Psychologie Heute 05/2013 Leseprobe

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40. JAHRGANG HEFT 5 6,50 SFR 10,– Mai 2013 www.psychologie-heute.de D6940E PSYCHOLOGIE HEUTE PSYCHOLOGIE HEUTE Sich behaupten Wie Sie sich Respekt ver- schaffen und Ihre Interessen wahren Persönlichkeit Die Stimme, ein Fenster zur Seele Sucht Die Leiden der Angehörigen

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Psychologie Heute 05/2013 Leseprobe

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PSYCHOLOGIE HEUTE

Sich behauptenWie Sie sich Respekt ver-schaffen und Ihre Interessen wahren

PersönlichkeitDie Stimme, ein Fenster zur Seele

SuchtDie Leiden derAngehörigen

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PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

Selbstbehauptung, aber richtigVom Verkäufer ignoriert, von der Kolle-gin geschnitten, vom Partner belächelt worden: Unser Alltag ist gespickt mit Machtspielchen und Respektlosigkeiten. Je nach Temperament und Tagesform re-agieren wir auf derlei Herabsetzungen mit aggressivem Gegenangriff oder hilf-loser Unterwerfung. Es gibt einen dritten Weg: Statt auszurasten oder zu verstum-men, artikulieren wir höflich unsere Inte-ressen und appellieren an die Einsicht des anderen. Zu schön, um durchführbar zu sein? Was hindert uns daran, selbstbe-wusst unsere Rechte zu wahren und uns in Konflikten zu behaupten? 20

4 In diesem Heft

Titelthema

! Axel Wolf

Auf Augenhöhe: Wie können wir uns erfolgreich selbst behaupten? 20

! Eva Tenzer

Die Stimme – der Schlüssel zur Seele 30

! Otto A. Böhmer

200 Jahre Kierkegaard „O, schaffet Schweigen!“ 36

! Jürgen Wegge im Gespräch

„Alt oder jung – um gute Leute wird es harten Wettbewerb geben“ 40

! Christine Amrhein

Das vermessene Selbst 46

! Jana Hauschild

Koabhängige: Komplizen der Sucht? 60

! Imke Anne Hirdes im Gespräch

„Gehen Sie doch mal in eine Erziehungsberatungsstelle …“ 66

! Johannes Künzel

Der gute Psychopath 70

! Thomas Glavinic im Gespräch

„Ich will den Lesern zeigen, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein sind“ 76

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In diesem Heft 5

Der Klang der SeelePer Stimmanalyse versuchen russische Raumfahrtpsy-chologen den seelischen Zustand ihrer Kosmonauten zu ergründen: Sind die da oben gestresst, depressiv, gibt es Konflikte an Bord? Forscher entdecken die Stimme als wichtiges Diagnostikinstrument. Im Alltag nutzen wir es längst. Die Stimme gibt uns Hinweise, wie ängstlich oder glücklich, aber auch wie alt, gesund, attraktiv oder mächtig ihr Träger ist. 30

Von Psychopathen lernenCharmant, manipulativ – und kalt wie ein Fisch: Psy-chopathen sind nicht unbedingt sympathische Zeit-genossen. Doch das Bild des gewissenlosen Scheusals ist zu einseitig. Im Beruf zum Beispiel bringen Mit-arbeiter mit psychopathischen Persönlichkeitszügen oft kreative Ideen ein – und sie verstehen es, diese charismatisch zu „verkaufen“. Können wir alle von Psychopathen lernen? 70

8Themen & Trends! Finanzkrise: Mehr Angst als Wut

! Paare: Wie viel Arbeit verträgt die Liebe?

! Depressionsrisiko: Geringe Selbstachtung

! Bewerbungen: Auf die Hobbys kommt es an

Und weitere Themen

52Gesundheit & Psyche! Placebos: Einsatz in der Klinik?

! Reizdarm: Die Kindheit ist unerheblich

! Charles Dickens: Anwalt der „Krüppel“

! Alkoholiker: Scham provoziert Rückfall

Und weitere Themen

82Buch & Kritik! Faulheit: Eine zeitgemäße Tugend

! Gesellschaft: Die Ära der Frauen

! Neurobiologie und Kunst: Ästhetik im Hirn

! Alte Liebe: Komm, roste mit mir!

Und weitere Bücher

Rubriken 6 Briefe 8 Themen & Trends19 Impressum52 Gesundheit & Psyche82 Buch & Kritik93 Cartoon94 Im nächsten Heft95 Markt

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20 Titel

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Titel 21

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Samstagabend, die Schwiegereltern sind zu Besuch. Carsten ist ein wenig angespannt, er hat die Eltern

seiner Frau seit der Hochzeit nicht mehr gesehen, und es fällt ihm noch schwer, sie zu duzen. Trotzdem verläuft das Abendessen einigermaßen harmonisch, bis der Schwiegervater eine mächtige Zigarre zu entzünden versucht. Carsten erstarrt, dann versucht er verzweifelt, Blickkontakt mit seiner Frau Birgit auf-zunehmen. Die neuen Gardinen, die neuen Möbel! Überhaupt ist das kleine Apartment eine Nichtraucherwohnung, und einen Balkon, auf den man den Schwiegervater hinausbitten könnte, gibt es nicht.

Carstens Erregung nähert sich einer Panik. Was soll er tun? Birgit weicht sei-nem Blick aus, sie ist keine Hilfe. Und die Schwiegermutter zieht zwar die Au-genbrauen hoch, scheint aber ihren Gat-ten gewähren zu lassen. Die erste große blaue Wolke füllt das Esszimmer, der Schwiegervater lehnt sich mit Behagen zurück. Ist das ein spöttischer Blick, mit dem er nun Carsten fixiert? Oder bildet er sich das nur ein? Er räuspert sich, steht

auf, murmelt, etwas aus der Küche holen zu wollen, und geht hinaus. Er steht ei-nige Minuten schwitzend in der Küche, als Birgit hereinkommt: „Was ist los mit dir, stört dich das Rauchen?“ „Das fragst du? Ich gehe jetzt rein und sag ihm, er soll sofort damit aufhören! Oder besser: Du sagst es ihm!“ Birgit wirft ihm einen „Das-glaubst-du-doch-selbst-nicht-Blick“ zu und geht wieder ins Wohn-zimmer.

