Zwischen Mensch und Maschine - · PDF filebei Emanuele Severino und Umberto Galimberti, die in...

22
edition unseld 29 Zwischen Mensch und Maschine Vom Glück und Unglück des Homo faber Bearbeitet von Oliver Müller Originalausgabe 2010. Taschenbuch. 215 S. Paperback ISBN 978 3 518 26029 6 Format (B x L): 10,9 x 17,6 cm Gewicht: 141 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Angewandte Ethik & Soziale Verantwortung schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Transcript of Zwischen Mensch und Maschine - · PDF filebei Emanuele Severino und Umberto Galimberti, die in...

edition unseld 29

Zwischen Mensch und Maschine

Vom Glück und Unglück des Homo faber

Bearbeitet vonOliver Müller

Originalausgabe 2010. Taschenbuch. 215 S. PaperbackISBN 978 3 518 26029 6

Format (B x L): 10,9 x 17,6 cmGewicht: 141 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Angewandte Ethik & Soziale Verantwortung

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

Leseprobe

Müller, Oliver

Zwischen Mensch und Maschine

Vom Glück und Unglück des Homo faber

© Suhrkamp Verlag

edition unseld 29

978-3-518-26029-6

Suhrkamp Verlag

edition unseld 29

Mit seiner Technik formt der Mensch schon längst nicht mehr nur die äu-ßere Natur, sondern auch sich selbst. Neben der biotechnologischen Mani-pulation des Genoms sind es zunehmend Neurotechnologien, mit denen wirunser eigenes Selbst verändern und gestalten. Mit dem therapeutischen Er-folg dieser Technologien stehen neurotechnologische Umbaumaßnahmenvon Körper und Geist am Horizont, die auf die »Optimierung« des Men-schen angelegt sind. Am Beispiel neuester technischer Zugriffsmöglichkei-ten auf das menschliche Gehirn geht Oliver Müller in seinem Essay der Fragenach, welche Auswirkungen Technisierungsprozesse auf unser Selbstsein undunser Selbstverständnis haben und haben könnten. Im Zentrum der Über-legungen stehen Formen der Selbstinstrumentalisierung, der Selbstverding-lichung und der »Selbstcyborgisierung«, die in der technisch verändertenWahrnehmung der eigenen Person und in der Anpassung an die Perfektiontechnischer Prozesse liegen. Die Chiffre des Homo faber erfaßt das Unglück,das im Fortschrittsglück des Immer-besser-Werdens liegt.

Oliver Müller, geboren 1972, Philosoph, Autor und Dramaturg, leitet am In-stitut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg eineNachwuchsforschergruppe zu den philosophisch-anthropologischen Grund-lagen der biomedizinischen Ethik. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungengehört der von ihm mitherausgegebene Sammelband Das technisierte Gehirn.Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie (2009).

Zwischen Menschund MaschineVom Glück und Unglückdes Homo faber

Oliver Müller

Suhrkamp

Die edition unseld wird unterstützt durch eine Partnerschaftmit dem Nachrichtenportal Spiegel Online. www.spiegel.de

edition unseld 29Erste Auflage 2010© Suhrkamp Verlag Berlin 2010OriginalausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlaggestaltung: Nina Vöge und Alexander StublicPrinted in GermanyISBN 978-3-518-26029-6

1 2 3 4 5 6 – 15 14 13 12 11 10

Zwischen Mensch und Maschine

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1 Formen der Technisierung des Gehirns . . . . . . . . . . . . 18

2 Der Charakter von Technisierungsprozessen . . . . . . . . 42

3 Die antithetische Grundstruktur von

Technisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

4 Technisierungsprozesse vor dem Horizont des

menschlichen Selbstvergewisserungsbedürfnisses . . . . . 124

5 Grenzen der Selbsttechnisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Schluß: Das obskure Objekt der Optimierung . . . . . . . . . 192

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Detailliertes Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Einleitung

Der Mensch gestaltet mit seiner Technik schon längst nicht mehrnur die äußere Natur, sondern auch sich selbst. Neben der bio-technologischen Manipulation des Genoms sind es zunehmendNeurotechnologien, mit denen wir tief in unser eigenes Selbsteingreifen, etwa um schwere Krankheiten zu heilen. Mit demErfolg dieser Technologien stehen jedoch neurotechnologischeUmbaumaßnahmen von Körper und Geist am Horizont, die aufdie »Optimierung« des Menschen angelegt sind.

