschlichen Naturanlagenabzielt, zwei Haupthindernisse: die Eltern und die Regierenden; die

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Eltern, weil diese in der Regel nur wollen, daß ihre Kinder in der Welterfolgreich sind, ohne eine kosmopolitische Idee damit zu verbinden,und die Regierenden, weil sie ihre Untertanen nur als Instrumente fürihre eigenen Absichten mißbrauchen (PÄ 704). Überhaupt setzt Kantkeine großen Hoffnungen auf die Herrschenden, die „doch meistensnur für sich selbst sorgen und nicht an dem wichtigen Experiment derErziehung in der Art Teil nehmen, daß die Natur einen Schritt näherzur Vollkommenheit ihrer Naturanlagen tut.“ (PÄ 700) Und weil vonden Herrschenden hier nichts zu erhoffen sei, diese das Geld nicht fürdas Weltbeste auszugeben bereit seien, müsse alle Kultur beim auf-geklärten Privatmann anfangen. Denn „bei dem jetzigen Zustande derMenschen kann man sagen, daß das Glück der Staaten zugleich mitdem Elende der Menschen wachse“ (PÄ 708).

Eine gerechte Republik, eine Erziehung zu einer besseren undglücklicheren Menschheit hin, das ist es, worauf Kant all seineHoffnungen konzentriert. Die Erziehung selbst bestimmt Kant als eineKunst, die zwar judiziös, planmäßig, verfahren solle. Aber nicht ausder Vernunft sind Maßnahmen der Erziehung zu deduzieren, sondernaus dem Gelingen und Mißlingen von Experimenten in der Erziehungsind die Regeln zu gewinnen, nach denen dann planmäßig erzogenwerden soll. Kant maßt sich also in seinen Vorlesungen über diePädagogik nicht die Kompetenz an, rein aus den Gesetzen der Ver-nunft Vorschriften für die pädagogische Praxis ableiten zu können.Zwar sammelt er Berichte seiner Zeit über Erziehungsanstalten undpädagogische Versuche und verbindet diese in seinen Vorlesungen miteigenen Beobachtungen und Reflexionen über die Erziehung, aberdiese gesammelten Erfahrungen erheben damit eben keinen Anspruchauf universelle Gültigkeit.

Anders ist dies, wenn Kant die Erziehung prinzipiell in drei not-wendige Stadien einteilt. Kant unterscheidet zwischen Wartung, Diszi-plin und Unterweisung. Unter „Wartung“ versteht Kant die Verpfle-gung und die materielle Fürsorge und die Sorge dafür, daß die Kinderkeinen für sie schädlichen Gebrauch von ihren eigenen Kräftenmachen. Die „Wartung“ bezieht sich also auf die elementaren Bedürf-nisse und die Abwehr bestimmter Gefahren.

Disziplin ist nach Kant der bloß negative Teil der Erziehung. Kantgeht davon aus, daß Kinder von Natur aus wild und roh sind. DieDisziplin soll die Kinder den „Zwang der Gesetze“ spüren lassen. Hatman in der frühen Kindheit dem Willen der Kinder keinen Widerstandentgegengesetzt, so behalten die Kinder auch später ihre Wildheit und

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sind dann auch für die sittliche Bildung nicht mehr empfänglich.Deshalb müsse die „wilde Natur“ durch Disziplin unter Regeln ge-bracht werden, allzu große mütterliche Fürsorge sei jedenfalls schäd-lich, und Erwachsene sollten nicht mit Kindern spielen „wie dieAffen“, so Kant.