Von all den Problemen und Konflik-ten, die uns im Leben begegnen können, scheint diese Situation noch relativ harmlos zu sein. Es gibt Schlimmeres als eine verqualmte Wohnung. Oder? Hier geht es um das Prinzip, dass in die-ser Wohnung nicht geraucht wird. Aber es geht auch um mehr: um die Langzeit-beziehung zu den Schwiegereltern, die hier und heute eine Wendung ins Dra-matische nehmen könnte. Und es geht um die Beziehung der beiden jungen Eheleute. Wie würde Birgit es aufneh-men, wenn dem Vater das Zigarren-schmauchen im Esszimmer verboten würde? Würde sie Partei ergreifen – und für wen?

Wenn es einen Interessenkonflikt gibt, wenn unsere Grenzen verletzt wer-den, wenn wir glauben, dass man uns nicht respektiert, nicht um Genehmi-gung fragt, uns ignoriert oder sonst wie ungebührlich behandelt, haben wir Handlungsalternativen. Im Prinzip las-sen sich diese in drei große Kategorien einordnen:

-ser Interesse offensiv verteidigen, indem wir den Grenzverletzer mehr oder we-niger aggressiv zur Rede stellen. (Carsten könnte demonstrativ das Fenster auf-reißen oder sagen: „Spinnst du? Du kannst uns doch hier die Bude nicht vollqualmen!“)

und uns unterwerfen, um des lieben Friedens willen, vielleicht auch aus Furcht vor dem Zorn des anderen, den wir zurechtweisen müssten. („Was glaubst du denn, wer du bist?“, hört Carsten schon den Schwiegervater grol-len.)

Problem auf dem Verhandlungswege und auf Augenhöhe zu lösen, indem wir

Auf Augenhöhe Wie können wir uns erfolgreich selbst behaupten? Nicht schweigen, wo man seine Meinung sagen müsste. Sich nicht alles gefallen lassen. Sich nicht kleinmachen, weil man den Ärger des Gegenübers fürchtet. Es nicht hinnehmen, wenn eigene Interessen verletzt werden. – Weil die Klügeren immer nachgeben, ist die Welt in einem eher schlechten Zustand. Es wird Zeit, sich zu wehren. Aber richtig! Wie können wir lernen, uns selbst zu behaupten?

! Axel Wolf

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30 Kommunikation

Arien singen, weinende Babys beruhigen, einer Rede den ent-scheidenden Nachdruck verlei-

hen – unsere Stimme vollbringt wun-derbare Dinge. Aber sie kann auch an-ders: zittern, sich überschlagen oder ganz wegbleiben. Bei Aufregung ent-zieht sie sich der Kontrolle und offenbart so den wahren Gefühlszustand. Das kennen alle, die sich schon einmal bei einer Prüfung oder in großer Wut mit

schriller, gepresster oder wackeliger Stimme sprechen hörten. Vor allem in solchen aufwühlenden Momenten wird plötzlich deutlich, dass die menschliche Stimme kein technisches Instrument ist, das unabhängig von der Psyche funkti-oniert. Wissenschaftler nähern sich dem Phänomen „Stimme“ von unter-schiedlichen Seiten. So versuchen sie herauszufinden, was sie über den Spre-cher verrät. Mehrere neuere Studien

zeigen, dass Zuhörer nur von der Stim-me eines Menschen auf Alter, Aussehen, Körpergewicht und sogar auf das Aus-maß der körperlichen Kraft schließen können. Sie beeinflusst zudem die At-traktivität und unterstützt bei der Part-nersuche. Selbst das Stadium des weib-lichen Monatszyklus lässt sich aus ihr heraushören: Männer finden den Klang einer weiblichen Stimme am attraktivs-ten, wenn die Frau sich gerade in ihrer

Die Stimme – der Schlüssel zur SeeleOb wir selbstbewusst sind oder ängstlich, niedergeschlagen oder glücklich – unsere Stimme verrät uns. Und nicht nur das: Sie gibt auch Auskunft über unsere Persönlichkeit und unseren Gesundheitszustand. Wissenschaftler arbeiten bereits an Techniken, um durch eine Stimmanalyse Depressionen und andere Erkrankungen frühzeitig erkennen zu können

! Eva Tenzer

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Kommunikation 31

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

fruchtbarsten Phase befindet, wie der Psychologe Gordon Gallup von der New York State University nachwies. Aus evo-lutionsbiologischer Sicht hat dies einen einfachen, aber wichtigen Sinn: mehr Nachwuchs.

Wir besitzen also feine Antennen für den Klang unserer Mitmenschen. Schon sieben Monate alte Babys nehmen Emo-tionen in der Stimme anderer Menschen wahr, unterscheiden den Klang einer freudigen oder ärgerlichen von einer neutralen Stimmlage. Im Laufe des Le-bens verfeinern wir diese Fähigkeit dann immer weiter. Je subtiler wir Botschaf-ten hinter dem Gesagten entziffern, um-so besser finden wir uns in unserer so-zialen Umwelt zurecht. „In der Evolu-tion war diese Sensibilität ein Anpas-sungsvorteil. Wer sein Gegenüber schnell und richtig beurteilen konnte, war besser in der Lage, Interaktionspart-

ner als potenzielle Gefahr oder Hilfe einzuschätzen“, erklärt Walter Sendl-meier, Professor für Kommunikations-wissenschaft an der TU Berlin.