Am Beispiel neuer neurotechnologischer Ein- und Zugriffs-möglichkeiten auf das menschliche Gehirn geht es in diesem Es-say um die Frage, welche Auswirkungen solche Technisierungs-prozesse auf uns haben. Führt die Technisierung des Gehirnsüberhaupt zu einer Technisierung des Selbst? Was heißt »Selbst-perfektionierung« im Zeitalter der Neurotechnologie? Und: Wel-che Bedeutung haben Technisierungsprozesse für unser Selbst-verständnis und unser Handeln?

Zur Beantwortung dieser Fragen muß eine Brücke von denkonkreten Techniken, Technologien und Selbsttechnisierungs-formen zur philosophischen Reflexion geschlagen werden, umden folgenden methodischen Monstern Skylla und Charybdis zuentgehen: Weder darf die Philosophie durch den Rückbezug aufvertraute und eingespielte Diskurse die subtilen Bruchlinien derSelbsterfahrung in den aktuellen Technisierungsprozessen igno-rieren, noch genügt es, daß die Neurotechnologien nur in denBlick derjenigen geraten, die lediglich für die gerade aktuelleTechnologie die Verträglichkeit prüfen lassen wollen; denn Tech-nik ist mehr: Sie konstituiert unser Welt- und Selbstsein, sie ver-ändert die Bedingungen unseres Handelns.

9

Eine weitere methodische Klippe, die es zu umschiffen gilt,kann man als die Gefahr des doppelten Indifferentismus bezeich-nen. Zum einen scheint der Gang der Technisierung mit einemBlick aus großer Distanz unaufhaltsam zu sein und der Hand-lungsspielraum des einzelnen Subjekts so belanglos gering, daßes sich schon gar nicht mehr lohnt, über das Individuum undsein Handelnkönnen in der technologischen Zivilisation nach-zudenken; der individuelle Entscheidungsspielraum erscheintals anthropologische Romantik. Zum anderen wiederum wirkendie Technisierungsprozesse aus der Perspektive des Individuumsmerkwürdig anonym, so daß viele Philosophen und Ethiker zwarintensiv über das Selbst reflektieren – ohne sich aber für die in-dividuellen Auswirkungen und Zusammenhänge von Technisie-rungsprozessen zu interessieren. Dabei hat schon Friedrich Nietz-sche betont, daß es »Prämissen des Maschinen-Zeitalters« gebe,nämlich »[d]ie Presse, die Maschine, die Eisenbahn, de[n] Tele-graph[en]«, deren »tausendjährige Conclusion noch Niemand zuziehen gewagt hat«.1

1 F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, S.674.

Daher ist dieses Buch weniger ein systematischer Beitrag zurTechnikphilosophie im engeren Sinne, es versteht sich vielmehrals Beitrag zum Verständnis des Menschseins in der modernentechnischen Welt. Es ist ein anthropologisch-ethischer Versuch,ein Versuch über den Menschen.

Das Bedürfnis nach einer anthropologischen Standortbestim-mung entsteht meist in Umbruchzeiten und hat eine Tradition,die bis auf Sokrates zurückreicht und die über die Essais vonMontaigne und die spekulative Selbstbegründung im deutschenIdealismus zu Nietzsches Destruktion überkommener Ordnun-gen führt – und die seit dem 19. Jahrhundert immer auch die

