PTH Brixen, SS 2012: Österreichische Philosophie von Bolzano bis … · 2016-05-03 · 1827...

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1 PTH Brixen, SS 2012: Österreichische Philosophie von Bolzano bis Popper Einheit 1(Achtung, 1.1-1.4 wurde in der VO übersprungen!) 1. Was tun PhilosophInnen? – Eine klassische Antwort Was kann ich wissen? Was ist das, „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“? Was unterscheidet gute von schlechten Begründungen? Was unterscheidet Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft? Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? (Logik, Sprachphilosophie, Erkennt- nistheorie, Wissenschaftstheorie) (1724-1804)

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PTH Brixen, SS 2012: Österreichische Philosophie von Bolzano bis Popper

Einheit 1(Achtung, 1.1-1.4 wurde in der VO übersprungen!)

1. Was tun PhilosophInnen? – Eine klassische Antwort

Was kann ich wissen?

Was ist das, „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“?

Was unterscheidet gute von schlechten Begründungen?

Was unterscheidet Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft?

Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt?

(Logik, Sprachphilosophie, Erkennt-nistheorie, Wissenschaftstheorie)

(1724-1804)

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Was soll ich tun?

Wofür sind wir verantwortlich?

Darf man alles, was man kann?

Sind moralische Überzeugungen gänzlich kulturabhängig?

Gelten die Menschenrechte überall gleich?

Was ist „soziale Gerechtigkeit?“

(Ethik, Angewandte Ethik(en), Sozialphilosophie, Rechtsphilos.)

Was darf ich hoffen?

Sagt uns nur die Naturwissenschaft, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?

Was gibt es „wirklich“, was nicht?

Existiert „Gott“? Welche Eigenschaften?

(Metaphysik, Religionsphilosophie)

Was ist der Mensch?

Sind wir bloß ein Produkt unserer Gene?

Ist Freiheit nur eine schöne Illusion?

Bleibe ich noch der-/ dieselbe, wenn sich mein Körper verändert?

(Anthropologie, „philosophy of mind“)

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2. Eine ungefähre Definition von „Philosophie“

Philosophie ist... ...der systematische Versuch, aus eigener Einsicht die

Zusammenhänge von allem zu verstehen. Philosophie be-nützt die Resultate fremder Versuche in methodischer Weise.

• der systematische Versuch: eine Wissenschaft, methodische Standards

Unterschied zur Kunst etc.

• der systematische Versuch: keine „fertige Theorie“

eher eine Tätigkeit (Wittgenstein!)

Bezug zur „Weisheit“ (sophia!) und zum Leben

• aus eigener Einsicht: Unterschied zur Religion

Unterschied zu Ideologien etc.

• Zusammenhänge von allem: - bereichs-überschreitende Fragen sind „typisch philosophisch“; 2 Beispiele: -- „Gibt es“ die Gegenstände der Physik? -- Fragen der Medizin-Ethik

• Resultate fremder Versuche: wichtiger als in anderen Disziplinen! Fragestellungen, Differenzierungen, ... aus früherer Zeit sind sehr nützlich

• in methodischer Weise: keine simplen „Autoritätsargumente“ („aber Hume /Kant / ... sagt doch, dass...“)

Philosophie ≠ Philosophiegeschichte !!!

3. Geben Philosoph(inn)en endgültige Antworten?

• Jede(r) hat bereits eine „Weltanschauung“, nimmt Deutungen und Bewertungen vor (Antworten auf die 4 Fragen oben)

• Philosophie kann (und soll!) das nicht ersetzen; Hilfe zum Weiter-Denken

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4. Die Philosophie und die anderen Wissenschaften

-- Philosophie – eine Integrationswissenschaft („...Zusammenhänge...“ !)

-- Einzelwissenschaften (Humanwissenschaften, Naturwissenschaften, ...)

Drei Modelle des Verhältnisses „Philosophie – Einzelwissenschaften“

a) Philosophie ist „etwas ganz anderes“,

-- Einzelwissenschaften sind ziemlich irrelevant

BEISPIELE: manche Existenzphilosophen, manche „postmodernen“ Phil.

b) Philosophie steht „über“ den Wissenschaften,

-- erklärt, wie die Einzelwissenschaften arbeiten,

-- wo ihre Grenzen sind, etc.

BEISPIELE: Kant, viele Wissenschaftsphilosophen

c) Alle Wissenschaften sind auf gleicher Ebene,

-- Philosophie ≈ „sehr allgemeine Theorie über die Welt“

-- Ergebnisse der Psychologie, der Physik etc. können der Philosophie widersprechen

-- Erkenntnistheorie hat mit Evolutionsbiologie, Psychologie zu tun etc.

BEISPIELE: „Naturalismus“, Wiener Kreis, Quine, (vielleicht) Brentano

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5. Gibt es eine “Austrian Philosophy”? Die „Neurath-Haller-Smith-These“

5.1 Österreich heute und zur Zeit der Habsburger-Monarchie

5.2 Philosophie an Österreichischen Universitäten

Universitäten: Prag 1348 Graz 1586 Salzburg 1622

Wien 1365 Innsbruck 1669 etc.

Daneben: Priesterseminare, Klosterschulen mit Philosophie

1752, 1774 Reformen der Philosophischen Fächer (Lehrbuch-Zwang!)

Bis 1848: Philosophie nur als „Vorbereitung“ für Theologie, Medizin, Rechtswissenschaft!

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5.3 Die „Neurath-Haller-[Smith-]These“:

Otto Neurath (1882-1945); Rudolf Haller (*1929); Barry Smith (*1952)

- es gibt eine „österreichische“ Art der Philosophie“, stärkere Nachwirkung der katholischen Scholastik

- Realismus / Objektivismus (gegen Kant und den „Deutschen Idealismus“!): wir erkennen die Welt, wie sie ist

- „Wissenschafts-freundliche“ Philosophie

- gegen dunkle Spekulationen und „Orakelphilosophie“

- eine wichtige Wurzel der heutigen „analytischen Philosophie“

- Barry Smith: Zentralfigur = Franz Brentano (1838-1917)

Viele Einwände gegen die NH[S]-These, u.a.:

- „österr. Philosophie“ nicht homogen

- kein direkter Einfluß (z.B.) Bolzano-Brentano

- viele „österr.“ Philosophen haben Wurzeln in D

- viel „wissenschaftsfreundliche“ Phil. auch in D

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Einheit 2

Der „Weise von Prag“ zwischen Josephinismus und Restauration: Bernard Bolzano (1781–1848)

1. Der „Josephinismus“

„Österreichische Variante des aufgeklärten Absolutismus“ (enlightened absolutism)

Maria Theresia (1740–80) und ihr Sohn Joseph II. (1780–90)

Toleranzpatent (1781)

Reform des Strafrechts (1787)

Aufhebung von vielen Klöstern

Einteilung der Pfarren

Regelung des religiösen Lebens

„Generalseminare“ (1783–90)

Priester als Staatsdiener

Ziel: Kirche unter vollem Einfluss des Staates, „Staatskirche“

1782: Papst Pius VI reist nach Wien (→)

2. Der Beginn der Restauration

1789 französische Revolution

Die napoleonischen Kriege und der „Wiener Kongreß“ 1814/15

Josephinische und restaurative Tendenzen nebeneinander

Beispiel: 1804 „Religionslehre“ wird Pflicht an den Universitäten

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3. Bernard Bolzano (1781-1848): Leben und Werke

1781 geboren in Prag

Studien der Philosophie, Mathematik, Theologie

1805 Priesterweihe

1805 Professur für „Religionslehre“ in Prag

Das Lehrbuch von Jakob Frint

Arbeiten zur Logik und Mathematik

(wichtige Entdeckungen 100 Jahre früher als andere!)

