Psychiatrischer Beitrag

3
1 3 JOURNAL CLUB Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2014) 8:63–65 DOI 10.1007/s11757-013-0253-0 Das gutachterliche Urteil eines forensisch-psychiatrischen oder forensisch-psychologischen Sachverständigen ist in vielen Gerichtsverfahren von großer Bedeutung. Obschon die Entscheidung über den Ausgang eines Verfahrens allein den rechtsprechenden Organen obliegt, kann die Einschätzung eines Probanden durch einen Gutachter eine entscheidende Rolle spielen. Mängel und Fehler in der gut- achterlichen Einschätzung können daher schwerwiegende Konsequenzen haben. Eine Fehlerart, die auftreten kann, sind kognitive Verzerrungen bzw. „Biases“. Als systema- tischer Teil des Denkens liegen diese vielen menschlichen Entscheidungen zugrunde. Eine Forschergruppe aus den USA um Daniel C. Murrie [1] untersuchte das Vorkommen von Bias bei forensisch- psychologischen und -psychiatrischen Sachverständigen in kontradiktorischen Verfahren („adversarial proceedings“), d. h. in Verfahren, bei denen sich 2 streitende Parteien mit ent- gegengesetzten Interessen gegenüberstehen. In Deutschland sind nur Zivilprozesse, in den USA aber auch Strafverfahren kontradiktorisch ausgestaltet, da dort der Staatsanwalt als anklagende Partei dem Angeklagten gegenübergestellt ist. Forensisch-psychologische oder forensisch-psychiatrische Sachverständige werden bei dieser Art von Verfahren ent- weder vonseiten der Anklage oder vonseiten der Verteidi- gung mit der Einschätzung eines Probanden beauftragt und sind somit nicht unabhängig von der Partei, die ihre Dienste in Anspruch nimmt. Daher stellt sich die Frage, wie reliabel die Einschätzungen der Experten unter solchen Bedingun- gen sein können. Können Sachverständige ihre Probanden objektiv beurteilen, ohne einem Bias zugunsten der Seite, die sie beauftragt hat, zu unterliegen? Die Forscher vermu- ten: Von einer Seite beauftragt und bezahlt zu werden, kann die Objektivität von Experten in kontradiktorischen Verfah- ren verringern. Sie sprechen vom „Allegiance“-Effekt („all- egiance“: Gefolgschaft, Hörigkeit, Untertanentreue) oder von „adversarial allegiance“ als Tendenz von Experten, zu günstigen Schlussfolgerungen für die Seite zu kommen, die sie beauftragt hat. Ergebnisse aus Feldstudien deuten bereits auf einen solchen Effekt hin [2, 3]. Allerdings lässt sich aus Feldstudien allein noch keine Aussage über die Natur des Effekts treffen, da dabei nur Einschätzungen von Experten untersucht werden können, die von Anwälten ausgewählt wurden. Um Selektionseffekte – etwa in Form einer selektiven Auswahl von Sachverständigen oder Ergebnissen durch Anwälte – als Verursachung des Effekts auszuschließen, legten Murrie et al. [1] nun eine Studie vor, in der sie ein randomisiertes Experiment durchführten. Zur Untersuchung des Allegiance-Effekts fingierten sie Verfahren gegen ver- urteilte Sexualstraftäter („sexually-violent-predator trials“), bei denen die Frage der Prognose bzw. der Notwendig- keit einer Unterbringung in einer Behandlungseinrichtung beantwortet werden sollte. Gemäß den Gesetzen mehrerer US-Bundesstaaten können Sexualstraftäter nach Ableistung ihrer Strafe in eine Behandlungseinrichtung eingewiesen werden, wenn sie potenziell rückfallgefährdet sind. In die- sen Verfahren hängt das Gerichtsurteil von den Aussagen zweier von opponierenden Parteien beauftragter forensi- scher Experten ab, die das Rückfallrisiko desselben Täters einschätzen. Für die Untersuchung wurden 108 forensische Psychologen und Psychiater rekrutiert. Alle Studienteil- nehmer wurden über den wahren Zweck des Experiments getäuscht und glaubten, sie nähmen an einem groß ange- Psychiatrischer Beitrag Bias bei forensisch-psychologischen und forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Julia Sieß Dipl.-Psych. J. Sieß () Institut für Forensische Psychiatrie, LVR-Klinikum Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] Online publiziert: 8. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Transcript of Psychiatrischer Beitrag