10

Veränderung der Lebenswelt durch Technisierungsprozesse zumThema hat: Eisenbahn und Dampfmaschine werden in Roman-tik und Biedermeier als einschneidende und verstörende Neue-rungen wahrgenommen; 1877 erscheint mit Ernst Kapps Grund-linien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte derCultur aus neuen Gesichtspunkten die erste explizit technikphilo-sophische Abhandlung; der aus Anlaß der Pariser Weltausstel-lung 1889 errichtete Eiffelturm steht für das Selbstbewußtsein derIngenieure und wird als Symbol der Zeit empfunden; die Grün-dung der ersten Anti-Lärm-Vereine am Anfang des 19. Jahrhun-derts nimmt sich harmlos aus gegenüber der Technisierung derKriegsführung in den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs; diedamit einhergehende fundamentale Orientierungskrise ließ denUntergang des Abendlandes konsequent erscheinen; OswaldSpengler empfahl daher in herzlosem amor fati die Beschäftigungmit Waffentechnik statt mit Lyrik.

Diese fundamentale Sinnkrise führte in den zwanziger Jahrenzu einer ersten Welle der systematischen Auseinandersetzung mitder Mechanisierung und Monotonisierung des Lebens, etwa beiWalther Rathenau oder Ludwig Klages. Der Zweite Weltkriegbrachte einen Verlust an Vertrauen in die Technik, da sie so ohneweiteres in den Dienst der Unmenschlichkeit gestellt werdenkonnte. In der langen Debatte um die Atombombe ab den fünf-ziger und sechziger Jahren wurde das zerstörerische Potential derTechnik erneut ins Zentrum gerückt. Ab den sechziger Jahrenwurde zunehmend die Medizintechnologie zum Thema ethischerReflexionen; in den siebziger Jahren wurde die Subdisziplin »Bio-ethik« institutionalisiert. Insbesondere die ganz konkrete Ände-rung der Lebenswelt durch die Reproduktionsmedizin, die Ab-kopplung der Fortpflanzung von natürlichen Prozessen auf dereinen und die von phantastischen Zukunftsvisionen gespeisten

11

Ängste um den geklonten Menschen auf der anderen Seite weck-ten den Wunsch nach einer Selbstauslegung des modernen Sub-jekts und nach Orientierung in einer Welt der mannigfaltigentechnischen Möglichkeiten.

Die Fortschritte in den Medizin-, Bio- und Neurotechnolo-gien sorgen auch heute wieder für ein Bedürfnis nach anthropo-logisch-ethischer Standortbestimmung: Daß die Technik nichtnur zur äußeren Naturbeherrschung eingesetzt wird, sondern zurBeeinflussung und Gestaltung unserer eigenen Natur, markierteine neue Stufe des Nachdenkens über die conditio humana. DieSelbsttechnisierung des Homo faber, also die immer weiter fort-schreitende Invasivität der Technisierungsprozesse,2

2 G. Böhme: Invasive Technisierung.

macht vielenMenschen Sorgen: »Die Technik überschreitet jede Grenze undwird immer mehr zur Erfindung einer neuen Welt, die sich vonder alten befreit; sie beschränkt sich nicht mehr darauf, Konsum-güter und Werkzeuge zu produzieren, sondern ist schon auf demWeg der Produktion des Menschen selbst, seines Lebens, seinerGefühle und Vorstellungen und seiner höchsten Glückseligkeit,nämlich der Befreiung des Menschen von Leid und Tod.«3

3 E. Severino: Vom Wesen des Nihilismus, S. 16 f.

Auch wenn sich die mit den Medizintechnologien verbunde-nen Hoffnungen häufig ganz konkret auf die Rettung von Lebenoder die Sicherung einer bestimmten Lebensqualität beziehen,bleibt es eine Herausforderung, zu klären, was diese Technolo-gien für uns bedeuten. Denn verstehen wir wirklich, welche Fol-gen die Technisierung der Fortpflanzung für unser Leben hat?Wissen wir, was wir tun, wenn wir an unseren Kindern genetischnachbessern? Haben wir eine Vorstellung davon, was ein Gehirn-implantat mit uns, mit unserem Selbst macht?