Wie wir sprechen, ist zum großen Teil genetisch festgelegt: Länge und Dicke der Stimmbänder (Fachleute nennen sie Stimmlippen) sowie die Form des Vo-kaltrakts, also von Nase, Mund- und Rachenraum geben den Rahmen vor. Dazu kommen psychische und organi-sche Faktoren, auch Störungen wie In-fekte, Überbelastung oder psychische Erkrankungen. Und selbst Kultur und Zeitgeist gehen nicht spurlos an unserer Stimme vorbei, wie Aufnahmen aus den 1930er Jahren belegen: Damals waren der theatralische Kasernenstil für Män-ner und hohe Stimmchen für Frauen typisch. Heute sprechen Männer natür-licher und weicher, Frauen tiefer als da-mals. „In Japan dagegen hält sich die

hohe Frauenstimme weiterhin als Norm“, berichtet Sendlmeier. Nach zahlreichen Studien weiß er: „Aus Stimmklang und Sprechweise sind sogar Bildungsgrad, regionale wie soziale Her-kunft, gesundheitlicher und emotiona-ler Zustand herauszuhören.“ In einer aktuellen Untersuchung mit Vorstands-mitgliedern von DAX-Unternehmen fand er außerdem heraus, dass Füh-rungskräfte deutlich tiefer und mit mehr Pausen sprechen als vergleichbare Per-sonen ohne Führungsposition. Selbst der soziale Status schwingt also in der Stimme mit. All das ergibt eine so indi-viduelle, einzigartige Stimmlage, dass sie in der Kriminalistik sogar zur Iden-tifizierung von Tätern beitragen kann.

Doch Sendlmeiers Interesse geht noch weiter, er möchte auch herausfin-den, wie sich Charakterzüge akustisch offenbaren. Dafür ließ er in mehreren IL

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36 Philosophie

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Philosophie 37

Kierkegaards Diagnose seiner Zeit mutet aus heu-tiger Sicht merkwürdig modern an. Die Hektik, die Schnelllebigkeit, die er erkannte, hat sich

noch gesteigert; sie nimmt globale Ausmaße an und besetzt mit den virtuellen Welten zusätzliches Terrain, das so faszinierend anmutet wie die Hochglanzfotos in den Katalogen der Reiseveranstalter. All das, anschei-nend doch Leistungsbeweise für eine ungebremste Kre-ativität des Menschen, geht mit dem Verlust elementarer menschlicher Eigenschaften einher: der Fähigkeit, in-nezuhalten, ruhig zu werden, nachzudenken und zuzu-hören; der Fähigkeit auch, über das eigene Dasein zu staunen und dessen Rätselhaftigkeit anzunehmen. Wo solche Eigenschaften verlorenzugehen drohen oder schlicht nicht mehr gefragt sind, da trifft Kierkegaards Diktum vom herabgesetzten Kurswert des Menschen, ausgesprochen vor mehr als einhundertfünfzig Jahren, noch immer zu.

Der Mensch gleicht einer Kunstfigur, die dabei ist, sich an ihren eigenen Möglichkeiten zu überheben; sie kann vor Kraft kaum laufen, glaubt aber, mit mal dreister, mal rührender Treuherzigkeit, alles im Griff zu haben. Dass einst nach einer höheren Einlösung des irdischen Daseinsauftrags gesucht wurde, interessiert nicht mehr; der Himmel hat seine fliehenden Sterne und den Welt-raummüll, einen Ort für Gott aber, von dem sich man-che, trotz des einst ausgesprochenen Bilderverbots, noch immer ihr Bild machen wollen, hat er anscheinend nicht.

Kierkegaard hat die moderne Umtriebigkeit schon zu seiner Zeit verwirklicht gesehen; dass sie zum Prozess wurde, der mittlerweile naturgesetzlich mit den Men-schen umspringt, hätte ihn nicht überrascht. Allerdings vermag die Hektik inzwischen auch gegenteilige Ten-denzen zu erzeugen – den Wunsch nach Stille etwa, nach unvoreingenommener Selbstbefragung, nach einem Bedenken über Tag und An-lass hinaus.

Kierkegaard ersuchte un-entwegt um Ruhe; dafür nahm er sogar wohlmeinen-de Zwangsmaßnahmen in Kauf: „Das erste, was getan werden muss, und die unbe-dingte Voraussetzung dazu, dass überhaupt etwas getan werden kann, ist: Schaffe Schweigen, gebiete Schweigen! (…) Ach, alles lärmt, und wie heißes Getränk das Blut bekanntlich in Wallung bringt, so ist in unserer Zeit je-des einzelne, selbst das unbedeutendste Unternehmen und jede einzelne, selbst die nichtssagendste Mitteilung bloß darauf berechnet, die Sinne zu reizen oder die Mas-se, die Menge, das Publikum und den Lärm zu erregen!“

Den Verführungen der Lautstärke kann man kaum mehr entkommen, was sich auch in den Varianten des Wissens bemerkbar macht, die in Umlauf sind: Auch sie

„O, schaffet Schweigen!“Vor 200 Jahren wurde der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard geboren. Zeitlebens rang er um ein „wahres“ Christentum, und in seinen Schrif-ten zeigt er sich als Vorläufer der Existenzialphilosophie. Kierkegaard war ein scharfsinniger Selbst- und Gottsucher mit provokantem, paradoxem Stil – und ein scharfer Beobachter seiner Zeit

! Otto A. Böhmer

„Verlieren Sie vor allem nicht die Lust dazu zu gehen. Ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbe-finden an und entlaufe so jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen los würde. Bleibt man so am Gehen, so geht es schon.“

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Wer die Website öffnet, sieht zunächst viele bunte Sym-bole: rot oder gelb eingefärb-

te Körper, große gelbe Sterne, grüne Punkte und Bezeichnungen wie bad oder very good. Daneben tauchen Alter und Geschlecht, ein Benutzername, ei-ne Krankheitsbezeichnung und oft auch ein persönliches Foto auf. PatientsLike-Me nennt sich die Internetplattform – und sie ist nur eine von vielen in der ständig wachsenden Anzahl von Web-sites, auf denen User persönliche Daten über Gesundheit, psychisches Befinden und Körperfunktionen eingeben, deren Verlauf beobachten und miteinander vergleichen können. Der Trend, der et-wa 2008 in den USA begann, wird oft als quantified self oder auch als self-hacking bezeichnet – hier kann sich al-so jeder, der möchte, mit Leib und See-le selbst vermessen.