Die „Erbauungsreden“

„Ich bin ein Böhme deutscher Zunge“: Toleranz, friedliches Zusammenleben der Völker

1817 Das Wartburgfest in Deutschland, 1819 der Mord an Kotzebue

1818 Bolzano muss seine Vorlesungsmanuskripte nach Wien senden

1820 Absetzung vom Lehramt (Intrigen?); Privatwissenschaftler

1827 (21838) Athanasía oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele

1834 Lehrbuch der Religionswissenschaft (anonym, von Schülern!)

1837 Wissenschaftslehre (4 Bände); (Zensur!!)

1848 (Jahr der Revolution!) gestorben in Prag

posthum publiziert: „Von dem besten Staate“ (Sozialutopie)

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Bolzanos Einfluss: viele offene Fragen..., keine starke Tradition

„Bolzanisten“, österreichische Schulreform 1848

Schulbücher (Logik!) Bolzano→Zimmermann→Wittgenstein

Edmund Husserl

Jan Patočka (1907-1977) „Prager Frühling“, „Charta 77“

4. Bolzano-Forschung heute

Die „Bernard Bolzano – Gesamtausgabe“ (bisher 60 Bände, gesamt über 120 !)

„Beiträge zur Bolzano-Forschung“; http://www.sbg.ac.at/fph/bolzano/bolzano.htm (Bolzano Pages; B.-Society etc.)

5. Bolzanos „Wissenschaftslehre“ (1837)

5.1 Was ist „Wissenschaft“ ? – Eine heutige Antwort

(Nach Philip Kitcher, The Advancement of Science, Oxford 1993)

Eine „wissenschaftliche“ Praxis ...

• untersucht einen akzeptierten Objektbereich

• untersucht Probleme und Fragen, die als solche anerkannt sind

• verwendet eine nicht-natürliche „Fachsprache“

• hat gemeinsam geteilte Überzeugungen als Basis der Untersuchungen

• hat anerkannte Mittel und Methoden

• hat anerkannte Standards über Erfolg und Ziel der Untersuchung

• hat anerkannte Standards über das Akzeptieren von Resultaten aus anderen Bereichen

• ist Teil eines soziales Netzes („scientific community“)

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5.2 Bolzanos Wissenschaftsbegriff

Voraussetzung: Zwei wichtige Thesen von Bolzano:

(1) Es gibt „Sätze an sich“ (sentences in itself) und wir können sie erkennen

(gegen Kant: wir erkennen nur „Erscheinungen“, das „Ding für uns“, aber nicht das „Ding an sich“!)

(2) Bolzanos „oberste Sittengesetz“ ( ≈ Utilitarismus): Wähle die Handlung, die die nützlichsten Folgen für alle hat!

„Wissenschaft“ = ein Inbegriff ( ≈ sum, set) von wahren Sätzen an sich

„Wissenschaftslehre“ = Die Darstellung einer Wissenschaft

5.3 Das pädagogische Ziel der „Wissenschaftslehre“

„Eigentliche Wissenschaftslehre“: wie man gute Lehrbücher schreibt!!

Oberster Grundsatz: Lehrbücher müssen so gemacht werden, dass es den größtmöglichen Nutzen für alle bringt (Wissenschaftslehre § 395)

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5.4 Bolzanos Sprachphilosophie und die „Sätze an sich“

sprachliches Phänomen (Aussprechen)

drückt aus (expresses)

psychisches Phänomen (Denken, Erfassen, Annehmen, ...)

erfasst (grasps)

Satz an sich (Wahrheitsträger, truth-bearer); (es gibt wahre und falsche SAS!)

entspricht / entspricht nicht (corresponds (not))

„Sachverhalt“ (state of affairs) (Wahrmacher, truthmaker)

Einwand: ist SAS nicht überflüssig? „metaphysische Inflation“ – gibt es mehr Dinge in der Welt, als man unbedingt braucht? („Ockham’s razor“)

Dagegen: Verständigung teilt SAS / „Gedanken“ mit; Logik benötigt SAS

Vertreter einer „Dritten Welt“, eines logischen „Objektivismus“:

Husserl: gegen den „Psychologismus“ in der Logik

Meinong: „Gegenstände“

Popper: „Dritte Welt“ von Ideen, Theorien, etc.

„... typisch für die österreichische Philosophie?“

→→→→Vorsicht! - Bolzanos SAS und Poppers „dritte Welt“ sind sehr verschieden

- Gottlob Frege (kein österreich. Philosoph!): „Gedanke“

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Einheit 2

Was bedeuten religiöse Sätze? Bolzanos Antwort im „Lehrbuch der

Religionswissenschaft

1. „Religion“

Keine allgemein akzeptierte Definition

Diskussion: Facetten / Aspekte von Religionen

„Offenbarungsreligionen“ (Offenbarung = revelation): ein historisches Ereignis ist wichtig für Gründung und Inhalt der Religion

2. Ist es vernünftig, eine Offenbarungsreligion zu akzeptieren? Das „klassische“ christliche Stockwerks-Modell dafür

Dogmatik, Moraltheologie, „systematische Theologie“:

- systematisiert, was Gott uns gesagt hat: - weitere Eigenschaften Gottes, Schöpfung, moralische Gebote, ...

Apologetik, Fundamentaltheologie: - zeigt, dass Gott sich wirklich geoffenbart hat („Wunder & Prophezeiungen“)

Philosophie: - zeigt, dass Gott existiert, & einige wichtige Eigenschaften („phil. Theologie“)

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3. Die Kritik der Aufklärung an diesem Modell

Kritik der traditionellen philosophischen Theologie (Kant u.a.)

Anfänge der „historisch-kritischen“ Bibelwissenschaft:

– manche Sätze, die bisher als „religiöse Sätze“ angesehen wurden, sind sicher falsch

– viele „Wunder und erfüllte Prophezeiungen“ sind nicht historisch

– es ist schwer feststellbar, was Jesus wirklich gesagt hat

– etc.

