Predigt als Leseakt - Evangelische Verlagsanstalt · Die Harvard-Poetik des Jorge Luis Borges und...

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Predigt als Leseakt

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Klaus Raschzok

Predigt als LeseaktEssays zur homiletischen Theoriebildung

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALTLeipzig

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Cover: Zacharias Bähring, LeipzigAutorenfoto: © Timm Schamberger, NürnbergSatz und Register: Petra Anna Götz, Augustana-HochschuleDruck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-374-03757-5www.eva-leipzig.de

Klaus Raschzok, Prof. Dr. theol., Jahrgang 1954, ist Inha-ber des Lehrstuhls für Praktische Theologie und Direktor des Instituts für evangelische Aszetik an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.

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Vorwort

Die hier zusammengeführten 15 Essays zur homiletischen Theoriebildung, wie Perlen an einer Schnur aufgereiht, fügen sich zu einem Reigen zu-sammen, der Rechenschaft über meinen aus der akademischen Arbeit der letzten zwei Jahrzehnte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau gewachsenen homiletischen Ansatz ablegt. Der homiletische Reigen aus verstreut veröffentlichten wie bisher unveröf-fentlichten Texten dokumentiert zugleich den Weg von einer pastoralpsy-chologisch orientierten zu einer kulturwissenschaftlich konnotierten evan-gelischen Predigtlehre.

Meinen bisherigen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern an den Lehrstühlen in Jena und Neuendettelsau danke ich für das engagierte fachliche Gespräch, das an vielen Stellen dieser Veröffentli-chung Spuren hinterlassen hat: Dr. Johannes Wachowski, Dr. Stefan Mi-chel, Birgit und Dr. Wolfgang Fenske, Dr. Albrecht Schödl und Privatdozen-tin Dr. Konstanze Kemnitzer. Ein weiterer Dank gilt Petra Anna Götz, der Neuendettelsauer Lehrstuhlsekretärin, für die druckreife Erstellung des Satzes und die Erarbeitung des Registers sowie der studentischen Mitar-beiterin Katharina Kuhn für die Mithilfe bei den Korrekturen und beim Register. Bis zum heutigen Tag darf ich mit meinen drei prägenden aka-demischen Lehrern im Gespräch und Austausch stehen und empfinde dies als ein nicht selbstverständliches Gnadengeschenk. Daher widme ich diese Studien Professor Dr. Peter Poscharsky, dem kunsthistorischen und christ-lich-archäologischen Lehrer, der mich Sehen und Wahrnehmen gelehrt hat, Professor Diplom-Psychologen Dr. Richard Riess, dem pastoralpsychologi-schen Lehrer, dem ich die Liebe zum Essay als wissenschaftlicher Gattung und als sein früherer Assistent und jetziger Nachfolger die personorien-tierte Arbeit im Homiletischen Seminar verdanke, und Professor Dr. Man-fred Seitz, dem pastoraltheologischen Lehrer, der mir seit den ersten Tagen meines Studiums ein geistlicher Begleiter wurde, und dem ich den Zugang zur Evangelischen Aszetik als neu zu belebender Teildisziplin der Prakti-schen Theologie verdanke.

Neuendettelsau, am Epiphaniasfest 6.1.2014 Klaus Raschzok

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Inhalt

Vorwort ..................................................................................... 5

Inhalt .......................................................................................... 7

I. Einführung

Das Predigtgeschehen als Leseakt Zur Kunst des lauten Lesens in den beiden Büchern ........................... 11

II. Methodische Aspekte

»Methode der Predigt« Vom homiletischen Nutzen einer zeitgenössischen Künstlertheorie (Thomas Lehnerer) ............................................................................... 39

Lebensgeschichte und Predigt Zur biografischen Dimension der Homiletik ........................................ 59

Mit Bildern verkündigen Methodische Grundlagen einer ikonischen Homiletik ......................... 81

Zum Handwerk des Dichters Die Harvard-Poetik des Jorge Luis Borges und die Dramaturgische Homiletik von Martin Nicol .................................................................. 99

III. Historische Zugänge

Der Dreiklang von principieller, materieller

und formeller Homiletik Ein Gespräch mit Alexander Schweizer und dessen Homiletik von 1848 ......................................................... 109

Christian Geyer und Friedrich Rittelmeyer Porträt einer homiletischen Freundschaft .......................................... 137

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Homiletische Gleichnisse Vom seelsorglichen Dienst der Predigtlehre am Prediger ................. 157

Auslegung und keine Anwendung Zum Verständnis eines zentralen Satzes der Predigtlehre der Bekennenden Kirche .......................................................................... 175

Schriftauslegung bei Dietrich Bonhoeffer Ein Beitrag zur Praktischen Theologie als Gestaltlehre des Glaubens ...................................................................................... 203

IV. Praxisreflexionen

Der Thüringer Kanzelstreit Praktisch-theologische Anmerkungen ............................................... 239

Mundart in der Verkündigung Homiletische Überlegungen zu einer sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden kirchlichen Praxis .......................................................... 275

Von der Predigthilfe zum biblischen Essay Karl-Heinrich Bieritz als Autor der Göttinger Predigtmeditationen ... 309

Beziehungsaufnahme in der Predigt Überlegungen zu einem spezifischen Phänomen gottesdienstlicher Kommunikation .................................................................................. 317

Einführung in die methodisch verantwortete

Praxis der Predigt ....................................................... 337

Nachweise ......................................................................... 351

Personenregister ......................................................... 353

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I. Einführung

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Das Predigtgeschehen

als Leseakt Das Predigtgeschehen als Leseakt

Zur Kunst des lauten Lesens in den beiden Büchern

1. Predigt als Lesekunst in den beiden Büchern

Die dem »armen Vikari« bei Jeremias Gotthelf in dessen Roman »Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet« mangelnde Fähigkeit, in den beiden Büchern der Bibel wie des Lebens zu lesen, dient als Metapher, um das Predigtgesche-hen als auf der Kanzel öffentlich vollzogenen Kunst des lauten Lesens und damit – in Aufnahme der Bildakt-Theorie des Kunsthistorikers Horst Bre-dekamp1 – als Leseakt in den beiden Büchern zu beschreiben. Aufbauend auf der für den evangelischen Pfarrberuf erforderlichen Haltung der Prä-senz vor der Heiligen Schrift wie vor den ihm anvertrauten Menschen wird die Predigtarbeit als geistliche Übung skizziert und in das Anliegen einer kulturwissenschaftlich orientierten Homiletik eingezeichnet. Schließlich werden die einzelnen homiletischen Miniaturen dieses Bandes kurz von ihrer Leistung für eine solche Predigtlehre her vorgestellt.

Die von Jeremias Gotthelf im zweiten Teil des genannten Romans mit beißender Ironie geschilderte Gestalt des Vikars eines Emmentaler Pfar-rers dient der Veranschaulichung der diesem gerade mangelnden Kunst des Lesens in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens. Gotthelf schildert die Szene, wie die Pfarrfrau, Sophie, die Pfarrerstochter, der Pfar-rer und der Vikar beim sonntäglichen Mittagessen im Pfarrhaus am Tisch sitzen. Beim angeregt verlaufenden Tischgespräch wird der Vikar plötzlich durch die kecke Sophie bloßgestellt und aus seinen zuvor ausführlich ent-falteten Predigtphantasien geholt, in die ihn die große Zahl der Gottes-dienstbesucher beim heutigen Gottesdienst sich hineinsteigern ließen. Es liege gar nicht an ihm und seiner Predigt, argumentiert die Pfarrerstoch-

1 Vgl. H. BREDEKAMP, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010.

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ter, sondern daran, dass die Leute wegen Anne Bäbi Jowägers frisch ver-heirateter Frau gekommen seien, auf die sie neugierig gewesen wären und die sie beim ersten Kirchgang hätten sehen wollen:

»Der arme Vikari! Er war stark in der Exegese, und seine Professoren hatten ihn im Hebräischen und Griechischen stark gefuchset, und wenn er auf eine dunkle Stelle kam im Hiob oder in den Sprichwörtern, so kriegte er Angst, zog Stiefel an und lief auf Bern (als dem Sitz der Theologischen Fakultät, K.R.), denn es war ihm heiliger Ernst um die Sache. Wenn ihm dann dort einer sagte, es sei ein Punkt versetzt oder das Ding beziehe sich aufs Nachfolgende und nicht aufs Vorhergehende, ihm den Schlüssel zum verschlossenen Heiligtum in die Hände gab, so ward er wieder glücklich, lief heim, den Kopf voll Licht, lief herum daheim mit langen Beinen, und es dünkte ihn, es sollte ihm jedermann ansehen, was er Neues heimgebracht, welch tiefen Grund er gefunden. Aber, ach, über die Exegese des Lebens hatte kein Professor ihm was gesagt, für die war an der Hochschule kein Lehrstuhl, und Vater und Mutter, die sonst sehr oft in solchen Dingen gelehrter sind, […] hatten ihn in diesem Punkte auch nicht gehörig gefuch-set. […] So ist der Mensch glücklich zu preisen, welcher ein Auge hat, denn was ist der Mensch, wenn er kein Auge hätte! Aber schöner und besser als ein Auge sind zwei, und zwei hat Gott dem Menschen gegeben, und halb-blind ist und bleibt der immer, der nur eines hat. Und wie Gott dem Men-schen zwei Augen gegeben, das heilige alte Buch, das nicht bloß ein Vikari soll exegesieren können, sondern jeder Christ verstehen, aber auch das wunderbare Buch, das, aus göttlichem Quell entsprungen, wie durch un-zählige Bäche ein Strom, genährt wird durch Quellen aus jedes Menschen Brust, das Gott mit lebendigem Atem durchhaucht und Blatt um Blatt be-schreibt vor der Menschen selbsteigener Augen. Und wie die beiden Augen einander helfen auf unerklärliche Weise und eins ohne das andere verwai-set sich fühlt und einsam und nur noch halb so gut als früher, so hat es auch ein Buch mit dem andern Buch; ein Buch wirft Licht auf das andere Buch, beide strömen Leben sich zu, und halbdunkel wenigstens bleibt ein Buch ohne das andere Buch.

Ein Mensch der nur in einem der Bücher lesen kann, ist gleichsam nur ein halber Mensch, nur halbwitzig, oder ist, als ob er nur ein Auge hätte.«2 Wird jedoch die Kunst beherrscht, mit beiden Augen in die beiden Bücher der Bibel und des Lebens zu sehen, so stellt Gotthelf fest, »da nahen sich Himmel und Erde, ist der Himmel offen, Engel Gottes steigen auf und nie-

2 J. GOTTHELF, Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht. Zweiter Teil, Basel und Zürich 1978 (= Jeremias Gotthelf, Ausgewählte Werke in 12 Bänden hg. von W. MUSCHG, Bd. 4), S. 70f.