Das dritte Stadium der Erziehung ist schließlich die Unterweisungoder Bildung. Hier geht es um die Kultivierung des Menschen, dasErlernen der tradierten Kulturtechniken – wie Lesen und Schreiben –,um Geschicklichkeit und Klugheit, damit man sich in der Welt zu-rechtfindet, und schließlich um die Moralisierung des Menschen.Moralisierung heißt bei Kant aber nicht, daß man mechanisch lernt,was man tun darf und was man nicht tun darf – das wäre bloß dieEinübung von Konventionen. Moralisierung heißt vielmehr, „daß derMensch nicht nur zu allerlei Zwecken geschickt sein soll, sondern daßer eine Gesinnung bekommt, daß er sich nur gute Zwecke wähle.“ (PÄ707) Und die guten Zwecke bestimmt Kant in folgender Formel: Essind diejenigen, die notwendigerweise von jedem gebilligt werdenkönnen und die gleichzeitig auch jedermanns Zweck sein können.Hier erst sehen Sie nun die Dimension des Sittlich-Allgemeinen, diekosmopolitische Perspektive Kants, die für ihn das höchste Ziel ist:Ich soll in meiner Vorstellung mit Hilfe meiner Einbildungskraftjederzeit Rücksicht nehmen auf das, was für die Weltgemeinschaft alsZweck tauglich sein könnte.

Sicher haben Sie nun schon in meinem Referat Kants einen Wi-derspruch entdeckt, der in Kants Begriff der Natur steckt: Einerseitsgeht es um die volle Entfaltung der menschlichen Naturanlagen, undauf der anderen Seite mißtraut Kant gerade der Natur des Menschenund beharrt darauf, daß durch Disziplin Wildheit und Roheit – dieschlechte Natur – abgeschliffen werden müssen, damit der Menschgesellschaftsfähig werde.

In der Geschichte der Pädagogik in Deutschland, auf die ich hiernicht im Detail eingehen kann, in den Lehr- und Erziehungsanstaltendes 19. und des 20. Jahrhunderts wurde das Element der Disziplinie-rung oft einseitig hervorgehoben. Gesellschaftspolitisch ging es dabeium die „Industrialisierung“ des Menschen, das „Fleißig-Machen“ –dies ist der ursprüngliche Sinn des Wortes – der Bevölkerung.3 Und es

3 Vgl. dazu Wolfgang Dreßen, Die pädagogische Machine. Zur Geschichte des

industrialisierten Bewußtseins in Preußen/Deutschland, Frankfurt a.M./Ber-lin/Wien 1982.

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ging um die Unterordnung des einzelnen unter die Zwecke des Staatesund der ökonomisch Mächtigen. Praktiziert wurde hier – nicht seltenmit Bezug auf Kant – genau das, was Kant als die Instrumenta-lisierung des Menschen durch die Mächtigen doch so scharf kritisierthat. Denn sein Erziehungsplan war letztlich kosmopolitisch und an derRealisierung einer Gesellschaft mit größtmöglicher Freiheit orientiert.Erziehung und Bildung gelten dem Aufklärer Kant als derentscheidende Weg, dieses politische Ziel zu erreichen.

2.

Hannah Arendts Aufsatz über „Die Krise in der Erziehung“4 brauchtuns heute nicht mehr wegen ihrer Kritik am amerikanischen Er-ziehungssystem zu interessieren: Wir haben heute nicht mehr dieProbleme der 50er Jahre, und Arendt zeigt sich in diesem Aufsatzauch nicht als besonders kompetent, was die Entwicklungen in derpädagogischen Theorie und Praxis angeht. Interessant ist ihr Aufsatzfür uns meiner Auffassung nach aber deshalb, weil sie sich anhand be-sonderer Probleme einige Gedanken über das grundsätzliche Ver-hältnis von Politik und Erziehung macht.