4. Was bedeuten religiöse Sätze? Die Uminterpretation durch die Aufklärung

Vorbemerkung: Was ist „religiöses Sprechen“?

Umdeutung: religiöse Sätze werden in moralische Sätze uminterpretiert

kognitive Sätze → nicht-kognitive Sätze

theoretische Sätze → nicht-theoretische Sätze

„In Wirklichkeit“ sind religiöse Sätze: Imperative, Ausdrücke eines Lebensgefühls, einer Haltung, einer Hoffnung, ...

Vorteile dieser Deutung: + Religion ist (auch) eine Haltung, ein Lebensgefühl

+ „rein theoretischer“ Glaube ist tot (Bibel!)

Nachteile: – manche religiöse Sätze haben einen klaren „theoretischen Kern“

– „Religion ist etwas ganz anderes, als die Gläubigen meinen“

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5. Was bedeuten religiöse Sätze dann? Die Antwort Bolzanos

- Bolzanos „Schlüsselerlebnis“ 1804

- Das Lehrbuch der Religionswissenschaft (Vorlesungen 1805–19, Druck 1834)

5.1 Bolzanos „Religions“-Definition

Die Definition geht vom religiösen Satz aus!

Nicht selbstverständlich; nimmt „linguistic turn“ des 20.Jh.s voraus

Definition „sittlicher/moralischer“ Sätze (§ 19): Sätze, die wir aus natürlicher Neigung annehmen/ablehnen, ohne hinreichende Gründe dafür zu haben

Definition eines „religiösen“ Satzes (§ 20): 2 Bedingungen

(1) epistemische Bedingung (wie in § 19) &

(2) ethische Bedingung: verändert Grad unserer Tugend

D.h.: Religiöse Sätze = „moralische Sätze, die Grad unserer Tugend ändern“

(Achtung, das ist etwas kontra-intuitiv!)

Religion im subjektiven und objektiven Sinne (§ 20)

Weitere Definitionen Bolzanos (§ 22)

5.2 Diskussion: Verhältnis zum üblichen Religionsbegriff?

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5.3 Ist Bolzanos Religionsauffassung total nicht-kognitiv?

� alle religiösen Sätze sind moralisch relevant

� Nota bene: aus der epistemischen Bedingung folgt nicht, daß es keine hinreichenden Beweise geben könnte. Bolzano bemüht sich auch um solche Beweise (z.B. Argument für die Existenz Gottes)

� Bolzanos Position ist also offen für einen „theoretischen Kern“ der Religion, sie ist nicht total nicht-kognitiv

� Unterscheidung: nur Bildlich gemeintes – buchstäblich, „at face value“ Gemeintes

5.4 Wie Bolzano Theologie betreibt

– traditionelles Schema: Philosophie → Fundamentaltheologie → Dogmatik

– Bolzano untersucht jeden einzelnen Glaubenssatz in 4 Schritten:

1 gehört er wirklich zum Glauben, findet man ihn in Bibel & Tradition?

2 ist er nicht gegen die Vernunft?

3 welchen moralischen Vorteil bringt es, an ihn zu glauben?

4 welcher „historische Nutzen“ ist nachweisbar?

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Einheit 3

Geist und Welt: Franz Brentano und die „Intentionalitätsthese“

1. Franz Brentano (1838 – 1917): ein „österreichisches“(?) Schicksal

1838 geboren in Marienberg/D, prominente Familie (Onkel Clemens, Bruder Lujo)

1851-56 Schulen in Aschaffenburg; Begeisterung für Thomas v. Aquin

1856-64 Universität München, Würzburg, Berlin, Münster

1860 Krankheit, Verzweiflung über Philosophie seiner Zeit

Anfang der „Vier-Phasen-Lehre“ Brentanos

1862 Dissertation (über Aristoteles), Universität Tübingen

1866 Habilitation (2.Dissertation), Universität Würzburg Habilitationsthesen und Probevorlesung (eine „Falle“!)

4. These: Die wahre Methode der Philosophie ist die der Naturwiss.

1869 Gutachten gegen die Unfehlbarkeit des Papstes (1.Vaticanum)

1870 Innere Distanzierung vom Katholizismus beginnt

1873 Niederlegung des Priesteramts

1874 Ordentlicher Professor in Wien

„Psychologie vom empirischen Standpunkt“ Band I

Schüler Masaryk, Meinong, Husserl, Ehrenfels, Twardowski, Freud

1878 Austritt aus der Kirche

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1880 Heirat, „Affäre Brentano“ (wird Staatsbürger von Sachsen, um gültig heiraten zu können, legt Professur nieder, bekommt sie aber nicht mehr!)

Brentano wird „Privatdozent“, großer Erfolg als Lehrer

1895 verlässt Österreich, geht nach Florenz

1900 Beginn einer Augenkrankheit, 1907 total blind

1911 Drei Abhandlungen über Aristoteles

1915 Italien erklärt Österreich den Krieg, Brentano muss in die Schweiz

1917 gestorben in Zürich

Das Schicksal Brentanos Nachlass:

Von Zürich nach Innsbruck, dann

1931 Prag, Brentano-Archiv (Kastil, Kraus, Katkov; Masaryk!)

1938 Oxford, danach USA

Originale: Harvard University (bis heute)

1985 Abschriften kommen nach Graz, auch Brentanos Bücherei:

Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für Österreichische Philosophie (Graz): www.austrian-philosophy.at

Die Arbeit der ersten Editoren (Oskar Kraus, Alfred Kastil, Franziska Mayer-Hillebrand)

Franz Brentano-Gesellschaft: www.franz-brentano.de ; „Brentano-Studien“

Brentanos Einfluss

Carl Stumpf (Berlin, Psychologe), Anton Marty (Prag, Sprachphilosoph), Herman Schell, Georg v. Hertling (Theologen, Deutschland); Alexius Meinong (Graz), Edmund Husserl (Göttingen, Freiburg →Heidegger!), Kasimierz Twardowski (Lemberg / L’viv), Thomas G. Masaryk (Präsident der Tschech-ischen Republik), Christian v. Ehrenfels (Prag), Franz Hillebrand (Innsbruck)

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2. „Intentionalität“ als Merkmal psychischer Phänomene

2.1 Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt (Band 1, 1874)

-- Die Differenzierung von Philosophie und Psychologie im späten 19.Jh.

-- Brentanos „Psychologie“ und heutige „Psychologie“

- Untersuchungen zur Psychologie der Wahrnehmung (Farben, optische Täuschungen, ...)

- „Deskriptive“ und „genetische“ Psychologie

- „Deskriptive Psychologie“: Analyse unserer Vorstellungen als Basis der Philosophie!!!

