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Project 16 Meine Brisbane-Aventiure Danshimon o izureba hyakuman no teki ari. Wenn ein Knabe durch das Tor hinausgeht, hat er hundertmal zehntausend Feinde.Einer von ihnen wohnte in unserer Wohnung: mein Stiefvater, von Beruf Pfarrer. Ich war 17 Jahre alt und entdeckte in den Jahren 1990/91 gerade einen neuen Weg für mich: den der leeren Hand (Karate). In der Deutschen Demokratischen Republik, die gerade ihre Existenz aushauchte, war die Ausübung des Karate offiziell nicht möglich gewesen. Die Aura, die diese Kunst und ihre wenigen ostdeutschen Adepten in der Wende-Zeit umwehte, in der sie nun ans Licht der Öffentlichkeit treten konnten, speiste sich aus den lediglich imaginierten Vorstellungen über den damals nicht nur fernen, sondern nahezu unerreichbaren Osten sowie aus der Attraktivität des bislang arkanen, ja mystischen Wissens und Könnens. Schriftliche Hintergrund-Informationen waren rar, die wenigen verfügbaren Karate-Bücher wurden behandelt wie Schätze, an das Internet war noch nicht zu denken. Woher ich eine Kopie der 20 Regeln des Karate-Meisters Funakoshi Gichin erhalten hatte, weiß ich heute nicht mehr, auch nicht, was mich veranlasste, sie für mich abzuschreiben. Retrospektiv betrachtet mag ein Grund meine Sozialisation mit den 10 Geboten der Bibel und ihren sozialistisch-ideologischen Pendants der Jung- und Thälmann-Pioniere sein: die Textsorte an sich war bekannt. Nur, diese 20 Sätze hatte mir kein Erwachsener vorgesetzt, ich hatte sie für mich gefunden, was für den Adoleszenten bedeutsam genug gewesen sein mag. Da ich nicht alles sofort verstand, was ich da las (etwa die eingangs zitierte sechzehnte Regel), beschloss ich, mich länger mit diesen Worten zu beschäftigen und sie an eine Wand meines Zimmers zu pinnen. Grund genug für meinen damaligen Stiefvater, Dekadenz und Sittenverfall durch die angebliche „Modewelle des Asiatischen“ zu befürchten und mir dies recht unverblümt mitzuteilen: „Das sind wohl die neuen 10 Gebote“, die du da an deiner Wand hast?“ Was mich damals verletzte, evoziert heute nur noch mein Bedauern: welch verpasste Chance für den Theologen, mit mir ins Gespräch zu kommen, mich an seiner distanzierten, intellektuell geschärften Sicht auf diese Regeln argumentativ teilhaben zu lassen und mich dadurch zum Nach- und Weiterdenken zu bringen. Stattdessen tat er das Schlechteste, was ein Pfarrer tun kann: er kanzelte das, was mir offenbar in jugendlicher Naivität etwas wert war, einfach als unwert ab, und zwar lediglich deshalb, weil es „neu“ bzw. für ihn „fremd“ war. 25 Jahre später. Noch immer gehe ich den Weg der leeren Hand. Zumindest in meinem Fall hat sich Karate also als eine recht langlebige Modeerscheinung herausgestellt. Funakoshis Sätze begleiten und inspirieren mich nach wie vor, insbesondere im Furyukan, wo sie über der Reihe der Schlagpfosten hängen und jedem, der es will, sinnfällig vors Auge treten können. Besonders mag ich eben jenen sechzehnten Satz vom Tor, dem Knaben und den vielen Feinden. Er klingt zunächst wie eine Aufforderung, sich daheim zu verbarrikadieren, damit einem nichts Schlimmes zustößt. In Zeiten des internationalen Terrorismus, in denen die Polizei den Bürgern zuweilen genau dazu rät, nur zu verständlich. Und doch kommen wir nicht umhin, immer wieder durchs Tor nach draußen zu gehen. Ganz einfach, um unsere menschlichen Grundbedürfnisse zu stillen: nach Brot, Wasser, frischer Luft und Bewegung. Aber auch nach Kenntnis, Verständnis und schlicht: Neuem. Funakoshis 16.Satz will uns diese Bedürfnisse sicher nicht ausreden. Er weist nur darauf hin, dass mit dem Schritt nach „draußen“ viele Unwägbarkeiten verbunden sind. Je nach Sichtweise sind dies dann eher „böse Gefahren“ oder aber „reizvolle Abenteuer“. Das letzte Wort stammt übrigens vom mittelhochdeutschen „Aventiure“ ab. Ausgehend vom Lateinischen (adventura: „das, was herankommen wird“.) bezeichnete dieses Wort im mittelalterlichen Roman eine Bewährungsprobe, die der Held einem inneren Antrieb bzw. seinem „Schicksal“ folgend sucht und in der Regel besteht. Äußere Kämpfe gegen dem Anschein nach übermächtige Feinde wie Drachen werden von inneren Kämpfen gegen Angst, Selbstzweifel und Verlust begleitet und

