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Psychopathologie

- ein gestalttherapeutischer Ansatz1

von Gianni Francesetti, Michela Gecele und Jan Roubal

Diskurs

In der Gestalttherapie geht man von einem Kontinuum von gesun-dem und so genanntem pathologischen Erleben aus, in dem es kei-ne klaren Abgrenzungen gibt. Ausgehend von dieser Überzeugungwurden alle Versuche der diagnostischen Kategorisierung und Noso-logie immer mit Vorsicht behandelt (Perls, Hefferline und Goodman,1994).

Das Beziehungs-Leiden an der KontaktgrenzeDas Beziehungs-Leiden an der KontaktgrenzeDas Beziehungs-Leiden an der KontaktgrenzeDas Beziehungs-Leiden an der KontaktgrenzeDas Beziehungs-Leiden an der Kontaktgrenze

Der Wert, der dem momentanen Erleben und dem Poten-tial jeder Situation zugedacht wird, untermauert die Legitimi-tät und den Wert aller gelebten Erfahrungen. Es ist genaudieser Wert, der die Kristallisation von Menschen und ihrenErfahrungen in fixierte Gestalten verhindert. Dies sind dieersten Erwägungen, die auftauchen, wenn wir die Frage„Wie können wir Psychopathologie mittels Gestalttherapiebehandeln?“ reflektieren. Und wie können wir das bewerk-stelligen, ohne auf Kategorien zurückzugreifen, die Erfah-rungen und PatientInnen kristallisieren?

Etymologisch betrachtet setzt sich das Wort „Psychopatho-logie“ aus drei Wortstämmen zusammen: „psycho-“, „pa-tho-“ und „-logos“.

Psyche bedeutet im Griechischen Seele und stammt von„psychein“, atmen ab. Patho, vom Griechischen pathos, be-deutet Leidenschaft oder Leiden und kommt von paschein(indoeurop.), erleiden. Logos heißt im Griechischen Dis-kurs (Cortelazzo und Zolli, 1983). Psychopathologie ist alsodie Lehre vom Leiden des Atems, von etwas schwer Fass-barem, das nicht auf eine stabile Objekt-Form beschränktwerden kann.

Es ist das Leiden des belebenden Atems, das Leiden deslebendigen1 Leibes, nicht das des Körpers2. Alle Lebewe-sen sind lebendig, eben weil sie intentionalen Kontakt mitihrer Umwelt haben (Minkowski, 1999). Psychopathologi-sche Phänomene betreffen Subjekte, wenn sie mit ihrerUmwelt interagieren, genauer gesagt die Interaktion vonSubjekten mit der Umwelt. An diesem Punkt kommen wirzu einer grundlegenden Entscheidung: Wir können diePsychopathologie entweder als Leiden des Individuumsoder als Leiden des Feldes betrachten. Dieses Leiden ma-nifestiert sich im Individuum und kann vom Individuumtransformiert werden: Das Individuum ist ein Organ, daseine Auswahl im Feld trifft (Philippson, 2009). Die Verände-

rung dieses Fokus eröffnet zwei sehr unterschiedlicheUniversen und zwei grundlegend unterschiedliche Ansät-ze zu psychologischen Leiden.

Diese beiden Perspektiven bezüglich der Realität despsychischen Leidens sind vergleichbar mit den zwei Pers-pektiven, durch die wir das Licht in der Physik verstehen:Ist es eine Welle oder ein Partikel? Wir gestalten unsereRealität durch unsere Betrachtung der Welt. Bei psychopa-thologischen Phänomenen ist es ähnlich. Psychopatholo-gie kann als Phänomen betrachtet werden, das zum Indi-viduum gehört oder als ein Phänomen, das aus dem Feldhervortritt und zur Zwischenheit gehört, um Buber zu zi-tieren (Buber, 1993; Salonia, 2001a; Spagnuolo Lobb,2001a, 2005a; Francesetti, 2008). In der Sprache der Ge-stalttherapie ist es ein Phänomen, das an der Kontakt-grenze4 passiert.