- Deskr.Psych.: „Introspektive Psychologie des gesunden Erwachsenen“

- Introspektion und das Problem der Außenwelt (→„Brückenproblem“)

- Lösungen des „Brückenproblems“: Descartes: gütiger Gott als Garant! Brentano: hohe Wahrscheinlichkeit!

2.2 Psychologie als „Wissenschaft von den psychischen Phänomenen“

(...und nicht „Wissenschaft von der Seele(-nsubstanz)“!

2.3 Was sind „psychische Phänomene“?

- [Lektüre des Texts]

- Psychische und physische Phänomene

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2.4 Die „Brentano-These“: psychische Phänomene sind „intentional“

- „Intentionalität“ und „mentale Inexistenz“ (Achtung!!!)

- Verschiedene Deutungen der Brentano-These

- Drei Arten psychischer Phänomene

3 Stimmt die Brentano-These?

- ist seine deskriptive Psychologie richtig?

- aus der Sicht der heutigen Psychologie?

- die Einwände des Naturalismus:

-- sind nur Bewusstseinsvorgänge intentional?

-- kann es nicht unbewusste Umwelt-Repräsentationen geben?

- Das Problem nichtexistierender Gegenstände und negativer Sachverhalte

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Einheit 4

Gibt es Dinge, die es nicht gibt? Alexius Meinong (1865-1920), seine „Gegenstands-

theorie“ und Bertrand Russells (1872-1970) Reaktion in „On Denoting“ (1905)

1. Alexius Meinong – Leben und Werk

1853 Geboren in Lemberg (heute L’viv /Ukraine)

Studium der Geschichte in Wien

Philosophiestudium in Wien bei Brentano

1882 Außerordentlicher Professor („Associate“) in Graz

Extreme Sehschwäche

1889 Ordentlicher Professor in Graz

1894 Experimentalpsychologisches Labor in Graz (1. in Österreich!)

1920 gestorben in Graz.

Wichtigste Werke:

Über Gegenstandstheorie 1904

Über Annahmen 1902

Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit 1915

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2. Die „Gegenstandstheorie“

2.1 Der Hintergrund:

Zwei „Lesarten“ (readings) von Brentanos Intentionalitätsthese (Wiederholung)

a) „immanentistisch“: psychische Phänomene richten sich auf ein immanentes Objekt

immanentes Objekt

intentional repräsentiert... gerichtet auf...

Bewusstsein ???? äußeres Objekt

Probleme: (!!!) gegen den common sense

(!) wie repräsentiert das immanente Objekt bei Imagination, Fehlern?

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b) „externalistisch“: psych. Phänomene richten sich auf ein äußeres Objekt

Bewusstsein ist intentional gerichtet auf

Problem: was ist, wenn wir an nicht-existierende Dinge denken, von ihnen denken, „dass es sie nicht gibt“?

„Gibt“ es alles, woran man denken kann?

„JA!“ - MEINONG AKZEPTIERT DIESE KONSEQUENZ!

(Nota bene: das äußere Objekt muss ja nicht materiell sein!)

„es gibt“ Existieren, engl. to subsist (Russell)

„Bestehen“ (andere Form des Wirklichseins)

2.2 Text-Lektüre: Über Gegenstandstheorie, § 2 (Ausschnitte)

• die Gesamtheit der Erkenntnisgegenstände der Metaphysik

• „existieren / wirklich sein“ ≠ „bestehen“

• Beispiele für „Bestehendes“: Gleichheit/Verschiedenheit, Zusammenhänge (z.B. Temperatur-Thermometerstand), Zahlen und andere math. Objekte, Möglichkeiten, ...)

• „Objektive“ als Gegenstand von Urteilen und Annahmen: „dass ... ist“

• was sind also Meinongs „Gegenstände“?

• Verbindung zu Brentano: Gegenstandstheorie als „Ontologie des inneren Erlebens“

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3. Bertrand Russell – Leben und Werk

1872 geboren in Wales, adelige Familie

1910 Lecturer in Cambridge Beginn der Freundschaft mit Wittgenstein

1916 Entlassen wegen Aufruf zu Kriegsdienst- Verweigerung, Gefängnis

Schriften über Erziehung, internationale Politik, soziale Probleme ...

Gastprofessuren und Vorträge in USA, England, China

1927 Gründung einer Privatschule

nach 1945 Gegen atomare Aufrüstung, Vietnam-Engagement, ČSSR-Invasion

1950 Nobelpreis für Literatur

Werke (nur ganz kleine Auswahl, ca. 50 Bücher, auch Novellen etc.!)

1910-13 Principia Mathematica (mit Alfred North Whitehead)

1921 The Analysis of Mind

1929 Marriage and Morals

1945 History of Western Philosophy

4. „On Denoting“ (1905)

� Manche sagen: „Gründungsurkunde der modernen analytischen Philosophie“, Klärung der verborgenen logischen Struktur von Sätzen; „Oberflächengrammatik“ entspricht nicht immer „Tiefengrammatik“

� Wurzel der „idealsprachlichen Tradition“ der Sprachphilosophie: künstliche Idealsprache als besserer „Spiegel der Wirklichkeit“

(das ist nicht selbstverständlich, siehe später Wittgenstein!)

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4.1 „denoting phrases“: “a man“, “some man“, “every man”, “the present King of France”, “the centre of mass of the solar system”, ...

(später „Kennzeichnungen“, „definite descriptions / definite Beschreibungen“)

– wieso sind sie manchmal irritierend?

– wieso sind sie relevant? (Knowledge by direct acquaintance / by description!)

4.2 Meinongs Lösung (S.2 –... „any grammatically correct denoting phrase stands for an object.“) [= Meinongs Gegenstandstheorie!]

Problem dabei: Meinongs Objekte verletzen das Nicht-Widerspruchs-Prinzip!

4.3 Freges Lösung: Ausdrücke haben Sinn/meaning und Bedeutung/denotation/ reference; z.B. „Morgenstern“ und „Abendstern“; „Scott“ und „Der Autor von Waverley“: haben gleiche Bedeutung, aber verschiedenen Sinn!

Positiv an Freges Lösung: erklärt, warum „Der Morgenstern ist der Abend-stern“, „Scott ist der Autor von Waverley“ interessante Aussagen sind!

Negativ an Freges Lösung: wenn es gar kein Referenzobjekt gibt („The present King of France is bald“), wären solche Aussagen dann Nonsens?

4.4 Russells Lösung : nein, solche Aussagen sind einfach falsch!!!

– Russells Idee: „denoting phrases“ in Texte ohne denoting phrases überführen!

– „Denoting phrases“ konstruiert aus Sätzen mit Prädikaten und Variablen, Variable („irgendein...“) statt Meinongs Gegenständen. Vereinfacht:

Es gibt ein x, so dass: [(x ist gegenwärtiger König von F) & (x ist kahlköpfig)]

Es gibt ein x, so dass: [(x ist dreieckig) & (x ist rund) & (x ist schön)]

In formaler Logik: (∃x)(Dx & Rx & Sx) . . . und all das ist eben falsch!

