Presseerklärung "Gorch Fock" Staatsanwaltschaft Kiel
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Transcript of Presseerklärung "Gorch Fock" Staatsanwaltschaft Kiel
15-2011
Medien-Information SHAPE \* MERGEFORMAT
9. Juni 2011
Todesermittlungsverfahren wegen des Unfalls von Obermaat (OA) Sarah
Lena Seele an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock eingestellt
Am 7. November 2010 kam es im Rahmen der Segelvorausbildung zu einem
tödlichen Sturz der Offizieranwärterin Seele aus der Takelage der Gorch Fock.
Nach umfangreichen Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft Kiel das Todeser-
mittlungsverfahren am 7. Juni 2011 eingestellt. Zureichende tatsächliche An-
haltspunkte für strafrechtlich zu bewertendes Fehlverhalten haben sich weder
gegen Verantwortliche der Schiffsführung, Mitglieder der Besatzung oder son-
stige Angehörige der Marine ergeben.
Zur Person der Sarah Lena Seele:
Die zum Todeszeitpunkt 25-jährige Obermaat (OA) Seele versah seit dem 1.
März 2007 ihren Dienst bei der Deutschen Marine. Aufgrund ihrer guten Leis-
tungen wechselte sie am 2. August 2010 in die Offizierslaufbahn. Bestandteil
der Offizierausbildung ist unter anderem die sog. seemännische Basisausbil-
dung an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock. Im Rahmen der 156. Ausland-
sausbildungsreise fand am 5. November 2010 in Salvador de Bahia in Brasilien
ein erneuter Wechsel der Crew statt, zu der auch Obermaat (OA) Seele gehörte.
Festgestellter Sachverhalt:
Am 6. November 2010, dem ersten Tag der Segelvorausbildung, erfolgten
gemäß Bordbefehl verschiedene Einweisungen und Belehrungen; so zum
Beispiel durch den zuständigen Segeloffizier die sog. Toppsbelehrung (Verhal-
tensmaßregeln beim Aufentern in die Takelage) und durch den Wachführer die
Einweisung in die Toppsgurte, die unter anderem dazu dienen, die Kadetten
auf ihrer Arbeitsstation in den Rahen gegen Absturz zu sichern.
Am 7. November 2010 begannen wegen der zu erwartenden Mittagshitze (die
ersten Übungen in der Takelage sollten bis dahin abgeschlossen sein) die En-
terübungen bereits gegen 06:30 Uhr. Obermaat (OA) Seele war mit weiteren 38
Lehrgangsteilnehmern für den Großtopp (der mittlere der drei Masten der Gorch
Fock) eingeteilt. Die Segelvorausbildung wurde durch einen Divisionsoffizier
geleitet, für Vortopp und Großtopp standen jeweils ein Segeloffizier und ein Wa-
choffizier zur Verfügung. In der Takelage selbst waren am Großtopp insgesamt
neun Ausbilder und zusätzlich 11 Hilfsausbilder aus dem Bereich der
Stammbesatzung eingesetzt. Die Wetterbedingungen an diesem Tag waren
ruhig.
Die Kadetten hatten zunächst mindestens zweimal auf die etwa 12 m über Deck
gelegene Marssaling und - nach einer etwa 30-minütigen Pause - auf die in
Höhe von etwa 27 m über Deck gelegene Bramsaling auf- und niederzuentern.
Diese "Gewöhnungsübungen" verliefen ohne Schwierigkeiten.
Nach einer weiteren 30-minütigen Pause begann die Übung "Auslegen auf die
Rahen". Die Kadetten sollten lernen, aus dem Want umzusteigen und ihre Ar-
beitspositionen auf den Rahen zu erreichen. Im ersten Durchgang, in dem
Obermaat (OA) Seele auf einer Rah zwischen Mars- und Bramsaling eingesetzt
war, hatte sie keine Schwierigkeiten. Nach Angaben von Kameraden machte
sie einen selbstsicheren, motivierten und konzentrierten Eindruck. Im folgenden
Durchgang gelangte Obermaat (OA) Seele auf die Bramrah.