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Project 16

Meine Brisbane-Aventiure

Danshimon o izureba hyakuman no teki ari. „Wenn ein Knabe durch das Tor hinausgeht, hat er

hundertmal zehntausend Feinde.“ Einer von ihnen wohnte in unserer Wohnung: mein Stiefvater,

von Beruf Pfarrer. – Ich war 17 Jahre alt und entdeckte in den Jahren 1990/91 gerade einen

neuen Weg für mich: den der leeren Hand (Karate). In der Deutschen Demokratischen Republik,

die gerade ihre Existenz aushauchte, war die Ausübung des Karate offiziell nicht möglich

gewesen. Die Aura, die diese Kunst und ihre wenigen ostdeutschen Adepten in der Wende-Zeit

umwehte, in der sie nun ans Licht der Öffentlichkeit treten konnten, speiste sich aus den lediglich

imaginierten Vorstellungen über den damals nicht nur fernen, sondern nahezu unerreichbaren

Osten sowie aus der Attraktivität des bislang arkanen, ja mystischen Wissens und Könnens.

Schriftliche Hintergrund-Informationen waren rar, die wenigen verfügbaren Karate-Bücher wurden

behandelt wie Schätze, an das Internet war noch nicht zu denken. Woher ich eine Kopie der 20

Regeln des Karate-Meisters Funakoshi Gichin erhalten hatte, weiß ich heute nicht mehr, auch

nicht, was mich veranlasste, sie für mich abzuschreiben. Retrospektiv betrachtet mag ein Grund

meine Sozialisation mit den 10 Geboten der Bibel und ihren sozialistisch-ideologischen Pendants

der Jung- und Thälmann-Pioniere sein: die Textsorte an sich war bekannt. Nur, diese 20 Sätze

hatte mir kein Erwachsener vorgesetzt, ich hatte sie für mich gefunden, was für den

Adoleszenten bedeutsam genug gewesen sein mag. Da ich nicht alles sofort verstand, was ich

da las (etwa die eingangs zitierte sechzehnte Regel), beschloss ich, mich länger mit diesen

Worten zu beschäftigen und sie an eine Wand meines Zimmers zu pinnen. Grund genug für

meinen damaligen Stiefvater, Dekadenz und Sittenverfall durch die angebliche „Modewelle des

Asiatischen“ zu befürchten und mir dies recht unverblümt mitzuteilen: „Das sind wohl die neuen

10 Gebote“, die du da an deiner Wand hast?“ Was mich damals verletzte, evoziert heute nur

noch mein Bedauern: welch verpasste Chance für den Theologen, mit mir ins Gespräch zu

kommen, mich an seiner distanzierten, intellektuell geschärften Sicht auf diese Regeln

argumentativ teilhaben zu lassen und mich dadurch zum Nach- und Weiterdenken zu bringen.

Stattdessen tat er das Schlechteste, was ein Pfarrer tun kann: er kanzelte das, was mir offenbar

in jugendlicher Naivität etwas wert war, einfach als unwert ab, und zwar lediglich deshalb, weil es

„neu“ bzw. für ihn „fremd“ war.