Der folgende Essay über den Menschen und seine Technik, der

12

Versuch, die Auswirkungen der Technisierungsprozesse auf dasmenschliche Selbstsein zu beschreiben, geht von den neurotech-nologischen Eingriffen aus, denn hier zeigen sich die Möglich-keiten und Konsequenzen dieser Trends, wie noch zu sehen seinwird, in einer spezifischen Weise; hinsichtlich der Entwicklungvon Neurotechnologien sind in den nächsten Jahren und Jahr-zehnten noch einige Fortschritte zu erwarten. Damit sollenweder die anderen Biotechnologien marginalisiert werden, nochsoll anderen Technologien – etwa Medien- und Waffentechno-logien – die Brisanz abgesprochen werden. Im Gegenteil: DerFokus auf die Neurotechnologien hat exemplarischen Charakter,und ich hege die Hoffnung, daß viele der folgenden Überlegun-gen sich auf andere Kontexte übertragen lassen.

Die Idee hinter diesem Essay ist es, die philosophischen Debat-ten und Konstellationen der fünfziger Jahre des 20. Jahrhundertsfür die heutige Diskussion fruchtbar zu machen. Dies nicht, umauf ein scheinbar verjährtes Methodenrepertoire zurückzugreifen,sondern um mit Anknüpfungen, Aktualisierungen und Neufor-mulierungen ein Instrumentarium für die Beschreibung der heu-te in der Diskussion stehenden Technisierungsformen zu entwik-keln.

Damals wurde innerhalb von wenigen Jahren eine Reihe wich-tiger Bücher und Aufsätze zur Selbstverständigung über dasMenschsein- und Handelnkönnen in der technischen Zivilisationveröffentlicht. Der erste Band von Günther Anders’ Antiquiert-heit des Menschen erschien 1956, Hannah Arendts The HumanCondition, das in der deutschen Übersetzung Vita activa heißensollte, erschien 1958 in den USA. Heidegger publizierte »DieFrage nach der Technik« 1959 in seinem Band Vorträge und Auf-sätze, hatte diesen Text aber bereits in den Jahren zuvor öffentlichvorgetragen. Auch Hans Blumenberg schrieb, leider weitgehend

13

unbeachtet, in den fünfziger Jahren einige hochinteressante Auf-sätze über Technik. Und so ist es angesichts dieser geistesge-schichtlichen Lage vielleicht kein Zufall, daß 1957 auch MaxFrischs Homo faber erschien.

Diese philosophische Konjunktur wiederum war nur durchgewichtige Vorläufer möglich, man denke an Ernst Cassirers Auf-satz »Form und Technik« von 1930, Ernst Jüngers Arbeiter undHusserls Krisis-Schrift aus den dreißiger Jahren, an Karl Jaspers’Vom Ursprung und Ziel der Geschichte aus dem Jahr 1949. DieDebatte um die Technik wurde in dieser Zeit sowohl von rechts-konservativen Autoren angeheizt, etwa von Oswald Spengler mitDer Mensch und die Technik von 1934 und von Friedrich GeorgJünger, dem Bruder Ernst Jüngers, der seine Perfektion der Tech-nik bereits 1939 verfaßte, allerdings noch unter dem Titel Illusio-nen der Technik. Gleichzeitig etablierte sich aber auch eine marxi-stische Kultur- und Technikkritik, das prominenteste Beispiel isthier natürlich Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dia-lektik der Aufklärung (1944).

Das technikphilosophische Kraftzentrum der fünfziger Jahrespeiste sich nicht nur aus verschiedenen Quellen, sondern wirktein der deutschen und der internationalen Debatte in unterschied-lichen Formen nach, insbesondere hatte es ab den sechziger Jahreneinen nachhaltigen Einfluß auf die italienische Philosophie, etwabei Emanuele Severino und Umberto Galimberti, die in großan-gelegten Studien das Wesen der technischen Zivilisation zu ver-stehen suchten.