Die Möglichkeiten dabei sind vielfäl-tig: Auf einigen Websites füllen die Nut-zer immer wieder Tests und Fragebogen aus und lassen sich die Ergebnisse in Form von Grafiken und Tabellen anzei-gen. So kann man auf Seiten wie Mood-scope in regelmäßigen Abständen seine Stimmung bewerten und anschließend in Stimmungskurven darstellen lassen. Die Plattform Quantified Mind wiede-rum stellt eine Reihe kognitiver Tests

bereit und lädt dazu ein, selbständig kleine Experimente durchzuführen. So kann man etwa erkunden, ob die eige-nen Leistungen mit der Tageszeit, dem Kaffeekonsum, vorheriger Meditation oder Sex zusammenhängen.

Auf anderen Plattformen lassen sich neben subjektiven Daten auch körper-liche Messwerte hochladen und analy-sieren. Anwendungen wie Fitbit oder Zeo erfassen mit einem kleinen Gerät kör-perliche Aktivität, Kalorienverbrauch und die Erholsamkeit des Schlafes, beim Stresschecker misst ein Clip am Ohr die Herzratenvariabilität, was Hinweise auf die Stressbelastung geben soll. Und auf der Plattform Tictrac haben die User die Möglichkeit, gleich die verschiedensten Messdaten zusammenzuführen: subjek-tive Ratings, Protokolle zur körperlichen Aktivität, elektronisch erfasste Ge-

wichts- und Blutdruckwerte, aber auch die aktuellen sozialen Aktivitäten auf Facebook und die per Handy erfassten Aufenthaltsorte.

Viele dieser Anwendungen stammen aus den USA und sind bisher nur auf Englisch verfügbar – in Deutschland ist der Trend bisher noch wenig verbreitet. Doch das könnte sich ändern: Seit 2011 hat die Community Quantified Self auch einen Ableger in Deutschland. Bei die-ser Bewegung treffen sich die Teilneh-mer – Anwender, aber auch Software- und Geräteentwickler – in verschiede-nen Städten der Welt regelmäßig zu so-genannten „Meetups“, in denen sie sich über ihre Projekte und ihre Erfahrungen mit bestimmten Tools austauschen. Auf der Website werden diese Tools dann per Video präsentiert und die Erfahrun-gen damit in Blogs diskutiert.

46 Zeitgeist

Das vermessene SelbstDer neuste Trend heißt „Selbstvermessung“. Auf einer wachsenden Zahl von Websites geben die Nutzer Daten über ihre Gesundheit, ihre Körper funktionen, ihr psychisches Befinden ein. Dann lassen sie sich ihr Profil erstellen. Sie „hacken“ sich selbst. Was versprechen sie sich davon?

! Christine Amrhein

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Nutzerprofil auf der Website Patients LikeMe: Wann ging’s mir gut? Wann war ich gestresst?

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Zeitgeist 47

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Wer sich dort beteiligt, sollte sich be-wusst sein, dass viele der angepriesenen Geräte und Apps noch in der Entwick-lung sind. Deshalb sollte man sich vor dem Kauf informieren, wie zuverlässig ein Gerät wirklich misst, was es zu mes-sen vorgibt. So berichtet ein Tester eines neuentwickelten „Schlaftrackers“, dass ihm die Apparatur morgens wiederholt eine schlechte Schlafqualität bescheinig-te – er selbst fühlte sich jedoch fit und ausgeschlafen. In den USA, wo ständig neue Applikationen auf den Markt kom-men, hat die Food and Drug Adminis-tration bereits reagiert: Hier müssen alle Anwendungen, die als „Medizin-Apps“ eingestuft werden, vor ihrer Marktein-führung von der Behörde überprüft wer-den.

Was aber bewegt Menschen eigentlich dazu, sich selbst von A bis Z zu vermes-sen? „Unsere Teilnehmer nutzen Quan-tified Self aus ganz verschiedenen Grün-

den“, berichtet Ernesto Ramirez, der die weltweite „QS“-Community organi-siert. „Vielen geht es einfach darum, sich selbst besser zu verstehen und Zusam-menhänge zu erkennen.“ Für andere sind die Messungen ein Hilfsmittel, um Ziele zu erreichen und sich die Fort-schritte dabei auch grafisch vor Augen zu führen. So nutzen viele User Tictrac, um ihre Fitness zu steigern, effizienter abzunehmen oder ihre Schlafqualität zu verbessern. Für manche stehen der Aus-tausch mit Gleichgesinnten und der Ver-gleich von Messkurven im Vordergrund – und der ein oder andere hat vielleicht einfach nur Spaß an der Statistik.

Ob Selbstvermesser sich durch be-stimmte Persönlichkeitsmerkmale von anderen unterscheiden – zum Beispiel besonders zwanghaft oder hypochond-risch sind –, ist bisher noch nicht syste-matisch untersucht. Allerdings scheinen sie nicht mehr von sich selbst eingenom-

men zu sein als Menschen, denen ihre Messwerte weitgehend egal sind. Dies ergab eine kleine Untersuchung des Quantified Self-Mitgründers Gary Wolf, der 37 Selbstvermessern den Narziss-musfragebogen NPI-16 vorlegte: Die Werte unterschieden sich nicht von de-nen der Normalbevölkerung.

Auch die Behauptung mancher Skep-tiker, die Fans dieser Nabelschauen sei-en „Spinner“ oder „Besessene“, will Er-nesto Ramirez nicht bestätigen. „Dass jemand es völlig übertreibt und den gan-zen Tag nur noch Daten über sich selbst sammelt, habe ich bisher noch nicht er-lebt“, sagt der Amerikaner. Einige selt-same Auswüchse hat der Selbstvermes-sungsaustausch allerdings schon. So berichten Teilnehmer, dass sie besser schlafen, wenn sie abends acht Minuten auf einem Bein stehen. Andere glauben herausgefunden zu haben, dass Butter ihre Hirnaktivität erhöht.