25 Jahre später. Noch immer gehe ich den Weg der leeren Hand. Zumindest in meinem Fall hat

sich Karate also als eine recht langlebige Modeerscheinung herausgestellt. Funakoshis Sätze

begleiten und inspirieren mich nach wie vor, insbesondere im Furyukan, wo sie über der Reihe

der Schlagpfosten hängen und jedem, der es will, sinnfällig vors Auge treten können. Besonders

mag ich eben jenen sechzehnten Satz vom Tor, dem Knaben und den vielen Feinden. Er klingt

zunächst wie eine Aufforderung, sich daheim zu verbarrikadieren, damit einem nichts Schlimmes

zustößt. In Zeiten des internationalen Terrorismus, in denen die Polizei den Bürgern zuweilen

genau dazu rät, nur zu verständlich. Und doch kommen wir nicht umhin, immer wieder durchs Tor

nach draußen zu gehen. Ganz einfach, um unsere menschlichen Grundbedürfnisse zu stillen:

nach Brot, Wasser, frischer Luft und Bewegung. Aber auch nach Kenntnis, Verständnis und

schlicht: Neuem. Funakoshis 16.Satz will uns diese Bedürfnisse sicher nicht ausreden. Er weist

nur darauf hin, dass mit dem Schritt nach „draußen“ viele Unwägbarkeiten verbunden sind. Je

nach Sichtweise sind dies dann eher „böse Gefahren“ oder aber „reizvolle Abenteuer“. Das letzte

Wort stammt übrigens vom mittelhochdeutschen „Aventiure“ ab. Ausgehend vom Lateinischen

(adventura: „das, was herankommen wird“.) bezeichnete dieses Wort im mittelalterlichen Roman

eine Bewährungsprobe, die der Held – einem inneren Antrieb bzw. seinem „Schicksal“ folgend –

sucht und in der Regel besteht. Äußere Kämpfe gegen dem Anschein nach übermächtige Feinde

wie Drachen werden von inneren Kämpfen gegen Angst, Selbstzweifel und Verlust begleitet und

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wirken in der Quintessenz persönlichkeitsbildend. Der tatsächliche Kampf gegen einen

leibhaftigen Gegner, die Akzeptanz des Risikos bei gleichzeitiger Aufgabe persönlicher

Sicherheiten oder auf Neudeutsch das Verlassen der eigenen Komfortzone: all das lässt die

„hundertmal zehntausend Feinde“ Funakoshis in einem etwas anderen Licht erscheinen: als

Potential zu nachhaltigem persönlichen Wachstum. Für Hermann Hesse ist dieses Vor-das-Tor-

Treten ein regelrechtes Lebenselixier. In seinem berühmten Gedicht „Stufen“ schreibt er „Nur wer

bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

Was läge demnach näher, als morgen aufzubrechen, etwas zu wagen, will sagen: eine Aventiure

zu bestehen, um einer potentiell eintretenden Gewöhnung vorzubeugen? Ich bin mir ziemlich

sicher, dass es nicht diese Gedanken waren, die meine Frau bewegten, als sie mich im Herbst

des letzten Jahres eher beiläufig als zielgerichtet fragte, ob ich denn nicht schon „immer

mal“ nach Brisbane zu Patrick McCarthy, dem Begründer des Koryû Uchinâdi, reisen wollte. Da

war er, der Lebensruf, wie ihn Hesse beschreibt. Die Gunst des Augenblicks, die es zu nutzen gilt,

personifizierten die alten Griechen im Gott Kairos, der mit kahlem Hinterkopf dargestellt wurde.

Stellte Kairos sich einmal ein, musste man ihn bzw. die günstige Gelegenheit sofort „beim

Schopfe packen“ oder er/sie war unwiderruflich entwichen. Ich erspare dem geneigten Leser an

dieser Stelle alle Zwischenschritte, wie es von diesem initialen Impuls ausgehend dann

tatsächlich dazu kam, dass ich mich am 25.Juni 2016 gemeinsam mit Bernd aus Haßloch in ein

Flugzeug setzte, um nach Queensland, Australien zu fliegen. Vielmehr möchte ich mit einem

Augenzwinkern von einer kleinen Auswahl der „Feinde“ erzählen, denen der dreiundvierzigjährige

Knabe Hendrik begegnet ist, als er durch das Tor hinausging und seine vertrauten

Lebensumstände für vier Wochen hinter sich ließ.