Nach dem Niederentern wurde vor dem letzten Durchgang eine weitere Pause
gewährt. In dieser Pause äußerte Obermaat (OA) Seele gegenüber ihren Kam-
eraden, dass sie sich zuletzt in einem „Kraftloch“ befunden habe und die
Anstrengung deutlich spüre. Sie wolle sich deswegen jedoch noch nicht an
einen Ausbilder wenden, was sie auch nicht tat. Beim erneuten und letztmali-
gen Aufentern wurde Obermaat (OA) Seele von einem Ausbilder zwischen
Mars- und Bramsaling angewiesen, nicht weiter aufzuentern und sich dort im
Want stehend einzupicken. Diesem waren beim vorangegangenen Durchgang
Probleme der Soldatin beim Aufentern aufgefallen. Nachdem der Ausbilder sich
zunächst um andere Lehrgangsteilnehmer auf seiner Station gekümmert hatte,
stellte er kurz darauf fest, dass Obermaat (OA) Seele seiner Anweisung nicht
gefolgt war. Die Soldatin war über die Bramsaling bis zur Bramrah aufgeentert.
Dort absolvierte sie problemlos ihre Übungen.
Beim Niederentern über die Bramsaling lehnte sie das Hilfeangebot des dort
postierten Ausbilders ab und verlor, nachdem sie sich bereits unterhalb der
Plattform befand, den Halt. Obermaat (OA) Seele stürzte gegen 10.27 Uhr aus
einer Höhe von 27 m auf das Mitteldeck. Nach sofortiger notärztlicher Ver-
sorgung durch den Schiffsarzt erlag sie am 7. November 2010 um 23:05 Uhr
ihren schweren Verletzungen.
Die genaue Ursache für den Absturz haben die Ermittlungen nicht erbracht.
Strafrechtliche Würdigung:
Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer fahrlässigen
Tötung (§ 222 StGB) liegen nicht vor.
Einleitend ist zu bemerken, dass das Festhalten der Marineführung an dieser
traditionellen Art seemännischer Grundausbildung mit den damit einhergehen-
den Gefahren nicht der strafrechtlichen Überprüfung durch die Staatsan-
waltschaft unterliegt. An der Entscheidung, diese Art der Ausbildung fortzu-
führen, lässt sich eine individuell vorwerfbare Pflichtverletzung als Grundvo-
raussetzung eines strafrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurfs nicht festmachen.
Eine strafrechtliche Haftung kann nur aus Pflichtverstößen abgeleitet werden,
die den Verantwortlichen im Rahmen der Ausgestaltung, der Durchführung
oder der Überwachung des (gefährlichen) Ausbildungsbereichs zuzurechnen
sind.
Im Einzelnen:
- O b e r m a a t ( O A ) S e e l e w a r a m 7 . N o v e m b e r 2 0 1 0
borddienstverwendungsfähig. Im Einklang mit der Vorschriftenlage wurde ihr
durch eine militärärztliche Ausnahme-genehmigung (geringe Körpergröße)
mit Entscheid vom 31. Juli 2007 die Borddienst-verwendungsfähigkeit (ohne
Auflagen und ohne zeitliche Befristung) zugesprochen. Anfängliche Speku-
lationen über eine Borddienstuntauglichkeit infolge Übergewichts entbehren
jeder Grundlage. Das später festgestellte (erhöhte) Körpergewicht ist auf die
intensivmedizinische Versorgung sowie die Vorbereitung des Leichnams für
den Lufttransport zurückzuführen.
