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Psychologie der Menschenführung Wie Sie Führungsstärke und Autorität entwickeln von Michael Paschen, Erich Dihsmaier 1. Aufl. 2012 Psychologie der Menschenführung – Paschen / Dihsmaier schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thematische Gliederung: Literatur für Manager Springer 2011 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 642 19877 9 Inhaltsverzeichnis: Psychologie der Menschenführung – Paschen / Dihsmaier

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Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen Führungs-Kraft erzeugen

2.1 Das Führungsattribut »Charisma « – 29

2.2 Die rationale und die irrationale Seite der Führung – 31

2.3 Charisma und Biologie – 33

2.4 Führung und Angst : Die psychologischen Grundlagen von Charisma – 34

2.5 Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung – 40

2.5.1 Der charismatische Beziehungsvertrag – 46 2.5.2 Unempfänglichkeit für Charisma – 48

2.6 Entwicklung von Charisma – 50 2.6.1 Psychologische Entwicklungsschritte auf dem Weg zur

charismatischen Führungspersönlichkeit – 50 2.6.2 Wie kann man als Führungskraft Charisma entwickeln? – 56

2.7 Brauchen wir charismatische Führungspersönlichkeiten? – 61

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M. Paschen, E. Dihsmaier, Psychologie der Menschenführung, DOI 10.1007/978-3-642-19878-6_2,© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011

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Im vorigen Kapitel haben wir erklärt, dass das Th ema Führung ein universelles Phänomen ist, das überall dort auft ritt, wo Kräft e gebün-delt werden müssen, um solche Ziele zu erreichen, die über die Leis-tung Einzelner hinausgehen. Das Phänomen der Führung ist dadurch bei Menschen und bei Tieren zu beobachten, kulturübergreifend und zeitlos. Die Geschichte der Menschheit wird vor allen Dingen ent-lang großer Führungspersönlichkeiten erzählt. Das Gelingen unseres eigenen Lebens hängt zum einen maßgeblich von gelungener Selbst-führung ab, zum anderen von der Frage, ob wir von guten und erfolg-reichen Führungspersonen geführt werden.

Schon lange haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht, warum bestimmte Personen erfolgreiche Führungspersönlichkeiten werden, andere jedoch scheitern, warum es bestimmten Personen ge-lingt, tatsächlich die Führung zu übernehmen, und warum es andere Personen nicht schaff en, Kräft e in einer sinnvollen Weise zu bün-deln. Historiker, Soziologen, Anthropologen und Psychologen haben sich mit dem Phänomen der Führung aus historischer, kultureller, soziologischer oder psychologischer Perspektive beschäft igt. Im ers-ten Kapital haben wir gezeigt, warum es Führung überhaupt gibt. In diesem zweiten Kapitel wird es vor allen Dingen um die Frage gehen, wie sich bei bestimmten Menschen die Fähigkeit des Führens heraus-bildet und wieso es bestimmte Menschen deutlich besser schaff en als andere, dass man ihnen folgt. In diesem Kapitel wird vor allen Dingen die persönlichkeitsorientierte Perspektive eingenommen.

Wir werden also fragen, welche Merkmale Menschen zu Füh-rungspersönlichkeiten machen. Auf den ersten Blick scheint es nun so zu sein, als fühlten wir uns einer »Great-man-Th eory « verpfl ichtet, also einer frühen psychologischen Erklärungstheorie für Führung, die vor allen Dingen Persönlichkeitsattribute von Führungspersonen zur Begründung seiner Führungsleistungen heranzieht. Diese »Gre-at-man-Th eory« ist im Verlauf der Psychologiegeschichte heft ig kri-tisiert worden. Viele andere Erklärungsmodelle sind entstanden, die das Th ema Führung aus der Situation heraus erklären wollten, aus den Rahmenbedingungen, aus historischen Zwängen oder Besonder-heiten der zu führenden Menschen etc. Wir negieren die Einfl ussfak-toren dieser anderen Aspekte in keiner Weise: Alle unterschiedlichen Blickwinkel auf Führung haben einen gewissen eigenen Erklärungs-wert, auf den wir im Verlauf des Buches noch eingehen. Aber zu be-haupten, dass die Persönlichkeit letztendlich keine wichtige Deter-minante bei der Ausbildung von Führungs-Kraft sei, hieße auch, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Nicht jeder Mensch hätte Jesus, Buddha, Fidel Castro oder John F. Kennedy werden können. Diese Aussage negiert nicht, dass die genannten Personen in einem sehr speziellen historischen Bezugs-rahmen agierten, der Platz für eine ganz bestimmte Art von Führung ließ. Aber es ist eben auch so, dass dieser Platz nicht von jedem hätte ausgefüllt werden können.

Die Geschichte der Menschheit wird entlang großer Führungspersönlichkeiten erzählt.

Welche Merkmale machen Menschen zu Führungspersön-lichkeiten?

Führungserfolg ist nicht unabhängig von der Persönlichkeit der Führungsperson zu verstehen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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Wenn wir in diesem Buch nun mit der persönlichkeitsorientierten Seite der Führung beginnen, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass das Verständnis von Führungskompetenz als Persönlichkeitsattribut in der Praxis intuitiv zunächst das dominanteste Erklärungsmoment ist. Trotz aller Kritik an der »Great-man-Th eory« sehen wir im Alltag und im Berufsleben bestimmte Menschen, denen wir deutlich grö-ßere Führungsleistungen zutrauen als anderen. Wenn wir das Füh-rungsgeschehen analysieren, können wir das, was wir sehen, nicht von der beobachteten Führungspersönlichkeit entkoppeln. Aus die-sem Grunde wollen wir uns zunächst einmal der Frage zuwenden, welche persönlichen Voraussetzungen Menschen zu Führungsper-sönlichkeiten werden lassen.

2.1 Das Führungsattribut »Charisma «

Mit dem Begriff »Charisma« tun wir uns vor allem in Deutschland schwer. Wenn man über Charisma nachdenkt, entdeckt man die fol-gende Ambivalenz: Viele Führungskräft e wären gerne charismatisch und interessieren sich schon aus praktischen Gründen dafür, ihr Cha-risma zu verbessern. Auf der anderen Seite hat Charisma für viele Menschen etwas Mystisches und damit Irrationales oder vielleicht auch etwas Unethisches, weil Charisma mit Verführungskunst und Verblendung zu tun zu haben scheint. Allerdings wird auch fast nie-mand widersprechen, dass zu dem Zeitpunkt, an dem Führungsper-sönlichkeiten durch die Größe ihrer Aufgaben zu Helden werden, die meisten von ihnen als charismatisch zu bezeichnen sind.

Eine spezifi sch deutsche Reaktion auf Charisma wurde beispiels-weise von dem Schrift steller Werner Fletcher so formuliert:

»   Charisma ist ein gebündelter Strauß von Verlogenheit, Illusionen, Verblendungen, deren Blüten synthetische Exzesse entduften, die Sinn benebelnd wirken sollen, um den Schweißgeruch primitiver animalischer Bestialität zu überdecken. (Fletcher 2005)   «

Diese Äußerung ist vermutlich vor dem Hintergrund zu verstehen, dass das Deutschland des vergangenen Jahrhunderts ohne Zweifel katastrophale Erfahrungen mit charismatischer Führung gemacht hat. Aus diesem Grunde möchten wir der Charisma-Diskussion Fol-gendes voranschicken: Charisma an sich ist weder gut noch schlecht. Dass es das Phänomen großer Führer gibt, die Großes bewirken (sei-en es Katastrophen, seien es Fortschritte für die Menschheit), ist ver-mutlich unstrittig. Es ergibt also keinen Sinn, den Mechanismus von Charisma selbst zu kritisieren. Unter welchen Bedingungen charis-matische Führung etwas Gutes für die Welt bewirken kann, werden wir im  7   Kap.  11 zum Th ema Führungsethik noch ausführlicher unter-suchen und diskutieren.

Persönlichkeit ist intuitiv das dominanteste Erklärungsmo-

ment für Führungserfolg.

Charisma hat für viele Menschen etwas Mystisches

und Irrationales.

Schlechte Erfahrungen mit charismatischer Führung

2.1 •  Das Führungsattribut »Charisma «2

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Bislang haben wir bereits von Charisma gesprochen, ohne den Be-griff als solchen genauer zu bestimmen. Dem Alltagsverständnis von Charisma kommt vermutlich die folgende Defi nition am nächsten: Charisma beschreibt die Aura und das Erlebnis der »großen« Füh-rungspersönlichkeiten oder das außergewöhnliche Führungserlebnis .

Charismatische Führungskräft e scheinen den Menschen durch eine ganz besondere Kraft das Gefühl vermitteln zu können, Teil eines besonderen, eines großen Führungsgeschehens oder einer wichtigen Bewegung zu sein. Viele Führungspersonen erscheinen gerade in der historischen Perspektive charismatisch. Wenn man sich die Attribu-te anschaut, die den als charismatisch beschriebenen, historischen Führungspersönlichkeiten zugeschrieben werden, so gelangt man häufi g zu folgenden Punkten: Gnade, Glaube, Weisheit, Zungenrede, Heilung, Erfüllung, Sinn, Vision und Prophetie. Bei diesen Begriff en denken Sie vermutlich an die großen Religionsstift er , vielleicht aber auch an weise Könige .

Vielleicht sehen Sie auch heldenhaft e Rebellen und Revolutionäre . In dieser Begriff swelt scheint der mystische und unerklärliche Teil des Charismas besonders präsent zu sein. Allerdings wird es nun sehr wichtig, die folgenden beiden Aspekte sauber auseinander zu hal-ten: Charisma selbst beschreibt in seiner Wirkung selbstverständlich nicht nur auf den Verstand bezogene, sondern vor allem emotionale Erlebnisse und Eff ekte. Insofern hat die Wirkung von Charisma auf die Geführten durchaus eine zum Teil irrationale Wirkung. Dies be-deutet aber nicht, dass die Wirkungsweise von Charisma als solche irrational ist und sich Erklärungsversuchen entziehen würde. Wie genau es charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt, irratio-nale Eff ekte zu erreichen, wie genau die Beziehungsstruktur zwischen charismatischen Führungskräft en und ihren Geführten funktioniert, das ist sehr wohl rational erklärbar.

> Wir können ein sehr präzises und rationales Bild davon gewinnen, warum bestimmte Führungspersonen als cha-rismatisch wahrgenommen werden und andere nicht. Wir können erklären, wie sich Charisma entwickelt und welchen Weg charismatische Führungspersonen in ihrer eigenen psychologischen Entwicklung nehmen. Wir können sehen, warum einige von ihnen damit erfolgreich sind und andere scheitern.

Wir können ( 7   Abschn.  2.6.2 ) aufzeigen, wie man an der Entwicklung des eigenen Charismas arbeiten kann. Charisma ist kein Gottesge-schenk. Wenn Sie sich zum Beispiel die deutsche Politikerszene an-schauen und diejenigen Personen sehen, die schon lange als Berufs-politiker tätig sind, dann werden Sie vermutlich Politiker sehen, die im Laufe der Zeit charismatischer geworden sind, wohingegen andere als eher tragische Figuren endeten. Es gibt also etwas, das man tun kann, um Charisma zu entwickeln.

Charisma beschreibt das außergewöhnliche Führungser-lebnis.

Historisch denkt man bei Charisma an Religionsstifter, weise Könige oder Helden.

Charisma bezieht sich auf irrationale Eff ekte, ist aber sehr wohl rational analysierbar.

Charisma kann wachsen und sich entwickeln.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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2.2 Die rationale und die irrationale Seite der Führung

Im ersten Kapitel wurde schon dargelegt, dass eine der Grundbedin-gungen für Führung überhaupt darin besteht, dass die Führungskraft ein Ziel anstrebt, das für seine Erreichung Anstrengungs- und Über-windungsleistung erfordert und für das sie die Kräft e der Geführten bündeln muss. Je erfolgreicher die Bündelung dieser Kräft e gelingt, umso wahrscheinlicher können auch große Ziele erreicht werden. Wenn man sich jetzt den Prozess der Führung aus einer psycho-logischen Perspektive anschaut, sieht man Folgendes: Wenn Sie als Führungskraft mit einem ganz bestimmten Ziel starten, haben Sie in Ihrer eigenen Wahrnehmung zunächst einmal etwas Rationales vor. Sie können einen Soll-Zustand in der Zukunft benennen, den Sie durch die gemeinsamen Anstrengungen anstreben.

Hiermit ist keineswegs gemeint, dass die Phase der Zielfi ndung durch die Führungskraft ein rationaler Prozess sein muss. Welche Ziele Sie anstreben, hängt in höchstem Maße auch von Ihrer eigenen Psychodynamik ab. Der Prozess der Zielfi ndung ist immer intuitiv: Niemals kann man analytisch ableiten, was angestrebt werden soll. Aber sobald das Ziel feststeht, hat es eine rationale Qualität. Übri-gens ist bei dieser rationalen Qualität der Ziele nicht entscheidend, ob Sie Gutes oder Schlechtes anstreben – das ist eine ethische Frage. Es macht ein Ziel auch nicht rationaler oder irrationaler, ob Sie eher egoistische und persönliche Ziele verfolgen oder Ziele für die All-gemeinheit bzw. für andere Menschen. Sobald das Ziel da ist, liegt die rationale oder funktionale Seite der Führung darin, dieses Ziel zu erreichen. Am leichtesten wird dies vermutlich verständlich, wenn man sich große Organisationen anschaut. Dort wird das große Ziel der Organisation (in Wirtschaft sunternehmen beispielsweise Profi t) im Allgemeinen auf viele kleine Ziele verteilt, die die jeweiligen Füh-rungskräft e im Unternehmen erreichen müssen. Die Frage, ob es gut oder schlecht ist, Profi t zu machen, braucht innerhalb des Systems der Marktwirtschaft nicht diskutiert zu werden.