1. Zeitzonenkater

Es ist mein erster Langstreckenflug, genau

genommen sind es zwei Flüge innerhalb eines

Tages. Mit Zwischenstopp in Singapur befinden

wir uns ungefähr 20 Stunden in der Luft und

überwinden in diesen nicht nur den Äquator,

sondern auch rund 15000 Kilometer und 10

Zeitzonen. Informationen wie, dass wir uns

während des Fluges 11500 Meter über der Erde

befinden, dass wir uns mit ca. 900 km/h

fortbewegen und außerhalb des Flugzeuges

minus 50°C herrschen, nehme ich zwar zur

Kenntnis, aber nicht als Bedrohung wahr. Schon

eher, dass wir unter anderem über die Türkei und Afghanistan fliegen…die Ukraine hat ja gezeigt,

dass der Luftraum hoch über Krisengebieten nicht sicher sein muss. Im Hinterkopf blitzen zudem

Nachrichtenreste von ins Meer gestürzten Flugzeugen und Terroristen auf, die

Passagiermaschinen entführen. Zum Glück bleiben die Enge der Sitze und partielle Schlaf-

störungen in den ersten Nächten nach der Ankunft die einzigen Unannehmlichkeiten der Flüge.

2. Gefährliche Tiere

Wir sind gewarnt: Australien beherbergt die giftigsten Tiere

der Erde, u.a. bestimmte Spinnen und Schlangen, zudem wird

immer wieder von menschenfleischhungrigen Haien und

Salzwasserkrokodilen berichtet. Weiterhin erzählen uns die

Einheimischen aus eigenem Erleben von Kängurus, die vom

Straßenrand regelrecht in Autos hineinspringen, von Python-

Schlangen, die die Kanalisation verstopfen, und von Butcher-

Birds, die in der Brutsaison Radfahrer und Fußgänger

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angreifen. Wir profitieren offenbar von der vergleichsweise kühlen Winterzeit, so dass wir nahezu

„verschont“ bleiben. Ein paar Spinnen und Käfer in der Dusche erweisen sich als harmlos,

Possums laufen zwar nachts so laut übers Dach, so dass man gelegentlich davon erwacht, sie

dringen jedoch nicht ins Dojo ein. Nur eine Maus knabbert an Teros Banane…

3. English for Runaways

Irgendwann einmal wird mir bewusst, dass ich mich mit

Bernd auf Englisch unterhalte, obwohl niemand anderes

dabei ist. Sind wir angekommen, wenigstens sprachlich?

Wohl alles andere als das: immer wieder hadern wir mit

Wortfindungsstörungen, von grammatikalischer Korrekt-

heit ganz zu schweigen. English, the Enemy! Immerhin,

wir können uns verständlich machen und verstehen auch

das Meiste, wenngleich wir zuweilen darauf angewiesen

sind, dass man für uns noch einmal langsam wiederholt

oder der breite neuseeländische Akzent Johnnys durch

sichtbare Karate-Demonstrationen verständlicher wird.

Natürlich erweitern wir in den vier Wochen unseren Wortschatz und unser sprachliches

Vermögen. Beispielsweise weiß ich jetzt, dass eine theatre nurse nicht in einem Theater arbeitet,

dass man mit bucks genauso wie mit dollars bezahlen kann oder dass ich nicht me, sondern

myself rasieren sollte.

4. Schwer(-t) zu lernen

Keine Ahnung, in wie vielen KU-Dojos Schwertkampf unterrichtet wird. Viele werden es wohl

nicht sein. Im Brisbane So-honbu nehmen wir als Anfänger an drei Schwert-Trainings pro Woche

teil und erhalten so einen ersten Eindruck vom Tenshin Shoden Katori Shinto Ryu, das McCarthy

sensei unter dem Meister Sugino Yoshio lange Zeit geübt hat und ihn mit seinen festgelegten

Zwei-Personen-Übungen maßgeblich zur Kreation entsprechender unbewaffneter futari geiko

inspirierte, die wir heute im KU-Curriculum wiederfinden. Obwohl ich gern und oft mit (Kobudo-)

Waffen übe, wird schnell klar: das Schwert ist noch einmal eine ganz andere, eigene Welt im

Bereich der Kampfkünste. Allein das Ziehen aus der Scheide und die Rückbeförderung der

Klinge an eben diesen Ort bedürfen langer, intensiver und konzentrierter Übung. Die etwas

abgedroschene Phrase von der „Meditation in Bewegung“ erhält für mich eine neue Bedeutung.