Gleichwohl sind diese Versuche philosophischer Selbstverge-wisserung über das Leben in der technischen Zivilisation in derderzeitigen Debatte kaum präsent. Dies liegt unter anderem dar-an, daß man sich in der angewandten Ethik heute kaum noch fürdas Verstehen größerer kultureller Zusammenhänge interessiert,

14

Ethik vielmehr in einer Art Checklisten-Stil betreibt. Indem ichdiese Debatte erneut fruchtbar mache, möchte ich einen Beitragzur ethisch-anthropologischen Standortbestimmung leisten, vorderen Hintergrund die konkreten Fragen erst richtig gestellt wer-den können. Die technikphilosophische Diskussion der fünfzi-ger Jahre kann man insofern in gewisser Hinsicht zum Gegen-stand einer Konstellationsforschung im Sinne Dieter Henrichsmachen: Ähnlich wie in den Debatten im Deutschen Idealismusum und nach 1800 geht es auch hier um eine grundsätzliche Ver-ortung des modernen Menschen, um das Verstehen und Be-schreiben der conditio humana in einer kulturellen und sozialenUmbruchszeit.

In der hier versuchten Analyse der Technisierungsprozesse sollkeine Maschinenstürmerei betrieben werden – schon Blumen-berg wollte das Wort »Technik« ausdrücklich von keinem Philo-sophen mehr hören, nur noch von Technikern.4

4 H. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung, S.9.

Dieser bissigeKommentar ist auf eilfertige Dämonisierer der Apparateweltgemünzt. Und in der Tat: Technikkritik ist, richtig verstanden,kein Dämonisierungsunternehmen, sondern dient der kritischenSelbstverständigung über den Charakter der Zivilisation, in derwir leben und aus der heraus wir unsere Entscheidungen fällen.Technikkritik darf keinen pessimistisch-kulturkritischen Fatalis-mus zur Folge haben. Wir haben es immer mit kulturellen Trans-formationsprozessen zu tun. Und es findet sich in jeder Gegen-wart etwas, was in einer früheren Zeit besser gewesen zu seinschien. Doch vor jeder Wertbehauptung müssen die Kriterienklar sein, an denen man das Bessere erkennt und mißt. Privile-gienverluste und Orientierungsstörungen in einer unübersicht-lichen Welt sind hart, können aber nicht durch Nostalgie gelöst

15

werden, sondern nur durch eine permanente Verständigung überdas, was wir sind und was uns wichtig und wertvoll ist.

Insofern müssen wir eine doppelte Hermeneutik betreiben;wir bedürfen einerseits einer »prognostischen Hermeneutik«, wiees Günther Anders nennt: »[W]ir haben das zu lernen, was die›vates‹ der Antike getan oder zu tun sich eingeredet haben: dieZukunft vorauszusehen. Die Gedärme, die wir prognostischlesen zu lernen haben, sind nicht die der Opfertiere, sondern dieder Apparate. Diese verraten uns die Welt von morgen und denTyp unserer Kindeskinder, sofern es solche noch geben wird. Undwenn sie das nicht von selber tun, dann haben wir sie dazu zuzwingen.«5

5 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen II, S.428.

Gleichzeitig bedürfen wir aber auch einer Art »retro-spektiver Hermeneutik«: Wir müssen wach bleiben für das, wasMenschen durch die Zeiten als das Gute und Erstrebenswerteangesehen haben. Philosophie konserviert immer auch ein Er-innerungswissen, also ein Bewußtsein davon, was Menschen fürwissenswert hielten und woran sie ihr Handeln ausgerichtet ha-ben.

Die Voraussetzung für die Klärung der aktuellen Problemeund Fragen hinsichtlich der Neurotechnologien ist das Verstehender Tiefenstrukturen der Technisierungsprozesse. Denn es ist,wie Anders betont, in der Tat »schief, zu behaupten, daß es inunserer Epoche auch Technik gebe«: In unserer Epoche gibt esnicht auch irgendwie Technik, sondern unsere Welt und unserSelbstsein sind fundamental durch Technik konstituiert.6

6 Ebd., S.287.

Unddamit bietet die Auseinandersetzung mit der Technik einen Zu-gang zur Beantwortung der alten Frage, was der Mensch sei.