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60 Koabhängigkeit

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Koabhängigkeit 61

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

Katrin bereitet es schlaflose Näch-te, sich an die Jahre vor 2009 zu erinnern. An die Zeit, als ihr

Ehemann Thomas schon mit Alkohol-fahne von der Arbeit kam. Tage, an de-nen Katrin ihn schnellstmöglich ins Haus lotste, damit die Nachbarn nicht sahen, dass er betrunken war. Als sie begann, die leeren Plastikpfandflaschen im Haushalt noch einmal zu öffnen, um zu riechen, ob ihr Mann zuvor Alkohol darin abgefüllt hatte. Diese Zeit, als er ihren Hochzeitstag, den Geburtstag sei-ner Kinder oder seiner Frau, aber auch Weihnachten allein mit einer Flasche Schnaps vorfeierte und Katrins Freude auf die Feste mit ertränkte. All die Jah-re, in denen sie ihren Kindern, ihren Eltern und Freunden vorspielte, dass zu Hause alles in Ordnung sei – und doch oft allein in einem kleinen Zimmer saß und weinte.

Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland sind süchtig. Doch die Zahl der Leidtragenden ist deutlich höher. Denn egal ob Menschen dem Alkohol, Cannabis oder Kokain verfallen: Die

Sucht hinterlässt nicht nur Spuren an ihnen, sondern auch an ihren Angehö-rigen. Deren Leid wird meist nicht ge-sehen. Experten schätzen die Zahl der Menschen, die engen Kontakt zu einem Abhängigen in der Familie haben, auf fünf bis acht Millionen. Darunter sind Frauen, die für ihren Partner lügen. Eltern, die ihren Alltag nach dem Kon-sum des jugendlichen Kindes richten oder Kinder, die Pflichten und Aufgaben der abhängigen Eltern übernehmen. Ihr eigenes Leben befördern sie nach und nach aufs Abstellgleis. Depressionen, körperliche Beschwerden oder eigenes Suchtverhalten können die Folge sein. Experten sprechen dann von Koabhän-gigkeit. Was man darunter genau zu verstehen hat, darüber streiten sie seit Jahrzehnten.

Erstmals tauchte der Begriff Koab-hängigkeit in den USA der achtziger Jah-re auf. Damals wandten sich einzelne Partnerinnen von Alkoholikern mit ih-rem Leid an die Öffentlichkeit. Nicht selten sprachen sie sich dabei selbst eine Schuld an der Erkrankung ihres Part-

ners zu. Sie kauften immerhin das Bier oder den Schnaps – um den Konsum zu kontrollieren. Sie meldeten ihren Mann beim Chef in der Firma krank, wenn er mit Kater im Bett lag. Sie spielten Freun-den und Verwandten die heile Welt vor und das Problem des Partners herunter. Ihre Berichte sorgten für Aufruhr. Schnell galten Angehörige als Verursa-cher oder Komplizen der Sucht – nicht als deren Leidtragende. Auch Katrin hat sich nach dieser Definition koabhängig verhalten: Weil ihre Stimmung von dem Trinkverhalten ihres Mannes abhing. Weil sie versuchte, seine Sucht zu kon-trollieren und doch viele Jahre keine Konsequenzen aus den vielen Enttäu-schungen zog. Weil das Problem ihres Mannes zu ihrem Problem wurde.

Doch was bedeutet das: koabhängig? Umschreibt dieser Begriff eine Erkran-kung, welche Symptome gehören dann dazu? Wen betrifft es, und bedeutet es, dass Angehörige die Sucht ihres Part-ners, Kindes oder Elternteils fördern? Seit etwa 25 Jahren schwirrt die Wort-konstruktion nun durch die deutsche

Komplizen der Sucht?Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland sind süchtig – nach Alkohol, nach Tabletten, nach Cannabis oder Kokain. Die Sucht hinterlässt Spuren bei ihnen, aber auch bei ihren Angehörigen. Sie sind mitbetroffen, in manchen Fällen sogar koabhängig, wie Experten meinen. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Wird er den Betroffenen gerecht?

! Jana Hauschild

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66 Was macht eigentlich …

„Gehen Sie doch mal in eine Erziehungsberatungsstelle …“Überforderte Mütter, Eltern in Trennungskonflikten, Großeltern mit Sorgen um die Enkel – das Klientel einer Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche ist bunt gemischt. Entsprechend breit ist auch das Beratungsangebot, wie die Diplompsychologin Imke Anne Hirdes, Leiterin einer Beratungsstelle in Hamburg, erzählt

PSYCHOLOGIE HEUTE Sie leiten die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern in Hamburg-Wilhelmsburg. Wer kommt zu Ihnen in die Beratungs-stelle, und welche Anliegen haben die Menschen?IMKE ANNE HIRDES Zu uns kommt die sozialschwache Familie mit vielen Kindern und einem Berg an Problemen – aber es kommen auch einzelne Frau-en und Männer, die in einer Krise ste-cken. Wir helfen auch mal Großeltern in schwierigen Lebenssituationen und Paaren, die Meinungsverschiedenheiten in der Erziehung haben oder nach einem Seitensprung in einer Vertrauenskrise stecken. Häufig kommen Eltern mit Trennungs- oder Scheidungsproblemen zu uns, die sich beraten lassen, wie das Umgangsrecht der Kinder gütlich gere-gelt werden kann. Und hier suchen Ju-gendliche Unterstützung, die Konflikte mit den Eltern haben oder Hilfe bei Schulproblemen benötigen, oft geht es um schlechte Noten oder Mobbing. Auch Mütter mit Erziehungsschwierig-keiten suchen bei uns Rat.