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5. Sunburn

Wie gesagt, es ist australischer Winter. Das heißt, an kalten Tagen nachts 7 bis 9° und tags

zwischen 17 und 21°. Da will man es gar nicht glauben, dass unser Finne friert. Am Freitag

unseres Abflugs klettert das Thermometer dann sogar auf 27° Grad. Bill erzählt uns, dass er in

seinem Leben noch nie Schnee gesehen hat. Auch schaut er uns etwas konsterniert an, als wir

ihm erzählen, dass wir bei unserem Ausflug nach Moreton Island im Meer baden waren. Als wir

dorthin aufbrechen, fragt uns Denise, ob wir ausreichend Sonnencreme aufgetragen hätten. Man

solle sich nicht von der geschlossenen Wolkendecke täuschen lassen. Die Gefahr, einen

Sonnenbrand zu bekommen, sei stets hoch, auch wenn das große Ozonloch über Australien

wohl doch eher Mythos als Realität ist. So lautet die Formel der Selbstverteidigung diesmal:

Lichtschutzfaktor 30.

6. Askese

Unser Leben ist weit entfernt von klösterlichen

Entbehrungen. Gleichwohl verzichten wir auf sonst

alltägliche Bequemlichkeiten wie ein geräumiges

Bad, eine mit Geschirrspüler und Herd

ausgestattete Küche, eine unseren Bedürfnissen

entsprechende Matratze, Trinkwasser aus dem

Wasserhahn oder ein Fahrzeug, mit dem wir uns

zu unserem Wunschort transferieren, wann immer

es uns beliebt. Erinnerungen an das KU-

Sommercamp am Frauensee werden wach.

Immerhin, wir haben einen Kühlschrank, WLAN

und etwas Privatsphäre mit je einem eigenen

Zimmer. Mit Bills Waschmaschine dürfen wir Wäsche waschen; Wasserkocher, Kaffeemaschine,

Toaster, Mikrowelle sowie eine Elektropfanne genügen als Küchen-Equipment durchaus.

Eingekauft wird zu Fuß: 40 Minuten brauchen wir bis zur Shopping-Mall und genauso lange

zurück, unsere Beute gut verstaut in unseren Backpacks.

7. …out of the Box!

Wir üben das erste Tegumi. Hände einhaken. Eine sehr vertraute und – man könnte meinen –

leichte Übung. Bill beobachtet Bernd und mich und fragt anschließend, wofür Tegumi an sich gut

seien. Meine Antwort befriedigt ihn durchaus, nicht jedoch bestimmte Details unserer technischen

Ausführung. Also heißt es: schnell heraus der Box, den Anfängergeist (shoshin) auspacken und:

üben. So geht es uns noch manches Mal: für uns selbstverständliche Bewegungsmuster werden

in Details hinterfragt und Alternativen gegenübergestellt, die uns entweder als Korrektur an sich

oder aber als Ausführungsvariante überzeugen. Fazit: andere Lehrer, andere Fokussierungen.

Was zunächst manchmal verwirrt, bereichert am Ende.

8. Unglück geschieht immer durch…

Es passiert beim Abwaschen. Mir zerbricht die Glaskanne der Kaffeemaschine. Meine Hoffnung

ist, dass im Land der unbegrenzten Shopping-Möglichkeiten das Teil leicht ersetzt werden kann.

Leider Fehlanzeige. In allen Fachgeschäften der Mall verweist man für replacement items auf das

Internet bzw. den Hersteller. Zudem macht eine Recherche klar, dass nur die Kanne satte 30

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Dollar kostet und damit genau halb so viel kostet, wie eine neue Kaffeemaschine des gleichen

Typs, die im Laden vor mir steht. Verrückt. Nach anfänglichem Zögern beschließe ich mit einem

unguten Gefühl, die neue Maschine samt Kanne zu kaufen, um das Problem als Gast „vom

Tisch“ des Gastgebers zu haben. Als ich dafür Geld am Automaten ziehen will, streikt meine

Karte… es gibt eben Tage, an denen verliert man, und Tage, an denen gewinnen die anderen.