16

Dank

Ein großer Gewinn war mir in den letzten Jahren der Austauschmit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vom Frei-burger Bernstein Center und dem Freiburg-Tübinger BernsteinFocus: Neurotechnology (gefördert vom Bundesministerium fürBildung und Forschung) sowie mit den Kolleginnen und Kolle-gen des Universitätsklinikums Freiburg, insbesondere des Neu-rozentrums. Von unschätzbarem Wert waren für mich die Ge-spräche mit den Dramaturginnen und Dramaturgen sowie denRegisseurinnen und Regisseuren, die an dem interdisziplinärenund theatralen Projekt »Die Optimierung des menschlichen Ge-hirns« am Theater Freiburg mitwirkten, das wir gemeinsam reali-sieren konnten; höchst anregend waren auch die Diskussionenmit den an dem Projekt beteiligten Schülerinnen und Schülern.

Ich danke Hans-Joachim Simm und Heinrich Geiselbergervom Suhrkamp Verlag für das Interesse am Manuskript und diesorgsam-kritische Lektüre, der ich viele wertvolle Anregungenentnehmen konnte. Ganz herzlich zu danken ist auch den Freun-den Jan-Christoph Heilinger und Dr. Carlos Spoerhase und den-jenigen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Ethik undGeschichte der Medizin der Universität Freiburg sowie den Mit-arbeitern der ebenfalls vom BMBF geförderten Nachwuchsfor-schergruppe zur »Natur des Menschen als Orientierungsnorm inder Bioethik«, namentlich Dominik Baltes, Zsuzsanna Barkai,Uta Bittner, Dr. Joachim Boldt, Boris Eßmann und DorotheeSchmidt, die das Manuskript kritisch kommentiert, auf sprach-liche Mängel hingewiesen oder sich um Literaturrecherche, Kor-rekturen und technische Tücken gekümmert haben.

Und nicht zuletzt gilt mein Dank Ursula Cadenbach – für alles.

17

1 Formen der Technisierung des Gehirns

Neurotechnologien: Der Stand der Dinge

Die Erforschung und Entwicklung von Neurotechnologien – derVerbindungen zwischen Gehirn und Maschine, der Interaktionvon Nervengewebe und Elektroden – ist ein dynamisches undinterdisziplinäres Feld, auf dem Neurobiologie, Informatik, In-genieurwissenschaften und klinische Anwendungen zusammen-wirken. Dabei unterscheidet man verschiedene Arten von Neu-rotechnologien: Grundsätzlich nennt man ein Gerät, das dasmenschliche Gehirn mit einer Maschine, meist mit einem Com-puter, verbindet, »Brain Machine Interface« (Gehirn-Maschine-Schnittstelle, kurz BMI) oder »Brain Computer Interface« (Ge-hirn-Computer-Schnittstelle, kurz BCI).1

1 Siehe O. Müller etal.: Der technische Zugriff auf das Gehirn; M. A. Lebe-dev et al.: Brain-machine interfaces: past, present and future; R. Merkelet al.: Intervening in the brain, S. 117 ff.

Dabei handelt es sichum Schnittstellen, die durch die Verbindung von Elektroden undmenschlichem Gehirn den Austausch bioelektrischer Signaleermöglichen. Dieser kann in beide Richtungen (vom Gehirn zurMaschine und umgekehrt) stattfinden sowie wechselseitig (vomGehirn zur Maschine und wieder zurück).

Es können somit – erstens – Hirnsignale abgeleitet und in elek-trische Impulse übersetzt werden, so daß man Hirnaktivitätenals »Informationen« lesen kann, um auf diesem Weg eine »Kom-munikation« zwischen Gehirn und Computer herzustellen. Diedadurch mögliche Ansteuerung externer Effektoren (wie etwaProthesen oder bestimmte Computerprogramme) wird bereitsbei Patienten eingesetzt. Dabei steuert man einen Computer-