Hier grenzt sie sich gegenüber einigen klassischen Vorstellungenüber das Verhältnis von Politik und Erziehung radikal ab, und siemodifiziert auch das Erziehungsprogramm der Aufklärung. Gegen dieklassischen Bestimmungen wendet sich Arendt überall dort, wo derStaat oder genauer: das Gemeinwesen in Analogie zur Familie und zurErziehung in der Familie verstanden wird. Gegen das Programm derAufklärung wendet sie sich insofern, als sie die Vorstellung kritisiert,daß die politische Emanzipation erreicht werden könne durch dieErziehung der kommenden Generationen, daß die Erziehung ein Mittelsein könnte, die Idee der Menschheit zu realisieren. Dabei hält sie aberzugleich an der Idee der Menschheit fest und auch am Freiheitsbegriffder Aufklärung. Insofern handelt es sich bei Arendt nicht um eineradikale Kritik der Aufklärung, sondern um eine Modifikation ihres

4 Hannah Arendt, „Die Krise in der Erziehung“, in: Zwischen Vergangenheit

und Zukunft, München 1994. Im folgenden zitiert als KE mit Angabe derSeitenzahl.

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Programms, insbesondere was das Verhältnis von Politik und Er-ziehung angeht.

In der Tradition der politischen Philosophie findet sich häufig dasBild des Staates als einer großen Familie. Die Regierung bzw. derKönig oder auch ein Präsident hat demzufolge eine väterliche Positiongegenüber den Regierten und dann eben auch die Aufgabe, seineUntertanen zu erziehen. Arendt hält diesen Vergleich aus mehrerenGründen für grundsätzlich destruktiv für jedes politische Denken. DieFamilie bildet immer so etwas wie eine Einheit und kennt die Plura-lität der Perspektiven nur sehr beschränkt. Auf eine solche Pluralitätder Perspektiven kommt es aber bei politischen Willensbildungspro-zessen entscheidend an. In der Familie gibt es andererseits immerprinzipielle Unterschiede zwischen den einzelnen Familienmitglie-dern, diese Unterschiede konstituieren geradezu die Familie mit, näm-lich die Unterschiede zwischen Mündigen und Unmündigen, zwischendenen, die die Fürsorge für andere übernehmen, und denen, die dieserFürsorge bedürfen. In politischen Entscheidungsprozessen könnenaber nur prinzipiell Gleichberechtigte miteinander agieren. In derFamilie geht es um die Reproduktion des materiellen Daseins, um dasje Eigene und um die Interessen, die damit verbunden sind. In derPolitik aber sollte es um die Res Publika gehen, um die gemeinsameRegelung der gemeinsamen menschlichen Angelegenheiten.5 Arendthat wegen dieser Unterschiede den Verdacht, daß es in dem Vergleichzwischen der Familie und der Politik letztlich um Manipulation geht:

„In der Politik kann Erziehung keine Rolle spielen, weil wir es im Politischenimmer mit bereits Erzogenen zu tun haben. Wer erwachsene Menschen er-ziehen will, will sie in Wahrheit bevormunden und daran hindern politisch zuhandeln. Da man Erwachsene nicht erziehen kann, hat das Wort Erziehungeinen üblen Klang in der Politik, man gibt vor zu erziehen, wo man zwingenwill und sich scheut, Gewalt zu gebrauchen.“ (KE 258)

Arendt wehrt sich also dagegen, Politik in Begriffen der Familie undder Erziehung zu betrachten. Sie wehrt sich aber auch dagegen, derErziehung eine politische Funktion zuzuordnen.6 Und zwar nicht des-halb, weil Arendt gegen die Realisierung einer größtmögliche Freiheit 5 Zu Arendts politscher Philosophie vgl. Frank Hermemnau, Urteilskraft als

politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft, Lüneburg1999.

6 Arendt kritisiert damit implizit auch weite Teile der Aufklärung, für die Les-sings Formel von der „Erziehung des Menschengeschlechts“ charakteristischist.