- Die Lehrgangsteilnehmer wurden am 6. November 2010 mit Blick auf die
bevorstehenden Enterübungen ausreichend belehrt und eingewiesen. Der
Obermaat (OA) Seele zugewiesene Toppsgurt war zertifiziert und turnusge-
mäß letztmalig am 2. Mai 2010 kontrolliert worden. Er befand sich technisch
in einem ordnungsgemäßen Zustand und war individuell auf die Soldatin
eingestellt worden.
- Die technische Sicherheit in der Takelage war gewährleistet. Erst im Früh-
jahr 2010 war diese vollständig durch den Germanischen Lloyd abgenom-
men worden. Zudem war die Takelage nochmals am 6. November 2010 an-
lässlich der vorgeschriebenen Toppskontrolle beanstandungsfrei überprüft
worden.
- Zur Frage, ob aufgrund einer fehlenden durchgängigen Absturzsicherung
ein sorgfaltswidriges Unterlassen angenommen werden kann, ist festzustellen,
dass an der Absturzstelle technisch jedenfalls eine Absturzsicherung durch In-
stallation eines sog. Umgehungsstanders möglich gewesen wäre. Aufgrund der
Anforderungen im Segelbetrieb würde eine solche Vorrichtung jedoch beim
Aufentern zu zeitlichen kräftezehrenden Verzögerungen führen und damit an-
dere Gefahrenquellen eröffnen. Die Nichtinstallation einer solchen Sicherung
stellt sich damit nicht als objektive Pflichtverletzung dar, sondern als vertret-
bares Ergebnis einer Abwägung zwischen verschiedenen Gefahrenlagen.
- Wesentlichen Raum hat die Prüfung eingenommen, ob durch den Befehl
zum letztmaligen Aufentern Obermaat (OA) Seele in eine merkbare Über-
forderungssituation gebracht wurde.
Zwar sollen nach der Ausbildungsanweisung des Marineamtes die
Lehrgangsteilnehmer bis an die Grenze ihrer individuellen Belastbarkeit
herangeführt werden, wobei dies aber ausdrücklich behutsam und unter Auf-
sicht zu erfolgen hat. Daran gemessen war für die Ausbilder zu diesem Zeit-
punkt eine Belastungssituation aber keine Überlastungssituation erkennbar,
die eine Meldung an den Wachführer und ein Eingreifen zur Folge hätte
haben müssen.
Auch wenn einiges dafür spricht, dass der Absturz der Soldatin aus der
Takelage auf einen Erschöpfungszustand zurückzuführen sein könnte, ist
gleichwohl dessen genaue Ursache nicht hinreichend sicher feststellbar. Es
gibt verschiedene Erklärungsansätze: Möglicherweise enterte Obermaat
(OA) Seele zu schnell nieder und rutschte ab oder sie fand mit den Füßen
nicht den richtigen Halt in den Webeleinen des Wantes. Denkbar ist außer-
dem, dass sie bereits Fuß gefasst hatte, aber in Folge von Entkräftung mit
den Händen den Halt verlor und abrutschte.
Von einer objektiven Pflichtverletzung wäre nur dann auszugehen, wenn es
für die Ausbilder erkennbare Anzeichen dafür gegeben hätte, dass Ober-
maat (OA) Seele aufgrund ihrer persönlichen Verfassung nicht mehr in der
Lage war, die Enterübungen fortzusetzen.
Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Obermaat (OA) Seele zuletzt Mühe beim
Aufentern hatte (so bedurfte sie in den letzten beiden Durchgängen im Bere-
ich der Bramsaling einer Hilfestellung), jedoch gelangten weitergehende
Schwierigkeiten oder ihre Äußerungen im Kameradenkreis den Ausbildern
nicht zur Kenntnis. Auch tauschte Obermaat (OA) Seele – wahrscheinlich vor
dem vorletzten Durchgang – die ihr zugewiesene Position (heimlich) mit
einem anderen Kadetten, um diesem den Einsatz auf einer tiefer gelegenen
Rah zu ermöglichen. Sie selbst lehnte angebotene Hilfe durch die Ausbilder
ab (wie zuletzt vor dem abschließenden Niederentern). Möglicherweise kam
sie auch deshalb der Weisung eines Ausbilders, sich in der Want stehend
einzupicken, nicht nach.