18

cursor durch Informationen, die mittels eines Elektroenzephalo-gramms (EEG) gewonnen wurden; dafür ist es nicht nötig, ope-rativ ins Gehirn einzugreifen, die Daten können mit Hilfe einerElektrodenhaube gewonnen werden. Auf diese Weise könnengelähmte Patienten lernen, mit einem Cursor ein Buchstabie-rungsprogramm zu bedienen. Dies bietet insbesondere Patientenmit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) Hilfe, Patienten, die in-folge nervenbedingten Muskelschwundes unter einem soge-nannten »Locked-in-Syndrom« leiden und sich aufgrund ihrerErkrankung nicht mehr bewegen können und daher bei vollemBewußtsein und bei intakter geistiger Leistungsfähigkeit in ih-rem Körper »eingeschlossen« sind. Der Cursor erlaubt es ihnen,sich sprachlich auszudrücken – so langsam und mühsam das seinmag – und damit den Kontakt zur »Außenwelt« aufrechtzuerhal-ten.2

2 A. Kübler, N. Birnbaumer: Brain-computer interfaces and communica-tion in paralysis; F. Nijboer et al.: Gehirn-Computer-Schnittstellen fürschwerstgelähmte Menschen.

Mit dieser Technik kann im Prinzip auch eine Armprothesegesteuert werden; motorische Neuroprothesen dieser Art müssendie neuronalen Informationen allerdings möglichst durch inva-sive – also in das Gehirn eindringende – Verfahren ableiten, weildas für die entsprechende motorische Steuerung »zuständige«Hirnareal ausgelesen werden muß. Das geht am besten in derdirekten Verbindung von Nervenzellen und Elektroden. Durchdie fortschreitende Miniaturisierung technischer Systeme ist dieEntwicklung der erforderlichen implantierbaren Elektroden mög-lich und in einzelnen Fällen schon realisiert worden. Derartigemotorische Neuroprothesen werden derzeit vorwiegend in Tier-versuchen erforscht. Dabei gelang es beispielsweise, das entspre-chende motorische Hirnareal eines Affen so zu »nutzen«, daß er

19

Nahrung statt mit seinem eigenen mit einem Roboterarm zumMund führen konnte.3

3 M. Velliste et al.: Cortical control of a prosthetic arm for self-feeding.

Zweitens kann man mit einem BMI nicht nur Signale ableiten,sondern auch gezielt einzelne Hirnregionen über elektrische Im-pulse stimulieren, um eine bestimmte Hirnaktivität auszulösenoder zu inhibieren. Zunächst lassen sich mittels dieser Technikbestimmte motorische Funktionen wiederherstellen. So werdenBMIs zum Beispiel zur Behandlung von Patienten, die an derParkinsonschen Krankheit leiden, eingesetzt, zu deren Sympto-men etwa ein die Lebensqualität stark herabsetzender Tremor ge-hört. Dabei fungieren die BMIs als tiefe Hirnstimulatoren. Elek-troden werden in einem stereotaktischen neurochirurgischenEingriff in »tiefe« Hirnregionen implantiert (wie in den Globuspallidus oder den Nucleus subthalamicus), um durch Stromstößeauf das Areal einwirken zu können. Interessanterweise ist dabeibis heute nicht bekannt, warum sich der Tremor durch die Sti-mulation unterdrücken läßt. Die Methode wird sozusagen ineinem Trial-and-Error-Verfahren entwickelt, das von den sicht-und spürbaren Erfolgen dieser Technik ausgeht. Diese hochin-vasiven Eingriffe können zu Persönlichkeitsveränderungen füh-ren, die man derzeit nur bei schwerkranken Patienten und beifehlenden therapeutischen Alternativen in Kauf nimmt. DiesesVerfahren, das 1991 erstmals erfolgreich beim Menschen einge-setzt wurde,4

4 A. L. Benabid et al.: Long-term suppression of tremor by chronic stimu-lation of the ventral intermediate thalamic nucleus.

wird »tiefe Hirnstimulation« (Deep Brain Stimula-tion, kurz DBS) genannt und ist heute eine etablierte Behand-lungsoption im Endstadium des idiopathischen Parkinsonsyn-droms.

Wegen der Erfolge der DBS bei dieser Symptombehandlung

20