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der, strömende Offenbarungen Gottes verklären das Leben, heiligen die Zustände, die Bibel gibt dem Leben eine Weihe, das Leben macht die Bibel lebendig.«3 Himmel und Erde nähern sich beim Lesen in den beiden Bü-chern auf geheimnisvolle Weise wie in Genesis 28 beim Traum Jakobs von der Himmelsleiter einander an.4

2. Ein Leseakt unter besonderer Berücksichtigung der menschlichen Stimme

In Aufnahme eines Gedankens von Friedrich Schleiermacher und in An-lehnung an die Bildakt-Theorie des Kunsthistorikers Horst Bredekamp kann das Predigtgeschehen als öffentliche Kunst des lauten Lesens in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens und damit als ein korporal ver-mittelter und auf Resonanz in den Hörenden angewiesener Leseakt5 ver-

3 A.a.O., S. 72. – Eine vergleichbare Theorie entwickelt R. FISCHER, Die Kunst des Bibellesens. Theologische Ästhetik am Beispiel des Schriftverständnisses (Beiträge zur theologischen Urteilsbildung 1), Frankfurt am Main 1996, S. 228: »Zusammen-fassend läßt sich die Kunst des Bibellesens definieren als das Bemühen, sich auf ein bestimmtes Wahrnehmungsgefüge einzulassen, in dem Sprachgestalt und Sachgehalt der biblischen Texte sowie die Texte der Heiligen Schrift im Kontext der Gesamtwirk-lichkeit der Schöpfung Gottes zusammengesehen werden. Dieses Wahrnehmungsge-füge kann nicht ein für allemal ›festgestellt‹ werden, sondern konstituiert sich immer wieder neu in der Begegnung von Leserinnen und Lesern mit den Texten. Es gründet sich nämlich auf eine ästhetische Offenheit, in der Rationalität und Sinnlichkeit zusammentreffen als wechselseitig aufeinander angewiesene Erkenntnisweisen des Menschen.« Biblische Texte entfalten »erst im Kontext der Weltwirklichkeit ihren ganzen Reichtum […] und umgekehrt die Weltwirklichkeit sich erst im Lichte der Bibel als ein theologisch aussagekräftiger Kontext erweist« (S. 227). 4 Vgl. K. APEL, Predigten in der Literatur. Homiletische Erkundungen bei Karl Phi-lipp Moritz (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 7) Tübingen 2009, der im Rahmen seiner Überlegungen zu einer literarischen Homiletik anhand der Romane von Karl Philipp Moritz deutlich macht, wie sich in den literarischen Erzäh-lungen von Predigten Erfahrungen realer Prediger und Predigthörer auf anschauliche und anregende Weise widerspiegeln. Kim Apels Studie bietet einen wichtigen Beleg für die aktuelle geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Orientierung der Homiletik. Das imaginäre homiletische Spiel bringt eigene und fremde Predigten auf spieleri-sche Weise zusammen. In den literarischen Erzählungen spiegeln sich Erfahrungen realer Prediger und Predigthörer auf anschauliche und anregende Weise (S. 500). 5 Zur Lesbarkeit kultureller Prozesse und zur Bedeutung der Metapher »Kultur als Text« in der aktuellen kulturanthropologischen Diskussion vgl. A. HORVÁTH, Kultur als Text? Lesbarkeiten von kulturellen Prozessen, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 15, August 2006 (http://www.inst.at/trans/16Nr/07_3/-horvath16.htm – Abruf 7.5.2013), S. 2: Ein Kulturzusammenhang wird objektiviert, indem ihm ein Textstatus zuerkannt wird. »Damit lassen sich kulturelle Bedeutungen

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standen werden, der sich im Anschluss an den frankophonen Homiletiker Bernard Reymond unter besonderer Berücksichtigung der menschlichen Stimme vollzieht.

Die Beschreibung des Predigtgeschehens als Leseakt knüpft an Fried-rich Schleiermachers Charakterisierung des Predigers als öffentlichem lauten Leser und der Predigthörer als die Predigt still Mitsprechenden an. »Der Prediger hat die Rolle des Sprechers inne, weil nicht alle Sprecher-subjekte gleichzeitig reden können. Sie sprechen hörend mit.«6 Dass die Predigt zugleich immer auch mündliche Rede ist, wird darüber jedoch nicht verschwiegen. Der Leseakt vollzieht sich in der Predigt als rhetori-sche Leistung wie zugleich als kreatives Nachsprechen des biblischen Textes und damit als dessen Artikulation für die Gegenwart. Die Hörerin-nen und Hörer sprechen bei der Predigt still mit. Die Metapher des stillen Mitsprechens der Predigt und damit des lauten Mit-Lesens in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens versucht damit, das spezifische Gesche-hen der Predigtrezeption im evangelischen Gottesdienst zum Ausdruck zu bringen.

Horst Bredekamp versteht unter dem Bildakt »eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln […], die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.«7 Bei diesem kunstwissenschaftlichen Theorieansatz wird das »Bild« von Bredekamp gerade nicht an die Stelle der Wörter, son-dern an die des Sprechenden gesetzt. »Indem dessen Position durch das Bild eingenommen wird, werden nicht nur die Instrumente, sondern die Akteure vertauscht. Unter umgekehrten Vorzeichen geht der ›Bildakt‹ damit auf die Ursprungsbestimmung des ›Sprechakts‹ zurück. Der von Schleiermacher bis Austin verfolgte Sinn des ›Sprechakts‹ zielte auf Äuße-rungsaspekte, die den Effekt der Wörter und Gesten im Außenraum der Sprache zum Wesen ihrer selbst machten. Der hier verwendete Begriff des ›Bildakts‹ nimmt diese Spannungsbestimmung auf, um den Impetus in die Außenwelt der Artefakte zu verlagern. In diesem Positionswechsel geht es um die Latenz des Bildes, im Wechselspiel mit dem Betrachter von sich

jenseits von Subjektsintentionen und flüchtigen, situativen Handlungsumständen festhalten und in einem gesellschaftlichen System von Bedeutung und kulturorien-tierter Selbstauslegung verankern. Kultur ist eine eigene Praxis der Signifikation, die Bedeutungen produziert. Sie ist das von den Mitgliedern einer Gesellschaft ›selbstge-sponnene Bedeutungsgewebe‹, durch das Handlungen permanent in interpretierende Zeichen und Symbole übersetzt werden.« 6 K. NOWAK, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, S. 393. 7 BREDEKAMP, Theorie des Bildakts, S. 52.

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aus eine eigene, aktive Rolle zu spielen.«8 Bredekamp will mit seiner Bild-akttheorie klären, welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Den-kens und Handelns zu springen. Neben der Sprechakttheorie von Austin greift er dabei auch auf die Ästhetik von Theodor W. Adorno zurück, der das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Rezipient dahingehend be-schreibt, dass ein Kunstwerk nicht unmittelbar auf den Betrachter ausge-richtet ist, sondern vielmehr in sich ein Kraftfeld darstellt, das »unter den Augen gewissermaßen lebendig wird.«9 Bilder sind für Adorno »nicht Dul-der, sondern Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen«10. Genau diese lebendige Eigenkraft des Bildes stelle die Quintessenz des Bildakts dar. Es handele sich um eine Art rhetorischer Kraft, die sich an den lebendig wirkenden Sprachbildern entzünde und in einer Affinität zum materiell emergierenden Bild stehe.11

Die Analogie des Verständnisses der Predigt als Leseakt zu Brede-kamps Bildakttheorie besteht darin, dass die Predigt als schriftauslegende Predigt ihre Hörer in einen intermediären Raum über dem durch den Pre-diger vermittelten Akt des Lesens in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens zieht, der eine eigene Wirklichkeit schafft und zum Schutzraum der Gottesbegegnung wird. Nicht das Reden über Gott, sondern das laute Lesen in den beiden Büchern schafft, dass es zu dieser Form der Gottesbe-gegnung zwischen dem einzelnen Hörer und der Heiligen Schrift kommt. Dem Lesevorgang eignet eine performative Kraft, mit der eine neue Wirk-lichkeit, die Gottes-Wirklichkeit in der Predigt geschaffen wird. Die Predigt verstrickt – ebenso wie bereits die Lesung der biblischen Bücher im Got-

8 A.a.O., S. 51f. 9 A.a.O., S. 323. Unter Verweis auf TH. W. ADORNO, Ästhetik (1958/59), in: Nachge-lassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 3, Frankfurt am Main 2009. 10 A.a.O., S 326. 11 Vgl. a.a.O., S. 22. Vgl. auch die Überlegungen der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte zur Performativität von Texten und zur Literatur als Akt des Lesens in: E. FISCHER-LICHTE, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 135–145. Bei Texten, die von anderen vorgetragen werden, dringt die sich aus dem Körper des Vortragenden lösende Stimme »durch das Ohr des Zuhörens in dessen Körper ein. Zugleich kehrt sie auf demselben Weg in den Körper des Vortragenden zurück.« (S. 135) »Lesen als ein performativer Akt kann daher nicht als Suche nach einem ein-heitlichen Sinn, den der Autor intendiert haben mag, beschrieben werden, sondern als ein komplexes kognitives, imaginatives, affektives und energetisches Geschehen in einer liminalen Situation, das dem lesenden Subjekt neue Möglichkeiten zu fühlen, zu denken, sich zu verhalten und zu handeln, neue Möglichkeiten zu einer verkör-perten Praxis eröffnet.« (S. 143)

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tesdienst – die Lebensgeschichten der Hörer mit der Gottesgeschichte.12 Predigt lässt sich als komplexer Leseakt und damit als eine Art des gelenk-ten, unterstützten Lesens verstehen, an welchem der Prediger über der Predigt den Hörern Anteil gewährt. Voraussetzung dieses Verständnisses der Predigt ist die Bereitschaft des Predigers, den Hörer zum eigenständi-gen und lebenstextbezogenen Lesen des biblischen Textes zu führen.