Die Führungskräft e in den Wirtschaft sunternehmen haben nun die Aufgabe, ihre Teilziele zu erreichen, damit auch das Gesamtziel erreicht werden kann. Die verschiedenen Führungskräft e im Unter-nehmen haben damit eine Funktion. Ihre Funktion ist die Bündelung der Mitarbeiterkräft e im Sinne der Zielerreichung. Das ist eine sehr rationale und klar beschreibbare Aufgabe. Sie können als Führungs-kraft das funktionale Ziel haben, in Ihrem Bereich die Kosten um 10% zu reduzieren. Dieses Teilziel mag sinnvoll, logisch und nachvollzieh-bar im Sinne der erreichten Gesamtziele sein. Vor diesem Hinter-grund streben Sie ein rationales Ziel an. Dies ist die funktionale Seite der Führung.

In der Praxis passiert allerdings Folgendes: Sie haben nun das ra-tionale Ziel vor sich und Sie haben auch die Funktion, dieses Ziel zu erreichen. Sobald Sie aber das Ziel verkünden, lösen Sie auf der an-

In ihrer eigenen Wahrnehmung haben Führungskräfte mit

ihren Zielen etwas Rationales vor.

Die individuelle Zielfi ndung ist immer intuitiv, nicht analytisch.

Führungskräfte im Unternehmen haben eine

Funktion, durch die ihre Ziele mitbestimmt werden.

Rationale Ziele führen zu emotionalen Reaktionen.

2.2 •  Die rationale und die irrationale Seite der Führung2

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deren Seite etwas Emotionales aus. Sobald Ihr Ziel eine Bedeutung für die Geführten hat, ist diese emotionale Reaktion unumgänglich. Die emotionale Bedeutung des Ziels kann dabei natürlich die An-strengungs- und Überwindungsleistung betreff en, die nötig erscheint. Sie kann aber auch das Ziel selbst betreff en, das Sie den Geführten aufzeigen oder zumuten wollen. Die emotionalen Reaktionen können ausgesprochen unterschiedlich ausfallen. Selbstverständlich kann es Ziele geben, mit denen Sie als emotionale Reaktion Begeisterung oder Euphorie wachrufen. Bestimmte Ziele erzeugen Freude und Lust. Mit anderen Zielen (oder mit dem gleichen Ziel, aber bei anderen Ge-führten) lösen Sie vielleicht Angst , Wut, Enttäuschung, Trauer, Hass oder Mutlosigkeit aus (man braucht sich ja nur die unterschiedlichen Reaktionen von Menschen auf von Politikern verkündete Ziele in der politischen Debatte anzuschauen). Auch wenn Sie als Führungskraft das Ziel für sich selbst rationalisiert haben, können Sie nicht vermei-den, dass Ihnen als Reaktion darauf Emotionen begegnen.

Wenn Sie sich diesen Mechanismus vor Augen führen, wird auch unmittelbar klar, worin auf der Persönlichkeitsseite die entscheidende Herausforderung in der Führung liegt.

> Die maximale Kraftbündelung im Sinne Ihrer Ziele werden Sie als Führungskraft erreichen können, wenn es Ihnen ge-lingt, die durch diese Ziele wachgerufenen Emotionen so zu kanalisieren und zu nutzen, dass aus ihnen Kraft zur ge-meinsamen Zielerreichung erwächst.

Allein mit Ihrem rationalen Ziel wird Ihnen das nicht gelingen. Wenn Sie sich nur rational defi nieren, werden Sie immer mit Geführten zu-sammentreff en, bei denen Sie nicht in der Lage sein werden, die maxi-male Leistungsbereitschaft wachzurufen. Ohne dass die emotionalen Reaktionen auf ein bestimmtes Ziel in einer sinnvollen Weise genutzt und bearbeitet werden, wird es immer ungenutzte Potenziale geben, im schlimmsten Fall auch lähmenden Widerstand.

Grundbedingungen für Führungserfolg 5 Um als Führungspersönlichkeit erfolgreich zu sein, benötigen

Sie zunächst einmal ein Ziel (wir könnten auch sagen, eine Botschaft, ein Sinnangebot , eine Verheißung , eine Hoff nung).

5 Wenn Sie die von Ihnen geführten Personen mit diesem Ziel konfrontieren, müssen Sie mit den dadurch erzeugten Emo-tionen in erfolgreicher Weise umgehen.

Hiermit wird auch klar, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, die rationale oder die emotionale Seite der Führung gegeneinander aus-zuspielen. Führung braucht beides. Sie brauchen ein rationales Ele-ment (denn sonst fehlt der Sinn) und Sie brauchen die Fähigkeit, die emotionale Kraft und die emotionalen Reaktionen der Geführten so zu bündeln, dass die Anstrengungsleistung zur Erreichung des Ziels

Führungserfolg entsteht durch die erfolgreiche Integration der emotionalen Reaktion.

Charisma bündelt die emotionalen Reaktionen der Geführten im Sinne des Ziels.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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erfolgreich erbracht wird. Diesen Prozess wollen wir hier als Charis-ma bezeichnen.

> Charisma sehen wir zunächst als die Fähigkeit an, Sinn-haftigkeit in den kommunizierten Zielen zu vermitteln und die emotionalen Reaktionen erfolgreich zu bündeln und zu nutzen.

Charisma bezieht sich damit natürlich auf emotionale – oder irratio-nale – Prozesse. Wenn Sie in einer Organisation schon einmal einen schwierigen Veränderungsprozess gestalten mussten und mit den vielfältigen Ängsten umzugehen hatten, die Ihnen entgegenschlugen, so können Sie sich das vermutlich sehr gut vorstellen. Der Prozess, wie Sie möglichst erfolgreich (oder sagen wir einfach charismatisch) mit diesen Emotionen umgehen, ist für sich genommen aber kein irrationaler Prozess, sondern, wie wir später sehen werden, sehr klar und präzise psychologisch zu beschreiben. In diesem Zusammenhang werden wir eine genauere Defi nition von Charisma vornehmen.

Führung hat also immer eine funktionale und eine irrationale Sei-te. Als charismatische Führungspersönlichkeit vermitteln Sie durch Ihre Ziele , dass es Sinn ergibt, Ihnen zu folgen. Damit bedienen Sie die funktionale Seite. Gleichzeitig erzeugen Sie bei den Geführten eine emotionale Verfassung, die die benötigte Anstrengungsleistung zur Erreichung der Ziele wahrscheinlich macht. Sie sehen direkt, dass man in diesem Verständnis Charisma nicht ablehnen kann. Große Ziele brauchen die emotionale Bereitschaft der Geführten und gro-ße Ziele brauchen Führungspersönlichkeiten, denen es gelingt, die Ängste, Widerstände und Enttäuschungen auf dem Weg zur Zielerrei-chung in einer sinnvollen Weise zu bearbeiten. Wer nicht will, dass es Führungspersönlichkeiten gibt, die dazu in der Lage sind, lehnt das Phänomen von Führung als Ganzes ab (was aber aufgrund der im ersten Kapitel beschriebenen Verfl echtung von Führung und Kultur nicht geht, wenn man möchte, dass die Menschheit sich großen Zielen widmet). Oder anders gesprochen:

> Man kann Charisma nicht ablehnen, wenn man will, dass große Führungen stattfi nden. Man kann nur Ziele unterstüt-zen oder ablehnen, die Charismatiker verfolgen.

2.3 Charisma und Biologie

Wir hatten im vorherigen Kapitel schon gewisse Parallelen zwischen Führung im Tierreich und Führung als menschlichem Phänomen aufgezeigt. Nun können wir diese Parallelen auch beim Th ema Cha-risma weiterführen. Führung benötigt ein Sinnangebot und ein Ziel sowie eine gute Strategie zum Umgang mit den wachgerufenen emo-tionalen Reaktionen. In der Tierwelt wird die funktionale oder sinn-

Der erfolgreiche Umgang mit Emotionen kann psychologisch

klar beschrieben werden.

Große Ziele brauchen Charisma, weil sie intensive

Emotionen wachrufen.

Die sinnstiftende Seite der Führung wird in der Tierwelt

nicht erlebt.

2.3 •  Charisma und Biologie2

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haft e Seite der Führung nicht bewusst erlebt. Kein Rudelführer kann den »Sinn« seiner Führung als solches deutlich machen oder seine Ziele kommunikativ vermitteln. Der Sinn der Führung liegt im Tier-reich letztlich in evolutionären Kräft en verwurzelt.

Die funktionale Seite ist präsent und für uns Menschen beschreib-bar, wird aber vom individuellen Tier nicht bewusst wahrgenommen. Kräft ebündelung bei der Jagd oder Aufzucht des Nachwuchses sind beispielsweise die Sinn ergebenden Aspekte von Führung im Tier-reich (die ja durchaus auch ihre Parallele bei uns Menschen haben). Wenn diese funktionale Seite im Tierreich nicht durch den Anführer bewusst gelebt werden kann, bleibt im Tierreich nur die irrationale, emotionale (oder sagen wir ruhig charismatische) Seite der Führung. Im Tierreich ist diese Seite der charismatischen Führung die Stärke . Im Tierreich wird man durch physische Stärke und Dominanz zum Anführer. Je mehr Stärke und Dominanz ein Tier vermittelt, umso wahrscheinlicher ist es, dass die anderen Tiere sich unterwerfen. Das charismatische Tier muss eine »Aura« von Stärke um sich schaff en, die dazu führt, dass sich potenzielle Herausforderer nach Möglichkeit von Anfang an abgeschreckt fühlen.

Je mehr Stärke ein Anführer vermittelt, umso konsequenter wird er in der Lage sein, ein Rudel zusammenzuhalten und gemeinsame Reaktionen des Rudels in Gefahrensituationen (z.  B. gemeinsame Flucht oder gemeinsamer Angriff ) sicherzustellen. Die funktionale Seite der Führung geschieht unbewusst. Im Tierreich gibt es nur Cha-risma.

2.4 Führung und Angst : Die psychologischen Grundlagen von Charisma

Auf den ersten Blick scheint »Stärke« durchaus auch bei uns Men-schen etwas mit Charisma zu tun zu haben. Aber bei uns ist es etwas komplexer und diff erenzierter als im Tierreich . Wenn man die psy-chologischen Ursachen des menschlichen Führungsgeschehens be-trachten will, so gelangt man sehr schnell zu einer ganz grundlegen-den Emotion, die wir benötigen, um das Führungsgeschehen beim Menschen zu beschreiben. Diese Emotion ist Angst . Die dominante Rolle, die diese Emotion im Führungsgeschehen spielt, wird deutlich, wenn man sich die folgenden Überlegungen vor Augen führt: Warum sollten sich Menschen eigentlich überhaupt führen lassen? Warum könnten Menschen überhaupt bereit sein, eigene Freiheitsgrade ein-zuschränken, autonome Entscheidungsmöglichkeiten abzugeben und sich zu bemühen, den Anforderungen einer Führungspersönlichkeit gerecht zu werden? Es muss einen psychologischen Nutzen geben, den sie davontragen.

Sie würden als Mensch nicht unbegründet eigene Freiheitsmög-lichkeiten reduzieren. Sie würden sich nicht ohne Not einer Führung anvertrauen oder sogar unterwerfen. Sie würden nicht ohne Notwen-

Im Tierreich ist Charisma physische Stärke und Dominanz.

Menschen lassen sich nur führen, wenn es einen psychologischen Nutzen gibt.

Menschen haben Ängste, bestimmte Verheißungen nicht zu erreichen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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digkeit nach Führung rufen. Die Ursache hierfür ist Angst, nämlich die Angst, dass ein ganz bestimmtes verheißenes Ziel aus eigener Kraft nicht erreicht werden kann. Es ist die Angst, ein bestimmtes Ziel nicht zu erreichen, wenn man nicht bereit wäre, sich der Führungspersön-lichkeit zu unterwerfen, die dieses Ziel repräsentiert. Menschen lassen sich von solchen Personen führen, die die Hoff nung und die Ver-heißung repräsentieren, dass unter ihrer Führung das versprochene Ziel erreicht werden kann. Angst ist hier nicht zwangsläufi g gemeint als eine aktuell erlebte Furcht, die sich vielleicht in Herzklopfen und kaltschweißiger Stirn bemerkbar macht. Angst ist als eine viel grund-legendere Triebfeder des Handelns gemeint. Angst in diesem Sinne bedeutet die Furcht davor, Ziele nicht zu erreichen, die erreicht wer-den könnten, Potenziale nicht zu nutzen, die genutzt werden könn-ten, Lebensmöglichkeiten nicht auszuschöpfen, die man ausschöpfen könnte, Lust und Freude nicht zu erleben, die man erleben könnte.

Sobald eine Führungspersönlichkeit in der Lage ist, zu repräsen-tieren, dass unter ihrer Führung diese Angst besiegt werden kann oder irrelevant wird, ist die emotionale Bereitschaft erzeugt, sich füh-ren zu lassen. Der in diesem Sinne komplett angstfreie Mensch wäre tatsächlich für die irrationale Seite der Führung oder für Charisma nicht ansprechbar, sondern nur über Sinn und Logik zu erreichen. Die meisten Menschen sind allerdings durch Charisma anzuspre-chen, wenn die charismatische Führungspersönlichkeit eine erfolg-reiche Angstabwehr verkörpert.

Der erfolgreiche Mechanismus der Angstabwehr heißt Vertrauen. Menschen folgen denjenigen Führungspersönlichkeiten, denen sie vertrauen, dass unter ihrer Führung eine bestimmte Angst (z. B. die Angst, ein Ziel nicht zu erreichen oder einen Missstand nicht abstel-len zu können) nicht mehr bedeutsam sein wird (hierzu auch  7   Ex-kurs »Angst als Auslöser für Führung bei Menschen«).

Vertrauen hat nun zwei ganz wesentliche Aspekte: 5 Integrität. Wenn Menschen jemandem vertrauen, so liegt der

erste Einfl ussfaktor in der Frage nach seiner persönlichen Inte-grität , also seiner Ehrlichkeit, seinem Humanismus und seiner Prinzipientreue . Sie vertrauen Führungspersönlichkeiten, von

Angst erzeugt die emotionale Bereitschaft, sich führen zu

lassen.

Menschen folgen Führungsper-sönlichkeiten, denen sie

vertrauen.

Integrität führt zu Vertrauen.