PH Was bieten Sie den Menschen an?HIRDES Der Schwerpunkt liegt auf der lösungsorientierten Beratung, wir bie-ten aber auch Kriseninterventionen an und haben sogar einige Kurzzeitthera-pieplätze. Die Übergänge zwischen Be-ratung und Therapie sind bei uns nicht strikt getrennt, sondern fließend. Auch wenn wir offiziell den Titel „Erziehungs-beratungsstelle“ tragen, geht der Radius unserer Beratung über pädagogische Probleme weit hinaus. Für alle ist diese Beratung kostenlos. PH Mit welchen Problemen kommen beispielsweise Mütter zu Ihnen?HI RDES Manche, gerade sehr junge Mütter, sind einfach nur unsicher in Er-ziehungsfragen. Bei ihnen reicht oft schon ein einziger Beratungstermin. Sie schildern, wie sie mit ihrem Kind um-gehen, holen sich eine Bestätigung von uns, dass ihr Verhalten im Großen und Ganzen in Ordnung ist, und gehen dann ganz erleichtert hier raus. Bei anderen steigen wir tiefer ein. Es kommt häufig vor, dass Mütter auf Anraten des Kita-personals zu uns kommen. Dort hat man

Imke Anne Hirdes schloss ihr Psychologiestudium 1997 in Saarbrücken ab. Sie absolvierte eine Zusatz-ausbildung in systemischer Therapie (am Helm-Stierlin-Institut Heidelberg und am Institut für sys-temische Studien in Hamburg) und arbeitete von 2004 bis 2006 in eigener Praxis in Buxtehude bei Hamburg, in der sie psychologische Beratung und Karrierecoaching anbot. Seit 2009 ist die Diplom-psychologin Leiterin der staatlichen Erziehungsbe-ratungsstelle Hamburg-Wilhelmsburg.

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... eine Psychologin an einer Beratungsstelle? 67

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

sie gebeten: Gehen Sie doch mal in eine Erziehungsberatungsstelle, Ihr Kind ist so auffällig, es hält sich nicht an die Re-geln. Frauen kommen vor allem dann zu uns, wenn sie das Problem mit dem Kind zu Hause auch haben. Die Schwie-rigkeit besteht beispielsweise darin, dass das Kind ausrastet, sobald die Mutter versucht, ihm Grenzen zu setzen. Die Frage an uns lautet dann: Was kann ich jetzt tun?

PH Und wie beraten Sie eine Mutter, deren Kind keine Grenzen akzeptiert?HIRDES Grundsätzlich gehe ich von der systemischen Sichtweise aus. Für meine Haltung in der Beratung bedeu-tet das: Ich suche den Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung eines Pro-blems nicht allein bei dem Kind, das sich nicht an Regeln hält, sondern auch in seinem Umfeld. Die konkrete Bera-tungsarbeit mit der Mutter beginnt mit

einer gründlichen Klärung der Situati-on: Worin besteht das Problem genau? Wie lange besteht es schon? In welchen Situationen tritt es auf? Was dann folgt, könnte eine klassische Erziehungsbera-tung sein. Das würde bedeuten, wir gu-cken: Wie verhält sich die Mutter genau, wenn das Kind wütend wird und nicht auf sie hört – und was könnte sie statt-dessen tun?PH Wie muss man sich so eine klassi-sche Erziehungsberatung vorstellen? HIRDES Viele Mütter sprechen heut-zutage sehr viel mit ihren Kindern. Das ist grundsätzlich auch gut. Wenn es aber darum geht, eine Grenze zu setzen, sind kurze, klare Anweisungen gefragt. Und diese sollen auch nicht zehnmal wieder-holt oder erklärt werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn das Kind mit Spiel-zeug im Zimmer herumschmeißt und die Mutter möchte das nicht, dann soll-te sie dem Kind sagen: „Du sollst mit dem Spielzeug nicht werfen.“ Wenn es nicht auf sie hört, soll die Mutter es ma-ximal noch einmal wiederholen – dann muss sie handeln. Beispielsweise indem sie dem Kind das Spielzeug wegnimmt, mit den erklärenden Worten: „Ich habe dir ja gesagt, du sollst das Spielzeug nicht werfen. Ich nehme es dir jetzt weg und gebe es dir in ein paar Minuten wieder. Dann gucken wir noch einmal, ob du dich daran hältst.“ Ganz wichtig ist da-bei, dass die Konsequenzen in einem logischen Zusammenhang mit dem Fehlverhalten stehen.PH Unlogisch wäre: „Wenn du nicht aufhörst, mit dem Spielzeug zu werfen, kriegst du morgen kein Eis“?HIRDES Ja, beispielsweise. Ein Klassi-ker ist immer das Fernsehverbot. Das ist aber schnell ausgereizt und für Kin-der als Zusammenhang nicht wirklich verständlich, darum funktioniert es ir-gendwann nicht mehr. Methodisch ge-he ich bei so einer Beratung mit der Mut-ter oft noch eine Ebene tiefer. Denn die Erfahrung zeigt: Mütter können ihr Ver-halten gegenüber dem Kind leichter än-dern, wenn sie erst einmal verstehen, aus welchen guten Gründen sie so han-

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Der gute PsychopathSie sind rücksichtslos, charmant und maßlos von sich überzeugt. Sie treffen aber auch Entscheidungen, vor denen andere sich drücken, bringen neue Ideen ein und werben dafür. Menschen mit psychopathischen Zügen sind oft erfolgreich in dem, was sie tun. Wir können uns einiges von ihnen abschauen, meint der briti-sche Psychologe Kevin Dutton

! Johannes Künzel ILLU

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PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

Psychopathen haben nicht den bes-ten Ruf. Das liegt daran, dass einige ihrer bekanntesten Vertre-

ter Serienmörder sind. Ted Bundy zum Beispiel. Der Amerikaner ermordete mindestens 28 Frauen und Mädchen, wahrscheinlich mehr. Bundy war der typische Psychopath: charmant, selbst-sicher – und kalt wie ein Fisch. Selbst als die Polizei ihn fasste, gab er sich läs-sig und hatte auf jede Frage eine passen-de Antwort. Mitleid mit seinen Opfern ließ er jedoch vermissen.

Für Fachleute ist mangelnde Empa-thiefähigkeit das Kernsymptom psycho-pathischer Persönlichkeiten. Ein typi-scher Psychopath überschätzt sich zu-dem maßlos, er hält sich für grandios. Seine Bedürfnisse befriedigt er lieber jetzt als später. Wenn es ihm nützt, setzt er seinen Charme ein, um andere Men-schen für seine Interessen auszunutzen. Regeln und Gesetze gelten für ihn nicht. Übertritt er sie, zeigt er keine Reue.