Unsere Epistemologie basiert auf der Annahme, dass Er-fahrung weder rein zum Organismus, noch rein zur Um-welt gehört (Perls, Hefferline und Goodman, 1994; Spag-nuolo Lobb, 2001b, S. 86; 2003b, 2005a). Vielmehr ent-steht Erfahrung als „mittlerer Modus“ an der Kontaktgren-ze. Die Erfahrungs-Gestalt die aus dem Kontext des Grun-des (der dem Erfahrungskontinuum zugrunde liegt) her-vortritt, ist eine Gestalt, die zum Individuum gehört (zumBeispiel haben in einer Diskussionsgruppe keine zweiMenschen dieselbe Erfahrungs-Gestalt). Zur selben Zeitjedoch gehört sie nicht zum Individuum (zurück zu unse-rem Beispiel mit der Diskussionsgruppe: die Gestalt jedesMenschen gehört auch zu den Anderen, da sie von unddurch die Anderen hervortritt und ihre Form annimmt)(Robine, 2011). Um auf die Psychopathologie zurückzu-kommen: wenn wir der Ansicht sind, dass solche Phäno-mene an der Kontaktgrenze hervortreten, dann ist es ge-nau genommen nicht das Subjekt, das leidet. Es leidet dieBeziehung zwischen dem Subjekt und der Welt: derRaum, den der Organismus erfährt und in dem der Orga-nismus belebt wird. Aus dieser Perspektive ist die Psy-chopathologie die Pathologie der Beziehung, der Kontakt-

1 Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags EHP undder Autoren, Übersetzung Anna Jell. Der Aufsatz erscheint in derdeutschsprachigen Ausgabe des Buches Francesetti, G. / Gecele,M. / Roubal, J. (Hrsg.): Gestalttherapie in der Klinischen Praxis.Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts, 2014 (bis-heriger Arbeitstitel, der Titel und das Erscheinungsdatum standenbei Drucklegung noch nicht fest.)2 In diesem Text verwenden wir nicht das Nomen Seele, sondernflektierte und adjektivierte Formen des Verbs beleben, um uns aufLebewesen in ihrem lebendigen Zustand – und daher also inter-essiert an lebendiger Interaktion mit ihrer Umwelt – zu beziehen.3 Bezüglich der Unterscheidung von Leib und Körper in derPsychopathologie siehe Galimberti (1991)

4 Der vielgebrauchte Ausdruck „Grenze“ ist etwas irreführend, daer impliziert, dass es ein Patienten-Land und ein Therapeuten-Land gebe, die von einer Grenze getrennt würden – der Kontakt-grenze. Dies ist ein strukturelles und statisches Modell. Der Fokusder Gestalttherapie liegt auf dem Prozess und würde mithilfeeiner anderen Metapher besser dargestellt werden. Stellen Sie sichdie therapeutische Beziehung als Fußball-Match vor (ein freund-schaftliches hoffentlich). Der Ball repräsentiert die Kontaktgrenze.Er wechselt andauernd seine Position und liegt für beide Parteienimmer im Fokus. An diesem Punkt findet in jedem Moment derKontakt der beiden Teams statt. Stellen Sie sich die Kamera-fahrten während des Matchs vor – alles, was in der direktenUmgebung des Balls passiert, rückt in den Vordergrund und wirdzu einer klaren Gestalt, alles andere bleibt für den Moment imHintergrund. Die Kontaktgrenze ist so beweglich wie der Ball imSpiel und die Kamera fokussiert sich auf die Prozesse, die an derKontaktgrenze ablaufen, sie werden zur Gestalt. Jeder Vergleichhinkt natürlich ein wenig. Das Ziel der therapeutischen Beziehungliegt nicht im Erzielen eines Tors, sondern in dem fließendenKontakt-Prozess und der Bewusstheit der Prozesse, die an derKontaktgrenze ablaufen.