2.4 •  Führung und Angst : Die psychologischen Grundlagen von Charisma 2

Brechen wir unsere Argumentation auf ein paar alltägliche Erfahrungen herunter, da das Wort »Angst« sonst vielleicht für den Kontext der Füh-rung zu dramatisch erscheint:

4 Anstelle von »Angst« könnte man alltagssprachlich Folgen-des sagen: Wenn die Führungs-person keine Probleme löst, wenn sie keinen Nutzen für die

Geführten stiftet (und Nutzen kann man nur stiften, wenn es einen Mangel gibt, und dieser Mangel ist in unserer Dar-legung durch Angst beschrie-ben!), ergibt es wenig Sinn, ihr zu folgen.

4 Nicht immer, wenn Sie eine Führungskraft in einer Organi-sation handeln sehen, sehen

Sie automatisch charismatische Menschenführung, die auf Angstbindung basiert! Bitte erinnern Sie sich an die Aus-gangsdiskussion im ersten Ka-pitel: Wir hatten argumentiert, dass manchmal die Struktur führt. Bei starken Strukturen braucht man weniger Charis-ma, um zu führen.

»Angst« als Auslöser für Führung bei Menschen

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denen sie den Eindruck haben, dass sie keine Ziele gegen die Geführten verfolgen und ihre Ziele ehrlich verkünden. Sie ge-statten diesen Führungspersonen, dass sie parallel auch eigene Ziele verfolgen. Diese dürfen aber nicht konträr zu den kommu-nizierten Zielen sein, wenn sie integer wirken wollen. Wenn Sie als Vertriebsführungskraft fl ammend dafür werben, im Herbst noch einmal die letzten Kraft reserven zu nutzen, um einen er-folgreichen Jahresendspurt hinzulegen, so werden Sie dies unter-nehmerisch begründen. Ihre Mitarbeiter gestehen Ihnen das zu, auch wenn Sie natürlich parallel das eigene Ziel verfolgen, den persönlichen Bonus zu optimieren. Die Ziele sind nicht konträr, sie können demnach integer sein. Die erste Dimension von Ver-trauen ist also Integrität.

5 Zutrauen. Die zweite Dimension von Vertrauen heißt Zutrauen (diese Dimension korrespondiert am ehesten mit der Stärke, die wir als Charisma -Faktor im Tierreich beschrieben haben). Men-schen sind solchen Führungspersönlichkeiten zu folgen bereit, denen sie zutrauen, dass unter ihrer Führung die verheißenen Ziele erreicht werden können. Wenn der Führende ihnen nicht kompetent oder fi t genug erscheint, um unter seiner Führung zum Ziel zu kommen, dann fehlen das Zutrauen und damit das Vertrauen ( .   Abb.  2.1 ).

Charismatischen Führungspersönlichkeiten gelingt es, bei den Ge-führten das Vertrauen (und damit auch das Zutrauen und die Wahr-nehmung von Integrität ) zu erzeugen, dass man sich ihrer Führung ruhig anvertrauen kann.

> Charisma ist die Fähigkeit, durch suggestive Kraft Vertrauen zu erzeugen.

Wenn Sie vor der Frage stehen, ob Sie einer ganz bestimmten Füh-rungskraft folgen wollen, so fragen Sie sich intuitiv, ob Sie der Person

. Abb. 2.1 Vertrauen als Quelle von Charisma

Zutrauen führt zu Vertrauen.

Charisma ist die Erzeugung von Vertrauen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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vertrauen, ihr die Erreichung der versprochenen Ziele zutrauen und sie für integer und glaubwürdig halten!

Beispiele für Vertrauen als Bedingung für die Bereitschaft des Geführtwerdens Schauen wir uns verschiedene Situationen an, in denen Sie die Wahl haben, welcher Führungskraft Sie folgen möchten und ob Sie folgen möchten. Ein erstes Thema wären politische Wahlentscheidungen. Je mehr eine Wahlentscheidung eine Personenwahl ist, umso stärker werden Sie bei der Frage, wen Sie wählen wollen, genau diese beiden Fragen für sich refl ektieren: Kann man diesem Politiker vertrauen? Meint er es ehrlich? Besitzt er die Kompetenz und die Stärke, seine Ver-sprechen auch einzulösen? Wahrscheinlich werden Sie letztendlich für denjenigen Politiker stimmen, der Ihnen die für Sie positivste Antwort auf diese Fragen vermittelt hat.

Ein weiteres Beispiel wäre eine anstehende schwierige Operation. Auch hier würden Sie nach Anhörung verschiedener Ärzte vielleicht Referenzen einholen oder sich selbst mit den Operationsmethoden vertraut machen. Sie würden sich folgende Fragen vorlegen: Welche Erfahrungen hat der Operateur? Wie ist sein Ruf? Wie erfolgreich ist die Operation in vorherigen Fällen verlaufen? Am Ende würden Sie sich für denjenigen Operateur entscheiden, dem Sie eine erfolgreiche Ope-ration am ehesten zutrauen und den Sie für ehrlich und glaubwürdig halten.

Letztlich geht es in beiden genannten Fällen um Angstreduktion: im ersten Beispiel um Zukunftsangst , die dadurch gemildert werden kann, dass Sie sich einem Politiker anvertrauen, der Ihnen am meisten Zukunftshoff nung und Problemlösekompetenz vermittelt. Im zweiten Beispiel geht es um die Angst vor dem Misslingen der schwierigen Operation und möglichen Folgeschäden bei schlechter Durchführung. Natürlich sieht man in solchen Situationen den charismatischen Me-chanismus am Werk. Letztendlich ist der Mechanismus, der bewirkt, dass Sie sich führen lassen, Angstreduktion .

Sie geben eigene Freiheitsgrade des Handelns nur ab und vertrauen bestimmte Entscheidungen und Vorgehensweisen anderen Menschen nur dann an, wenn Sie daraus einen psychologischen oder emotio-nalen Nutzen ziehen. Sie würden nicht aus freien Stücken die eige-ne Entscheidungsfreiheit reduzieren für eine Führungspersönlich-keit, bei der Sie das Gefühl hätten, dass es unter ihrer Führung noch schlechter kommt als es schon ist. In diesem Fall würden Sie sich nur bei Zwang unterwerfen, aber niemals freiwillig an dem von ihr an-gebotenen Sinn mitwirken (s. auch  7   Exkurs »Integrität oder Zutrauen – Was hat im Zweifel Priorität?«).

Angst ist der Schlüsselmechanismus für Charisma. Wenn man sich diesen psychologischen Schlüsselmechanismus

der Führung noch einmal genauer anschaut, dann versöhnt sich letzt-endlich die anfangs erwähnte »Great-man-Th eory « mit situativen

Sie wählen Politiker, denen Sie vertrauen.

Sie entscheiden sich für Ärzte, denen sie eine erfolgreiche

Behandlung zutrauen.

Führung muss einen emotionalen Nutzen bringen.

Persönlichkeitsansätze und situative Führungsmodelle

sind kein Widerspruch.

2.4 •  Führung und Angst : Die psychologischen Grundlagen von Charisma 2

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Ansätzen der Führung. Den charismatischen Führungspersönlich-keiten der Geschichte und der Gegenwart ist die Fähigkeit gleich, sich als Projektionsfl äche für Ängste zu eignen. Alle charismatischen Führungspersönlichkeiten haben erfolgreich vermitteln können, dass man unter ihrer Führung das Vertrauen haben darf, Dinge erreichen zu können, die die eigenen Lebensängste bewältigen helfen oder ir-relevant erscheinen lassen. Aber welche Ängste dies nun gewesen sind, ist in der Weltgeschichte völlig unterschiedlich gewesen. In der von endzeitlicher Stimmung und Unterdrückung geprägten Atmo-sphäre des Judentums vor zweitausend Jahren hatte die Botschaft Jesu mit dem jenseitigen Erlösungsversprechen und der Nächstenliebe als Prinzip des Zusammenlebens die Fähigkeit zu einer immensen Angstbindung. Auf dieser großartigen charismatischen Fähigkeit baute sich mit der katholischen Kirche letztlich eine der überlebens-fähigsten Organisationen der Weltgeschichte auf.

In einer von Nationalismus und Judenhass getränkten Atmo-sphäre, in der zusammengebrochene Größenphantasien , der als un-gerecht empfundene Friede von Versailles und schlimme Zukunft s-ängste durch die Wirtschaft skrise dominierten, gelang es selbst einer hinsichtlich seiner Persönlichkeit aus der heutigen Distanz betrachtet ziemlich befremdlichen Figur wie Adolf Hitler , charismatische Kraft zu entfalten. Er konnte die Ängste, die er vorfand, erfolgreich für seine Ziele bündeln. Wenn man sich diesen Extremvergleich anschaut, so wird klar, wie kultur- und zeitgeschichtlich abhängig das Th ema Cha-risma ist. Diejenige Führungskraft , die heute mit den von ihr gebun-denen Ängsten charismatisch wirkt, wird es unter Umständen schon morgen nicht mehr sein. Bei vielen Charismatikern von gestern kön-nen wir nur noch aus der historischen Perspektive, aber nur schwer noch aus dem eigenen Erleben nachvollziehen, wie diesen Menschen so erfolgreich Angstbindung gelang. Charisma ist eben keine Persön-lichkeitseigenschaft »an und für sich«, sondern ein Beziehungsphä-nomen.

Wir hatten ja gesagt, dass Vertrauen durch zwei Pole wirkt, nämlich Inte-grität und Zutrauen. Natürlich kann man sich nun die Frage stellen, welcher dieser beiden Mechanis-men letztlich wichtiger ist. Wenn die Menschen sich entscheiden müs-sen, weil die zur Verfügung stehen-den Führungspersönlichkeiten nicht beide Pole ausreichend bedienen, wem folgen die Menschen dann? Folgen sie der integeren, ehrlichen und humanistischen Führungs-person, die aber nicht die Fitness

vermittelt, als Kapitän auf der Brü-cke auch den zu erwartenden rauen Stürmen etwas entgegensetzen zu können? Oder folgen die Menschen dem starken Anführer, auch wenn man Zweifel an der Lauterkeit seiner Motive hat?

Auch wenn die Antwort auf den ersten Blick nicht zu gefallen scheint, folgen die Menschen im Zweifel lieber dem Zweitgenann-ten. Dieser Mechanismus gilt umso stärker, je größer die Krise ist, aus der die kraftstrotzende Führungs-

persönlichkeit herausführen muss, oder je stärker die Angst der Ge-führten. Die Vermittlung von Zu-trauen ist der vorrangige Faktor einer erfolgreichen Angstreduktion. Viele Vorgänge der Weltgeschichte erscheinen so etwas besser er-klärbar. In Krisensituationen ist für Charisma die Erzeugung von Zu-trauen wichtiger als die Vermittlung von Integrität. Genau dieser Mecha-nismus hat viele unethische Führer in verantwortungsvolle Positionen gebracht.

Integrität oder Zutrauen – Was hat im Zweifel Priorität?

Charisma ist nur als Beziehungsphänomen zu verstehen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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> Charisma ist relativ. Es entwickelt sich immer relativ zur Zeit, Kultur, Geschichte und kollektiven Psyche der Geführ-ten. Charismatischen Führungskräften gelingt es im Sinne eines Schlüssel-Schloss-Prinzips, sich als Erlöser für genau diejenigen Ängste zu empfehlen, die bei den von ihnen geführten Personen in der jeweiligen Zeit und in der jeweili-gen Situation relevant sind.

Von daher wird es auch verständlich, warum die Suche nach den-jenigen Persönlichkeitsattributen , die erfolgreiche Führungskräft e (oder sagen wir erfolgreiche Charismatiker) grundsätzlich prägen, so wenig nachhaltig erfolgreich ist. Das Einzige, was Charismatiker wirklich gemeinsam haben, ist ihre Fähigkeit zur Angstbindung der Geführten. Ansonsten braucht man sich ja nur die unterschiedli-chen Charakterprofi le der vielen Führungskräft e anzuschauen, die in der Welt etwas bewegen, um sich vor Augen zu führen, wie wenige Persönlichkeitsattribute es geben wird, die alle Führungspersönlich-keiten gleichzeitig auszeichnen. Die Fähigkeit aber, durch suggesti-ve Kraft Vertrauen zu erzeugen, ist allen großen Führungspersonen gleich. Charisma ist damit das einzige verbindende Attribut, das die Klammer in der Liste der Anforderungen an Führungskräft e bildet. Alle anderen Anforderungen sind kontextabhängiger. Wie wir gese-hen haben, ist selbst Charisma in seinen Inhalten kontextabhängig (z. B. abhängig von der historischen Situation), nicht aber in seinem Wirkmechanismus (Angstbindung). Diese Argumentation bedeutet natürlich nicht, dass Charisma unabhängig von der Persönlichkeit eines Führenden wäre. Unsere Botschaft ist, dass die Persönlichkeits-attribute einer Führungsperson, die Persönlichkeitsattribute der Ge-führten und der Kontext in einer ganz bestimmten Weise zueinander passen müssen, damit eine charismatische Führungsbeziehung ent-stehen kann.

Es gibt noch einen weiteren Begriff , den es sich an dieser Stelle lohnt, in die Diskussion einzuführen. Es handelt sich hier um das Konzept der Autorität . Menschen, die in einem ganz bestimmten Th ema das Zutrauen vermitteln, dass man sich ihrer Führung anver-trauen kann, bezeichnet man auch gerne als »Autorität«. Autorität ist damit bei uns Menschen das Äquivalent zu Stärke und Dominanz im Tierreich. Eine der kulturellen Leistungen der Menschheit kann man nun darin sehen, dass Führung von der reinen physischen Do-minanz losgekoppelt wurde. Um charismatisch zu sein, genügt es bei uns Menschen nicht, sich »nur« dominant zu verhalten. Sie müssen auch ein Sinnangebot machen, für das sie stehen. Sie müssen auch die Autorität ausstrahlen, die Umsetzung Ihrer Ziele realisieren zu können. Das ist der Grund, warum wir Menschen auch Führungs-personen akzeptieren können, die nicht im animalischen Sinne domi-nant sind. Autorität kann durchaus auch durch Kompetenz vermittelt werden. Viele große menschliche Kulturleistungen können überhaupt nur dadurch erklärt werden, dass es Führungspersonen gab, die nicht nur Dominanz zeigten, sondern die durch ihre Autorität oder ihre

Angstbindungskraft ist das entscheidende Persönlich-

keitsattribut für große Führungsleistungen.