Also: „denoting phrases“ stehen nicht direkt für ein Objekt (Meinong!), sie haben erst im Kontext, als Ganzes einen Sinn und eine Bedeutung

4.5 Aber: Meinong und Russell sind einig, dass sprachliche Zeichen eine Bedeutung haben, weil es Gegenstände gibt, für die sie stehen! („rund“ steht für alle runden Objekte, „dreieckig“ für alle dreieckigen, ... (anders Wittgenstein!)

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Einheit 5

Empiriokritizismus und Denkökonomie: Ernst Mach (1838-1916)

1. Ernst Mach (1838-1916) – Leben und Werk

Studium der Mathematik und Physik in Wien

Professor für Mathematik, später für Physik in Wien

1895 Professur für „Philosophie, besonders Geschichte der induktiven Wissenschaften“ in Wien (Brentanos Hilfe!)

1901 Emeritierung (Schlaganfall 1898!); Ablehnung der Nobilitierung

PhD-Thema von Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften !)

Physik: über Wellen (Doppler-Effekt), schnelle Bewegungen

[Einheit der Schallgeschwindigkeit („Mach 1“ = 332m/s)!]

über Wahrnehmungspsychologie (Gleichgewichtsorgan!)

Werke: – Mehrere Physikbücher

– Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886, 21900)

„Antimetaphysische Vorbemerkungen“: http://www.payer.de/fremd/mach.htm Engl.: http://www.marxists.org/reference/subject/philosophy/works/ge/mach.htm

– Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (1905)

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2. Philosophische Hauptfragen

Worauf bezieht sich unser Erkennen? Was ist (Natur-)Wissenschaft?

Wie kann man „metaphysische“ Annahmen/Spekulationen vermeiden?

3. „Empiriokritizismus“ und das „Prinzip der Denkökonomie“

Über Phänomenalismus und Realismus:

Phänomenalismus: „Die-Welt-Erkennen“ bezieht sich eigentlich auf mentale Objekte (Vorstellungen, Ideen, Sinnesdaten, Empfindungen, ...)

Realismus: „Die-Welt-Erkennen“ bezieht sich auf eine Außenwelt, die unabhängig von unserem Erkennen existiert

Mach favorisiert den Phänomenalismus, aber „nicht ganz“: Denn:

Bereits die These des Phänomenalismus enthält metaphysische Annahmen! (über „Sinnesdaten“, „Vorstellungen“, ...)

Daher: „neutraler Monismus“; Basis: „Empfindungen“

Unsere Annahmen von „Körpern“, „Verursachung“, „Gesetzen“, dem „Ich“ etc. sind Fiktionen, dienen der „denkökonomischen“ Ordnung der Empfindungen

Wissenschaft: fortlaufender historisch-biologischer Prozeß, Abfolge von Hypothesen und Konstruktionen

Ablehnung der Atomtheorie und der mechanischen Wärmetheorie aus philosophischen Gründen!

Machs Philosophie insgesamt: ein „undogmatischer Skeptizismus“

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Textbeispiel 1: Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum (1905)

[...]

Wenn aber dieses silberweiße Stück Natrium schmilzt, sich in Dampf auflöst, der dem ursprünglichen Ding gar nicht mehr ähnlich sieht, wenn das Natrium in verschiedene Partien geteilt, in verschiedene chemische Verbindungen übergeführt wird, so daß 'mehr' oder 'weniger' Körper vorhanden sind als vorher, so läßt sich die gewohnte Denkweise nur mehr äußerst künstlich aufrecht erhalten. Es wird dann vorteilhafter, dieselben Eigenschaften als bald diesem, bald jenem Komplex (Körper) angehörig anzusehen, und an die Stelle der 'nicht' beständigen Körper das beständige 'Gesetz' treten zu lassen, welches den Wechsel der Eigenschaften und ihrer Verknüpfungen überdauert.

Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern

'Empfindungskomplexe' bilden die Körper. Erscheinen dem Physiker die Körper als das Bleibende, Wirkliche, die 'Elemente' hingegen als flüchtiger vorübergehender Schein, so beachtet er nicht, daß alle

'Körper' nur Gedankensymbole für Empfindungskomplexe sind. Die Zumutung, diese neue Denkgewohnheit anzunehmen, ist wieder keine geringe. Wie würden sich die antiken Forscher gesträubt haben, wenn man ihnen gesagt hätte: "Erde, Wasser, Luft sind gar keine beständigen Körper, sondern das Beständige sind die in denselben steckenden heutigen chemischen Elemente, von welchen viele nicht sichtbar, andere sehr schwer isolierbar oder aufbewahrbar sind. Das Feuer ist gar kein Körper, sondern ein Vorgang usw." Die große Wandlung, die in diesem Schritt liegt, vermögen wir kaum mehr richtig abzuschätzen.

Wollte man das 'Ich' als eine 'reale' Einheit ansehen, so käme man

nicht aus dem Dilemma heraus, entweder eine Welt von unerkennbaren Wesen demselben gegenüberzustellen (Was ganz müßig und ziellos wäre), oder die ganze Welt, die 'Ich' anderer Menschen eingeschlossen, nur in unserm 'Ich' enthalten anzusehen (wozu man sich ernstlich schwer entschließen wird). Faßt man aber ein

'Ich' nur als eine 'praktische' Einheit auf für eine vorläufig

orientierende Betrachtung, als eine 'stärker' zusammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit anderen Gruppen dieser Art 'schwächer' zusammenhängt, so treten Fragen dieser Art gar nicht auf, und die Forschung hat freie Bahn.

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Textbeispiel 2: E. Mach, Analyse der Empfindungen (1886)

8.So besteht also die große Kluft zwischen physikalischer und psychologischer Forschung nur für die gewohnte stereotype Betrachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches Objekt sobald wir z.B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle (anderen Farben, Wärmen, Räumen usw.) achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut (den Elementen K L M ...), so ist sie ein psychologisches Objekt, eine Empfindung. [...]

9. Die dargelegten Gedanken erhalten eine größere Festigkeit und Anschaulich-keit, wenn man dieselben nicht bloß in abstrakter Form ausspricht, sondern direkt die Tatsachen ins Auge faßt, welchen sie entspringen. Liege ich z.B. auf einem Ruhebett, und schließe das rechte Auge, so bietet sich meinem linken Auge das Bild der nebenstehenden Figur 1.