Von ihren Kameraden wird Obermaat (OA) Seele als eine leistungsbereite
Soldatin beschrieben, die trotz aller Belastungen ihren Dienst stets mit
Freude versah, andere motivierte, Hilfestellung gab und Vorbildfunktion
ausübte.
Im Ergebnis liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine
objektive Pflichtverletzung vor, sodass von der Einleitung eines Ermittlungsver-
fahrens abzusehen war.
Gleichwohl sollen folgende Umstände Erwähnung finden:
Ausweislich der durch den Kommandeur der Marineschule Mürwik erlassenen
Ausbildungsrichtlinie für das Segelschulschiff Gorch Fock ist ein "Zeitansatz von
zehn Tagen vorgesehen". Dieses enge Zeitfenster erscheint angesichts der zu
diesem Zeitpunkt zahlreichen weiteren Aufgaben (z. B. Ausrüstung des Schiffes
mit Proviant) äußerst knapp bemessen.
Hier stellt sich die Frage, wie die Ausbilder das zwischen Ausbildungsrichtlinie“
und der oben zitierten „Ausbildungsanweisung“ (behutsame Anleitung unter
Aufsicht) entstehende Spannungsfeld auflösen können. Trotz einer Vielzahl zu
beachtender Dienstvorschriften, Weisungen und Befehle gibt es für diese Aus-
bildungsphase nur unzureichende Regelungen. Es bleibt dem Ermessen der
Schiffsführung überlassen, wie mit den Kadetten in den ersten zehn Tagen an
Bord verfahren wird. Dies birgt die Gefahr unterschiedlicher Herange-
hensweisen und Unklarheiten. So war z. B. nicht zu klären, welche Vorkomm-
nisse (zum Beispiel persönliche Schwierigkeiten der Kadetten) in der Takelage
für die Ausbilder am 7. November 2010 meldepflichtig und welche Meldewege
einzuhalten waren.
Klare Strukturen bzw. Vorgaben sind indes möglich. Dies zeigt die Vorge-
hensweise der Schiffsführung nach dem Unfallgeschehen. Die Segelvorausbil-
dung ist neu strukturiert worden, offensichtlich ohne dass die erforderliche Flex-
ibilität in der Ausbildung verloren ging.
Gang des Verfahrens:
Bereits am 13. November 2010 haben Beamte des Kommissariats 1 der Bezirk-
skriminalinspektion Kiel, unterstützt durch einen Beamten der Wasser-
schutzpolizei Kiel, die Ermittlungen vor Ort in Brasilien aufgenommen. Im Laufe
des Verfahrens sind über 50 Zeugen vernommen worden, einige wiederholt zur
Abklärung von Widersprüchen.
Zudem konnten an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock, in der Marineschule
Mürwik, im Schifffahrtsmedizinischen Institut der Marine in Kronshagen sowie
im Geschäftsbereich des Inspekteurs der Marine in Bonn die zur Beurteilung er-
forderlichen Akten, Dokumente, Befehle und Vorschriften eingesehen und
beigezogen werden.
Über das Ergebnis der Ermittlungen und den Abschluss des Verfahrens hat der
Dezernent die Mutter und deren Rechtsbeistand am 8. Juni 2011 persönlich un-
terrichtet.
Skizze der Takelage:
Wanten und Pardunen
Rah- und Segelbezeichnungen
_________________________________________________________________________________________________________Verantwortlich für diesen Pressetext: Oberstaatsanwältin Birgit Heß | Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel | Schützenwall 31- 35, 24114 Kiel | Telefon 0431 604-3001| Telefax 0431 604-3015 | E-Mail: [email protected] | Das Landeswappen ist gesetzlich geschützt.
Staatsanwaltschaft bei dem
Landgericht Kiel