Autorität entsteht nicht nur durch Dominanz, sondern

auch durch Kompetenz und Sinnstiftung.

2.4 •  Führung und Angst : Die psychologischen Grundlagen von Charisma 2

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suggestive Kraft sinnstift ende Zukunft sentwürfe vermitteln konnten und die Fähigkeit ausstrahlten, diese gemeinsam mit den Geführten auch zu erreichen.

2.5 Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung

Im vorigen Abschnitt haben wir ausgeführt, dass die Grundlage von Charisma in erfolgreicher Angstbindung besteht. Hierbei hatten wir schon den Unterschied zwischen der aktuell erlebten Furcht und Angst als einem fundamentalen Motivationsmechanismus beschrie-ben. Bislang ist diese Beschreibung noch etwas unspezifi sch. Um die Wechselwirkung in einer charismatischen Beziehung tiefer verstehen zu können, benötigen wir ein genaueres Verständnis derjenigen Kräf-te, die uns auf der psychologischen Seite antreiben und unser Leben bestimmen (s. a. Riemann 2009). Wenn wir die Rolle, die Angst in unserem Leben spielt, verstehen wollen, so müssen wir zunächst ein-mal ein Verständnis davon entwickeln, welche fundamentalen psychi-schen Kräft e unser Leben bestimmen.

> Grundsätzlich gibt es zwei große Fragen, auf die wir in unse-rem Leben Antworten fi nden müssen:

5 Wie positionieren wir uns zu anderen Menschen und zu Beziehungen ? Welche Kräfte bestimmen unser soziales Zu-sammenleben?

5 Wie fi nden wir unsere Identität über die Zeit? Wie fi nden wir unsere Identität in einer sich verändernden Welt?

Diese beiden Fragen sind grundlegende lebensbestimmende Dimen-sionen. Wir müssen in unserem Leben eine Haltung fi nden, mit der wir anderen Menschen begegnen. Wir müssen eine Haltung fi nden, wie wir unseren Platz in der Welt sehen wollen, und zwar in einer Welt, die sich verändert. Jetzt ist es nicht so, dass wir die Antworten auf diese Fragen bewusst geben. Wir treff en keine rationale grundsätz-liche Entscheidung, wie wir uns zu diesen beiden Fragen positionie-ren. Es ist vielmehr so, dass unsere Prägungen , unsere Erfahrungen, unsere Kindheit, unsere Erziehung und vermutlich auch unsere Gene in einer komplexen Wechselwirkung unsere Antworten bestimmen.

Jede dieser beiden Fragen kennt nun zwei mögliche Antworten.

Wie positionieren wir uns zu anderen Menschen und zu Beziehun-gen? Die erste Frage impliziert, dass wir in unserem Leben eine Posi-tion zu anderen Menschen und damit grundsätzlich zum Charakter unserer Beziehungen fi nden müssen. Die beiden Antworten, die es auf diese Frage geben kann, markieren zwei gegensätzliche Pole. Auf der einen Seite kann die Antwort dahingehend gegeben werden, dass

Welche psychischen Kräfte treiben unser Leben an?

Wir werden geprägt durch Erfahrungen und Gene.

Wir suchen Nähe oder Abgrenzung.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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wir enge Beziehungen zu anderen Menschen anstreben und dement-sprechend Nähe und Aufgehen in Beziehungen suchen. Die andere Antwort markiert genau das Gegenteil: Wir können uns auch gegen-über anderen abgrenzen wollen und eher Individualität und Auto-nomie suchen.

Man sieht schon, dass die Antwort auf diese Frage nicht im enge-ren Sinn eine Entscheidung darstellt, sondern eher als grundlegende Kraft zu verstehen ist, nämlich als diejenige Kraft , die uns auf andere Menschen zutreibt oder uns Abgrenzung von anderen anstreben lässt. Nennen wir die erste Kraft Beziehungsorientierung und die zwei-te Kraft Autonomieorientierung . Beziehungsorientierte Menschen suchen Nähe und Geborgenheit. Sie sind teamorientiert, off en für andere, gewähren einen Vertrauensvorschuss und genießen Off enheit und Zusammensein mit anderen Menschen.

Autonomieorientierte Menschen möchten sich nicht in Beziehun-gen zu anderen verlieren, sondern suchen in der Abgrenzung ihre Einzigartigkeit. Autonomieorientierte Menschen sind in diesem Sin-ne eher konkurrenzorientiert als teamorientiert, eher individualistisch als kollektivistisch und streben Herausgehobenheit aus der Masse und den Status von etwas Besonderem an. Andere Menschen spielen für autonomieorientierte Menschen dennoch eine große Rolle, denn es sind ja gerade die anderen, die als ständiger Vergleichsmaßstab dafür dienen, dass man selbst in der Lage ist, etwas Besonderes darzustellen.

Selbstverständlich haben die meisten Menschen Anteile beider Kräft e in sich. Viele Menschen erleben Kontexte, in denen sie sich Nähe und Geborgenheit wünschen, und andere Kontexte, in denen sie Abgrenzung wollen. Nichtsdestotrotz ist es so, dass bei vielen Menschen eine der beiden Seiten überwiegt. Diese überwiegende Sei-te tritt besonders im Konfl ikt hervor. Wenn Sie sich die Menschen in Ihrem Umfeld anschauen, werden Sie sicherlich sagen können, ob jemand seinen zentralen Kompass in der Beziehungsgestaltung eher in Individualität, Abgrenzung und Konkurrenz sieht oder eher im Aufgehen in der Gemeinschaft . Es gibt auch Menschen, die in extre-mer Weise durch einen dieser beiden Pole zu charakterisieren sind. Sie sind dann nicht in der Lage, sich von anderen abzugrenzen, oder nicht fähig, sich in Beziehungen fallen zu lassen. Diese pathologi-schen Extreme werden wir in  7   Kap.  10 noch einmal betrachten.

Diese beiden Orientierungen können auch als Ängste verstanden werden. Die Kraft , die uns in eine Richtung treibt, lässt sich genauso gut verstehen als Angst , die uns vor der anderen Seite fl üchten lässt. Beziehungsorientierte Menschen zeichnen sich demnach durch die Angst vor Einsamkeit und Isolation aus. Autonomieorientierte Men-schen zeichnen sich durch die Angst aus, Individualität und Beson-derheit zu verlieren und in der Masse aufzugehen. Die fundamentale oder lebensbestimmende Kraft dieser Angst spüren Sie manchmal, wenn Sie Menschen sehen, die eine unglaubliche Energie investieren, von anderen gemocht und akzeptiert zu werden und sich zu einem Team gehörig fühlen zu dürfen. Sie können das Ausmaß dieser Angst

Beziehungsorientierte Menschen suchen Nähe.

Autonomieorientierte Menschen suchen Abgrenzung.

Im Konfl ikt tritt die Orientierung besonders

deutlich hervor.

Beide Orientierungen kann man auch als Ängste

verstehen.

2.5 •  Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung 2

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aber auch erahnen, wenn Sie bei anderen Menschen die Energie be-trachten, die investiert wird, um sich bei jeder sich bietenden Gele-genheit in den Mittelpunkt zu rücken und immer wieder die eigene Überlegenheit deutlich zu machen. Wenn Sie sehen, wie lebensbe-stimmend diese Verhaltenstendenzen sind und wie stark sie die Zu-sammenarbeit, die Partnerschaft , die Erziehung und die Rolle in einer Gemeinschaft bedingen, dann kann man ermessen, wie fundamental diese beiden gegensätzlichen Tendenzen eigentlich sind.

Bei sich selbst müssten sie in der Lage sein, eine Tendenz festzu-stellen: Was ist Ihnen vom Grundsatz her wichtiger? Nahe, off ene, vertrauensvolle Beziehungen, Gemeinsamkeit, Augenhöhe, das Ge-fühl der Zusammengehörigkeit, positive Rückkoppelung, Altruismus? Oder ist es Ihnen wichtiger, sich abzuheben, anders zu sein, mehr zu leisten, individueller zu leben und sich ganz klar abzugrenzen von den Menschen, mit denen Sie sich nicht auf Augenhöhe erleben?

Wie fi nden wir unsere Identität? Die zweite fundamentale Frage be-trifft unsere Identität in einer sich verändernden Welt. Auch auf diese Frage können wir mit zwei antagonistischen Polen antworten. Die ers-te Antwort besteht darin, sich in einer verändernden Welt eine Struk-tur von Berechenbarkeit , Vorhersehbarkeit und Kontrollmöglichkeit zu schaff en. Dieser Pol nennt sich Balanceorientierung . Balanceorien-tierte Menschen suchen Regeln, Regelmäßigkeit, Vorhersehbarkeit und Struktur . Die antagonistische Kraft ist die Stimulanzorientierung . Das Lebensmotto stimulanzorientierter Menschen könnte man so be-schreiben: Wenn sich die Welt schon laufend verändert, so möchte ich diese Veränderung in vollen Zügen erleben. Stimulanzorientierte Menschen suchen Neuartigkeit und Veränderung und sind gekenn-zeichnet durch Abenteuerlust und Neugier.

Auch hier können wir die zugrunde liegenden Kräft e als Angst beschreiben. Balanceorientierte Menschen haben in gewissem Sinne Angst vor Ungewissheit, vor Unbestimmtheit, vor Spontaneität und damit auch vor Freiheit . Diese Angst wird besiegt durch das Schaff en von Regeln, Kontrollmechanismen und einer Insel der Vorhersehbar-keit.

Stimulanzorientierte Menschen hingegen erleben Angst vor Gleichförmigkeit und Bestimmtheit . Das Schlimmste im Leben wäre, etwas Wichtiges oder Großes verpasst zu haben. Ihre Angst ist die des Festgelegtseins, des Eingeschränktseins und der Unmöglichkeit von Freiheit und Spontaneität.

Wie massiv und lebensbestimmend diese Ängste sein können, werden Sie auch für diese Orientierung in Ihrem Umfeld leicht ent-decken. Vielleicht haben Sie in Ihrem Umfeld Menschen, die erkenn-bar darunter leiden, wenn in ihrem Leben Regelmäßigkeit fehlt, wenn plötzliche oder überraschende Ereignisse Flexibilität erfordern oder wenn sich Dinge nicht wie geplant entwickeln. Vielleicht sehen Sie in Ihrem Umfeld aber auch Menschen, die sehr darunter leiden, sich festlegen zu müssen, sei es auf einen Lebenspartner, auf einen Lebens-

Die grundlegenden Tendenzen kann man auch bei sich selbst feststellen.

Unsere Identität in einer sich verändernden Welt

Balanceorientierung ist die Furcht vor Unbestimmtheit.

Stimulanzorientierung ist die Furcht vor der Einschränkung.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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entwurf oder aber auch nur auf eine Verpfl ichtung. Diese Menschen leiden, wann immer sie den Eindruck haben, in ihrem Leben eine Tür zuschlagen zu müssen, die sich anschließend nicht mehr öff nen lässt.

Um diese vier typischen Grundkräft e oder Grundformen der Angst noch etwas plakativer darzustellen, skizzieren wir im Folgen-den einige idealtypische Reaktionen auf eine Alltagsfrage (»Wie war Ihr letzter Urlaub?«). Diese sind als plakativ überzeichnete Beispie-le zu verstehen, charakterisieren aber ganz gut den grundsätzlichen Blickwinkel, unter dem Menschen aus der Perspektive ihrer jeweili-gen Orientierung die Welt interpretieren ( .   Abb.  2.2 ).

Vermutlich sind diese vier Kräft e für Sie jetzt schon ein wenig plastischer. .   Tab.  2.1 fasst noch einmal die wichtigsten Attribute jeder der vier Orientierungen zusammen.

Natürlich können wir diese vier Orientierungen auch direkt auf das Th ema Führung beziehen. Wenn Sie beispielsweise Auswahlge-spräche mit Bewerbern um Führungsaufgaben führen, erkennen Sie die grundsätzliche Tendenz recht schnell bei der Frage nach der Füh-rungsmotivation . Die vier Antworten, die Sie in .   Abb.  2.3 vorfi nden, sind keine wortwörtlichen Antworten, sondern idealisierte, hinter der wortwörtlichen Antwort liegenden Aussagen.

Bei einem Verständnis dieser vier generellen Tendenzen ist übri-gens noch Folgendes wichtig: Wir beschreiben mit diesen vier Ten-denzen Kräft e oder Motivationen, aber nicht zwangsläufi g Kompeten-

. Abb. 2.2 Beispiele für die vier unterschiedlichen Orientierungen anhand der Frage nach dem letzten Urlaub

Die grundsätzlichen Orientierungen erkennt man

auch bei Bewerbern.

Die vier grundsätzli-chen Orientierungen sind Motivationen, nicht aber

automatisch Fähigkeiten.

2.5 •  Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung 2

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Die Kraft der Beziehungen

Beziehungsorientierung (Angst vor Einsamkeit und Alleinsein)

Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, …

… die Nähe zu anderen Menschen zu suchen,

… eine Aufgabe zu suchen, die es ermöglicht, für andere etwas Sinnvolles zu tun und sie zu fördern,

… auf andere Menschen mit viel Einfühlungsbereitschaft und Off enheit zuzu-gehen,

… sich emotional an andere zu binden und tolerant mit ihren Fehlern umzu-gehen,

… sich anderen Menschen tendenziell eher altruistisch, friedfertig und beschei-den zu nähern,

… ein moralisches und humanistisches Verhalten zu bevorzugen,

… unter Distanz und Zurückweisung zu leiden,

… eine harmonische Atmosphäre in der Zusammenarbeit anzustreben,

… andere nur ungern zu kritisieren.

Autonomieorientierung (Angst vor fehlender Individualität und Bedeutung)

Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, …

… Bewunderung und Anerkennung zu suchen,

… einen hohen Wert auf Außerordentlichkeit und Individualität zu legen,

… Unterschiede zwischen sich und anderen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen,

… ein starkes Selbstbewusstsein zu vermitteln,

… Abhängigkeit von anderen zu vermeiden,

… sich emotional eher abzugrenzen,

… kritisch und skeptisch auf andere Menschen zuzugehen,

… Konfl ikte ohne großes persönliches Belastungsempfi nden zu ertragen,

… sich in vielen Situationen in Konkurrenz zu anderen zu erleben.