In einem durch den Augenbrauenbogen, die Nase und den Schnurrbart gebildeten Rahmen erscheint ein Teil meines Körpers, so weit er sichtbar ist, und dessen Umge-bung.8 Mein Leib unterschiedet sich von den anderen menschlichen Leibern nebst dem Umstande, daß jede lebhaftere Bewegungsvorstellung sofort in dessen Bewegung ausbricht, daß dessen Berührung auffallendere Veränderungen bedingt als jene anderer Körper, dadurch, daß er nur teilweise und insbesondere ohne Kopf gesehen wird. Beobachte ich ein Element A im Gesichtsfeld, und untersuche dessen Zusammenhang mit einem anderen Element B desselben Feldes, so komme ich aus dem Gebiet der Physik in jenes der Physiologie oder Psychologie, wenn B, um den treffenden Ausdruck anzuwenden, den ein Freund beim Anblick dieser Zeichnung gelegentlich gebraucht hat,9 die Haut passiert. Ähnliche Überlegungen wie für das Gesichtsfeld lassen sich für das Tastfeld und die Wahrnehmungsfelder der übrigen Sinne anstellen.10

Figur 1

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5. Machs Einfluss

� Anti-metaphysisch, anti-kirchlich, demokratisch, sozialistisch → großer Einfluss im Wien des fin de siècle (Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, ...)

� Philosophie in Anschluss an die Naturwissenschaften, aber nicht völlig unkritisch: Was setzen wir voraus, wenn wir Naturwissenschaft betreiben?

� Einfluss auf den späteren Wiener Kreis, Vorbildfigur („Verein Ernst Mach“!)

� heftige Kritik von Vladimir Iljitsch Lenin (Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie (Moskau 1909): Erkenntnis ≠ Konstruktion, sondern = Annäherung an die (materielle) Wirklichkeit!!

� Ein Vergleich mit der Kunst dieser Zeit: George Seurat, Paul Signac, Paul Cezanne u.a., „Pointillismus“ Paul Signac (1863-1935), Le Sentier de Douane

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Einheit 6

Einige weniger bekannte Namen: Christian von Ehrenfels und Ernst Mally

Achtung, Einheit 6 wird evtl. übersprungen!

1. Was ist Philosophiegeschichte und wie sollte man sie betreiben?

a) „Systematische“ Philosophie und Philosophiegeschichte

b) Über große und kleine Figuren

– Philosophiegeschichte der „großen Genies“: Descartes-Spinoza-Hume-Kant-Fichte-Schelling-Hegel-...

– warum es oft nicht anders geht

– warum sie dennoch seltsam ist

– warum es sich lohnt, auch die „Seitenfiguren“ zu betrachten:

� sie sind der Großteil der Wissenschaftler! Kein korrektes Bild ohne sie

� ihre Ideen sind oft repräsentativ für eine Zeit

� ihre Werke sind ein guter „Eingang“ in die Diskussion ihrer Zeit

� oft hatten sie Einfluß auf die „großen Genies“: siehe Brentano, Meinong, Mach,

� manche ihrer Werke haben bleibende Qualität

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2. Die „Geschichtlichkeit“ unseres Denkens

a) Geschichtlichkeit

Wörter haben keine fixen Bedeutungen, Begriffe ändern sich, sind in einem geschichtlichen Kontext zu verstehen, der sich ändert

Beispiele: „Religion“ bei Bolzano und heute, „Intentionalität“, „Inexistenz“, „Gegenstand“ bei Meinong, ...

b) Die „radikale“ These der Geschichtlichkeit:

a) Wir werden nie verstehen, was (z.B.) Aristoteles, Brentano u.a. „wirklich“ gedacht und gemeint haben, weil wir ihren geschichtlichen Kontext nicht mehr wiederherstellen können.

b) auch unser heutiges Denken ist „geschichtlich“ und nicht der einzig mögliche Zugang zur Wirklichkeit.

c) Systematische Philosophie und Philosophiegeschichte ist also gar nicht trennbar: unser „systematisches“ Denken ist geschichtlich geprägt, und die „Philosophiegeschichte“ sehen wir mit unseren systematischen Interessen

c) Ein Paradox hinter der radikalen These:

- häufig plädieren Vertreter dieser radikalen These für viel Philosophiegeschichte (um unser eigenes Denken zu verstehen, seine geschichtlichen Hintergründe etc.)

- aber eigentlich ist das aussichtslos (wegen der Geschichtlichkeit, und Unwiederholbarkeit z.B. der „Welt des Aristoteles“ etc.)

d) Eine moderate Lösung

„Vorverständnis“ und die „hermeneutische Spirale“

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3. Christian von Ehrenfels (1859-1932)

a) Leben und Werk

Schüler von Brentano, Meinong und Masaryk

Begeisterung für Musik, Studium bei Anton Bruckner

1888 Habilitation

1890 Über Gestaltqualitäten (Einfluss von Mach und Brentanos Intentionalitätsthese)

1896 – 1929 Professor in Prag

1897/98 System der Werttheorie

1907 Sexualethik

1916 Kosmogonie

„Buntester“ Brentano-Schüler, verschiedenste Themen

b) Gestaltqualitäten (Text: Über Gestaltqualitäten 1932)

Fundament (Töne, Flächen, ...) und Gestalt / fundierter Inhalt (Melodie, Bewegung, Farbsequenz, Struktur, Wortspiel, Karikatur, ...)

Auch Gestalten sind Gegenstände des Erkennens! (Produziert oder bemerkt?)

Ausbau und Propagierung der Gestalttheorie durch Max Wertheimer, Carl Stumpf, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka („Berliner Schule“)

c) Sonstiges

Eugenik: – Industriestädte fördern Krankheiten, Alkoholismus, ..., keine natürliche Selektion der „Härtesten“, Degeneration; → Eugenik: „Zucht“ tüchtiger Kinder aus widerstandsfähigen Frauen und Männern, männerlose „Kibbutze“ – Verteidigung der Polygamie – aber kein Antisemitismus, Juden sind besonders tüchtig

Mathematik: Primzahlengesetz

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4. Ernst Mally (1879-1944)

Studium der Philosophie, Mathematik und Physik in Graz

1925-42 Professor in Graz, Nachfolger Meinongs

Mally als NS-Philosoph

Gutes Website: http://mally.stanford.edu/mally

Versuch einer konsistenten Variante der Gegenstandstheorie

Grundlagenarbeiten zur Logik (später veröffentlichte Skizzen)

Arbeiten zur Logik der Wahrscheinlichkeit

1926 Grundgesetze des Sollens

„Gesetze für ein Verhalten zu Gegenständen, das kein Denken ist“

„Sollen“ als eine besondere Art von „Gegenständen“ (vgl. Meinongs Annahmen)

Grundlagen der deontischen Logik:

– deontische Sätze: Operator plus Proposition

– Wichtige Äquivalenzen

– das logische Quadrat der deontischen Sätze

Ein kleines Anwendungs-Beispiel: Verneinung von deontischen Sätzen

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Einheit 7

Wege in ein extrem schwieriges Buch: Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) und der

Tractatus Logico-Philosophicus

1. Ludwig Wittgenstein (1889-1951)

Realschule in Linz

studiert Maschinenbau in Berlin und Manchester

1912 Studium in Cambridge; liest Frege und Russell

1913–14 Norwegen, Tagebücher

1914–18 Soldat, 18–19 Kriegsgefangenschaft, Arbeit am Tractatus

1920 Gärtnergehilfe, dann Volksschullehrer

1921 Der Tractatus erscheint

20er Jahre: Kontakte mit dem Wiener Kreis (schwierig!)