1 3

Journal Club

Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2014) 8:63–65DOI 10.1007/s11757-013-0253-0

Das gutachterliche Urteil eines forensisch-psychiatrischen oder forensisch-psychologischen Sachverständigen ist in vielen Gerichtsverfahren von großer Bedeutung. Obschon die Entscheidung über den Ausgang eines Verfahrens allein den rechtsprechenden Organen obliegt, kann die Einschätzung eines Probanden durch einen Gutachter eine entscheidende Rolle spielen. Mängel und Fehler in der gut-achterlichen Einschätzung können daher schwerwiegende Konsequenzen haben. Eine Fehlerart, die auftreten kann, sind kognitive Verzerrungen bzw. „Biases“. Als systema-tischer Teil des Denkens liegen diese vielen menschlichen Entscheidungen zugrunde.

Eine Forschergruppe aus den USA um Daniel C. Murrie [1] untersuchte das Vorkommen von Bias bei forensisch-psychologischen und -psychiatrischen Sachverständigen in kontradiktorischen Verfahren („adversarial proceedings“), d. h. in Verfahren, bei denen sich 2 streitende Parteien mit ent-gegengesetzten Interessen gegenüberstehen. In Deutschland sind nur Zivilprozesse, in den USA aber auch Strafverfahren kontradiktorisch ausgestaltet, da dort der Staatsanwalt als anklagende Partei dem Angeklagten gegenübergestellt ist. Forensisch-psychologische oder forensisch-psychiatrische Sachverständige werden bei dieser Art von Verfahren ent-weder vonseiten der Anklage oder vonseiten der Verteidi-gung mit der Einschätzung eines Probanden beauftragt und sind somit nicht unabhängig von der Partei, die ihre Dienste in Anspruch nimmt. Daher stellt sich die Frage, wie reliabel die Einschätzungen der Experten unter solchen Bedingun-gen sein können. Können Sachverständige ihre Probanden

objektiv beurteilen, ohne einem Bias zugunsten der Seite, die sie beauftragt hat, zu unterliegen? Die Forscher vermu-ten: Von einer Seite beauftragt und bezahlt zu werden, kann die Objektivität von Experten in kontradiktorischen Verfah-ren verringern. Sie sprechen vom „Allegiance“-Effekt („all-egiance“: Gefolgschaft, Hörigkeit, Untertanentreue) oder von „adversarial allegiance“ als Tendenz von Experten, zu günstigen Schlussfolgerungen für die Seite zu kommen, die sie beauftragt hat. Ergebnisse aus Feldstudien deuten bereits auf einen solchen Effekt hin [2, 3]. Allerdings lässt sich aus Feldstudien allein noch keine Aussage über die Natur des Effekts treffen, da dabei nur Einschätzungen von Experten untersucht werden können, die von Anwälten ausgewählt wurden.

Um Selektionseffekte – etwa in Form einer selektiven Auswahl von Sachverständigen oder Ergebnissen durch Anwälte – als Verursachung des Effekts auszuschließen, legten Murrie et al. [1] nun eine Studie vor, in der sie ein randomisiertes Experiment durchführten. Zur Untersuchung des Allegiance-Effekts fingierten sie Verfahren gegen ver-urteilte Sexualstraftäter („sexually-violent-predator trials“), bei denen die Frage der Prognose bzw. der Notwendig-keit einer Unterbringung in einer Behandlungseinrichtung beantwortet werden sollte. Gemäß den Gesetzen mehrerer US-Bundesstaaten können Sexualstraftäter nach Ableistung ihrer Strafe in eine Behandlungseinrichtung eingewiesen werden, wenn sie potenziell rückfallgefährdet sind. In die-sen Verfahren hängt das Gerichtsurteil von den Aussagen zweier von opponierenden Parteien beauftragter forensi-scher Experten ab, die das Rückfallrisiko desselben Täters einschätzen. Für die Untersuchung wurden 108 forensische Psychologen und Psychiater rekrutiert. Alle Studienteil-nehmer wurden über den wahren Zweck des Experiments getäuscht und glaubten, sie nähmen an einem groß ange-

Psychiatrischer BeitragBias bei forensisch-psychologischen und forensisch-psychiatrischen Sachverständigen

Julia Sieß

Dipl.-Psych. J. Sieß ()Institut für Forensische Psychiatrie,LVR-Klinikum Essen, Essen, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Online publiziert: 8. Januar 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

64

1 3

J. Sieß

legten Verfahren zur Beurteilung der Prognose von Sexual-straftätern teil.