Die Identität in einer sich verändernden Welt

Balanceorientierung (Angst vor Un-bestimmtheit und Orientierungs-losigkeit)

Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, …

… Ordnung und Sicherheit zu suchen,

… Aufgaben mit Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit und Ausdauer zu erfüllen,

… Beständigkeit zu suchen,

… feste Gewohnheiten zu etablieren,

… eher vorsichtig mit Risiken umzugehen,

… verlässlich, zuverlässig und pfl ichtbewusst vorzugehen,

… auf Regeleinhaltung zu pochen und Regelabweichungen zu sanktionieren,

… andere Menschen konsequent zu kontrollieren.

. Tab. 2.1 Attribute der vier Orientierungen

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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zen. Es ist z. B. so, dass es autonomieorientierten Führungspersonen leichter fällt, unpopuläre Entscheidungen auch gegen die Geführten zu treff en, als beziehungsorientierte Führungspersonen dies tun. Das heißt aber nicht, dass nicht auch diese dazu in der Lage wären. Sie leiden letztlich mehr darunter und ringen vielleicht mehr mit sich,

. Tab. 2.1 Fortsetzung

Stimulanzorientierung (Angst vor Gleichförmigkeit und Bestimmt-heit)

Eine hohe Ausprägung dieser Orientierung drängt Menschen dazu, …

… Festlegungen zu vermeiden und sich viele Optionen off en zu halten,

… fl exibel und spontan mit verschiedenen Situationen umzugehen,

… die Vergangenheit hinter sich zu lassen und Neues auszuprobieren,

… Risiken einzugehen,

… neugierig und phantasievoll mit neuen Themen und Herausforderungen umzugehen,

… Beziehungen zu beenden und neue einzugehen, wenn damit das Potenzial neuer Erfahrungen verbunden ist,

… Anregungen und Abenteuer zu suchen.

2.5 •  Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung 2

. Abb. 2.3 Unterschiedliche Führungsmotivationen, die mit den vier Orientierungen verbunden sind

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aber sie können unpopuläre Th emen im praktischen Sinne ähnlich exekutieren wie autonomieorientierte Führungskräft e. Das Treff en unpopulärer Entscheidungen ist allerdings für autonomieorientier-te Führungskräft e deutlich mehr Selbstbestätigung und angestrebte Verantwortung als für beziehungsorientierte Führungskräft e. Wir be-schreiben eindeutig Motivationen (oder Ängste), nicht aber Kompe-tenzen (im Sinne von Fähigkeiten).

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass wir immer von vier unter-schiedlichen Orientierungen oder Kräft en gesprochen haben, damit aber nicht zwangsläufi g von vier Persönlichkeitstypen. In uns allen sind beide Achsen präsent. So sieht man z. B. oft Personen, die sowohl autonomie- als auch stimulanzorientiert sind. In der Beziehungsge-staltung sind diese Menschen autonomieorientiert, in ihrem Erleben der Welt hingegen stimulanzorientiert.

> Die beiden Orientierungen sind polar, aber nicht digital. Jeder Mensch trägt Anteile aller vier Orientierungen in sich, aber mit unterschiedlicher Priorität und Ausprägungsstärke. Am deutlichsten sieht man die dominante Ausprägung im-mer in Konfl ikten. Fragen Sie sich, wie Sie typischerweise in Konfl ikten reagieren: abgrenzend und dominant oder eher nachgiebig und traurig? Regelorientiert und prinzipiell oder eher impulsiv und situativ? Ihre Persönlichkeit off enbart sich in Konfl ikten am klarsten.

2.5.1 Der charismatische Beziehungsvertrag

Als wir im vorangegangenen Abschnitt die vier fundamentalen Kräft e oder Motivationen eingeführt haben, haben wir teilweise schon Bei-spiele angeführt, die auf unterschiedliche Personen mit eben diesen Tendenzen zutreff en. Wollen wir den charismatischen Beziehungs-vertrag verstehen, müssen wir diese unterschiedlichen Grundängste jetzt aus der Sichtweise der Geführten betrachten.

Wir haben argumentiert, dass Charisma sich entwickelt, wenn man als Führungskraft in der Lage ist, erfolgreich Ängste zu bin-den. Dann haben wir im nächsten Schritt die vier wesentlichen lebensbestimmenden Ängste kennen gelernt. Aus der Perspektive dieser vier Ängste heraus werden Führungskräft e als charismatisch wahrgenommen, die sich für genau diese Ängste als Projektions-fl äche eignen. Hierdurch entsteht der Beziehungsvertrag zwischen Führungspersönlichkeit und Geführten. Dieser implizierte Bezie-hungsvertrag wird in .   Tab.  2.2 für die vier beschriebenen Urängste genauer dargestellt.

Je mehr Sie sich als Führungskraft als Projektionsfl äche für diese Ängste eignen, umso stärker ist der charismatische Beziehungsver-trag . Die Herausforderung liegt darin, für die verschiedenen Orien-tierungen gleichermaßen charismatisch zu sein. Wenn Sie als Füh-

Der charismatische Beziehungsvertrag wird zwischen Angst und Angstbindungskraft geschlossen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

In jedem von uns sind alle Orientierungen wirksam.

Je mehr verschiedene Ängste eine Führungskraft binden kann, umso größer ist das Charisma.

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472.5 •  Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung

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Angst bzw. Kraft Der Beziehungsvertrag zwischen der charismatischen Führungspersönlichkeit und den Geführten

Beziehungsorientie-rung : Angst vor Ein-samkeit und Alleinsein

Sehr beziehungsorientierte Menschen erleben genau diejenigen Führungspersonen als charismatisch, die ihnen die Eingebundenheit in eine Gemeinschaft vermitteln, die ihnen Familiengefühle oder Team-Spirit, Nähe und Geborgenheit geben. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren:

F ü hrungspersönlichkeit: »Unter meiner Führung wirst du in eine Gruppe kommen, in der du dich zu Hause fühlen kannst. Du wirst Menschen um dich haben, die dich unterstützen, wertschätzen und mit dir gemeinsam an unseren Zielen arbeiten. Wenn du dich von mir führen lässt, wirst du Teil einer großen Familie.«

Geführte: »Wir folgen dir, weil wir unter deiner Führung nicht mehr einsam sind, weil wir uns unter deiner Führung in einer Gruppe geborgen wissen und weil du etwas dafür tust, dass wir uns im Team wohlfühlen und füreinander da sind.«

Autonomieorientie-rung : Angst vor dem Verlust von Individuali-tät und Bedeutung

Autonomieorientierte Menschen erleben solche Führungskräfte als charismatisch, durch die sie in ihrem Gefühl der Herausgehobenheit bestärkt werden, die ihnen den Eindruck ver-mitteln, etwas ganz Besonderes zu sein und an einer ganz besonderen Sache mitzuwirken. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren:

Führungspersönlichkeit: »Wenn du mir folgst, wirst du deine besonderen Anlagen und Talente erfolgreich entwickeln können. Wenn du mir folgst, wirst du besondere Aufgaben erhalten, mit denen du beweisen kannst, was in dir steckt. Du wirst die Chance bekommen, etwas Außergewöhnliches zu leisten und dich schneller und besser zu entwickeln als viele andere.«

Geführte: »Wir folgen dir, weil du uns das Selbstbewusstsein gibst, etwas Besonderes zu sein, und wir unter deiner Führung den Eindruck bekommen, zu Recht von anderen bewun-dert und wertgeschätzt zu werden. Unter deiner Führung erleben wir die Wahrnehmung unserer Individualität, wie sie uns gebührt.«

Balanceorientierung : Angst vor Unbe-stimmtheit und Orien-tierungslosigkeit

Balanceorientierte Menschen werden diejenigen Führungskräfte als charismatisch empfi n-den, die ihnen Sicherheit, Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit vermitteln. Der unausge-sprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren:

Führungspersönlichkeit: »Unter meiner Führung werdet ihr Stabilität und Ordnung er-leben. Bei mir könnt ihr euch sicher fühlen in einer unruhigen Welt. Ich schaff e Klarheit und Regeln, die euch Orientierung geben, und bewahre euch vor Unsicherheit und Ungewiss-heit. Auf mich könnt Ihr Euch verlassen.«

Geführte: »Wir folgen dir, weil du die Welt für uns ordnest und uns Eindeutigkeit und Klarheit gibst. Du löst für uns Ambivalenzen und Unsicherheiten auf und wir sehen eine Struktur, an die wir uns halten können. Du bist für uns die Konstante und die Stabilität, die uns langfristige Orientierung gibt.«

Stimulanzorientierung : Angst vor Gleichför-migkeit und Bestimmt-heit

Stimulanzorientierte Menschen erleben eine Führungskraft als charismatisch, die ihnen spannende neue Horizonte, Lernmöglichkeiten, Abenteuer und Erlebnisse versprechen kann. Der unausgesprochene Beziehungsvertrag lässt sich wie folgt charakterisieren:

Führungspersönlichkeit: »Unter meiner Führung kann man neue Horizonte erreichen. Wir können die Dinge neu erfi nden und viel in der Welt bewegen. Wir lösen uns von den Ein-engungen und Leitplanken und vertrauen auf unsere schöpferische Kraft.«

Geführte: »Wir folgen dir, weil unser Leben dadurch intensiver wird. Wir folgen dir, weil wir viel Spannendes und Neuartiges erleben können, weil wir etwas Wichtiges und Visionäres vorhaben und weil wir die Fesseln der Gegenwart überwinden.«

. Tab. 2.2 Der implizierte Beziehungsvertrag

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rungskraft für Struktur, Stabilität und Ordnung und damit vermutlich auch für einen Wertkonservatismus stehen, werden sehr stimulanz-orientierte Menschen Sie möglicherweise als nicht so charismatisch erleben. Wenn Sie hingegen sehr revolutionär, visionär, off en und ver-änderungsbereit sind, werden sehr balanceorientierte und Struktur suchende Menschen bei Ihnen vermutlich nicht die Projektionsfl äche für Angst fi nden, die sie benötigen würden. Ihr eigenes charismati-sches Potenzial ist nun umso größer, je mehr dieser Ängste Sie bedie-nen, also je fl exibler Sie – trotz eigener Präferenzen und Prägungen – unterschiedliche Menschen dort erreichen, wo diese ansprechbar sind.

Je stärker Sie beziehungsorientierten Menschen aufzeigen kön-nen, dass man bei Ihnen Nähe und Geborgenheit fi ndet, und je stär-ker Sie gleichzeitig autonomieorientierten Menschen das Gefühl vermitteln können, etwas Besonderes zu sein, umso größer ist Ihr charismatisches Potenzial . Je stärker Sie als Führungskraft deutlich machen können, dass man sich Ihrer Führung anvertrauen kann, weil Sie Stabilität und Ordnung schaff en, und gleichzeitig vermitteln kön-nen, dass man unter Ihrer Führung neue Horizonte erreichen kann, umso größer ist Ihr charismatisches Potenzial. Je mehr Zutrauen Sie schaff en, dass man unter Ihrer Führung die beschriebenen Ängste nicht mehr haben muss, umso größer ist Ihr charismatisches Poten-zial. Aus dieser Beschreibung wird noch einmal klar, warum Charis-ma an sich keine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern immer ein Beziehungsphänomen . Charismatisch wird man nur durch die Augen der Folgenden und niemals für sich allein.

Wenn man sich die Leistungen charismatischer Führungsper-sönlichkeiten ansieht, kann man rückblickend die Ausgestaltung der hier beschriebenen Beziehungsverträge recht gut erkennen (s. auch  7  » Beispiele für die Angstbindungskraft charismatischer Führungs-persönlichkeiten«). Wenn bei den hier dargestellten Beispielen häufi g Politiker, Staatsmänner oder vielleicht Religionsstift er herangezogen werden, so ist das vor allen Dingen dadurch erklärbar, dass sie jeder Leser kennt und die Rahmenbedingungen einschätzbar sind. Selbst-verständlich ist diese charismatische Wirkung aber keineswegs auf große Staatsmänner beschränkt, sondern der Mechanismus, den wir hier beschrieben haben, ist in nahezu jeder Führungsbeziehung prä-sent.

2.5.2 Unempfänglichkeit für Charisma

Wir hatten dargelegt, dass Charisma als Wechselwirkung zwischen Führendem und Folgenden in dem Mechanismus von Angst und Angstbindung besteht. Diese Wechselwirkung ist natürlich nur dann möglich, wenn auf Seiten der Geführten tatsächlich Angst existiert. Es gibt damit zwei wesentliche Gründe, warum bestimmte Menschen sich nicht charismatisch führen lassen: Der erste Grund wäre, dass es

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

Charismatisch kann man nur in den Augen anderer sein, niemals für sich allein.

Charismatische Prozesse gibt es in fast allen Führungsbezie-hungen.

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Ohne Angst ist kein Platz für charismatische Führung.