1926 Wörterbuch für Volksschulen, 1928 Wittgensteinhaus

1929 zurück in Cambridge, PhD (mit dem Tractatus)

1929–36 Fellow in Cambridge

1935 Reise in die Sowjetunion

1937 Norwegen, Arbeiten für die späteren Phil. Untersuchungen

1939–47 Professur in Cambridge (1939–44 immer wieder Hilfsdienste)

nach dem Krieg: Irland, Norwegen, USA, England

1951 gestorben in Cambridge

1953 Philosophische Untersuchungen erscheinen posthum

Diverse weitere posthume Editionen; siehe www.alws.at

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2. Der „Tractatus“

Dezimal-Numerierung, 7 Hauptsätze und Untersätze

Wie man den Tractatus lesen kann

Die Faszination der Person und des Tractatus; die „Wittgenstein-Industrie“, Wittgenstein als Symbolfigur für Vieles

Die Internationalen Wittgenstein-Symposien Kongresszentrum in Kirchberg in Kirchberg am Wechsel

Eine ungefähre, prima facie Liste der Themen des Tractatus:

Ontologie (Was es gibt, was die Welt ist) (1 – 2.063)

Sätze („Abbildtheorie“) (2.1 – 3.5)

Was ist Philosophie? (4 – 4.2)

Was ist Logik und Mathematik? (4.21 – 6.241)

Was ist Wissenschaft? (6.3 – 6.372)

Mystizismus, ethische und ästhetische Werte (6.373 – 6.522)

Über den Status des Tractatus selbst (6.53 – 7)

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3. Über „Wittgenstein I“ und „Wittgenstein II“

Ein wichtiges Merkmal der Philosophie im 20.Jahrhundert:

Entdeckung, wie wichtig die Sprache ist („linguistic turn“)

Zwei Wege, Sprachphilosophie zu betreiben

aa) Philosophie soll mit präzisen künstlichen Sprachen arbeiten, sie sind ein Schlüssel zur Wirklichkeit; formale Logik wichtig = „idealsprachliche“ Tradition (Beispiel: Russell, On denoting)

bb) Philosophie soll die normale Umgangssprache untersuchen, ihre vielfältigen Formen und ihre Unklarheiten = „normalsprachliche“ Tradition, „ordinary language philosophy“ (Beispiel: J.L. Austin, How to do things with words (1962) )

„Wittgenstein I“ (Tractatus): eher idealsprachliche Tradition

Grundlagen der Logik

„Abbildtheorie“ des Satzes

„Wittgenstein II“ (Philosophische Untersuchungen) [ – siehe später!]

Basistext der normalsprachlichen Tradition

Sprache als Verhalten

Vielfalt der „Sprachspiele“ (language games)

Kontinuität oder Diskontinuität?

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4. Was ist Philosophie? – Sprachklärung!

4.0031 „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik’ “.

4.003 Philosophie und Scheinprobleme; nicht falsch, sondern unsinnig

4.112 „...keine Lehre, sondern eine Tätigkeit... Gedanken klar machen“

4.11 und 4.111 Philosophie und Naturwissenschaft

4.1122

4.113 bis 4.116

Vorwort ... Missverständnis der Logik unserer Sprache...“

Ein Punkt der Kontinuität in Wittgensteins Denken! Siehe 4.002

5. Was ist die „Welt“ des Tractatus?

1

1.1

1.11

1.12

1.21

2

2.01

Vier Interpretationen von Wittgensteins „Gegenständen“: Sinnesdaten? Physikalische Gegenstände? Alltagsobjekte? Irgendwelche Gegenstände?

5.6

5.557

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6. Die Abbildtheorie des Satzes; Sagen und Zeigen

Russell’s Einleitung zum Tractatus (1922): „The essential business of language is to assert or deny facts“ (p.8)

2.1

2.11

2.141 „Das Bild ist eine Tatsache“: (Sätze als Tatsachen, die andere Tatsachen abbilden!)

2.16

2.17, 2.172 und 2.174

2.18

3 Gedanke

3.1 Satz

4.01 Satz als Bild der Wirklichkeit

4.022

7. Sind die Sätze des Tractatus selbst sinnvoll?

4.12

4.121

6.53

6.54

Vorwort

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Einheit 8

Der „Wiener Kreis“ (Schlick, Neurath, Carnap u.a.)

1. Geschichte des „Wiener Kreises“ (Vienna Circle)

„Erster Wiener Kreis“ 1907-12: Otto Neurath (Ökonom) Hans Hahn (Math.), Philipp Frank (Phys.)

1922 Moritz Schlick wird Prof. in Wien (Hahn!)

Mitglieder: Moritz Schlick

Philipp Frank

Gustav Bergmann Schlick Carnap Neurath

Rudolf Carnap (ab 1935 in Prag)

Otto Neurath (Organisator, Historiograph; „NHS-These!“)

Kurt Gödel

sonstige, teils kritische Teilnehmer: Hans Feigl Felix Kaufmann Karl Menger Carl Gustav Hempel Victor Kraft Friedrich Waismann

Gäste: K. Popper, Tscha Hung, Alfred J. Ayer, Alfred Tarski, W.V.O. Quine, ...

1928 „Verein Ernst Mach“

1929 Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung“

1931-1938 Zeitschrift „ERKENNTNIS“

Ähnliche Kreise in Berlin (Hans Reichenbach, Walter Dubislav) und Prag

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1936 Schlick wird ermordet, Ende des „Wiener Kreises“

bis 1938 die meisten Mitglieder gehen ins Exil, meist in die USA Carnap: Chicago, UCLA; Neurath: Oxford Feigl: Minnesota Reichenbach: Istanbul, UCLA Gödel: Princeton Kraft: Bibliothekar in Wien

USA: „Logical Empiricism“

Heute: Privates „Institut Wiener Kreis“ in Wien; http://www.univie.ac.at/ivc/

2. Wissenschaftliche Weltauffassung und „Unified Science“

Hintergründe: - anti-metaphysisches Klima in Wien im späten 19./20.Jh. - Machs „Denkökonomie“ und „Phänomenalismus“ - Wittgensteins Sprachkritik; Logik: Frege, Russell, TLP

Kennzeichen: Einheitswissenschaft / Kollektivarbeit

Empirismus / Positivismus: keine Metaphysik, kein „Apriorismus“ (Mach!)