Die Metapher der Predigt als Leseakt steht in einer gewissen Nähe zu Eduard Thurneysens klassischer Gewitter-Metapher für die Predigt, bei der der Blick des Hörers auf eine Stelle am Nachthimmel gelenkt wird, an der ein Blitz aufgeleuchtet hatte und möglicherweise wieder aufleuchten wird.13 Auf diese Weise kommt es zugleich zu einem Zurücktreten der Per-son des Predigers, der damit eine – nach Romano Guardini – demütige Rolle einnimmt. Der Prediger macht auf etwas aufmerksam, weist hin, 12 Vgl. dazu TH. MELZL, Die Schriftlesung im Gottesdienst. Eine liturgiewissenschaft-liche Betrachtung, Leipzig 2011, S. 332–337, der in seiner phänomenologisch orien-tierten Modellvorstellung der Schriftlesung im Gottesdienst als transtextuelles Phä-nomen davon ausgeht, dass im Vollzug der Lesung und damit m. E. auch analog in der Predigt als Schriftauslegung sich die hörbar gewordene Geschichte Gottes mit der Geschichte des Menschen verstrickt. Melzl greift dabei auf den Entwurf einer Philo-sophie der Geschichten von Wilhelm Schapp zurück, den dieser grundlegend in W. SCHAPP, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Mit einem Vorwort von H. LÜBBE, Frankfurt am Main 31985 (11953) entwickelt. Schapp geht von der Grundthese des Menschen als ein in Geschichten verstricktes Wesen aus. »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und In Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusam-men, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann.« (S. 1) Die Geschichte stellt für Schapp ein Gebilde und keinen Gegenstand dar (S. 85). Sie lässt sich deshalb nicht als Gegenstand untersuchen, »weil etwas Geschichte nur insoweit ist, als ich in die Geschichte verstrickt bin. Dies Verstricktsein lässt sich nicht so aus der Geschichte hören, dass auf der einen Seite die Geschichte übrigbliebe und auf der anderen Seite mein Verstricktsein« (S. 85f.). Von daher kann die Geschichte nicht zum Objekt werden. Außerhalb des Verstricktseins kann von keinem Sein geredet werden (S. 178). Vgl. auch die Ausarbeitung dieses Ansatzes bei W. SCHAPP, Philoso-phie der Geschichten, furt am Main 21981 (= Neuausgabe, hg. von J. SCHAPP und P. HEILIGENTHAL) und die kulturwissenschaftlich-theologische Interpretation des Ge-samtwerkes durch M. POHLMEYER, Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literari-sche und theologische Provokationen im Denken von W. Schapp (Pontes. Philoso-phisch-theologische Brückenschläge 22), Münster 2004. Pohlmeyer geht davon aus, dass die Metapher des In-Geschichten-Verstrickt-Seins biblische Kernmotive aufgreift und als narrative Fundamentalanthroplogie verstanden werden kann. Der Geschich-ten-Philosophie gelinge, »Theorieformen erstphilosophischer, sprachphilosophischer, literarischer und ethischer Prägung zu einer ästhetischen Theorie des Handelns und Verstehens zusammenzuführen.« (S. 239) 13 Vgl. E. THURNEYSEN, Die Aufgabe der Theologie, in: DERS., Das Wort und die Kir-che, München 1927, S. 196–231, S. 213.

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überlässt aber die Sache selbst dem anderen. Der Vorleser weiß ebenso, dass er den Text eines anderen mit vollem Einsatz wie mit persönlicher Färbung in der Stimme zu Gehör bringt, keinesfalls es sich aber um seinen eigenen Text handelt.

Die Predigt wird bereits durch ihre dramaturgische Ereignishaftigkeit zum Leseakt.14 In der klassischen rituellen Rahmung durch den sogenann-ten Kanzelauftritt mit Kanzelgruß, Bitte um gesegnetes Hören, Ankündi-gung des Predigttextes und Aufschlagen des Bibel- oder Perikopenbuches sowie die Verlesung des Textes mit der sich daran anschließenden Ausle-gung über der geöffneten Bibel kommt dies auch auf der Gestalt-Ebene sinnenfällig zum Ausdruck.

So, wie das Bild in Horst Bredekamps Bildakttheorie gegenüber seinem Betrachter eine Eigendynamik entwickelt und ihn über dem Sehvorgang hineinzieht, so verwickelt die Predigt als komplexer Leseakt ihre Hörerin-nen und Hörer in die verlesenen und in der Auslegung auf den Lebenstext hin entfalteten biblischen Texte und verstrickt sie mit ihrer jeweiligen Lebensgeschichte in die Gottesgeschichte. Die Vorstellung der Predigt als Leseakt nimmt ernst, dass Ausgangspunkt der gottesdienstlichen Predigt im Regelfall ein zuvor verlesener biblischer Text ist, der während der Pre-digt zudem materiell in der aufgeschlagenen Bibel bzw. im Perikopenbuch präsent bleibt15 und auch in Ausschnitten wiederholend lesend zitiert wer-den und mittels der Stimme des Predigers nochmals erklingen kann. Die

14 Vgl. dazu den Hinweis bei CH. WULF/J. ZIRFAS, Performative Welten. Einführung in die historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals, in: DIES. (Hg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, München 2004, S. 7–45, S. 25, dass sich Rituale wie ein Text lesen lassen. Die dort entwickelte hilfreiche Beschreibung kann auch auf das Predigt-Ritual übertragen werden: »In mimetischen Prozessen schreiben sich Rituale in die Körper der an ihnen beteiligten Menschen ein. Inkorporiert werden die von den rituell Handelnden aufgeführten Figurationen, Sequenzen und Schemata über körperliche Bewegungen und die Sinne der Handelnden. Da diese symbolisch organisiert sind, schreiben sich mit den körper-lichen Figurationen und Sequenzen auch deren Bedeutungen ein. Dies gilt nicht nur für rituell Handelnde, sondern auch für die Menschen, die ihnen zuschauen. Insofern Rituale Inszenierungen und Aufführungen von Körpern sind, haben sie meistens mehr soziales Gewicht als bloße Diskurse. Denn mit ihrer Körperlichkeit bringen die rituell Handelnden ›mehr‹ in die soziale Situation ein als lediglich sprachliche Kom-munikation. Dieses ›mehr‹ wurzelt in der Materialität des Körpers und der in ihr begründeten Existenz der Menschen, ihrer körperlichen Gegenwart und Verletzlich-keit.« (S. 8) 15 Vgl. die gleichlautende Forderung von G. MERZ, Die evangelische Predigt (WS 1936/37), in: DERS., Der Pfarrer und die Predigt. Eingeleitet und hg. von F. W. KANT-

ZENBACH, München 1992, S. 71–166, S. 164f.

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beliebte Praxis, den Predigttext nicht zu Beginn der Predigt, sondern erst nach einer vermeintlich aktualisierenden Hinführung für die Hörer zu verlesen, erweist sich dabei als kontraproduktiv und stört die Klarheit des Leseaktes.

In die Beschreibung der Predigt als Leseakt ist zugleich der in der so-genannten Neuen Phänomenologie um Gernot Böhme entwickelte philoso-phische Praxisbegriff eingegangen, der von Eva Schürmann am Beispiel des Sehens als Praxis hilfreich entfaltet wurde. Er beschreibt eine spezifi-sche performative Praxis epistemischer, ethischer und ästhetischer Welt-erschließung und überwindet damit das vorherrschende Subjekt-Objekt-Schema.16 Auch die Vorstellung der Predigt als Leseakt beschreibt ein Ge-schehen jenseits des Subjekt-Objekt-Schemas im Sinne einer Lösung der Wahrnehmungspraxis aus gegenständlichen Denkweisen17 und erlaubt, das wechselseitige Ineinandergreifen des Interpretationsprozesses zu be-schreiben, über dem sich – nach Artikel 5 der Confessio Augustana – Gott durch seinen Heiligen Geist unverfügbar vergegenwärtigt. »Philosophisch bezeichnet man mit Praxis […] eine Vernetzungsstruktur interdependenter Handlungszusammenhänge. Handelnde, Sprechende und Wahrnehmende sind demzufolge Teile eines Geflechts von Rahmenbedingungen, die nicht nach Art eindeutig präzisierbarer Objekte vorliegen, sondern die durch die Lebensformen einer Kultur und Epoche, durch den Sprachgebrauch einer Interessengemeinschaft und durch soziale Normen und Standards einer Gesellschaft geprägt werden. Die Praxis stellt ein Beziehungsgewebe zwi-schenmenschlicher Aktivitäten, ihrer Bedingungen und Strukturvoraus-setzungen dar, dessen wesentliches Charakteristikum darin besteht, dass Sinn gemeinsam, d. h. intersubjektiv und interaktiv, kooperativ oder kon-fligierend, in einer sozial geteilten Welt ausgehandelt und hervorgebracht wird.«18

Wie Horst Bredekamp in seiner Bildakttheorie, so nimmt auch die Vor-stellung des Sehens als Praxis bei Eva Schürmann die klassische Sprech-akttheorie zum Ausgangspunkt ihrer Modellvorstellung. Die analoge Über-tragung dieser Modellvorstellungen auf die Predigt stellt damit im Grunde nichts anderes als die kulturwissenschaftlich konnotierte Weiterführung älterer sprechakttheoretischer Überlegungen der Homiletik dar, wie sie

16 Vgl. E. SCHÜRMANN, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt am Main 2008, S. 14. 17 Vgl. a.a.O., S. 67. 18 A.a.O., S. 64.

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etwa bereits von Henning Luther in den 1980er Jahren präferiert worden sind.19

In seiner in französischer Sprache erschienenen Predigtlehre zieht der in Lausanne lehrende reformierte Praktische Theologe Bernard Reymond theologische wie methodische Konsequenzen daraus, dass die christliche Predigt Mündlichkeit (oralitaire) und nicht Literatur (littéraire) darstellt. Sprechen transportiert für ihn eine Botschaft direkt, ohne das Medium einer Verschriftung dazwischenzuschalten. Es stellt eine Form der Münd-lichkeit dar. Reymond beschreibt dieses Phänomen der Predigt als ihre Sakramentalität.20 Er schlägt deshalb vor, von »Sakramentalität« und nicht von »Sakrament« zu sprechen, um bei der Predigt nicht unlösbare dogma-tische Probleme konstant hervorzurufen. Sakramentalität verdeutlicht, dass es um eine rituelle Annäherung an die göttliche Gnade geht. Deshalb kann auch die Predigt wie ein Sakrament betrachtet werden. Die Sakra-mentalität der Predigt bezeichnet dabei eine Funktion, nicht ein Wesen.21 Der sakramentale Charakter der Predigt lässt danach fragen, woher dieser stammt und was seine Textur ausmacht, und wodurch er hervorgerufen wird.22 Reymond macht damit einen einleuchtenden Vorschlag, der die klassischen, auf einer das biblische Zeugnis verengenden scholastischen bzw. augustinischen Denktradition beruhenden Problemstellungen be-wusst umgeht. Bei Calvin vollzieht sich die Predigt wie eine Christophanie oder Theophanie. Kündigt der Pfarrer das Evangelium an, so ist Gott eben-so präsent wie in der Feier der Sakramente.23 Diese Vorstellung Calvins vermag das Wort des Predigers wie die Gemeinde zu sakralisieren, als auch zu paralysieren. Wichtig ist deshalb für Reymond, festzuhalten, dass das Wort des Predigers keine Autorität aus sich selbst heraus besitzt. Es ist nicht sakramental wegen dessen eigenen Könnens, sondern allein im Sinne der geheimen Aktion des Geistes, und damit im Sinne eines eschato-logischen Ausnahmezustandes.24 In historischer Perspektive betrachtet, 19 Vgl. H. LUTHER, Predigt als Handlung. Überlegungen zur Pragmatik des Predigens, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 80, 1983, S. 223–243, aber auch DERS., Pre-digt als inszenierter Text. Überlegungen zur Kunst der Predigt, in: Theologia Practica 18, 1983, S. 89–100. 20 Vgl. B. REYMOND, De vive voix. Oraliture et prédication (Pratiques 18), Genève 1998, S. 21f. 21 Vgl. a.a.O., S. 29f. 22 Vgl. a.a.O., S. 31. 23 Vgl. a.a.O., S. 33. 24 Vgl. a.a.O., S. 36.