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sich um Menschen handelt, die in ihrem Leben weitestgehend angst-frei sind. Völlig angstfrei ist niemand, insofern handelt es sich auch hier eher um graduelle Unterschiede. Je angstfreier Sie sind, desto we-niger würden Sie sich als Geführter oder Geführte in charismatische Beziehungen begeben. In diesem Fall würden Sie vorrangig die funk-

2.5 •  Die psychologischen Grundlagen der Führungsbeziehung 2

Nehmen wir zur Verdeutlichung zunächst einmal ein sehr negatives Beispiel von Charisma, weil wir die charismatische Wirkung – so unangenehm das auch sein mag –auch bei furchtbaren Tyrannen und Diktatoren sehen können. Wir hatten Adolf Hitler bereits als Bei-spiel erwähnt. Versetzen wir uns einmal in die Zeit des damaligen Deutschlands: Der erste Weltkrieg war verloren und das deutsche Volk lebte mit einem als unge-recht empfundenen Frieden. Die Wirtschaftskrise zerstörte Besitz und Perspektiven. Adolf Hitlers Botschaften haben in der dama-ligen Zeit die vier beschriebenen Ängste in einer nahezu perfekten Weise bedienen können. Die große Bedeutung, die das Thema der »Volksgemeinschaft« hatte, und die vielfältigen damit verbundenen Beziehungsangebote (die Hitler-Jugend war nur eine der vielen Organisationen, die die Nationalso-zialisten hierzu geschaff en hatten) gaben beziehungsorientierten und einsamen Menschen ein neues Zu-gehörigkeitsgefühl und eine neue Heimat. Der Glaube an die Über-legenheit der deutschen Rasse und dem Anrecht der deutschen Rasse auf die Herrschaft über andere gab den durch den verlorenen Krieg frustrierten und niedergedrückten autonomieorientierten Personen die Möglichkeit, sich wieder als etwas Besonderes zu fühlen. Selbst-bewusstsein war als Deutscher wieder möglich. Im Chaos der Nach-kriegsjahre und der Wirtschaftskrise schuf Hitler eine Struktur, die den Balanceorientierten den Glauben an Stabilität, Recht und Ordnung wiedergab. Für die Stimulanzorien-tierten hielt Hitler die große Vision des Tausendjährigen Reiches bereit, eine vollständige Umwälzung der bisherigen Verhältnisse und nach

den Nachwehen des ersten Welt-krieges die Hoff nung auf ganz neue Horizonte. Hitlers Ideologie ist vor dem Hintergrund seiner Ziele also recht gekonnt zusammengefügt gewesen. Nur deswegen hat sie letztendlich ihre Verführungskunst entfalten können. Die vielen inne-ren Widersprüchlichkeiten, der auch vor damaligem wissenschaftlichem Hintergrund rassische Unsinn, die Verlogenheit und Geschichtsfäl-schung in der Judenfrage konnten letztendlich der psychologischen Wirkung seiner Botschaft nicht ausreichend etwas entgegensetzen, um den Weg in die Katastrophe zu verhindern.

Konrad Adenauer sei als ein positives Beispiel charismatischer Beziehungsgestaltung angeführt. Als Konrad Adenauer nach dem Ende des Krieges und der Besat-zungszeit zum ersten deutschen Bundeskanzler wurde, hatte er den Menschen Folgendes anzubieten: Den beziehungsorientierten Men-schen ersparte er letztlich zu viel Schmach und Scham und zu viel Gefühl, mit dem Deutschsein bre-chen zu müssen. Durch seine eige-ne moralische Integrität während der Nazizeit und seine nicht allzu intensive Aufbereitung der Ver-gangenheit konnten beziehungs-orientierte Menschen beginnen, sich mit dem eigenen Deutschsein wieder im positiven Sinne zu ver-söhnen. Konrad Adenauer schaff te es, dass die Menschen, die unter dem Verachtetsein als Deutsche litten, schon bald ein neues Hei-matgefühl erwerben konnten. Für die Autonomieorientierten boten Konrad Adenauer und Ludwig Erhard die Chancen des deutschen Wirtschaftswunders. Deutschland hatte ein neues Betätigungsfeld erhalten, in dem Menschen ihre überlegene Leistungskraft und Kon-

kurrenzfähigkeit beweisen konnten. Das Wirtschaftswunder wirkte in optimaler Weise der Angst vor der Bedeutungslosigkeit entgegen und schuf einen sich selbst verstär-kenden Mechanismus ungeahnter Energie. Für die Balanceorientierten repräsentierte Konrad Adenauer ge-nug Konservatismus , um ein neues Deutschland auf Basis konservativer Werte zu schaff en. Beständigkeit und auch Provinzialität waren klare Kennzeichen der Adenauer-Regie-rung und der Bruch mit bestimmten Strukturen der Nazizeit ist sicher-lich nicht in allen Organisationen Deutschlands so konsequent ge-wesen, wie bestimmte gesellschaft-liche Kräfte es sich rückblickend gewünscht hätten. Adenauers Wahl-spruch: »Keine Experimente« zeigt noch einmal sehr klar, wie Adenauer balanceorientierte Ängste bediente. Dennoch gab es auch für die Stimu-lanzorientierten im neuen Deutsch-land des Nachkriegs ausreichend Wirkungsfelder und Veränderun-gen. Adenauer schaff te den Spagat, die Westbindung Deutschlands voranzutreiben, die amerikanische Freundschaft zu intensivieren und im Hinblick auf demokratische Wer-te und – wie bereits erwähnt – im Hinblick auf wirtschaftliche Freiheit einige fundamentale Brüche mit der Nazi-Vergangenheit zu erzeugen und dadurch eine Zukunftsvision für ein Deutschland zu schaff en, in dem man in Freiheit und Wohlstand leben kann und das keine Katastro-phen mehr über die Welt bringen würde. In diesem Versprechen gab es dann auch für die stimulanz-orientierten Personen noch genug neue Horizonte und Ziele, die trotz Provinzialität und Konservatismus auf der anderen Seite ausreichend Angstbindungskraft entwickeln konnten.

Beispiele für die Angstbindungskraft charismatischer Führungspersönlichkeiten

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tionale Seite der Führung betrachten. Sie würden die Sinn gebenden Ziele einer Führungskraft stärker unter einer rationalen Perspektive bewerten. Letztendlich muss aber das Sinnangebot einer Führungs-person auch in diesem Fall auf psychisches Bedürfnis passen. Ganz ohne Angst (oder Antrieb) geht es also nicht. Es ist nur eine Frage der Ausprägung.

Allerdings gibt es einen zweiten, viel gravierenderen Mechanis-mus, der Menschen unempfänglich für Charisma oder in extremer Ausprägung auch »unführbar« macht. Wir haben gesagt, dass Cha-risma in der Fähigkeit besteht, durch suggestive Kraft Vertrauen zu erzeugen. Auf Seite der Geführten ist damit die Minimalbedingung, einer Führungskraft zu folgen, die Fähigkeit, anderen Menschen ver-trauen zu können. Ohne die Fähigkeit des Vertrauens wird man sich niemals einer Führung anvertrauen und damit eigene Freiheitsgrade reduzieren. Ein Grund dafür, warum Menschen ihre Fähigkeit zu ver-trauen verlieren oder niemals richtig ausbilden, liegt beispielsweise in frühkindlichen Missbrauchserfahrungen .

Derartige Erfahrungen können so gravierend und einschneidend sein, dass es diesen Menschen nie gelingt, sich in Beziehungen ande-ren hinzugeben. Stattdessen bleiben diese Menschen oft mals die ewi-gen Rebellen und Skeptiker , die aus dieser Erfahrung heraus anderen Menschen mit ständigem Misstrauen begegnen. Als Führungskraft hat man dann nicht selten das Problem, dass trotz aller Bemühungen keine Beziehung herzustellen ist, in der der andere bereitwillig folgt. Jede Anforderung an den anderen ist für sich ein Kampf und ein Konfl ikt, der nicht ohne weiteres durch die Hierarchie gelöst werden kann.

> Nicht jeder Mensch ist gleich gut führbar und bei bestimm-ten Menschen ist die Anforderung, sie zu führen, besonders hoch. Als Führender müssen Sie Vertrauen erzeugen, als Geführte oder Geführter müssen Sie vertrauen können.

2.6 Entwicklung von Charisma

2.6.1 Psychologische Entwicklungsschritte auf dem Weg zur charismatischen Führungspersönlich-keit

Charisma ist – wie wir eben ausgeführt haben – keine Persönlich-keitseigenschaft und erst recht kein angeborenes Attribut. Charisma ist die Fähigkeit zur Angstbindung durch eigene Stärke, aber die dazu notwendigen Persönlichkeitsaspekte diff erieren historisch und ab-hängig vom Führungskontext: In Sekten werden andere Typen als charismatisch wahrgenommen als in Wirtschaft sunternehmen. Die lapidare Aussage »entweder man hat’s oder man hat’s nicht« wird auch bei der Frage nach der Entwicklung von Charisma der Komplexi-

Misstrauische und skeptische Menschen sind schwer führbar.

Charisma ist nicht einfach angeboren, sondern hat eine individuelle Entwicklungsge-schichte.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

2

Ohne Vertrauensfähigkeit gibt es keinen charismatischen Beziehungsvertrag.

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tät der Wirklichkeit nicht gerecht. Charismatische Führungspersön-lichkeiten durchlaufen eine Entwicklungsgeschichte, die es im All-gemeinen gut verstehbar macht, warum sie irgendwann in der Lage sind, charismatische Beziehungen auszubilden. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den typischen psychologischen Entwick-lungsprozess charismatischer Fähigkeiten nachzuvollziehen und ver-stehbar zu machen.

Unser Erklärungsmodell basiert auf dem Menschenbild der Tie-fenpsychologie . Die Tiefenpsychologie hat den Begriff der »psychi-schen Energie « geprägt, der für unseren Erklärungsansatz von zentra-ler Bedeutung ist. Die Tiefenpsychologie postuliert, dass das Handeln jedes Einzelnen von uns durch eine psychische Energiequelle voran-getrieben wird. Diese psychische Energie gibt uns die nötige Kraft zu handeln und Anstrengungs- und Überwindungsleistungen auf uns zu nehmen. Sie haben z.  B. bereits erfahren, dass Führung immer Anstrengungs- und Überwindungsleistungen voraussetzt.

Woher kommt nun diese psychische Energie, die uns antreibt, Dinge zu tun? Wodurch wird die Kraft der Menschen gespeist, etwas an ihrem Leben oder an der Welt verändern zu wollen?

Welches ist die entscheidende Triebfeder , die bestimmte Men-schen zu übermenschlichen Anstrengungen zu drängen scheint und sie viele andere Bedürfnisse zurückstellen lässt? Und für uns hier be-sonders relevant: Welche Energiequelle bewirkt, dass Menschen sich zu Charismatikern entwickeln, die mit Enthusiasmus und Hingabe für ihre Ziele eintreten, kämpferisch mit ihren Gegnern umgehen und für große Ziele begeistern können? Schon bei der Wahl des Ziels sieht man, dass es nicht völlig rational zugehen kann. Die einen Men-schen entwickeln Charisma, weil sie als Unternehmer einfach nur reich werden möchten. Andere Menschen möchten Leid und Armut in der Welt besiegen oder nutzen ihr Charisma für die Umwelt, für politische Ideen, aber auch für visionäre Produkte. Wie kommt es, dass Menschen sich ausgerechnet einer ganz bestimmten Idee ver-schreiben und die psychische Energie aufb ringen, in charismatischer Weise für diese Idee einzustehen?

Die Ursache für diese Anstrengungsleistungen beschreibt die Tiefenpsychologie durch das Konzept der »Kompensation «. Men-schen, die Anstrengungen unternehmen, um bestimmte Dinge zu er-reichen, geht es um ganz persönliche Kompensation, Kompensation von »gefühlten inneren« Missständen. Was ist darunter nun genau zu verstehen? Kompensation bedeutet Ausgleichen. Insofern muss es ein Missverhältnis in der wahrgenommenen eigenen Psychoba-lance geben, das einen Ausgleich benötigt. Dieses Ungleichgewicht bereitet uns ein starkes Unwohlsein, das wir, um uns besser fühlen zu können, ausgleichen möchten. Insofern unternehmen wir große Überwindungsleistungen, um unsere eigene Psychobalance wieder herstellen zu können.

2.6 •  Entwicklung von Charisma 2

Welche Energiequelle treibt Menschen zu besonderen

Anstrengungen an?

Die Wahl von Zielen ist kein rationaler Prozess.

Große Anstrengungsleistun-gen sind angetrieben vom

Bedürfnis nach Kompensation.

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> Übermenschliche Anstrengungen sind immer ein Zeichen für starke Kompensationsnotwendigkeiten . Wir müssen uns nicht um etwas bemühen, aus dem wir keinen Nutzen für unsere Psychobalance schöpfen können.

Lassen Sie uns das Ganze noch deutlicher machen: Psychische Energie setzen wir dann frei, wenn uns bestimmte

Dinge als verlockend und erstrebenswert scheinen. Wenn z.  B. je-mand viel Energie für seine Karriereentwicklung aufb ringt, so tut er dies vermutlich deshalb, weil es ihn belohnt, sich als erfolgreich wahr-zunehmen. Wenn jemand als Missionar nach Südamerika geht, so tut er dies unter Umständen deshalb, weil es ihm ein gutes Gefühl gibt, anderen Menschen den christlichen Glauben nahezubringen. Diese beiden Beispiele machen auch deutlich, dass es sich um sehr indivi-duelle Triebfedern handeln kann und dass sich keiner bei den o. g. Beispielen »mal eben so« anders entscheiden würde. Das bedeutet, dass die dahinterliegende psychische Energie jedes Einzelnen so fun-damental ist, dass es schon besonderer Lebensereignisse oder -verän-derungen bedarf, die eigenen Energien in andere Herausforderungen zu investieren. Der Wunsch bzw. das Bedürfnis nach Kompensation speist unser Handeln.

Warum ist denn nun Karriere in einem Wirtschaft sunternehmen für den einen verlockend, für den anderen aber nicht? Betrachten wir es einfach von der anderen Seite, der Seite der Kompensation: Eine Nicht-Karriere wäre demnach aversiv. Und weil dies persönlich als so schrecklich empfunden wird, unternehmen wir außerordentliche Anstrengungen, um eine Karriere zu erzielen. Wäre eine Karriere eher belanglos, dann würde man auch nicht viel Energie dafür aufwen-den. Die Kompensation könnte nun z. B. darin bestehen, dass man es nicht mag, »einer unter vielen« zu sein, dass man sich, wenn man seine Potenziale und Fähigkeiten nicht zeigen kann, verkannt und weniger wertgeschätzt fühlt, dass das Lebensmotto: »Sein Licht unter den Scheff el stellen« innere Panik auslöst. All diese unangenehmen, ganz persönlichen Gedanken können dann einen Einzelnen große Energien entwickeln lassen, dieses Unbehagen durch starkes Leis-tungsstreben zu kompensieren. Für eine andere Person kann genau das Gegenteil der Fall sein: Großes Leistungsstreben bereitet ihr Un-wohlsein und ein Gefühl der Überforderung.