9. Falsche Erwartungen

Zeitig nach unserer Reiseentscheidung wird klar, dass die Chance, in Brisbane längere Zeit unter

der Anleitung McCarthy senseis zu üben, gering ist. Noch lange vor Reiseantritt kristallisiert sich

heraus, dass die Wahrscheinlichkeit tatsächlich fast null ist. Ironischer Weise üben wir Europäer

in Australien, während der in Australien lebende Sensei in Europa Seminare gibt. Er ist an seine

Zeitpläne gebunden, wie ich an die sächsischen Sommerferien. Insofern stellt sich die Frage, mit

welchen Zielen Bernd und ich dennoch nach Down Under wollen, relativ früh, unter anderem

auch im Dialog mit Olaf. Dass wir auch früh für uns befriedigende Antworten auf diese Frage

finden, entspannt uns vor Reiseantritt sehr. Wir wissen, dass wir schlicht zu zweit Kampfkunst

üben und Land, Leute, Flora und Fauna kennen lernen wollen. Unser finnischer Kamerad Tero

dagegen kommt mit Druck auf den Schultern in Brisbane an. Am Ende seines Aufenthalts soll die

Prüfung zum Nidan stehen. Zum Glück gelingt es Tero im Einvernehmen mit seinem Lehrer Ante

diesen „psychischen Rucksack“ bald abzuwerfen und

einfach mit uns zu trainieren. – Am Ende sind wir

dann froh, doch noch ein wenig Zeit mit Sensei

verbringen zu können: er lädt uns zum Barbecue zu

sich nach Hause ein und wir begleiten ihn bei seinem

15km-Morgen-Lauf durch die städtischen Waldparks.

In einem Gespräch erwähnt er beiläufig die Bitte einer

hier nicht zu nennenden Person an ihn für unseren

Aufenthalt: „Don’t grade them!“ Als ich dies höre,

muss ich schmunzeln und frage mich, wer hier

eigentlich etwas fälschlich erwartet hat…

10.Höllennächte und Formenfülle

Gibt es so etwas wie eine typisch australische KU-Trainingsspezifik?

Wohl nicht, stelle ich fest, es gibt lediglich lehrer-bezogene

Eigenheiten… Johnny „The Rocket“ Kennedy arbeitet gern

thematisch im Bereich „Schlagen und Treten“ und immer verbunden

mit einer stärkeren physischen Belastung. Sein Montagstraining hat

daher im So-honbu den Spitznamen „Hell Night“ und wird von

manchem bewusst gemieden. Nicht von uns. Johnny zeigt genau,

korrigiert wenig (weil er selbst fast alles mitübt) und motiviert uns

permanent. – Bill Johansen dagegen unterrichtet ruhiger, gesetzter

und tendenziell formorientierter. Die situative Anwendbarkeit der

Technikfülle aus den großen Drills spielt (zunächst?) eine

untergeordnete Rolle. Die Abläufe – beeindruckend, wie viele Bill

gerade auch hinsichtlich der Waffen einfach abrufen kann – werden

schlicht geübt und detailliert korrigiert. Am Ende steht die Erkenntnis,

dass es von Zeit zu Zeit lohnenswert ist, andere Trainingsstile

kennenzulernen, nicht zuletzt um den eigenen vor deren Hintergrund

kritisch zu hinterfragen und durch Korrekturen und neue Impulse zu

bereichern.

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11.Opfer

Unsere Australien-Unternehmung kostet natürlich auch etwas. Neue Erfahrungen gibt es nicht

„umsonst“. Mehrfach stellt sich die Frage: Was bin ich bereit zu investieren, will sagen

aufzugeben, um etwas Neues zu erhalten? Der teure Flug ist – jedenfalls für Bernd und mich –

nicht das größte Opfer. Es ist vielmehr die (Urlaubs-)Zeit, die wir diesmal nicht mit unseren

Nächsten verbringen. Bernd hat gerade erst geheiratet und lässt seine Braut „egoistischer

Weise“ vier Wochen lang allein daheim. Bei mir kommen drei jüngere Kinder hinzu, die ihren

Papa in den Ferien so vermissen wie ich sie. Zudem müssen im Koryukan Haßloch und im

Furyukan Königsbrück unsere Schüler uns in der Leitung mehrerer Trainings vertreten. Ohne das

grundsätzliche Wohlwollen und die Opferbereitschaft der Daheimgebliebenen könnte man eine

solche Reise wohl nur schwerlich antreten. Danke dafür.