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gewährleistet die reformatorische Predigt die göttliche Präsenz. Sie ist der Elevation der Hostie durch den Priester in der Messe zu vergleichen und sichert wie diese die Präsenz Gottes gegenüber den Gläubigen.25

Schlüssel für das Verständnis der Sakramentalität der Predigt sind für Reymond die Materialität bzw. Körperlichkeit der Predigt. Er stellt dazu eine Analogie zu den materiellen Elementen des Abendmahls und der Taufe her. Wie Brot, Wein und Wasser natürliche Gaben der Erde und den-noch konstitutive Elemente des Sakramentes sind,26 so kann auch der Ge-brauch der menschlichen Stimme und alles dessen, was in der Predigt die interpersonale Beziehung herstellt, analog zum Wasser bei der Taufe und zu Brot und Wein beim Abendmahl gesehen werden. Die Stimme konkreti-siert eine der ursprünglichsten menschlichen Beziehungen, nämlich jene des Schreis, der beim Eintreten in die Welt unmittelbar nach der Geburt ausgestoßen wird. Daher eignet der menschlichen Stimme ein doppelter Aspekt: Jener der Emission bzw. des Aussprechens und jener ihrer Rezep-tion. Stimme und Atmung stehen dabei in einem engen Zusammenhang. Der Prediger moduliert seine Stimme und macht dadurch seine gesamte Person zum Resonanzkörper und adressiert sie an andere. Die niederge-schriebenen Worte sind lediglich Verlängerung der gesprochenen. Die Stimme gebrauchend, ruft die Predigt bei ihren Hörern das Echo aller be-reits gehörten Stimmen wach – ihrer eigenen, die ihrer Mutter, die ihrer Umgebung. Geliebt oder gehasst, lässt die Stimme niemanden indifferent.27

Die Stimme, welche der Predigt einen guten Teil ihrer Sakramentalität gibt, bleibt dennoch Stück für Stück eine menschliche Stimme – die Stim-me eines Wortes, das eine Person an andere Personen richtet. Die Stimme ist sowohl Indiz der Körperlichkeit, wie sie zugleich auch Präsenz mar-kiert. So könne man sich auch Jesus als das inkarnierte Wort nicht ohne Stimme vorstellen.28 Wenn die Predigt an die Stimme gebunden ist, dann gehört sie zu den im angelsächsischen Sprachgebrauch »performing arts« genannten Künsten wie die Musik, das Theater, der Tanz oder die Oper, die alle solange nicht wirklich existieren, bevor sie nicht Objekt eines Konzer-tes oder einer Aufführung werden. Bei diesen »performing arts« ersetzt jedoch das Studieren etwa einer musikalischen Partitur niemals die Auf-führung selbst, so, wie auch das Libretto einer Oper erst auf der Bühne seine Repräsentanz erfährt. Im Gottesdienst sind wie im Theater oder im 25 Vgl. a.a.O., S. 37. 26 Vgl. a.a.O., S. 37f. 27 Vgl. a.a.O., S. 39f. 28 Vgl. a.a.O., S. 44f.

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Konzert nicht allein die Offiziellen oder Aufführenden präsent, sondern auch das Publikum bzw. die Anwesenden. Das eine wie das andere ist gleichermaßen erforderlich für die Existenz der Performance. Es verhält sich deshalb mit der Predigt wie mit der Taufe oder dem Abendmahl: Die effektive Präsenz derer, die der Feier beiwohnen, ist Teil des Zeichenvor-ganges bzw. der Sakramentalität. Außerhalb der gottesdienstlichen Ver-sammlung verliert die Predigt jedoch wieder ihre Koeffizienz der Sakra-mentalität.29

Der Prediger hat sowohl seinen Körper wie seine Stimme einzuset-zen.30 Körperliche Präsenz des Prediger wie Tonalität und Volumen seiner Stimme erfordern mehr Beachtung als das ordnungsgemäße Sprechen der Predigt allein. Sie stellen den entscheidenden Teil der Form der Mündlich-keit dar. Auch die Gemeinde ist mit ihren Körpern wie mit ihrem Verstand und ihren Affekten an der Predigt beteiligt.31 So kann von der körperlichen Partizipation der Gemeinde am Gottesdienst gesprochen werden.32

Mit Hilfe von Bernard Reymond wird deutlich, dass bei Schriftlesung wie Schriftauslegung der menschlichen Stimme die Aufgabe zukommt, das äußere Wort zu materialisieren und dem Heiligen Geist die Möglichkeit zu gewähren, über dem Hörakt das innere Wort Gottes jeweils neu hervorzu-bringen.

In ähnlicher Weise wie Bernard Reymond betont auch Thomas Nissl-müller in seiner Studie über die akustische Rezeption im Predigtgeschehen die Bedeutung der menschlichen Stimme und ihrer Aufnahme durch den »Hör-Akt« des Glaubens.33 Der »Mensch tritt als kreativ-weltvertextende Instanz als Hörer in Kontakt mit Gott, im Hörakt steht der homo signifi-cans quasi ›in Augenhöhe‹ mit Gott – und in diesem ›Hörspiel‹ ereignet bzw. konkretisiert sich Wahrheit, die Wirklichkeit stiftet.«34 Die menschli-che Seelenmembran wird über der Predigt in die Schwingungen des Geis-tes versetzt und der Hörer tritt als eine vom Reden Gottes berührte Instanz in den Blick. Dem Hörakt eignet dabei eine konstruktive Struktur wie hohe

29 Vgl. a.a.O., S. 48f. 30 Vgl. a.a.O., S. 50 31 Vgl. a.a.O., S. 51f. 32 Vgl. a.a.O., S. 64. – Vgl. dazu ergänzend auch DERS., Ritualité liturgique et prédi-cation, in: Informationes Theologiae Europae 6, 1997, S. 67–79, v. a. S. 79. 33 Vgl. TH. NISSLMÜLLER, Homo audiens. Der Hör-Akt des Glaubens und die akusti-sche Rezeption im Predigtgeschehen, Göttingen 2008. 34 A.a.O., S. 408.

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Valenz. Predigt hat dabei immer mit der Unberechenbarkeit des Hörers zu rechnen.35 Sie versteht sich daher als gläubiges Hör-Spiel.36 Der Hör-Akt selbst wird von Nisslmüller als innere Bühnenchoreografie verstanden. »Im Entstehungskosmos des Auredits vernetzen sich die Dimensionen von Syntaktik, Pragmatik und Semantik im Horizont des Predigt-Hör-Aktes zu einer individuellen Vertextungsspur«.37 Nisslmüller leistet mit seiner Aus-lotung der Wahrnehmungspotenziale des homo audiens zugleich einen wichtigen Beitrag zu einer im Bereich der Homiletik bisher noch wenig rezipierten auditiven Ästhetik.38

Mit diesem Ansatz wird deutlich, wie sich Homiletik gegenwärtig zu-nehmend als stärker kulturwissenschaftlich orientierte Disziplin darstellt. Ihre Gesprächspartner sind daher zukünftig weniger die Human- als die Kulturwissenschaften. Stellvertretend für diese Forschungsbemühungen steht die von Albrecht Greule und Elzbieta Kucharska-Dreiß entwickelte »Theolinguistik« als eine zwischen Homiletik und Sprechwissenschaft angesiedelte Disziplin, welche eine eigenständige kulturwissenschaftliche Annäherung an theologische Phänomene versucht. Theolinguistik beschäf-tigt sich mit den durch Religionen definierten Sprachphänomenen. Sie beschäftigt sich mit den Sprachformen, in denen Menschen die Beziehung

35 Vgl. a.a.O., S. 409f. 36 Vgl. a.a.O., S. 423. 37 A.a.O., S. 425. 38 Vgl. dazu insbesondere die Forschungsansätze zur kulturwissenschaftlichen Bedeutung der menschlichen Stimme bei D. KOLESCH/S. KRÄMER (Hg.), Stimme. Annä-herung an ein Phänomen, Frankfurt am Main 2006. In ihrer Einleitung weisen die beiden Herausgeberinnen auf die Marginalisierung der Beschäftigung mit der Stim-me im kulturwissenschaftlichen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts hin. Erst als Folge der performativen Perspektive der Kulturwissenschaften kommt der Stim-me neue Beachtung zu. Die Stimme selbst stellt durch ihre Ereignishaftigkeit, ihren Aufführungs- und Verkörperungscharakter, ihr Subversions- und Transgressionspo-tenzial (indem sie sich ihrer bruchlosen semiotischen, medialen oder instrumentellen Dienstbarkeit entzieht) wie durch ihre Intersubjektivität ein performatives Phänomen par excellence dar. Zudem mischen sich in der Stimme Sprachliches und Bildliches (D. KOLESCH/S. KRÄMER, Stimmen im Konzert der Disziplinen, in: a.a.O., S. 7–15). B. WALDENFELS, Das Lautwerden der Stimme, in: a.a.O., S. 191–210 macht auf die Leibkörperlichkeit der Stimme aufmerksam (S. 201). »In seiner eigentümlichen Dich-te lässt der Leib vieles durchschimmern und anklingen, doch Glanz und Klang sind gebrochen.« (S. 202) S. KRÄMER, Die »Rehabilitierung der Stimme« über die Oralität hinaus, in: a.a.O., S. 269–295 zeigt, dass die Stimme ein eigendynamisches Medium der Sprache darstellt und nicht mehr länger nur als Medium der Wortsprache in den Blick gelangen kann (S. 287). Die Stimme als Mittler und Vermittler steht dazwi-schen und schafft als Medium Verbindungen zwischen differenten Welten (S. 290f.).