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wäre, sondern weil sie gerade in dieser emanzipatorischen Absichtauch einen illegitimen Eingriff in die Freiheit der kommenden Gene-ration sieht. Arendt schreibt:

„Aber auch die Kinder, die man zu Bürgern eines utopischen Morgenerziehen will, schließt man in Wahrheit aus der Politik aus. Indem man sie aufetwas Neues vorbereitet, schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigeneChance des Neuen aus der Hand.“ (KE 258)

Die politischen Aufgaben des Heute sollten nicht den Erwachsenender Zukunft als Programm mitgegeben werden. Wer dies versucht,flüchtet vor der aktuellen politischen Verantwortung und versucht, dieursprüngliche Freiheit des Neuen einzuschränken. Arendt legt großenWert darauf, daß Kinder die Neuen sind, wie sie im Griechischen auchgenannt wurden. Und aus dieser Bestimmung heraus begründet Arendteinen gewissen Konservatismus in der Erziehung und ihr Eintreten füreine emanzipative Politik.

Nach Arendt sind Kinder werdende Menschen und neue Men-schen. Werdende Menschen sind Kinder demnach wie auch jungeTiere werdende Tiere sind. Das Werden bezeichnet die natürlicheSeite der Entwicklung des Menschen, für die er Schutz und Fürsorgebenötigt, also das, was Kant Wartung genannt hat.

Neu sind die Kinder im Verhältnis zur Welt und dies in mehrerenHinsichten. Sie sind nämlich Neuankömmlinge in einer Welt, dieschon vor ihnen da war, als materielle Dingwelt, aber auch als Weltder gesellschaftlichen Konvention. Und daß sie neu sind, damit meintArendt auch und vor allem, daß sie als Individuen etwas Neues in dieWelt bringen oder bringen können; daß der Mensch in seiner Indi-vidualität die spontane Fähigkeit hat, einen neuen Anfang in der Weltmachen zu können. Arendt bezieht sich mit diesen Formulierungenexplizit auf Kants Begriff der Spontaneität, den Kant als die Möglich-keit definiert, eine neue Kausalreihe beginnen zu können. Genau inder Fähigkeit, einen neuen Anfang machen zu können, sieht Arendtalle politische Freiheit begründet, nur wegen dieser Fähigkeit könnenwir uns einen politischen Neuanfang denken, eine neue Ordnung derDinge. Die Fähigkeit, einen neuen Anfang machen zu können, ist fürArendt die Bedingung für eine demokratischere Gestaltung der Ge-sellschaft, sie ist Bedingung dafür, verhängnisvolle Entwicklungen inder Gesellschaft und der Politik zu unterbrechen. Aber „gerade um desNeuen und Revolutionären willen in jedem Kind muß die Erziehungkonservativ sein“ (KE 273), so Arendt.

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Damit meint Arendt, daß das Kind als werdendes Leben desSchutzes der Privatheit bedarf, um später das Licht der Öffentlichkeitaushalten zu können, unter dem politische Entscheidungen getroffenwerden müssen. Üblicherweise ist es Ziel der konservativen Erzie-hung, die Welt vor dem Neuen, das in den Kindern ist, zu schützenund die Kinder zur Anpassung an die gegebenen und überkommenenVerhältnisse zu bewegen. Gerade darum geht es Arendt nicht. Ihr gehtes vielmehr darum, den Kindern die Sicherheit in der Welt zu geben,damit sie in dieser Welt, die doch selbst ständig krisenhaft und alsoauch veränderungsbedürftig ist, einen Neuanfang machen können,damit sie als Erwachsene also frei handeln können. Arendts „Konser-vatismus“ ist hier also antikonformistisch.

Aus der doppelten Bestimmung der Kinder als den Neuen und denWerdenden ergeben sich für Arendt auch die Aufgaben des Erziehers.Der Erzieher hat eine vermittelnde Position zwischen den Kindern undder Welt. Er hat einerseits die Aufgabe, die Kinder vor den An-forderungen der Welt zu schützen, um ihre Entwicklung als Lebendig-Werdende zu ermöglichen. Und zugleich hat der Erzieher gegenüberden Kindern die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, undzwar für die Welt, so wie sie ist. Arendt urteilt hier sehr drastisch:„Wer die Verantwortung für die Welt nicht übernehmen will, solltekeine Kinder zeugen und darf nicht mithelfen, Kinder zu erziehen.“(KE 270)