Psychopathen gelten als der Inbegriff des gewissenlosen Scheusals: mensch-liche Monster. Doch dieses Bild ist zu einseitig, findet der britische Psycholo-ge Kevin Dutton. Psychopathische Se-rienmörder wie Bundy stehen für ihn am Ende eines breiten Spektrums der Psychopathie. Mildere Ausprägungen können dagegen oft gesellschaftlich ak-zeptabel und nützlich sein, meint Dut-ton. Zum Beispiel Empathiemangel: Wer nicht ständig Rücksicht auf die Gefüh-le anderer nimmt, ist freier in seinen Entscheidungen. Zum Beispiel man-gelnder Bedürfnisaufschub: Wer ständig auf der Suche nach Belohnungen ist, bleibt aktiv, entwickelt neue Ideen – und bringt diese Geistesblitze dann auch ein, schließlich ist er von sich überzeugt.

In einigen Berufen können mild-psy-chopathische Eigenschaften den Weg zum Erfolg ebnen. Ein gemäßigter Psy-

chopath landet vielleicht nicht im Ge-fängnis, sondern wird zu einem aner-kannten Mitglied der Gesellschaft, etwa als Börsenmakler, Unternehmer, Chir-urg oder Anwalt. Dutton ist überzeugt: Wir alle können von Psychopathen ler-nen.

In seinem Buch Psychopathen. Was man von Heiligen, Anwälten und Seri-enmördern lernen kann zeichnet Dutton ein vielschichtiges Bild. Es geht ihm nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um die Grautöne der Psychopa thie. Da-mit widerspricht er vereinfachenden, kli-scheehaften Darstellungen, von denen es einige gibt. Beispielsweise hieß es vor einigen Monaten im Spiegel (48/2012), Psychopathie sei „die schlimmst mög-liche Persönlichkeitsstörung“. Richtiger wäre die Aussage: Psychopathische Zü-ge müssen überhaupt keine Störung darstellen. Die Betroffenen haben oft keinen Leidensdruck. Und auch für ih-re Mitmenschen sind sie nicht zwangs-läufig gefährlich.

Dutton kann mit der klinischen De-finition von Psychopathie wenig anfan-gen. Als Katechismus für die Diagnose psychischer Störungen gilt das Diag-nostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM. In der gerade noch aktuellen vierten Auflage (das DSM-5 soll im Mai 2013 erscheinen) werden die Begriffe Psychopathie und antisoziale Persönlichkeitsstörung gleichbedeutend verwendet. Menschen, auf die diese Di-agnose zutrifft, zeichnen sich demnach durch ein „tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rech-te anderer“ aus.

Das DSM konzentriert sich bei seiner Definition auf sichtbare Handlungen. Damit Psychiater und Psychologen die Diagnose einer antisozialen Persönlich-keitsstörung stellen können, müssen sie drei von sieben typischen Verhaltens-

weisen beobachten. Ein Mensch, auf den alle Eigenschaften zutreffen, hat häufi-ge Konflikte mit Gesetzen und Normen. Er täuscht und manipuliert andere Men-schen gewohnheitsmäßig. Sein impul-sives, reizbares und aggressives Verhal-ten bringt ihm ebenso Schwierigkeiten ein wie sein fehlendes Gespür für Risi-ken und seine Verantwortungslosigkeit. Gewissensbisse und Reue rufen die ei-genen Handlungen nicht hervor.

Nicht nur Kevin Dutton findet, dass diese Beschreibung zwar ihre Berechti-gung hat, aber letztlich nicht genau das umfasst, was Wissenschaftler heute un-ter dem Begriff Psychopathie verstehen. Auch ein heißblütiger Hooligan ist im-pulsiv, aggressiv und hat häufig Proble-me mit dem Gesetz. Doch in seiner auf-brausenden Art ist er eigentlich das glat-te Gegenteil des Psychopathen, dessen herausragendes Merkmal für Dutton die emotionale Frostigkeit ist. Nicht jeder, der sich „antisozial“ verhält, ist ein Psy-chopath. Die Forscher Stéphane De Bri-to und Sheilagh Hodgins argumen-tieren, Psychopathie und antisoziale Persönlichkeitsstörung seien zwei un-terschiedliche Kategorien. Andere Wis-senschaftler gehen davon aus, dass Psy-chopathie einen Teilbereich der antiso-zialen Persönlichkeitsstörung darstellt.

Diese anderen Forscher berufen sich vor allem auf Arbeiten des kanadischen Kriminalpsychologen Robert Hare. Hare entwickelte die Psychopathy Check-list Revised (PCL-R). Die Liste umfasst 20 Merkmale, die sich in vier Faktoren zusammenfassen lassen. Psychopathie zeigt sich demnach auf einer zwischen-menschlichen Ebene, anhand eines we-nig ausgeprägten Gefühlslebens, durch einen verantwortungslosen, ziellosen Lebensstil sowie durch Verstöße gegen Regeln und Normen. Die PCL-R hat zwei große Vorteile: Sie erfasst erstens nicht IL

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76 Literatur und Psyche

„Ich will den Lesern zeigen, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein sind“Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic schreibt über menschliche Abgründe – und seine eigenen Ängste. Das aber tut er mit so viel Fantasie und Irrwitz, dass beim Leser eine erlösende Distanz entsteht