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zu einem personal-transzendenten Wesen ausgedrückt haben und ausdrü-cken.39 So steht sie für eine kulturwissenschaftlich unabhängige Annähe-rung an ursprünglich selbstverständlich ausschließlich von der Theologie und ihren Disziplinen untersuchten Phänomenen wie der Theorie der reli-giösen Rede. Michael Thiele bemüht sich in diesem Zusammenhang auch darum, neuere nicht-reduktionistische Verstehenstheorien einzubringen.40 Für ihn adhäsiert Sinn dem Textmaterial nicht. Vielmehr stellt der Rezep-tor Sinn erst in einem Top-down-Prozess her, welcher von strukturierten Phänomenen im Langzeitgedächtnis und bereits angelegten mentalen Mo-dellen zu denjenigen Informationen hinab steigt, welche die Textur offe-riert. »Erst die eigenständige Rezeption und Rezeptur des Rezipierenden vermögen jene wechselseitige libidinöse Spannung hervorzulocken, wel-che den Feuerfunken zwischen Text und Verstehen überspringen lässt.«41 Dabei kommt dem Leseprozess hohe Bedeutung zu. Thiele geht dazu von der Vorherbestimmung der Leser durch situative Szenografien aus.42 Mit Schleiermacher ist Verstehen für ihn immer ein Akt des produktiven Nach- und Vorausschöpfens. Hermeneutik stellt damit die Kunst dar, die Rede eines anderen richtig zu verstehen. Dabei spielen die ergänzende Rezepti-on wie die Generierung des Textsinnes eine wichtige Rolle. Der Gehalt des Textes ergibt sich aus derjenigen Perspektive, welche für den Hörenden Leser Sinnhaltigkeit fertigt. Thiele spricht daher von generierenden Tex-ten.43 So orientiert sich auch in diesem theolinguistischen Verstehensan-satz das Hören einer Predigt am Modell des Leseaktes.44

39 Vgl. A. GREULE/E. KUCHARSKA-DREISS, Theolinguistik: Gegenstand – Terminologie – Methode, in: DIES. (Hg.), Theolinguistik: Bestandsaufnahme – Tendenzen – Impulse (Theolinguistica 4), Insingen 2012, S. 11–18, S. 11f. 40 Vgl. M. THIELE, Genesis Gottesrede. Über das Verstehen der Predigt, in: A. GREU-

LE/E. KUCHARSKA-DREISS (Hg.), Theolinguistik: Bestandsaufnahme – Tendenzen – Impulse (Theolinguistica 4), Insingen 2012, S. 69–84. 41 A.a.O., S. 69f. 42 Vgl. a.a.O., S. 71. 43 Vgl. a.a.O., S. 74–77. 44 Vgl. ähnlich bereits M. THIELE, Öffentliche Rede im kirchlichen Raum (Theolingu-istica 1), Regensburg 2008, der dort das Anliegen eines interdisziplinären Aus-tauschs von Theologie und Sprachwissenschaften skizziert. Thiele betont damit eine Tendenz aktueller homiletischer Theoriebildung, die sich meiner These einer zuneh-mend geistes- oder kulturwissenschaftlich orientierten Homiletik zuordnen lässt. Er vertritt das Konzept einer religiösen Rhetorik und versteht die Predigt im Kontext der gegenwärtigen Gesellschaft als Prototyp der Rede. Von daher eignet der Homiletik hohe Relevanz für eine universale Redelehre (S. 14). Religiöse Rhetorik beschäftigt

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Bereits 2002 hatte Manfred Josuttis darauf hingewiesen, dass sich der homiletische Akt »als ein Geflecht von Resonanzbeziehungen beschrei-ben«45 lässt. Resonanz stellt für ihn mit Hermann Schmitz eine atmosphäri-sche Form der Wechselwirkung dar. Gefühle, die einen Menschen ergrei-fen, lösen leibliche Reaktionen aus.46 Eine Stimme löst Schwingungen aus, die den Raum und die darin Anwesenden erfüllen. Predigt kann daher als Aufenthalt in einem von Prediger, biblischem Text und Hörer erzeugten, wechselseitig aufeinander einwirkenden Atmosphären bestimmten media-len Zwischenraum verstanden werden.47

Predigt als Leseakt rückt die Predigt in die Nähe zur Schriftlesung im Gottesdienst und macht die enge Verbindung zwischen beiden sichtbar. Der Leseakt wird als ein intimer Schutzraum verstanden, der zwischen Sprechendem und Hörenden errichtet wird.48 Auch Anton Theophilus Boy-sen, der Begründer der amerikanischen Pastoralpsychologie und Klini-schen Seelsorgeausbildung, hatte die hermeneutische, an den biblischen Texten geschulten Lese-Fähigkeit des Theologen als Schlüssel zur Entziffe-rung der living human documents in der Seelsorge betont. Predigtarbeit als geistliche Übung und Lektürearbeit fördert die Kunst des Lesens in den beiden Büchern der Bibel wie des Lebens. Das Verständnis der Predigt als Leseakt setzt dabei jedoch ein Verständnis des Lesens als verweilendes, nicht als verbrauchendes Lesen voraus.49

sich mit dem »Handwerkszeug«. Predigt als religiöse Rede steht im Gespräch mit der Zuhörerschaft (S. 15) und vollzieht dieses im Sinne eines virtuellen Dialogs, aus dem heraus Thiele seine Praxistheorie entwickelt (S. 17). Induktive Theologie und Homile-tik stellen für ihn ein theoretisch gestütztes Handlungswissen zur Verfügung (S. 27). 45 Vgl. M. JOSUTTIS, Predigt als Resonanzgeschehen, in: C. THIERFELDER/D. H. EIBACH (Hg.), Resonanzen. Schwingungsräume Praktischer Theologie, Stuttgart 2002, S. 17–27, S. 17 46 Vgl. a.a.O., S. 17ff. 47 Vgl. a.a.O., S. 25ff. 48 Vgl. A. MANGUEL, Eine Geschichte des Lesens, Berlin 51998 mit seinen Hinweisen zur ursprünglichen Praxis des lauten Lesens. Auch Manguel spricht vom »Akt des Lesens« (S. 35). Die Freiheit des Aktes des Lesens besteht in der Möglichkeit, Ton und Akzentuierung beim lauten wie auch beim stillen Lesen selbst zu bestimmen (S. 149). 49 Vgl. M. SEITZ, Wilhelm Löhe lesen – ein Portal, in: D. GRAF VON DER PAHLEN (Hg.), Wilhelm Löhe. Sein Zeugnis, sein Leben. Ein Löhe-Brevier, Neuendettelsau 2008, S. 7–13: »Die Menschen der alten und mittelalterlichen Welt, in der es keine oder nur wenige Bücher gab, lasen langsam, das Gelesene wiederholend, besinnend, verwei-lend.« (S. 9) Das verbrauchende Lesen dagegen huscht schnell über die Zeilen und Sätze hinweg.

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Die von Klaas Huizing entwickelte Konzeption einer »Lesetheologie« wäre an dieser Stelle als systematisch-theologische Bezugstheorie durch-aus anschlussfähig. Sie beschränkt sich jedoch ausschließlich auf die Be-schreibung des persönlichen Leseaktes der Heiligen Schrift und verzichtet auf jegliche Bezugnahme zur Predigtpraxis. Klaas Huizing versteht Theo-logie im Rahmen eines lektoralen turns als »grammatisch-hermeneutische Besinnung auf die im porträtierten Gesicht der Heiligen Schrift erschlos-sene christliche Lebenswelt«50. Er kann sich deshalb auf das alleinige Le-sen in der Schrift beschränken, weil er dieser eine inhärente, die mensch-liche Lebenswelt deutende Kraft zuschreibt, ohne dazu wie etwa Jeremias Gotthelf oder Anton Theophilus Boysen zugleich auf die Metapher des parallel zu lesenden »Buch des Lebens« zurückzugreifen. Der Leser der Heiligen Schrift vernimmt über seiner Lektüre »nicht irgendeinen An-spruch, sondern einen persönlichen. Die Sache selbst der Theologie, der instantam zugegene Möglichkeitsspielraum neuschöpferischen Seins, er-schlossen durch Jesu Lebensform, ist nicht das neutrische Sein der Philo-sophen und philosophischen Theologen. […] Sache selbst der Theologie ist das porträtierte Gesicht der Schrift.«51 Mittels der Metapher vom »Gesicht der Schrift« beschreibt Huizing eine spezifische Weise lektoraler Wirk-lichkeitserschließung, die für ihn mit einer Distanzierung von der Alltags-welt einhergeht. Beim Eintreten in die Textwelt über der Lektüre der Heili-gen Schrift macht der Leser »die Erfahrung, daß der Text ihn meint und auslegt«52 und er beginnt, seine eigene Lebensgeschichte in der Schrift zu lesen. Huizings physiognomisch-morphologische Schriftlehre geht letztlich davon aus, dass der Leser über dem Lesen der Heiligen Schrift auf den dort inkarnierten Christus trifft und zu ihm in ein verantwortliches Gegenüber-verhältnis eingesetzt wird. Die Lektüre erschließt einen Erfahrungsraum zur Ausgestaltung der eigenen christomorphen Lebensgestalt,53 der im

50 K. HUIZING, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen (Theologische Bibliothek Töpelmann 75), Berlin/New York 1996, S. 96. 51 A.a.O., S. 116. 52 A.a.O., S. 131. 53 Vgl. a.a.O., S. 222. – Erste Überlegungen seiner Lesetheologie finden sich bei K. HUIZING, Das Gesicht der Schrift. Grundzüge einer bibelliterarischen Anthropolo-gie, in: DERS./U. H. J. KÖRTNER/P. MÜLLER, Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundle-gung einer Lesetheologie, Bielefeld 1997, S. 13–51: »Im Akt der Lektüre geht es […] um eine leibhaft erfahrbare Beziehungswirklichkeit. Evidenz bleibt hier zurückge-bunden an ein leibliches Betroffensein von der überwältigenden […] Präsenz des porträtierten Christus.« (S. 49) Dieser macht auf die Leser einen Eindruck, indem er die körpersprachlich gesteuerte Wahrnehmung und damit die Conditio humana

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Grunde ebenso wenig der weiteren Vermittlung durch den Prediger oder die Predigerin wie der parallelen Lektüre im »Buch des Lebens« bedarf, aber dennoch wichtige kulturwissenschaftlich-theologische Aspekte des auf die Predigt zu übertragenden Leseaktes erschließt und insbesondere die Fähigkeit der Heiligen Schrift zur Deutung von persönlichen Lebens-kontexten hervorhebt.

Da sich Martin Nicols »Dramaturgische Homiletik« nahezu ausschließ-lich auf den propagierten Paradigmenwechsel vom »Vortrag« bzw. der »Vorlesung« als Kennzeichen der »alten« Predigt hin zum »Film« als Signa-tur der »neuen« Homiletik konzentriert, bleibt die Metapher der Predigt als Lesevorgang in diesem bedeutungsgeschichtlich vor allem in der Pfarrer-schaft hoch wirksamen Konzept außer acht und gerät eine entscheidende Dimension der Predigtarbeit in den Hintergrund.54 Im Grunde aber prakti-ziert der moderne zeitgenössische Film nichts anderes als eine Bild gewor-dene literarische Methode und findet sich die Technik der »moves« und »structure« mit einer großen Selbstverständlichkeit bereits in frühen avantgardistischen literarischen Texten bei Marcel Proust, Jorge Luis Bor-ges, James Joyce oder im Passagenwerk von Walter Benjamin. Daher zielen meine Überlegungen auf eine Ergänzung der homiletischen Metaphern zu einem Ensemble hilfreicher Modelle des Predigtgeschehens, die einen

revitalisiert (S. 39). Eine Weiterführung dieses als lektoralen turn der Theologie propagierten Ansatzes findet sich in: K. HUIZING, Ästhetische Theologie. Band I: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Stuttgart 2000. 54 Ein Hinweis darauf, weshalb Martin Nicol selbst die Predigt nicht als Leseakt verstehen kann, findet sich bei M. NICOL, Kult um die Bibel und Kultur des Lesens, in: R. FREIBURG/M. MAY/R. SPILLER (Hg.), Kultbücher, Würzburg 2004, S. 1–13. Nicol sieht dort die Predigt als im Grunde isoliertes Geschehen im von ihm als Kult verstande-nen protestantischen Gottesdienst und kommt zu dem Ergebnis, dass der Protestan-tismus keine Formen des liturgischen Umgangs mit der Bibel entwickelt habe, die denen anderer Konfessionen vergleichbar wären (S. 5). Der Schwerpunkt des Wort-gottesdienstes habe sich von den Lesungen zur Predigt verlagert. Damit liege der protestantische Akzent auf der Auslegung im Sinne einer »biblischen Fermentierung des Alltags.« (S. 6) Nicol versteht in diesem Zusammenhang die Auslegung selbst jedoch nicht mehr als Leseakt. In der von ihm entfalteten »Kultur des Lesens« wird signifikanterweise die Predigt auf der Kanzel ausgespart. Nicol bezeichnet das pro-testantische Modell dieser »Kultur des Lesens« als »Buch zur Predigt« (S. 10). Damit besteht m. E. die Gefahr einer Instrumentalisierung des Bibelbuches für die Predigt, welche dieses aus seiner Mittelpunktstellung im Gottesdienst rückt. Die Betonung liegt dann auf den eigenen aktuellen und auch kritischen Worten des Predigers. Unverständlich bleibt deshalb, weshalb Nicol im Gegensatz dazu die Bibel selbst als ein Buch von Lebenstexten versteht und von der daraus resultierenden Kompetenz der Theologie »im Lesen von Lebenstexten« (S. 11) sprechen und Lesen als Grundme-tapher jeglichen theologischen Arbeitens (S. 12) bezeichnen kann.