12.Kulturschock

Wir erleben hier eine Wegwerf-Kultur, wie sie Deutschland

(hoffentlich?) schon hinter sich gelassen hat. Flaschen-

und Dosenpfand: Fehlanzeige. Leere Getränkebehälter

sind hier kein „Gut“, sondern Abfall und wandern

schnurstracks in die Restmülltonne. Im Markt muss man nicht um eine Plastetüte bitten und diese

bezahlen, vielmehr wird der gesamte Einkauf an der Kasse ungefragt gleich in mehrere hässlich-

graue bags eingetütet. Ohne Mehrkosten versteht sich, jedoch auf Kosten der Meerestiere, wie

man weiß… Überhaupt scheinen Shopping und Service hier mehr Religion als Überlebenshilfe zu

sein. Konsum unser, der du bist unser Himmel. Geheiligt werde dein Name. Noch nie habe ich so

viele verschiedene Fastfood-Buden unterschiedlichster Nationalität, so viele Smart-Phone-

Repair-Shops, so viele Fußpflege- und Maniküre-

Salons auf einem Haufen gesehen wie in Brisbane.

Vielleicht, weil ich bislang noch nie in den USA war.

Museen, Theater und von der Stadtgeschichte

erzählende ältere Häuser muss man dagegen suchen.

Kirchen und Tempel diverser Religionsgemeinschaften

sind dagegen häufiger zu sehen. Auch das Straßenbild ist bunt. Man spürt: Australien ist ein

Einwanderungsland. Und: Asien ist nah.

13. Lechts und rinks

Dass die Autos in Australien auf der jeweils anderen Straßenseite als bei uns fahren, ist ja

bekannt und für jemanden, der schon mal in London oder anderswo auf „Der Insel“ war, auch

vertraut. Trotzdem erwische ich mich dabei, wie ich beim Überqueren der Straße häufiger in

beide Richtungen schaue als daheim, um potentielle Gefahren zu meiden. – Werden wir von den

Einheimischen chauffiert, sitze ich wegen der Länge meiner Beine links neben dem Fahrer und

werde auch in der letzten Woche unseres Aufenthalts das ungute Gefühl nicht los, dass die

anderen Verkehrsteilnehmer alle „auf der auf der falsch Seite“ unterwegs sind. – Was denkt sich

ein Geisterfahrer, wenn ihm Autos entgegenkommen? Lauter Geisterfahrer! – Immerhin habe ich

nie den Versuch unternommen, auf der Fahrerseite einzusteigen. Nur als wir das erste Mal mit

dem Zug in die City fahren wollen, landen wir auf dem verkehrten Bahnsteig, denn auch im

Schienenverkehr sind hier die Seiten vertauscht.

14. Freizeit

Wenn wir kein reguläres Training besuchen oder zum Sightseeing

im Koala-Sanctuary „Lone Pine“ bzw. in der City unterwegs sind,

müssen wir etwas mit uns selbst anfangen. Allein im Dojo kann ein

solcher Trainingsaufenthalt auch schnell öde und die Freizeit zum

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Feind werden, wenn man nicht innerlich sehr gefestigt ist. Zum Glück ist dieser Feind für uns

nicht so leibhaftig: wir sind zu dritt, beratschlagen gemeinsam, was wir wann üben wollen, wann

es Zeit für einen Nap, den Lunch, einen Latte im Coffee shop um die Ecke oder auch für die

Reinigung des Dojos ist. Jeder hilft dem anderen bei den alltäglichen Verrichtungen oder, wenn

ihm mal die nächste Bewegung im Ablauf einer Kata fehlt. Natürlich tun wir nicht alles

gemeinsam: die Skype-Termine mit der Heimat differieren erheblich und gelegentlich steht auch

mal einer von uns allein auf der Matte, während dieser schreibt und jener schläft…

15. Versuch und Irrtum

In der Fremde ist es manchmal schwierig, den Erwartungen der Gastgeber zu entsprechen,

insbesondere dann, wenn diese nicht expressis verbis formuliert werden. Die Angebote der