Wenn Thomas Glavinic sich zu Besprechungen und In-terviews trifft, bittet er in

sein ausgelagertes Wohnzimmer, das Café Amacord am Wiener Naschmarkt. Dort ist der Schriftsteller Stammgast. Er f lachst kurz mit dem Kellner und wählt dann zielsicher den ruhigsten Platz für ein Gespräch. Sogar ein Teil seines Romans Das bin doch ich, in dem es um einen neurotischen Schriftsteller geht, spielt in diesem Café. „Trotzdem ist der Roman natürlich reine Fiktion“, sagt der 40-Jährige und grinst ver-schmitzt. Denn der Autor liebt es, seine Leser zu verwirren, ihnen Ungereimt-heiten, Zwiespälte und Traumwelten zuzumuten. In seinen sehr unterschied-lichen Romanen kommen sprachge-wandte Mörder zu Wort, stellt sich ein letzter Mensch einer leeren Welt oder versucht ein Hypochonder seinen Alltag im Kulturbetrieb auf die Reihe zu be-kommen. Dabei findet und erfindet Glavinic für jeden Roman einen eigenen Sound, einen Sprachduktus, der zum jeweiligen Projekt passt. Einen gemein-

samen Nenner haben seine Romane dennoch. Sie beschäftigen sich auf sehr differenzierte Weise mit menschlichen Ängsten und Schattenseiten. Auch wäh-rend des Interviews blitzt sein unbe-dingtes Interesse an existenziellen The-men immer wieder auf. Sobald es um Angst, Tod oder menschliche Obsessi-onen geht, hakt der Autor nach, will wissen, was man in der Psychologie und Psychotherapie zu diesen Themen denkt, und interessiert sich für den Stand der Forschung. Zwischendurch schildert er immer wieder mit großer Offenheit persönliche Gefühle von Angst und Beklemmung.

P SYC HOLOG I E HEU TE Viele Ihrer Romane haben eine düstere Atmosphä-re. Liegt das an den Themen, oder er-zeugen Sie auch durch einen bestimm-ten Stil Angst und Unbehagen? THOMAS GL AVINIC Die dunkle At-mosphäre ist natürlich die Basis. In mei-nem Roman Die Arbeit der Nacht findet sich der Protagonist Jonas zum Beispiel allein auf der Welt wieder. Die meisten FO

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Szenen spielen nachts, in verlassenen Räumen, im ausgestorbenen Wien. Die-se Beklemmung wird aber noch gestei-gert, indem ich sprachlich Verwirrung erzeuge. So taucht das Wort „Werkstoff“ bestimmt 20-mal im Text auf, obwohl man gar nicht weiß, was das ist. Oder es gibt eine Wohnung, in der immer wieder Licht brennt, obwohl das eigentlich gar nicht sein kann. Selbst wenn der Leser das nicht voll bewusst mitbekommt, un-bewusst bleibt eine Unsicherheit. Wenn der Leser alle paar Seiten solche Irrita-tionen erlebt, wird er immer ängstlicher.PH Jonas hat zum Teil ziemlich surre-ale Albträume. Dienen diese auch dazu, den Leser zu verwirren?GL AVINIC Eigentlich mag ich Träume in Büchern nicht besonders, weil sie die Handlung nicht vorantreiben und weil ich sie oft langweilig finde. Aber hier wollte ich tatsächlich Spannung erzeu-gen, indem ich eine Traumebene einge-zogen habe. Und Jonas träumt ja wirk-lich fürchterliches Zeug. Da werden bei-spielsweise die Zähne eines Menschen zu Zigarettenstummeln, das finde ich selbst ein sehr schockierendes Bild.PH Denken Sie sich solche Träume beim Schreiben aus, oder greifen Sie auf eigene Trauminhalte zurück?GL AVINIC Besonders in Die Arbeit der Nacht habe ich keine nächtlichen Träu-me, sondern eher Wachfantasien ver-wendet. In dem Bewusstseinszustand solcher Tagträume befinde ich mich recht häufig. Ich sitze irgendwo, und plötzlich kommen mir Fantasien in den Kopf. Ob es jetzt Zigarettenstummel-Zähne sind oder drei Meter hohe, tan-zende Riesen, ich sehe diese Dinge wirk-lich, für mich ist das Gegenwart. Und natürlich verwende ich diese Bilder dann auch in meinen Romanen.PH Klingt ungewöhnlich. Wie stehen Sie zu dieser Fantasieebene? Halten Sie sich dort bewusst auf, um Ideen zu pro-duzieren?GL AVINIC Nein, ich habe diese Art Vi-sionen einfach. Und zwar schon immer. Es hat eine Weile gedauert, bis ich be-griffen habe, dass das nicht bei allen

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

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PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2013

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Im nächsten Heft

D I E J U N I A U S G A B E V O N P S YC H O L O G I E H E U T EE R S C H E I N T A M 8 . M A I

T I T E L T H E M AYoga – Kraftquelle für Körper und Seele Yoga tut gut. Es bringt Entspannung, verbessert die Stimmung und fördert die Konzentration. Zudem scheint es zur Behandlung psychischer Störungen wie Depressionen und ADHS hilfreich zu sein. Doch Experten warnen auch vor Gefahren.

Die jungen AltenDie Aussichten fürs Älterwerden schei-nen rosig: Gesund und fit, frei von den Zwängen der Arbeitswelt, können Menschen heute den großen Rest ihres Lebens genießen. Aber stimmt dieses optimistische Bild mit der Realität über-ein? Wie werden wir heute wirklich alt?

Der kluge KonsumentWir haben ein eigentümliches Verhältnis zum Konsum: Einerseits wollen wir vie-les kaufen und haben, andererseits plagt uns dann das schlechte Gewissen. Gibt es überhaupt so etwas wie „nachhaltiges Konsumieren“? Der Medientheoretiker und Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich glaubt an die Überwindung des Massenkonsums und sieht der „Zukunft des Habenwollens“ gelassen entgegen.

Außerdem:! Was kann man gegen

Kinderängste tun?! Wie unser Verhalten das

Immunsystem steuert! Klarträume: Träum doch,

was du willst!

Und tschüss!Zur Psychologie des BeendensEine gescheiterte Beziehung, an der man doch festhält. Ein Job, der nur noch anödet. Eine Freundschaft, die sauer geworden ist. Manchmal wäre es besser, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber es fällt oft schwer, loszulassen und mit einem Ende zurechtzukommen. Man fürchtet, lange an einem Bruch zu leiden. Wie lässt sich ein Finale so gestalten, dass der emotionale Schaden gering bleibt – und man die neue Freiheit genießen kann?