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jeweils virtuosen Umgang55 erforderlich machen. Sie werden beim Modell der Predigt als Leseakt exemplarisch um die Metapher des Verhältnisses des Schriftstellers als Leser unter den Lesern nach Jorge Luis Borges oder um das Lesen in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens nach Jere-mias Gotthelf erweitert und mittels kulturwissenschaftlicher Modellvor-stellungen näher präzisiert.56 Nichts anderes vollzieht aber auch beispiels-weise Rudolf Bohren mit der von ihm entwickelten »Exegese des Hörers«57 in seiner vom Gespräch mit der Poesie kontinuierlich befruchteten Predigt-lehre und gewährt auf diese Weise ebenso dem Lese-Paradigma einen ent-scheidenden Raum in der Predigtvorbereitung.

3. Predigtarbeit als geistliche Übung

Wird die Predigtarbeit als spezifische Form der geistlichen Übung im evangelischen Pfarrberuf verstanden, so erübrigt sich das Außenstehenden wie auch zahlreichen Predigerinnen und Predigern nur schwerlich ein-leuchtende Verhältnis von Zeitaufwand und Ertrag. Denn diese Fehlein-schätzung orientiert sich lediglich an der Dauer einer durchschnittlichen Predigt. Sie vermag nicht nachzuvollziehen, wie die klassische evangeli-sche Prediglehre für eine zwanzig- bis dreißigminütige Predigt einen auf die einzelnen Tage der Woche verteilten Zeitaufwand von bis zu zwölf Stunden für die sonntagmorgendliche Predigt im Gottesdienst empfehlen konnte. Predigtvorbereitung stellt aber genauer betrachtet erst einmal nichts anderes als die pflichtmäßig herausgenommene und in besonderer Weise geschützte Zeit im evangelischen Pfarrberuf für die geistliche Übung und damit eine professionsspezifische spirituelle Praxis dar. Sie ist – unter der alten Voraussetzung der regelmäßigen sonntäglichen Predigt – zunächst einmal zweckfreie Zeit für ein geistliches Bewegen im jeweils zu

55 Vgl. dazu die Überlegungen zum virtuosen Umgang als notwendigem Element praktisch-theologischer Kompetenz bei K. E. KEMNITZER, Glaubenslebenslauf-Imaginationen. Eine theologische Untersuchung über Vorstellungen vom Glauben im Wandel der Lebensalter, Leipzig 2013, S. 243–247. 56 Vgl. den Essay »Zum Handwerk des Dichters« in diesem Band. 57 Vgl. R. BOHREN, Predigtlehre, München 31974, S. 450 über den Hörer als zweiten Text der Predigt: »Er ist eine Art Text und will als zweiter Text exegesiert und medi-tiert sein. Die Metapher vom Hörer als zweitem Text besagt: Es gibt nicht nur ein hermeneutisches Problem des Textes, es gibt ebenso ein hermeneutisches Problem der Hörerschaft. […] Es wäre ein Irrtum zu meinen, der Hörer stünde als Zeitgenosse dem Prediger grundsätzlich näher als der Text.« Bohren führt die Lese-Metapher hier jedoch nicht weiter aus, sondern konzentriert sich auf das Phänomen des Hörens in der Predigt.

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predigenden biblischen Text und seinen Kontexten und stellt damit eine spezifische Weise der wahrnehmungsbereiten Präsenz gegenüber der ge-öffneten heiligen Schrift dar. Der Anteil der eigentlichen Predigtvorberei-tung dagegen kann möglicherweise im Verhältnis dazu relativ gering aus-fallen. In diesen Zusammenhang gehört auch das weitgehend verloren gegangene Verständnis der Perikopensysteme als geistliche Übungsanlei-tung für den evangelischen Pfarrberuf. Wurden diese bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein fast ausschließlich aus der Perspektive der Prediger wahrgenommen und konzipiert, so verändert sich dies in der zweiten Hälf-te des 20. Jahrhunderts. Perikopensysteme werden nun rezipientenorien-tiert aus der Perspektive der gottesdienstlichen Gemeinde wahrgenommen wie kritisiert. Sie sind nicht mehr geordnetes exerzitium bzw. geistlicher Übungsweg für Pfarrerinnen und Pfarrer.58 In diesen ursprünglichen Zu-sammenhang gehört auch der die Predigerfibel von Emanuel Hirsch prä-gende und gerne als eine zu belächelnde Karikatur missverstandene Topos der einsam vollzogenen Predigtarbeit in der »Kammer« des Predigers, der dort über den biblischen Text meditiert und seine die Woche über gewon-nenen Eindrücke und Fragestellungen aus der Gemeindearbeit in die Ein-samkeit seines Ringens um den biblischen Text hineinträgt.59 In diesen Zusammenhang gehört auch die Beobachtung, dass die Nachfrage von Pfarrerinnen und Pfarrer für Ausbildungskurse in Geistlicher Begleitung genau in dem Augenblick ansteigt, als zunehmend weniger klassische Predigten für den sonntagmorgendlichen Gottesdienst vorzubereiten sind und an deren Stelle die – häufig im Team erarbeiteten und stärker thema-tisch orientierten – Ansprachen für offene Gottesdienstformen treten und

58 Vgl. K. RASCHZOK, Zur Hermeneutik ausgewählter historischer Perikopensysteme des Protestantismus, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 52, 2013, S.32–67 und DERS., Zwölf Merkpunkte für die Weiterarbeit und ein Fazit, in: Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, hg. vom Kirchenamt der EKD, dem Amt der UEK und dem Amt der VELKD, Hannover 2010, S. 271–274, S. 271f. 59 Vgl. E. HIRSCH, Predigerfibel, Berlin 1964. In den Leitgesichtspunkten für die Arbeit des Predigers (S. 3–140) spricht Hirsch von der Aufgabe der »Dolmetschung des Evangeliums« als Ziel seiner Predigerfibel. Diese Aufgabe vollzieht sich in per-sönlicher Zwiesprache »mit dem einsam seine Predigt vorbereitenden Prediger«, wie der gesamte Weg vom Textverständnis zur Predigt in einer »verantwortungsschwe-ren Innerlichkeit« geschieht (Zur Einführung, unpag.). Meditation ist »schwere ernste Arbeit des inneren Menschen« (S. 67). Der Prediger fühlt und denkt stellvertretend für die Hörer und hilft ihnen, »diejenigen Geheimnisse des inneren Lebens zu erken-nen, die sie aus eigener Kraft nicht reflexionsmäßig zu durchleuchten vermögen.« (S. 76) »Der Meditierende ist sich selbst der einzige Hörer des Textes und Stellvertre-ter aller sonst noch möglichen Hörer.« (S. 137)

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damit zwangsläufig eine Verknappung der persönlichen »stillen« Vorberei-tungszeiten einhergeht.60 Hinzu tritt aber auch der im Rahmen einer zu-nehmenden Professionalisierung im Pfarrberuf spürbare Effizienzdruck. Predigtvorbereitungszeit stellt häufig das letzte Reservoir an verfügbarer Zeit im Pfarrberuf dar, auf das im Notfall zurückgegriffen werden kann und das zugunsten der persönlichen Freizeit von seinem Umfang her scheinbar problemlos verringert werden kann.

Bei der hier intendierten Vorstellung der Predigtarbeit als geistlichem Übungsweg im Pfarrberuf ist jedoch immer die Wechselseitigkeit des Le-sens in den beiden Büchern der Bibel wie des Lesens intendiert. Es geht um ein Hin und Her, um eine jeweils am anderen Buch erfolgende Seh- und Wahrnehmungsschulung und damit um eine wechselseitige Präsenz für den Lebens- wie für den Bibeltext und das in beiden sich jeweils mani-festierende göttliche Wirken.61 Eben darauf zielt Jeremias Gotthelfs litera-risch vermitteltes Ideal eines Predigers, der sowohl der Heiligen Schrift wie dem Leben gegenüber präsent ist und damit die Kunst beherrscht, in den beiden Büchern lesen zu können. Die als wahrnehmungsoffene Hal-tung über der Predigtvorbereitung eingenommene Präsenz vor der Heili-gen Schrift dient der Präparation des Predigers für die Offenheit gegenüber dem ebenso mittels der Text-Metapher verstandenen Leben. Er beginnt darüber auf eine menschlich unverfügbare Weise mit den Augen Gottes sehen zu lernen. Diese aus der Lesekunst resultierende künstler- bzw. im Sinne von Jorge Luis Borges schriftstellerähnliche Fähigkeit bildet damit den grundlegenden Akt der homiletischen Arbeit, die so über weite Stre-cken hinweg den Charakter einer im gottesdienstlichen Vollzug mit der hörenden Gemeinde gemeinsam praktizierten geistlichen Übung trägt.62

60 Vgl. die Homiletik für den »anderen« Gottesdienst von F. VOIGT, Predigen als Erlebnis. Narrative Verkündigung. Eine Homiletik für das 21. Jahrhundert (BEG 9), Neukirchen-Vluyn 2009 sowie K. RASCHZOK, Am Ende einer Bestandsaufnahme. Schlussfolgerungen und Konsequenzen für die evangelische Praxis Geistlicher Be-gleitung, in: D. GREINER/K. RASCHZOK/M. ROST (Hg.), Geistlich Begleiten. Eine Be-standsaufnahme evangelischer Praxis, Leipzig 2011, S. 199–227, S. 207–210 (Evan-gelischer Pfarrberuf und Geistliche Begleitung). 61 Vgl. dazu auch A. DEEG, Sprachwelten im Wechselspiel. Evangelische Predigt als praedicatio semper reformanda, in: A. DEEG/D. SAGERT (Hg.), Evangelische Predigtkul-tur. Zur Erneuerung der Kanzelrede (Kirche im Aufbruch 1), Leipzig 2011, S. 25–30. A. DEEG, Skripturalität und Metaskripturalität. Über Heilige Schrift, Leselust und Kanzelrede, in: Evangelische Theologie 67,2007, S. 5–17 plädiert schon früh für eine skripturale Hermeneutik als Grundlage der Predigtlehre. 62 Vgl. E. STEINWAND, Die Predigtvorbereitung als geistliche Übung, in: M. SEITZ (Hg.), Verkündigung, Seelsorge und gelebter Glaube. Gesammelte Aufsätze von Edu-