Die Studienteilnehmer erhielten zunächst eine 2-tägige Schulung im Umgang mit den Instrumenten Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) und Static-99R, 2 häufig in der Beurteilung des Rückfallrisikos eingesetzten Instrumenten mit hoher Interrater-Reliabilität. Drei Wochen später wurden sie aufgefordert, Daten aus Fallakten über 4 Sexualstraftä-ter anhand der Instrumente zu beurteilen. Die 4 Fallakten enthielten authentische, aber mit geänderten Namen ver-sehene Gerichts-, Ermittlungs- und Gefängnisunterlagen über Sexualstraftäter, deren Fälle als repräsentativ ange-sehen wurden, sowie ein fabriziertes PCL-R-Interview. Dabei wurden die Experten randomisiert einer der beiden folgenden experimentellen Bedingungen zugewiesen: Die Hälfte der Experten glaubte, sie würde ihre Einschät-zung für die Verteidigung erstellen, die andere Hälfte, sie würde für die Anklage hinzugezogen werden. Bevor sie die Beurteilung vornahmen, trafen die Sachverständigen für 10 bis 15 Minuten mit einem Anwalt zusammen, der je nach experimenteller Bedingung als Anwalt der Verteidigung oder der Anklage auftrat und die Studienteilnehmer gemäß seiner Rolle ansprach (z. B. in der Verteidigungsbedingung: „Wir werden versuchen, dem Gericht deutlich zu machen, dass nicht jeder Sexualstraftäter ein hohes Rückfallrisiko hat“) sowie außerdem die Aussicht auf weitere zukünftige Aufträge bot. Die Sachverständigen wurden mit einem für forensische Einschätzungen angemessenen Lohn bezahlt.

In den Ergebnissen, die durch Mittelwertvergleiche mithilfe von t-tests ermittelt wurden, zeigte sich ein kla-rer Allegiance-Effekt. Diejenigen Sachverständigen, die annahmen, dass sie für die Anklage arbeiteten, stuften das Risiko der Täter höher ein, während diejenigen, die dachten, sie seien für die Verteidigung tätig, das Rückfallrisiko der Täter niedriger einschätzten. Die Effektgrößen (d) reichten von  0,55–0,85. Gemäß der Klassifikation von Cohen [4] entspricht dies einem mittelgroßen Effekt. Die Effekte der Feldstudien bewegten sich in ähnlichen Größen [2, 3]. In der PCL-R zeigte sich der Effekt stärker als im Static-99R, da die PCL-R ein subjektiveres klinisches Urteil verlangt. Im Static-99R wurden die Unterschiede zwar erkennbar, aber nur in einem der 4 Fälle signifikant.

Obwohl durch die Randomisierung Unterschiede zwi-schen der Gruppe der Verteidigungsbedingung und der Gruppe der Anklagebedingung ohnehin unwahrscheinlich waren, wurden eventuelle Unterschiede in den Einstellun-gen der Sachverständigen hinsichtlich Sexualstraftätern und ihrer Behandlung mithilfe eines kurzen Fragebogens über-prüft und als mögliche weitere Erklärung für den Effekt ausgeschlossen.

Die Ergebnisse der Studie zeigen also, dass Bewertun-gen von Probanden durch Sachverständige anhand angeb-lich objektiver Instrumente einem Bias unterliegen können,