Karriere bedeutet für diesen Menschen unter Umständen zu gro-ße Verantwortung. Insofern könnten seine kompensatorischen Be-mühungen dahin gehen, sich einem Team anzuschließen, um darin »ein- und untertauchen« zu können. Im Mittelpunkt zu stehen ist für diese Person vielleicht beängstigend. Deshalb unternimmt dieser Mensch große Anstrengung, sich einer solchen Situation keinesfalls aussetzen zu müssen, und der gutgemeinte Vorschlag seines Vorge-setzten, bei der nächsten Sitzung einen Vortrag zu halten, wird ent-schieden abgelehnt.

Man kann nicht einfach entscheiden, was einem wichtig ist.

Karrierestreben lässt sich aus dem Blickwinkel der Kompensation besser verstehen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Betrachtung sei nun an nächster Stelle unser Modell in der Entwicklung von Charisma erklärt.

.   Abb.  2.4 zeigt die fünf Stufen, durch die sich Menschen zu cha-rismatischen Führungspersönlichkeiten entwickeln. Diese Stufen sol-len im Folgenden kurz erläutert werden: 1. Stigma , Verwirrung, Leidensdruck . Das Wort Stigma hat

griechisch-lateinischen Ursprung und bedeutet »Stich«. Den damaligen Sklaven der Griechen und Römer wurde ein Mal auf-gebrannt, um sie als Sklaven erkennen zu können. Wir benutzen es an dieser Stelle als persönliche Verwundung, Kränkung, die einem widerfahren ist und die man überwinden möchte. Diese Kränkungen ergeben sich z. B. aus der persönlichen Biografi e (schwierige Lebensumstände wie Armut, schwere Kindheit, Tod, Unfall etc.) oder aus der eigenen Interpretation und Refl exion derselben (Minderwertigkeitsgefühle, Versagensängste etc.). Diese Vorkommnisse oder Selbstrefl exionen können bei einem Menschen der starke Antrieb sein, diese Verwundung(en) über-winden zu wollen und letztlich enorme Anstrengungen auf sich zu nehmen. Daraus ergibt sich, dass der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Charisma immer ein Stigma ist (bzw. Stigmata sind).

2. Kompensation , Entdeckung. Bitte erinnern Sie sich an die Aus-führungen zum Th ema Kompensation: Es bedarf immer einer psychischen Energie , eines empfundenen Ungleichgewichts, um Kraft für Anstrengungsleistungen aufzubringen. Das heißt, um das selbstwertgefährdende Stigma »abschütteln« oder zu-mindest ausgleichen zu können, bedarf es Kompensationsstra-tegien. Häufi g sind die ersten Kompensationsstrategien – z. B. bei Kindern – noch unzulänglich und bringen nicht sofort den gewünschten Erfolg. Oft handelt es sich zunächst um An-griff s- oder Fluchtstrategien. Ist das Stigma z. B. mangelnde An-erkennung, so können wir bei Kindern unzulängliche (aus der Perspektive der Erwachsenen) Versuche beobachten, Aufmerk-samkeit auf sich zu ziehen. Handelt es sich bei dem Stigma um

. Abb. 2.4 Die fünf Stufen der Entwicklung zur charismatischen Führungspersönlichkeit

2.6 •  Entwicklung von Charisma 2

Der charismatische Prozess beginnt mit einer Kränkung .

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erlebte Ohnmachtsgefühle (eine Person konnte sich einer für sie schrecklichen Situation nicht entziehen), so können die ersten Kompensationsversuche eher hilfl os wirken, die Kontrolle zu gewinnen und Einfl ussmöglichkeit zu haben.

Jedoch lassen sich bereits in dieser Phase erste Ansätze der für den Charismatiker typischen Kompensationsstrategien ausma-chen. Diese Vorgehensweisen lassen sich in vier Strategien unter-teilen, wobei zwei Strategien eher weltanschaulich-religiös und zwei weitere konkret-situationsbezogen sind:

5 Die asketische Kompensation. Die erste weltanschaulich religiöse Kompensationsstrategie ist die Askese. Die Askese ist eine Kompensationsstrategie, die sich auf den eigenen Le-bensentwurf bezieht. Das spätere Charisma wird eher aus der Vorbildwirkung kommen können und aus der Konsequenz, mit der dieser Lebensstil umgesetzt wird. Bei der asketischen Kompensation stehen Körperbeherrschung, Entsagung, Frei-heit von niederen Bedürfnissen und das »Sich-selbst-genug-Sein« im Vordergrund.

5 Die ekstatische Kompensation. Die zweite weltanschaulich religiöse Kompensationsstrategie bezeichnen wir als eksta-tisch. Anders als die rational dominierte Askese (der Geist besiegt den Körper) ist die ekstatische Kompensation durch eine sehr hohe weltanschauliche oder religiöse Emotionalität geprägt. Der spätere ekstatische Charismatiker hat, wenn er im Weltanschaulich-Religiösen verhaft et bleibt, eher einen Lebensentwurf für ein gelungenes Leben weiterzugeben als ein direktes Veränderungsinteresse in der realen und konkre-ten Welt.

5 Die rebellische Kompensation. Die rebellische Kompensa-tionsstrategie ist die erste der beiden konkreten oder histo-rischen Kompensationsstrategien. Der Rebell sieht sich als Antithese zu vorgefundenen Zuständen und möchte diese verändern. Während die beiden weltanschaulich-religiösen Kompensationsstrategien eher auf Gesamtlebensentwürfe abzielen, zielen die beiden konkreten historischen Kompensa-tionsstrategien eher auf reale Problemlösungen in der Welt ab und äußern sich anlassbezogen.

5 Die exhibitionistische Kompensation. Auch die exhibitio-nistische Kompensation ist eine konkret historische Kom-pensationsstrategie. Sie äußert sich enthusiastisch für ein bestimmtes Ziel in der Welt, damit aber nicht zwangsläufi g als Kampf gegen ein anderes (dies wäre eher die rebellische Strategie). Bei dieser Kompensation geht es um Visionen und neue Horizonte.

Grundsätzlich kann man sagen, dass den ersten Kompen-sationsstrategien schon anzumerken ist, ob der spätere Charismatiker sein Charisma eher in Bezug auf einen grund-sätzlichen Lebensentwurf entfaltet oder eher in Bezug auf

Die ersten Kompensations-strategien sind oft nicht erfolgreich.

Man erkennt manchmal schon bei Kindern die Kompensationsstrategien, die später charismatisches Potenzial entfalten können.

Asketen kompensieren durch Körperbeherrschung.

Ekstatiker kompensieren durch Emotionalität.

Rebellen kompensieren durch Kampf für Veränderung der Zustände.

Exhibitionisten kompensieren durch Enthusiasmus für neue Horizonte.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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praktische Problemlösungen in der wirklichen Welt. Das eigentliche Ziel, auf das sich diese Kompensationsstrategien richten werden, wird allerdings erst in der nächsten Phase sichtbar.

3. Sendung, Erweckung und Berufung. In der dritten Phase erfolgt der Prozess der übergeordneten Zielbildung . Anstatt einer unzureichenden ersten Kompensation tritt zunehmend stärker ein größeres Ziel hervor, dem man sich verschreibt. Der nach Anerkennung Strebende nimmt sich eine wirklich große Leistung vor, die ihm Bewunderung versprechen könnte. Der Ohnmächtige formuliert für sich den klaren Willen, Macht und Einfl uss zu gewinnen, um die als unzulänglich erlebten Zustände ändern zu können. In diesen Phasen bilden sich diejenigen Ziele, die Anstrengungs- und Überwindungsleistungen wert sind. Es ist die Phase, in der sich charismatische Führungspersonen dafür entscheiden, ihre Energie in den Dienst eines Ziels zu stellen.

4. Identifi kation, Anerkennung, erste Leistung. Im nächsten Schritt werden für dieses Ziel Anhänger gesammelt. Das Ziel wird enthusiastisch verkündet und erste Erfolge werden sichtbar. Bei den beginnenden Charismatikern steigt die »Selbstwirksam-keitsüberzeugung «, also das Gefühl, dass das Angestrebte mach-bar ist und dass es gelingt, andere dafür zu begeistern. Neben dem Gewinnen von Anhängern gehört aber selbstverständlich auch die Bewältigung von Gegnern in diese Phase.

5. Etablierung, Inszenierung, Ritualisierung und Institutionalisie-rung. In dieser letzten Phase der charismatischen Entwicklung hat die charismatische Führungskraft ihre Sturm- und Drangzeit überwunden. Der Charismatiker hat Strukturen geschaff en (Sie erinnern sich an die Betrachtungen über Führungsstrukturen in  7   Kap.  1 ), die ihn selbst überdauern können. Der Charismati-ker hat eine Organisation etabliert, die ihre Prozesse und Rituale hat, die ihre eigenen Symbole inszeniert, die am Ende aber doch ihn repräsentiert. Und diese geschaff enen Strukturen sind dann das Vermächtnis des Charismatikers, die ihn überdauernd reprä-sentieren, selbst wenn viele andere Menschen daran mitgewirkt haben (das Haus repräsentiert den Architekten und nicht die Menschen, die es gebaut haben).

Wichtig ist nun zum Abschluss dieses Kapitels noch eine Anmer-kung: Unsere Beispiele und unsere Wortwahl mögen implizieren, wir würden das Th ema Charisma für die ganz großen historischen Per-sönlichkeiten reservieren wollen, die Geschichte geschrieben haben. Wir nutzen nur gern diese Bilder, weil sie die Inhalte und Botschaf-ten so überdeutlich hervortreten lassen. Tatsächlich sehen wir aber Charisma keineswegs auf die übermenschlich erscheinenden großen Führungspersönlichkeiten beschränkt. In jedem Unternehmen, in jeder Organisation gibt es Führungskräft e, die sich einer Botschaft oder einem Ziel verschrieben haben und dafür charismatische Kraft

Erste Ziele bilden sich heraus.

2.6 •  Entwicklung von Charisma 2

Andere werden für die Ziele begeistert.

Führungsstrukturen werden etabliert.

Charisma ist nicht nur für große und historische Führungskräfte

von Bedeutung.

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entfalten können. Dies kann neben den großen historischen Dingen auch die Weiterentwicklung eines Teams oder eines Produktes sein oder ein anderer kleiner oder großer Erfolg, der im Sinne der eigenen charismatischen Botschaft die Welt ein kleines bisschen verändert.

2.6.2 Wie kann man als Führungskraft Charisma entwickeln?

In diesem Kapitel werden wir Ihnen eine Art »Kochrezept« zur Aus-bildung von Charisma vorstellen. Dieses Kochrezept vereint in seiner Abfolge die Erkenntnisse und Dynamiken, die in diesem Kapitel be-schrieben worden sind, und formuliert sie handlungsorientiert. Um die Anleitung zum Charismatiker besonders plastisch auszudrücken, haben wir eine plakative oder vielleicht sogar ironisch erscheinende Darstellung gewählt. Hierdurch tritt die eigentliche Botschaft sicher-lich sehr deutlich zutage. Wir sehen das Th ema Charisma deswegen aber keinesfalls aus einer zynisch abgeklärten Perspektive heraus – die in diesem »Kochrezept« zusammengefassten Mechanismen sind die zentralen Stellhebel, die Sie beobachten, wenn Sie Führungskräft e charismatisch werden sehen ( .   Abb.  2.5 ).

Dieses »Kochrezept« für Charisma werden wir im Folgenden kurz erläutern:

5 Vertraue darauf, dass du es schaff st! Der Ausgangspunkt für Charisma ist das Selbstvertrauen , etwas ändern zu können. Ohne die positive Überzeugung, dass andere Ziele möglich sind, kann kein Führungsprozess beginnen (hier sei noch einmal auf das erste Kapitel verwiesen). Darüber hinaus haben wir gesehen, dass die psychologische Wirkung von Führung auf Angstreduk-tion basiert. Deswegen ist es eine wichtige Grundlage für den Beziehungsvertrag zu den von Ihnen geführten Personen, dass Sie das Zutrauen erzeugen können, Ziele zu erreichen. Dieses Zutrauen werden Sie genau dann ausstrahlen können, wenn Sie auch das Selbstvertrauen haben, dass Sie es schaff en können.

5 Suche dir eine Krise , wenn nötig erzeuge eine! Im  7   Kap.  4 werden wir noch einmal viel deutlicher auf den Sachverhalt eingehen, dass nur die Krise die Zeit der Führung ist. Wenn es gerade keine Krise gibt, so bedeutet dies doch das Folgende: Die gegenwärtigen Führungsstrukturen lenken das Verhalten in die gewünschte Richtung und können bestehen bleiben. Es gibt kei-ne Notwendigkeit, etwas zu ändern. Wohin sollte man in einer solchen Situation führen? Es reicht, innerhalb der bestehenden Strukturen eine gewisse Anleitung und Kontrolle zu geben, aber Führung im charismatischen Sinne ist nicht nötig. Nur Not schreit nach Führung, nicht Glück. In Glückszeiten werden Sie sich nur schwer als Führender positionieren, weil Sie für die Geführten kein Problem lösen, weil Sie keine Botschaft haben, wohin Sie führen möchten. Sie brauchen zum Führen eine Kri-

Charisma braucht Selbstbewusstsein.

Charisma braucht eine Krise.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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se, und sei es eine vorausgesehene mögliche Krise der Zukunft (»Wenn wir uns heute nicht verändern, dann werden wir mor-gen vor riesigen Problemen stehen«), die Sie durch Ihre Führung rechtzeitig abwenden werden. Ganz ohne Krise geht es nicht, wenn sie charismatisch sein wollen. Insofern schlägt in Krisen-zeiten die Stunde der großen Charismatiker . Auf der anderen Seite kann man in diesem Schritt auch den Grund dafür erken-nen, warum Führungskräft e manchmal erst eine Krise erzeugen müssen, um sich ausreichend zu positionieren (z. B. durch die Restrukturierung eines Bereichs, durch einen Strategiewechsel etc.). Erst eine so erzeugte Krise bietet die Chance für eine eigene Zielbildung, die für Charisma unerlässlich ist.