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Wir nähern uns dabei einer reformatorischen Vorstellung, die mit Lu-thers These verbunden ist, dass sich das Herz des Christen an den Stücken des Katechismus betend entzündet durch Übung. Auf den Gottesdienst übertragen bedeutet dies, dass der Gottesdienst in seiner tradierten Form eine analoge Funktion für das Glaubensleben besitzt und das Herz der Christen entzünden soll. Martin Luther entwickelt in seiner Anleitung zu einem einfältigen Beten für Meister Peter den Gedanken des im Beter zu beten bzw. zu predigen beginnende Heiligen Geistes. Diese Metapher aus der Schrift für Meister Peter lässt sich auch auf die Predigt übertragen. So, wie der Beter nach einer Weile des Betens – bzw. im Sinne von Martin Nicol und Manfred Seitz genauer des betrachtenden Schriftgebetes63 – still wird und auf die einsetzende Predigt des Heiligen Geistes lauscht und daraus Anregungen und Anstöße für die Deutung seines Lebens gewinnt, so lässt sich auch der Prozess der Predigtvorbereitung geistlich verstehen und deuten. Beim methodisch geordneten Nachsinnen über der Heiligen Schrift kommt es dazu, dass der Heilige Geist selbst zu predigen beginnt und dem Prediger bzw. der Predigerin die Sache aus der Hand nimmt. Eine Verortung dieses Geschehens ist sowohl in der Predigtvorbereitung wie im Vollzug der Predigt auf der Kanzel vorstellbar.64

ard Steinwand, Göttingen 1964, S. 11–22. – Auch G. BRÜSKE, Lesen als Wiederkäuen: Lectio divina, Liturgie und Intertextualität. Zugleich ein Beitrag zur Hermeneutik liturgischer Texte, in: Erbe und Auftrag 78, 2002, S. 94–103, S. 99 weist auf die Analogie von lectio divina und Predigt hin und versteht die Predigt als »aktuell vor-getragene« Schriftlesung. 63 Vgl. M. NICOL, Meditation bei Luther (Forschungen zur Kirchen- und Dogmenge-schichte 34), Göttingen 1984 und J. WALLMANN, Zwischen Herzensgebet und Gebet-buch. Zur protestantischen Gebetsliteratur im 17. Jahrhundert, in: F. VAN INGEN/C. NIEKUS MOORE (Hg.), Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit (Wol-fenbütteler Forschungen 92), Wiesbaden 2001, S. 13–46, v. a. S. 25–27. – Das homi-letische Exerzitium von M. SEITZ, Zum Problem der sogenannten Predigtmeditation, in: DERS., Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge und Spiritualität, Göttingen 1978, S. 21–32 weist ebenfalls in diese Richtung der Predigtarbeit als geistliche Übung und Leseakt in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens. 64 Vgl. P. ZIMMERLING, Einleitung zu Martin Luthers Schrift »Wie man beten soll«, in: U. KÖPF/P. ZIMMERLING (Hg.), Martin Luther: Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier, Göttingen 2011, S. 9–36, der zwar Luthers Hinweise auf das Beten in der Gemeinschaft der Kirche betont, ohne dabei jedoch explizit auf den Gottesdienst und die Predigt einzugehen, wie insgesamt bei ihm die Beziehung des persönlichen Betens zum Gottesdienst nicht im Blick ist. Es gilt daher über Zimmerling hinaus die Bezüge Beter – Hauptstücke des Katechismus – Gottesdienst herauszuarbeiten, da an den Überlegungen Luthers zur Predigt des heiligen Geistes in der Schrift für Meister Peter die unausgesprochene Analogie zur gottesdienstlichen Predigt für mich zwin-gend notwendig erscheint. Über dem Beten wird etwas erlebt, das auch für den Got-

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4. Die Beträge dieses Bandes im Kontext gegenwärtiger homiletischer Theoriebildung

An dieser Stelle erfolgt keine umfassende Präsentation homiletischer The-orieansätze der letzten beiden Jahrzehnte, sondern werden lediglich Hin-weise auf Tendenzen gegeben, die sich mit meinen eigenen Anliegen be-rühren. Homiletische Theoriebildung wird im Raum der evangelischen Praktischen Theologie nicht zuletzt dadurch geprägt, dass spätestens seit Rudolf Bohrens Predigtlehre kein opus magnum mehr veröffentlicht wur-de, sondern nahezu ausschließlich einzelne Aspekte des Predigtgesche-hens wie der Geschichte der Homiletik entfaltet und vertieft worden sind. Die aktuellen Tendenzen homiletischer Theoriebildung lassen sich mit dem Stichwort der kulturwissenschaftlichen Signatur kennzeichnen:

Thomas Klie plädiert – ähnlich wie Michael Thiele und die Bemühun-gen um eine »Theolinguistik« – mit Nachdruck dafür, den Öffentlichkeits-charakter der Predigt jenseits gemeindetheologischer Engführung ernst zu nehmen, da Kirche die einzig verbliebene Großinstitution der Gesellschaft darstellt, die sich noch professionell mit der Redekunst befasst. 65

Homiletik in gelebter Nachbarschaft zu den Künsten wird von Dietrich Sagert propagiert: »Eine gelebte Nachbarschaft zu den Künsten lässt diese in ihrer Eigenart bestehen. Sie vereinnahmt nicht, sondern lernt von ih-nen. Sie widersteht der Versuchung, sie zu gebrauchen und zu schmü-ckenden Beispielen und Illustrationen zu degradieren. Sie stellt vielmehr die Fragen der Kunst, die für die Unverfügbarkeit des Glaubens offen sind, in der Predigt und stellt sie auch der Predigt selbst.«66

Predigt als absichtsvolles Kunstwerk zwischen Kunstlehre und Hand-werksunterricht ist für Frank M. Lütze durchaus erlernbar, der Predigt »als eine Form wirklichkeitsschaffenden Handelns«67 versteht. Im Gegensatz zu

tesdienst in der Predigt konstitutiv ist: Dass der Heilige Geist in analoger Weise das Predigen übernimmt und zu seiner Sache macht. Meine These lautet daher, dass die Schrift für Meister Peter das persönliche Beten des Christen spiegelbildlich zum Gottesdienst beschreibt, ohne diese Analogie explizit zu benennen. 65 Vgl. TH. KLIE, Der Beitrag der Kanzelrede zur rhetorischen Kultur unserer Gesell-schaft. Ein unzeitgemäßes Desiderat, in: A. DEEG/D. SAGERT (Hg.), Evangelische Pre-digtkultur. Zur Erneuerung der Kanzelrede (Kirche im Aufbruch 1), Leipzig 2011, S. 31–34. 66 D. SAGERT, Gut leben vor dem Requiem, in: A. DEEG/D. SAGERT (Hg.), Evangelische Predigtkultur. Zur Erneuerung der Kanzelrede (Kirche im Aufbruch 1), Leipzig 2011, S. 161–167, S. 167. 67 F. M. LÜTZE, Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homileti-schen Pragmatik (Arbeiten zur Praktischen Theologie 29), Leipzig 2006, S. 22.

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einer an aktuellen Künstlertheorien orientierten Homiletik (Klaus Rasch-zok) wird der dort propagierte Frei-Zweck als »Tendenz zur rituellen Über-formung des Predigtverständnisses«68 kritisiert. Predigt wird von Lütze dagegen als ein absichtsvolles Kunstwerk verstanden. Predigtdidaktik bewegt sich daher zwischen Kunstlehre und Handwerksunterricht.69 Lütze setzt sich dabei intensiv auch mit dem Ansatz von Martin Nicol auseinan-der. Im Ausblick mit dem Titel »Absichtlich predigten« definiert Lütze Predigt schließlich als eine gerade nicht »absichtslose Kunst«, sondern als den gezielten Versuch, »die tödliche Incurvatio des Menschen zu unterbre-chen und den Freiraum des Evangeliums zu eröffnen«, da die Wirkung der Predigt nicht erzwingbar, »aber durch eine reflektierte Predigthandlung wahrscheinlich«70 zu machen ist.

Der Bezug der Predigtlehre zur klassischen Rhetorik, der in der deutschsprachigen Forschung mit Ausnahme der Bemühungen von Gert Otto lange Zeit stark zurückgetreten ist, kehrt in den aktuellen Debatten um die freie Rede auf der Kanzel wieder in die Homiletik zurück. Volker Lehnert, Alexander Deeg, Michael Meyer-Blanck und Christian Stäblein plädieren in der Debatte dafür, das Manuskript als Gestaltungsaufgabe und damit als Partitur für den Predigtvorgang zu verstehen und sich stärker auf das lebendige Wechselspiel von Manuskript und präsentem Predigtvor-trag zu konzentrieren, anstelle die völlig frei vorgetragene Predigt zu prä-ferieren.71

Die ebenfalls lange Zeit vernachlässigte historische Homiletik wird in den Studien von Hans Martin Dober und Ruth Conrad neu in das Gespräch eingebracht. Hans Martin Dober legt im Anschluss an seine Untersuchung der Predigtlehre bei Martin Luther, Friedrich Schleiermacher und Karl Barth den Versuch einer Orientierung in praktischer Absicht in Gestalt einer Theorie der Predigt vor, die als Teil ihrer jeweiligen Kultur verstan-den wird. Auf diesem Wege gelingt ihm die Anlage einer kulturwissen-

68 A.a.O., S. 33. 69 Vgl. a.a.O., S. 34–37. 70 A.a.O., S. 291. 71 Vgl. V. A. LEHNERT, Kein Blatt vor’m Mund. Frei predigen lernen in sieben Schrit-ten. Kleine praktische Homiletik, Neukirchen-Vluyn 2006, S. 79–88 im Abschnitt »Vom Manuskript zum Stichwortzettel« (S. 79-88), A. DEEG/M. MEYER-BLANCK/CH. STÄBLEIN, Präsent predigen statt (un)frei herumreden – 40 streitbare Thesen, in: A. DEEG/M. MEYER-BLANCK/CH. STÄBLEIN, Präsent predigen. Eine Streitschrift wider die Ideologisierung der »freien« Kanzelrede, Göttingen 2011, S. 9–20, v. a. These 14 und These 40 sowie A. DEEG, Die Leidenschaft für den Text und die Lust an der gestalteten Rede, in: Präsent predigen, a.a.O., S. 56–99, S. 95.