und zwar einer Verzerrung der Ergebnisse zugunsten des Auftraggebers. Im Feld kann der Allegiance-Effekt durch Selektionseffekte verstärkt werden: Es ist zu erwarten, dass Anwälte solche Gutachter hinzuziehen, von denen sie sich Einschätzungen im Sinne ihrer eigenen Anliegen erhof-fen können. Die vorliegende Studie macht aber deutlich, dass allein die „Anziehungskraft“ verschiedener Parteien in kontradiktorischen Verfahren die Meinung forensischer Gutachter beeinflussen kann. Forensische Sachverständige scheinen also nicht immer objektiv zu urteilen, wenn sie für eine bestimmte Seite in einem kontradiktorischen Verfah-ren beauftragt werden. Obwohl hier nur eine Art der Begut-achtung – die Prognose von Sexualstraftätern – untersucht wurde, liegt nahe, dass auch andere Arten von forensischen Einschätzungen von Allegiance-Effekten betroffen sein können. Bemerkenswert sind die Ergebnisse der Untersu-chung auch, da die experimentelle Manipulation nicht dem Umfang der Einflüsse gleichkam, denen forensische Sach-verständige in realen Fällen ausgesetzt sind. So verbrach-ten die Teilnehmer des Experiments beispielsweise nur ca. 10 bis 15 Minuten mit dem Anwalt, der sie angeblich beauftragt hatte, wohingegen Sachverständige im Feld über Wochen und Monate hinweg mit ihrem Auftraggeber im Kontakt sein können. Dass in der vorliegenden Studie selbst bei Verwendung von strukturierten, anscheinend objektiven Instrumenten mit einer (normalerweise) hohen Interrater-Reliabilität Allegiance-Effekte auftraten, lässt vermuten, dass die Effekte in weniger strukturierten Bedingungen noch stärker sein könnten.

Obwohl der Einsatz der Instrumente bedeutsam war, um die Meinungen der Experten messbar zu machen, stellt ihre alleinige Verwendung gleichzeitig einen Kritikpunkt an der Studie dar, da sie die externe Validität einschränkt. Die Sachverständigen konnten ihre Einschätzungen lediglich als reine Punktzahl zum Ausdruck bringen und keine ausführ-lichere Stellungnahme abgeben. Als weitere Einschränkung der Repräsentativität der Ergebnisse ist zudem zu sehen, dass die Sachverständigen sich ihre Meinung nur anhand von Aktenunterlagen bilden konnten, während in der Reali-tät der Proband meist selbst befragt werden kann.

Die Studie lieferte keinen Aufschluss zu den Mechanis-men, die den Allegiance-Effekt verursachen. Ob der Effekt auf die anfängliche Konversation mit einem Anwalt, auf ein Gefühl von Verbundenheit mit dem Team, auf die Bezah-lung oder auf die Aussicht auf zukünftige weitere Aufträge zurückgeht, ist nicht bekannt. Zudem zeigten nicht alle Teil-nehmer den Allegiance-Effekt.

Fraglich ist weiterhin, in welchem Umfang die Untersu-chungsergebnisse auf die Bedingungen in hiesigen Strafver-fahren übertragen werden können. Die Staatsanwaltschaft vertritt zwar in der Hauptverhandlung die Anklage, hat jedoch die Pflicht, im Vorverfahren umfassend zu ermit-teln und alle Erkenntnisse zu berücksichtigen, die den

65

1 3

Psychiatrischer Beitrag

2. Murrie DC, Boccaccini MT, Johnson JT, Janke C (2008) Does interrater (dis)agreement on Psychopathy Checklist scores in sexually violent predator trials suggest partisan allegiance in fo-rensic evaluations? Law Hum Behav 32:352–362. doi:10.1007/s10979-007-9097-5

3. Murrie DC, Boccaccini MT, Turner D, Meeks M, Woods C, Tus-sey C (2009) Rater (dis)agreement on risk assessment measures in sexually violent predator proceedings: evidence of adversarial all-egiance in forensic evaluation? Psychol Public Pol Law 15:19–53. doi:10.1037/a0014897

4. Cohen J (1988) Statistical power analysis for the behavioral scien-ces, 2. Aufl. Erlbaum, Hillsdale

Beschuldigten entlasten könnten. Anders als die eindeutig parteiische Verteidigung ist sie ebenso wie das Gericht der Wahrheitsfindung verpflichtet. Was es jedoch bedeutet, dass die Sachverständigen in der Hauptverhandlung das Ver-fahren zumeist mit Distanz zum Angeklagten auf der Seite der Anklagebehörde verfolgen, wäre vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zum Allegiance-Effekt einer eingehenden Betrachtung wert.

Literatur

1. Murrie DC, Boccaccini MT, Guarnera LA, Rufino KA (2013) Are forensic experts biased by the side that retained them? Psychol Sci 24(10):1889–1897. doi:10.1177/0956797613481812