> Man kann auch ohne eine Krise formal Führungskraft sein. Dann leitet man an und verlässt sich auf die bestehenden Führungsstrukturen . In der Arbeitswelt kommt so etwas ständig vor und selbstverständlich besteht der Alltag einer Führungskraft im Unternehmen nicht nur aus Krisen. Aber in Zeiten ohne Krisen geschieht weniger Führung und vor allem weniger charismatische Führung!

. Abb. 2.5 »Kochrezept« zur Entwicklung von Charisma

2.6 •  Entwicklung von Charisma 2

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5 Finde eine Erklärung für die Krise und eine plausible Bewäl-tigungstheorie! Wenn die Krise nun da oder geschaff en ist, müssen Sie im nächsten Teil beweisen, dass Sie sich als derjenige empfehlen, der die Krise zu lösen versteht. Hierzu brauchen Sie eine Erklärung für die Krise und eine glaubwürdige Bewälti-gungstheorie. Dies ist die Zeit der Sinnstift ung. In dieser Phase der Entwicklung von Charisma müssen Sie verdeutlichen, dass es Sinn ergibt, Ihnen zu folgen. Wenn man Ihnen folgt, wird man die Krise verstehen können und Wege sehen, wie man sie bewältigt.

5 Verkünde deine Bewältigungstheorie enthusiastisch! Dieser Punkt bezieht sich darauf, dass Charisma in seiner unmittelba-ren Wirkung immer eine gewisse Enthemmtheit voraussetzt. Sie können nicht gehemmt und zugleich charismatisch sein. Wenn Sie Zutrauen erzeugen wollen, dann dürfen Sie nicht gehemmt sein. Je größer und weitreichender Ihre Ziele sind, umso enthu-siastischer müssen Sie sie verkünden können, damit Sie in der Lage sind, die suggestive Kraft zu entfalten, dass diese Ziele unter Ihrer Führung auch erreichbar scheinen. Nur wenn man Ihnen abnimmt, dass Sie selbst an die Zielerreichung glauben, wird man Ihnen folgen. Je größer das ist, was Sie vorhaben, umso mehr Kraft müssen Sie vermitteln können, damit dieser Glaube entsteht.

5 Sorge für erste Erfolge ! Nachdem Sie Ihr Programm verkündet haben, geht die Arbeit los. Damit die Glaubwürdigkeit Ihrer Bewältigungstheorie und Ihres Erklärungsansatzes für die Krise keinen Schaden nimmt, müssen die ersten Aktivitäten unbedingt erfolgreich sein. Hier müssen Sie unter Umständen dabei mithel-fen, diese Erfolge zu organisieren (in Unternehmen organisiert man erste Erfolge weitreichender Veränderungen gerne als »Pi-lotprojekte «, die so aufgesetzt werden, dass die handelnden Per-sonen genug Einfl ussmöglichkeiten haben, das Projekt in jedem Fall zu einem Erfolg werden zu lassen). Die ersten Erfolge geben Ihrer Krisenerklärung und Bewältigungstheorie neue Nahrung und nachhaltige Glaubwürdigkeit.

5 Identifi ziere oder suche dir identitätsschwache (Autono-mieorientierung !), beziehungshungrige (Beziehungsorien-tierung !), orientierungslose (Balanceorientierung !) und erfahrungssüchtige (Stimulanzorientierung !) Menschen! Nun brauchen Sie die Menschen, die Ihnen folgen. Wir haben die unterschiedlichen Motivationen, die wir als Grundlage des charismatischen Beziehungsvertrages beschrieben haben, noch einmal etwas überpointiert zum Ausdruck gebracht. Hiermit ist letztlich nichts anderes gesagt, als dass Sie Menschen brauchen, die bereit sind, diesen Beziehungsvertrag mit Ihnen zu schließen und denen Sie damit in psychologischer Hinsicht etwas anzubie-ten haben. Rein praktisch gesehen »suchen« Sie sich diese Men-schen natürlich nicht immer neu. Sie können diese Auff orderung

Charisma braucht eine Lösungsidee für die Krise.

Charisma braucht Enthusiasmus.

Charisma braucht die Glaubwürdigkeit erster Erfolge.

Charisma braucht Menschen, die empfänglich für Angstbindung sind.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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auch in dem Sinne interpretieren, dass Sie in einer passenden Weise auf die vorhandenen und in Ihrem Team gegebenen Orientierungen aufb auen und diese nutzen.

5 Bestätige diese positiv, damit du eine wichtige Instanz in ihrem Leben wirst! Im nächsten Schritt müssen Sie Ihren Teil des Beziehungsvertrages erfüllen. Sie müssen den autonomie-orientierten Menschen Bedeutung verleihen, den beziehungs-orientierten Menschen Nähe und Geborgenheit vermitteln, den balanceorientierten Menschen Klarheit und Struktur geben und für die stimulanzorientierten Menschen ausreichend spannende Herausforderungen bereithalten. Wenn Ihnen das gelingt, ist die wesentliche Integrationsleistung geschafft . Sie haben ein Team gewonnen, von dem Sie überdurchschnittliche Anstrengungs- und Überwindungsleistungen erwarten dürfen.

5 Inszeniere dich rituell! Damit Ihre charismatische Botschaft präsent bleibt, braucht es Symbole und Rituale . Schaff en Sie um sich herum eine Aura des Besonderen! Halten Sie große Anspra-chen! Lassen Sie sich zitieren! Ihr Charisma wird länger halten, wenn Sie gute Rituale zur Verkörperung Ihrer Botschaft en fi n-den (vermutlich wird niemand widersprechen wollen, wenn wir behaupten, dass die katholische Kirche in dieser Hinsicht ohne Zweifel die erfolgreichste Organisation der Weltgeschichte ist, die es immer wieder verstanden hat, ihre Charismatiker durch entsprechende Zeremonien so zu inszenieren, dass die Aura des Besonderen und Erhabenen bestehen bleibt).

5 Sorge für eine Aristokratie ! Irgendwann wird Ihre Organisation und Ihre Aufgabe so groß, dass Sie weitere Führungskräft e und Anhänger brauchen, die Ihre Botschaft weitertragen. Die Beloh-nung dafür ist, Ihnen nahe sein zu dürfen und zu Ihrem engen Zirkel zu gehören. Führungskräft e steuern ihr Charisma auch teilweise dadurch, dass sie bestimmte Leute in ihre Nähe lassen, andere aber nicht (»Es tut mir sehr leid, aber unser Vorstand hat in den nächsten sechs Wochen leider keinen Termin für Sie frei.«). Wenn Sie charismatisch sein wollen, brauchen Sie einen Zirkel von Leuten, die sich stark mit Ihrer Botschaft identifi zie-ren. Sie brauchen einen Initiationsritus, damit nur die Loyalsten und Fähigsten in diesen Zirkel hineinkommen. Verteilen Sie Titel und Orden, beschränken Sie den Zugang zu sich!

Abschließend sei noch auf einen letzten Punkt in der Entwicklung von Charisma verwiesen. Wir hatten zwischendurch argumentiert, dass ein enthusiastisches oder auch enthemmtes Auft reten eine Voraus-setzung für die charismatische Wirkung ist. Wenn Sie den Werdegang und das Auft reten bestimmter Politiker beobachten, dann können Sie im Allgemeinen den Prozess in der Entwicklung von Charisma gut sehen. Manchmal kommt das Charisma nämlich erst dann, wenn man ein bestimmtes Amt und damit eine bestimmte Verantwortung hat. Nicht alle Führungskräft e werden erst charismatisch und begin-

Charisma braucht die Erfüllung der Beziehungsverträge.

Charisma braucht Symbole und Rituale.

2.6 •  Entwicklung von Charisma 2

Charisma braucht eine Ausweitung auf ein Team.

Manchmal entsteht Charisma erst im Amt.

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nen dann, zu führen. Viele Führungskräft e bekommen einen Platz in der Organisation und entwickeln dann schrittweise auf diesem Platz ihr Charisma.

Beispiel für die Entwicklung und Ausbildung von Charisma durch eine gegebene Aufgabe Den Prozess der Entwicklung von Charisma durch eine gegebene Auf-gabe kann man sich wie folgt vorstellen: Nehmen wir einmal an, Herr Meyer wird plötzlich zu einer Top-Führungskraft im Konzern. Auf ein-mal hat Herr Meyer in formaler oder funktionaler Hinsicht eine hohe Sichtbarkeit und Machtausstattung. Herr Meyer macht nun die folgen-de Erfahrung: Sobald er etwas sagt, wird es durch die anderen erledigt. Wenn er einen Witz macht, lachen alle. Wenn er eine Aufgabe defi niert, bemühen sich alle, sie bestmöglich zu erfüllen. Bei Herrn Meyer könn-te nun der folgende Erkenntnisprozess in Gang kommen: »Wenn ich etwas möchte, scheinen mir alle zu folgen. Das kann ja nur bedeuten, dass ich ungeheuer charismatisch bin.« Herr Meyer unterschätzt bei dieser Schlussfolgerung aber, wie stark bestimmte Leute letztlich auf-grund von Funktionsmacht und formaler Hierarchie folgen und wie wenig das möglicherweise mit seinem Auftreten als Person zu tun hat.

Die Schlussfolgerung von Herrn Meyer hat aber folgenden Eff ekt: Herr Meyer gewinnt die Selbstüberzeugung , dass er anderen etwas geben kann. In Herrn Meyer reift das Zutrauen zu sich selbst, dass er eine Botschaft hat, die andere Menschen an ihn bindet. Dieses ge-wachsene Selbstvertrauen führt dazu, dass Herr Meyer in der Lage ist, seine Überzeugungen tatsächlich selbstbewusster und enthusiasti-scher zu verkünden. Wenn er sie nun selbstbewusster und enthusiasti-scher verkündet, wird die positive Rückkoppelung, die er erfährt, umso intensiver, denn durch seine wachsende Enthemmtheit wird er auch überzeugender. Hier kommt nun ein Kreislauf mit positiver Rückkop-pelung in Gang, der im Ergebnis dazu führen kann, dass Herr Meyer tatsächlich Charisma entwickelt und zunehmend stärker auch unab-hängig von seiner formalen Funktionsmacht in der Lage ist, anderen Menschen etwas zu geben. Manchmal werden Menschen durch die Größe einer Aufgabe, die ihnen durch die Umstände in den Schoß fällt, zu Charismatikern, auch wenn sie noch nicht charismatisch waren, als sie mit der Bewältigung der Aufgabe begannen.

Wir haben den Prozess der Ausbildung von Charisma so beschrieben, dass am Ende der Entwicklung eine charismatische, handlungsfähige Führungskraft steht. Natürlich kann diese Entwicklung auch an jeder Stelle misslingen. Ob der Prozess der zunehmenden Enthemmung eine charismatische Führungskraft erzeugt oder aber einen sich selbst überschätzenden, aggressiven Narzissten, ist zunächst einmal nicht gesagt. Ein gewisser Narzissmus, der genug Selbstvertrauen in eige-ne Fähigkeiten und Potenziale erzeugt, ist für die Entwicklung von Charisma unumgänglich. Sie brauchen das Selbstvertrauen, anderen etwas geben zu können. Ohne diesen Glauben in die eigenen Mög-

Der Prozess der charismati-schen Entwicklung kann auch bösartige Tyrannen heranreifen lassen.

Kapitel 2 • Führung, Persönlichkeit und Charisma – Wie Sie durch Zutrauen und Vertrauen

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lichkeiten können Sie es nicht schaff en. Ein gewisser Narzissmus und Charisma schließen sich damit nicht aus, sondern das eine bedingt sogar das andere. Allerdings können sich all die Dynamiken, die wir in diesem Kapital beschrieben haben, die Orientierungen und Moti-vationen, die dahinter stehen, und natürlich auch die Kompensations-strategien, die die Energie für die charismatische Entwicklung liefern, in einer gestörten Form entwickeln und bösartige Führer heranreifen lassen. Auf diese Seite der psychologischen Störungen in der Führung gehen wir in  7   Kap.  11 ein.

2.7 Brauchen wir charismatische Führungspersön-lichkeiten?

Am Anfang dieses Kapitels sind wir kurz auf den gerade in Deutsch-land verbreiteten Charisma-Skeptizismus eingegangen, der sicherlich historisch verständlich, aber aus führungspsychologischer Sicht nicht sinnvoll ist. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass wir charismati-sche Führungspersönlichkeiten benötigen. Wenn Wirtschaft , Politik und Gesellschaft sich in einer Vertrauenskrise befi nden, helfen uns nur funktionale Führungskräft e allein nicht weiter, denn sie binden keine Angst und bündeln keine Kräft e für eine positive Zukunft s-vision.

Wir brauchen Charismatiker, damit Anstrengungs- und Über-windungsleistungen erzeugbar sind, die auch große Ziele erreich-bar werden lassen. Kulturell befi nden wir uns in einer Phase, in der die Veränderungsgeschwindigkeit überall zunimmt. Diese Aussage bleibt auch dann richtig, wenn sie mittlerweile wie ein banalisiert wirkender Platzhalter in jeder beliebigen Ansprache von Politikern oder Wirtschaft sführern vorkommt. Die Veränderung ist die Zeit der Krise . Gerade in Krisen brauchen wir Menschen, die in der Lage sind, Ängste zu binden, Hoff nung zu machen und das Zutrauen erzeugen können, dass die Krise durch gemeinsame Kraft bewältigbar ist. Ohne Charisma kann es keinen Mut geben, keine außergewöhnlichen ge-meinsamen Leistungen, keine Ausrichtung auf ein großes Ziel, das nicht von allein erreicht wird. Wenn wir sagen, dass charismatische Führungskräft e benötigt werden, so rufen wir damit ganz bestimmt nicht nach Verführern und Manipulatoren. Die suggestive Kraft des Charismas beruht auf Vertrauenswürdigkeit , Integrität , Hingabe an größere Ziele, Kompetenz und Stärke , Mut, Risikobereitschaft und aufrichtiger Zukunft shoff nung. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass keine relevante Krise dieser Welt sich nachhaltig und erfolgreich ohne die hier beschriebenen Attribute lösen lässt.

Rein funktionale Führungskräfte helfen in

Krisenzeiten nicht weiter.

2.7 •  Brauchen wir charismatische Führungspersönlichkeiten?2

Ohne Charisma gibt es keine außergewöhnlichen

Führungsleistungen.

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