Gastfreundlichkeit sind vielfältig: man chauffiert uns zum Einkaufen, bietet uns Extra-Trainings an,

führt uns durch die Stadt, arrangiert Ausflüge, erfreut uns mit mitgebrachten Speisen (z.T. sogar

mit kompletten Menüs) oder spricht Einladungen zum Abendessen aus. Was davon dürfen, was

sollten wir annehmen? An welcher Stelle sollen wir lieber ablehnen, um unseren Gastgeber nicht

zu sehr zeitlich und/oder finanziell zur Last zu fallen? An welcher Stelle würde eine solche

Ablehnung als Missachtung der Gastfreundschaft aufgefasst? Wie/Womit sollen wir uns am

besten erkenntlich zeigen? Ist es unhöflich zu sagen, dass wir jetzt nicht noch eine weitere

Runde durch die City drehen, sondern lieber zurück ins Dojo fahren wollen, um auszuruhen?

Sollen wir die neue Glühbirne oder das fehlende Klopapier selbst besorgen oder nur auf die

Notwendigkeit hinweisen? Können wir trotz der bloßen Möglichkeit, dass Sensei im Dojo

erscheinen KÖNNTE, das Dojo verlassen, sagen wir: um Souvenirs zu kaufen? Und so weiter

und so weiter… wir verfahren nach dem Prinzip „Trial and Error“, was bleibt uns auch anderes

übrig. Zum Glück hält sich die Zahl unserer Irrtümer in Grenzen. Ganz vermeiden können wir sie

freilich nicht.

16. Can we see it?

Immer mal wieder kommt es im Training vor, dass Bill uns fragt, ob wir diese oder jene Form

beherrschen. Schnell lernen wir, dass im Fall einer zustimmenden Antwort die Frage „Can we

see it?“ folgt. Wir kommen also häufiger in die Situation, vor der Gruppe und speziell vor seinem

prüfenden Auge etwas zu demonstrieren. Ihn interessiert besonders, wie wir Gleiches in Nuancen

anders ausführen. Anschließend entstehen nicht selten interessante Gespräche über das Wie

und Warum von technischen Details, von denen beide Seiten gleichermaßen profitieren.

Nichtsdestotrotz ist die Frage „Can we see it?“ natürlich wie jede Prüfungssituation erst einmal

ein „Angriff“, ein kleiner Feind, der besiegt sein will. Zum Glück gelingt dies nach all den

Übungsjahren immer mehr mit gelassener Konzentration beziehungsweise konzentrierter

Gelassenheit.

Natürlich ließe sich die Auswahl der Feinde leicht erweitern.

Doch auch ohne dies sieht man bereits: es gibt ihrer viele, wenn

man erstmals durch ein bestimmtes Tor schreitet. Wie man aber

auch bemerkt, sind die meisten Feinde nicht unüberwindbar. Vor

manchen Gefahren kann man sich durch gute Vorbereitung

schützen, andere entpuppen sich als Scheinriesen (vergl. „Jim

Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende): geht

man mutig auf sie zu, werden sie immer kleiner. Gerade wenn

ich dies schreibe, muss ich an E.T.A. Hoffmanns „Der goldne

Topf“ denken, den wir trotz vieler Widerstände im Februar an

der Kreuzschule in Form eines Musicals auf die Bühne gebracht

haben. In diesem 200 Jahre alten Wirklichkeitsmärchen ermutigt

einer der Protagonisten einen anderen: „… nur dem Kampfe

entsprießt dein Glück im höheren Leben. Feindliche Prinzipe

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fallen dich an, und nur die innere Kraft, mit der du den Anfechtungen widerstehst, kann dich

retten.“ Ich denke, dass dies im Kleinen wie im Großen gilt, auch und gerade in unserer Zeit, die

so voller feindlicher Prinzipe zu sein scheint. Nicht aufgeben, sich nicht daheim verbarrikadieren,

viel mehr: durch das Tor schreiten (japanisch: 入門 - nyûmon), auch wenn und gerade weil da

hundertmal zehntausend Feinde lauern. Sie sind unsere Chance…

Hendrik Felber im Juli ‘16