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schaftlich orientierten Predigtlehre von Martin Luther bis Henning Luther, die sich durchgängig als im Anschluss an theoretische Konzeptionen der Kultur befindlich versteht. Praktische Theologie wird darüber zur Wissen-schaft, die selbständige Theorien der Praxis erarbeitet unter historischer und systematischer Reflexion.72

Ruth Conrad arbeitet in ihrer Studie zum Zusammenhang von Kir-chenbild und Predigtziel den Beitrag der historischen Konzepte von Adam Müller über Franz Theremin, Rudolf Stier, August Vilmar und Heinrich Bassermann hin zu Friedrich Niebergall heraus und zeigt dabei, wie durchgängig Homiletik als Funktion der Ekklesiologie verstanden wird.73 Praktisch-theologische Ekklesiologie wird damit zur Differenzreflexion und Vermittlungstheorie von geglaubter und empirischer Kirche. Die Predigt ist Ausdruck der geglaubten wie Mittel der sichtbaren Kirche und bleibt auch in der Gegenwart das charakteristische Medium evangelischen Chris-tentums. »Die Homiletik ist die Verdichtungsgestalt praktisch-theo-logischer Ekklesiologiekonzeptionen. Dies erklärt und begründet einerseits einen hervorgehobenen Status der Homiletik sowohl im Fächerkanon der universitären Theologie als auch innerhalb der praktischen Ausbildung zum Pfarrberuf und andererseits die hervorgehobene Stellung der Predigt innerhalb der kirchlichen Handlungen einer sich als protestantisch verste-henden Kirche.«74 Predigt in der Volkskirche hat teil an der Kirchenleitung, »weil sie zwischen individueller und offiziell-kirchlicher religiöser Über-zeugung vermittelt.«75 Predigt lässt sich daher als darstellendes Handeln des ihr zugrunde liegenden Kirchenbildes verstehe, da zwischen Kirchen-bild und Predigtziel […] ein kausal-genetischer Zusammenhang«76 besteht.

Im Kontext der historisch orientierten Homiletik ist auch Jantine Nie-rops Studie zur Predigtlehre bei Rudolf Bohren zu sehen, die eine Ein-zeichnung der Prediglehre Bohrens in den Kontext ihrer Zeit und hier insbesondere in die Beziehung zur christologischen und später pneumato-logischen Homiletik Karl Barths in der Kirchlichen Dogmatik ab 1938ff wie

72 Vgl. H. M. DOBER, Evangelische Homiletik. Dargestellt an ihren drei Monumenten Luther, Schleiermacher und Barth mit einer Orientierung in praktischer Absicht (Homiletische Perspektiven 3), Berlin 2007. 73 Vgl. R. CONRAD, Kirchenbild und Predigtziel. Eine problemgeschichtliche Studie zu ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 11), Tübingen 2012, S. 414–425. 74 A.a.O., S. 433. 75 A.a.O., S. 437. 76 A.a.O., S. 438.

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in den Zusammenhang der Theonomen Reziprozität bei Arnold A. van Ruler versucht. Kennzeichen dieser Homiletik sind die gottgesetzte Part-nerschaft, das Verständnis als Namenrede und als Predigt des gegenwärti-gen Christus. Nierop untersucht dazu ausgewählte Predigten Bohrens und versteht dessen Predigtlehre als »rhetorica sacra«, die sich anschlussfähig für eine gegenwärtige Ergänzung durch ästhetische, energetische und rhetorische homiletische Konzeptionen erweist.77

Die kritische Bestandsaufnahme zur Predigtanalyse durch Stefanie Wöhrle trägt ebenfalls kulturwissenschaftliche Signatur. Wöhrle wertet dazu Selbstäußerungen der Prediger anhand von Fritz Riemanns Persön-lichkeitstypologie des Predigers, von Materialien aus Kursen der Klini-schen Seelsorgeausbildung und aus der transaktionsanalytischen Predigt-analyse aus. Ihre Studie zielt damit auf die Analyse der Signalfunktion von Predigten aufgrund von Inhaltsanalyse und sprechakttheoretischer Pre-digtanalyse. Untersucht wird die Darstellungsfunktion von Predigten und die immer damit verbundene Ideologiekritik. Daher bietet Stefanie Wöhrle dem Leser abschließend ein Modell zur Analyse der eigenen Predigten zur Selbstkontrolle bei der Erarbeitung einer Predigt an und versteht die Pre-digtanalyse in diesem Zusammenhang als Element der lebendigen und erfahrungsbezogenen Weiterentwicklung des Predigers.78

Die 15 einzelnen Miniaturen des hier vorgelegten Bandes versuchen, einen Bogen von der pastoralpsychologisch orientierten zur kulturwissen-schaftlich konnotierten Predigtlehre zu schlagen und damit die skizzierte aktuelle Entwicklung des Faches aufzunehmen. Die Einführung stellt das die einzelnen Beiträge leitende Verständnis des Predigtgeschehens als Leseakt vor und thematisiert damit die Kunst des auf der Kanzel öffentlich vollzogenen lauten Lesens in den beiden Büchern der Bibel und des Lebens nach Jeremias Gotthelf. Beiträge zu verschiedenen methodischen Aspekten der Predigtlehre wie dem Verhältnis von Lebensgeschichte und biblischem Text und insbesondere der Künstleranalogie der Predigtarbeit und der Predigt durch Bilder schließen sich an. Die historischen Zugänge zur Pre-digtlehre nehmen bei Alexander Schweizers Homiletik von 1848 ihren

77 Vgl. J. NIEROP, Die Gestalt der Predigt im Kraftfeld des Geistes. Eine Studie zu Form und Sprache der Predigt nach Rudolf Bohrens Predigtlehre (Homiletische Per-spektiven 4), Zürich/Berlin/Münster 2008. Nierop verzichtet jedoch darauf, die Ver-bindung der Homiletik Bohrens zur Aszetik herauszuarbeiten. Bohrens »Einführung in die Praktische Theologie« von 1964 wird von ihr in diesem Zusammenhang nicht beachtet und fehlt auch im Literaturverzeichnis. 78 Vgl. ST. WÖHRLE, Predigtanalyse. Methodische Ansätze – homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen (Homiletische Perspektiven 2), Berlin 2006, S. 210–214.

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Ausgang und führen über die liberalen »modernen« Prediger Christian Geyer und Friedrich Rittelmeyer zur Zusammenstellung homiletischer Gleichnisse aus der jüngsten Geschichte dieser Disziplin, um sich der Predigtlehre der Bekennenden Kirche wie der Praxis der Schriftauslegung bei Dietrich Bonhoeffer zuzuwenden. Die abschließenden Praxisreflexio-nen setzen bei einer kritischen Analyse des sogenannten Thüringer Kan-zelstreites von 1999 ein, widmen sich der Frage der Mundart in der Ver-kündigung, stellen die von Karl-Heinrich Bieritz entwickelte, die klas-sische Predigtmeditation ablösende homiletische Gattung des biblischen Essays vor, beschäftigen sich mit dem Phänomen der Beziehungsaufnahme in der Predigt und münden in eine Einführung in die methodisch verant-wortete Praxis der Predigt aus der Arbeit des Homiletischen Seminars, die sich nicht nur an Studierende wendet, sondern auch erfahrenen Praktikern Gelegenheit zur Reflexion und Verantwortung ihres individuellen Vorbe-reitungsweges zur Predigt gibt, indem sie diesen in der Praxis zirkulär verlaufenden in eine lineare, wie in Zeitlupe aufgefächerte Darstellung überführt.

5. Literarisch-theologischer Ausblick

Zu einer kulturwissenschaftlich konnotierten Predigtlehre gehört schließ-lich auch das kontinuierliche Gespräch mit der zeitgenössischen Literatur und Poesie wie mit der katholischen Theologie. Das, was der Gothaer Schriftsteller Hanns Cibulka über die Leistung der Poesie schreibt, kann auch für die Predigt als einem komplexen Leseakt gelten. Die Homiletik lernt an diesem Schriftsteller und seiner Poetik, wie sie der im gemeinde-kirchlichen Kontext gerne vorgebrachten Forderung nach allgemein ver-ständlicher Verkündigung um der Predigt selbst willen zu widerstehen hat.

Hanns Cibulka schreibt 1992 in seinen »Dornburger Blättern«: »Poesie muß dem Leser immer mehr zumuten, als er im Augenblick leisten kann. […] Poesie sollte weiter sehen, als es die Hoffnungen der Menschen tun, sollte immer bis zum äußersten vorstoßen und doch auf das Zentrum, den Menschen, nicht verzichten. Poesie hat sich noch nie mit der Wirklichkeit allein, mit dem Gegebenen des Lebens abgefunden, große Poesie war dem Leben immer um einige Schritte voraus.«79 Die Leistung der Predigt kann dabei analog zur Leistung des dichterischen Bildes verstanden werden und muss mit Hanns Cibulka dem Leben immer um Schritte voraus sein, wenn sie ihre Aufgabe nicht verfehlen will: »Das dichterische Bild ist mehr als

79 H. CIBULKA, Dornburger Blätter. Briefe und Aufzeichnungen, Berlin 1992, S. 97f.

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ein Vergleich, mehr als überraschende Präzision, Objektivierung, Treue bis ins kleinste Detail. Das poetische Bild muß Dinge aussagen, die weit über die poesievolle Beschreibung unserer Umwelt hinausgehen. […] Das poeti-sche Bild […] kommt aus der realen Sphäre unsrer Welt, wächst aus ihr empor, darf sich aber nicht im Gegenstand, in den Ereignissen verlieren. […] Das Bild muß wie ein Blitz dem Leser neue Horizonte öffnen, den geis-tigen Hintergrund des Lebens sichtbar machen. Das poetische Bild ist Of-fenbarung, es kennt die Zusammenhänge der Welt, verbindet die entge-gengesetzten Ufer, die am weitesten voneinander getrennten Dinge werden auf einer Brücke zusammengeführt. […] Geistige Zusammenhänge, gestern für den Leser noch unsichtbar, werden durch das poetische Bild zu einer neuen sichtbaren Realität. […] Das große poetische Bild fügt der gegenwär-tigen Realität immer auch die zukünftige hinzu.«80

Der katholische Theologe Romano Guardini macht schließlich schon 1939 am Beispiel der – noch in der traditionellen lateinischen tridentini-schen Gestalt gefeierten – römischen Messe auf den engen Zusammenhang von Predigt und Schriftverlesung aufmerksam. Er versteht dabei ähnlich wie sein Zeitgenosse Dietrich Bonhoeffer die Predigt als ein sich raumhaft vollziehendes geistliches Geschehen. Das Wort bewegt sich im Kirchen-raum zu den Hörern hin, so dass diesem Grundvorgang die Askese als grundlegender Haltung des Lektors wie Predigers zu korrespondieren hat. Romano Guardini schreibt in der »Besinnung vor der Feier der Heiligen Messe«:

»Das Wort soll aus dem heiligen Buche auf die Lippen steigen, durch den Raum hingehen, von lauschenden Ohren gehört und von bereiten Her-zen aufgenommen werden.«81 »Wohl spricht der Priester die Worte, doch sie gehören ihm nicht. Er trägt sie nur.«82

80 H. CIBULKA, Ostseetagebücher, Leipzig 32001, S. 55f. 81 R. GUARDINI, Besinnung vor der Feier der Heiligen Messe. Erster und zweiter Teil, Mainz 1939, S. 112. 82 A.a.O., S. 119.