Die moderne Krise in der Erziehung sieht Arendt darin begründet,daß die Erwachsenen selbst häufig nicht bereit sind, diese Verant-wortung zu übernehmen:

„Es ist, als ob wir den Kindern täglich sagten: In dieser Welt sind auch wirnicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, wasman dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht bekannt. Ihr müßtsehen, wie ihr durchkommt: uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortungziehen können.“ (KE 272)

Und damit verlieren die Erwachsenen ihre Autorität – ihre sachlicheAutorität, die nichts mit Strenge und Gewalt zu tun hat. So fragwürdigdie Autorität im politischen Bereich geworden ist, so unverzichtbarbleibt sie in der Erziehung.

Gerade weil die Welt einen neuen politischen Anfang braucht, weilsie stets krisenhaft und veränderungsbedürftig ist, weil sie wederkonserviert noch restauriert werden sollte, gerade deshalb ist es dieschwierige Aufgabe der Erwachsenen, den Kindern eine persönlicheund materielle Stabilität zu sichern und sie nicht vorzeitig der Insta-

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bilität der Welt und den Formen ihrer Vergesellschaftung auszusetzen.„Im Grunde erziehen wir schon immer für eine aus den Fugengeratene Welt“ (KE 273), schreibt Arendt, und gerade deshalb solledie Erziehung in einem bestimmten Sinne konservativ sein.

3.

Die Philosophie sollte nicht so tun, als könnte sie aus reinen Begriffendie „richtigen“ Maßnahmen für die Erziehung ableiten. Kants Beto-nung der Bedeutung von Experimenten und Erfahrungen für denBereich der Pädagogik beinhaltet hier eine kluge Selbstbeschränkungdes Philosophen. Gleichwohl kann die Philosophie wichtige Überle-gungen für den Sinnhorizont von Erziehung beitragen. Dies, so hoffeich, konnte ich Ihnen am Beispiel Kants zeigen.

Wie man sich diesen Sinnhorizont im Verhältnis von Politik undErziehung unter den krisenhaften Bedingungen der Neuzeit vorstellenkann: Dies wollte ich Ihnen mit einigen Überlegungen HannahArendts illustrieren. Die Erfahrungen der Pädagogen und die Refle-xionen der Philosophie könnten, so glaube ich, fruchtbar werden,wenn sie zu einer gemeinsamen Diskussion führen.

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Zu den Autoren

Angelo V. CenciProfessor für Philosophie an der Fakultät für Erziehungswissenschaft an derUniversität von Passo Fundo. E-Mail: [email protected].

Claudio Almir DalboscoProfessor für Philosophie an Fakultät für Erziehungswissenschaft an derUniversität von Passo Fundo. E-Mail: [email protected].

Heinz EidamHochschuldozent für Philosophie am Fachbereich Erziehungswissen-schaft/Humanwissenschaften der Universität Kassel. E-Mail:[email protected].

Hans-Georg FlickingerProfessor für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft sowiepolitische Philosophie an der Universität Kassel und der PontifíciaUniversidade Catolica do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien.Anschrift: Universität Kassel, Fachbereich 04, 34109 Kassel.

Frank HermenauWissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie am Fachbereich Erzie-hungswissenschaft/Humanwissenschaften der Universität Kassel.E-Mail: [email protected].

Eldon Henrique MühlProfessor an der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität vonPasso Fundo. E-Mail: [email protected].

Wolfdietrich Schmied-KowarzikProfessor für Philosophie und Erziehungswissenschaft am FachbereichErziehungswissenschaft/Humanwissenschaften der Universität Kassel. E-Mail: [email protected].

Gerson Luís TrombettaDozent für Philosophie an der Universität von Passo Fundo und Doktorandan der Pontifícia Universidade Catolica do Rio Grande do Sul in PortoAlegre. E-mail: [email protected].