Basis aller Behauptungen = „Gegebenes“

Logische Analyse: Komplizierte Aussagen aus „Gegebenem“ rekonstruieren („logischer Positivismus“)

3. Wissenschaft und Politik

– Neuraths ISOTYPE :

„The ordinary citizen ought to be able to get information freely about all subjects in which he is interested, just as he can get geographical knowledge from maps and atlases. There is no field where humanisation of knowledge through the eye would not be possible.“ (Neurath)

– Das „Wiener Programm der Bildpädagogik“

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4. Sinnvolle und sinnlose Sätze

Sinnvoll: - Gesetze der Logik, einfache empirische Sätze - Komplizierte Sätze: daraus konstruiert! -- Der Rest ist sinnlos!

Ein Vergleich mit Immanuel Kants Urteilstafel

5. Was unterscheidet „sinnvolle“ von „sinnlosen“ Sätzen? Das empiristische „Verifikationsprinzip“ und seine Liberalisierungen

Text: Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2 (1931/32), 220-241

Verifikation (verification) von S: feststellen, daß ein Satz S wahr ist

Verifizierbarkeit (verifiability) von S: Möglichkeit der Verifikation von S

Verschiedene Methoden der Verifikation, je nach Bereich

Wann ist ein Ausdruck [„a“] sinnvoll?

„a“ ist sinnvoll, wenn die empirischen Kennzeichen für a bekannt sind

„a“ ist sinnvoll, wenn es für Sätze mit „a“ eine Verifikationsmethode gibt

Zwei Arten sinnloser Sätze: – falsch konstruiert („Das Nichts nichtet“) – keine Verifikationsmethode

→ Karl Poppers Kritik: einfachste Naturgesetze wären damit sinnlos!

→ Carnaps spätere (1936) Liberalisierung: Confirmability, nicht verifiability

Ein Satz (Theorie) ist sinnvoll, wenn er durch Erfahrung bestätigt werden kann

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5. Empirische Wissenschaft als „Konstitutionssystem“; 3 Probleme

Grundidee: kompliziertere „empirische“ Begriffe werden schrittweise aus ganz einfachen Grundelementen konstituiert.

Rudolf Carnap, Der Logische Aufbau der Welt (1928) (Einfluss Ernst Machs!)

Was wollte Carnap? Unklare Interpretation dieses Buches bis heute:

– Sinnesdaten plus logische Konstruktion (empiristische Deutung) – Wissenschaft interessiert sich nur für die formalen Strukturen, was die Grundelemente „in Wirklichkeit“ sind, ist egal (konven- tionalistische Deutung)

Was ist die Basis der Konstitution? Protokollsätze!

Eine Debatte im Wiener Kreis: Wovon sprechen Protokollsätze?

Materialistische Deutung Mentalistische Deutung

Gibt es das „reine Gegebene“, die reine empirische Basis? Popper: theory-ladenness der Beobachtung

6. Religionsphilosophische Implikationen

Religiöse Sätze: - nicht falsch, - nicht empirisch schlecht begründet, „too weak evidence“ - nicht „unwissenschaftlich“, ...sondern einfach sinnlos.

Religiöse Rede als Ausdruck eines Lebensgefühls, emotive Deutung

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Einheit 9

Wissenschaft als Vermutung und Widerlegung: Karl Popper und der Kritische Rationalismus“

1. (Sir) Karl Raimund Popper (1902-1994)

geboren 1902 in Wien

unterbricht die Schule, Tischlerlehre

Interesse für S. Freud, A. Adler und K. Marx

Abwendung 1919 (Unruhen, Einstein/Eddington)

studiert Mathematik, Physik, Psychologie, Philosophie; Lehrerausbildung; Doktorat in Philosophie 1928

kritisch-distanzierter Gast des Wiener Kreises

1934 Logik der Forschung (The Logic of Scientific Discovery)

1937 Exil in Neuseeland

1944 The Poverty of Historicism

1945 The Open Society and its Enemies

1946 London School of Economics

Schwierige Begegnung mit L. Wittgenstein

1949 Professor of Logic and Scientific Method

„KRITISCHER RATIONALISMUS“

Berühmteste Schüler: Joseph Agassi, Imre Lakatos, Alan Musgrave u.a. Einfluss auf: Hans Albert, Thomas Kuhn, Paul Feyerabend u.a.

1961 Beginn des „Positivismusstreits“

1965 „Sir“

Weitere Bücher (Conjectures and Refutations, Objective Knowledge, The Self and its Brain (mit J.Eccles), The Open Universe, A World of Propensities,...)

1994 gestorben in England

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2. Falsifizierbarkeit als Demarkation Wissenschaft-Pseudowissenschaft

Hintergrund: Verifikationsprinzip des Wiener Kreises (Carnap u.a.)

(... war ein Sinnkriterium für kognitiv sinnvolle Sätze!)

Asymmetrien zwischen Verifikation und Falsifikation; All-Sätze/Existenz-Sätze

Folge: selbst einfachste Naturgesetze (Allsätze!) wären sinnlos!

Popper: Falsifizierbarkeit als Kennzeichen wissenschaftlicher Theorien

Falsifizierbarkeit: man kann Daten angeben, die die Theorie widerlegen würden

(Hintergrund: Poppers Beschäftigung mit Marx und Freud)

Achtung: kein Sinnkriterium, sondern ein Abgrenzungskriterium

→ es könnte „unwissenschaftliche“, aber sinnvolle Sätze geben

→ Metaphysik ist nicht immer sinnlos, und vielleicht heuristisch fruchtbar

3. Der Fortgang der Wissenschaft: Popper gegen den „naiven Induktivismus“

(Naiver) Induktivismus:

- Hypothesen werden durch Induktion aus Beobachtungen abgeleitet

- Hypothesen können durch Beobachtungen bestätigt / gerechtfertigt werden

- ihre Wahrscheinlichkeit steigt, je mehr passende Belege man hat

Popper: Naiver Induktivismus ist logisch und psychologisch falsch!

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Warum?

LOGISCH: - Allgemeine Theorien sind nie verifizierbar!

- daher auch nie bestätigbar (≈ teilweise verifizierbar)! - „Induktion hat bisher gut funktioniert, ist also wohl ein legitimes Verfahren“ wäre petitio principii, zirkuläres Argument - eine Theorie kann sich an den Beobachtungen höchstens „bewähren“ (can be corroborated), - sie wird dadurch aber nicht „wahrscheinlicher“!

PSYCHOLOGISCH: Zuerst kommt die Theorie/Vermutung/Vorannahme, dann Experiment/Beobachtung, „das uninterpretierte Gegebene“ gibt es nicht

Der Fortgang der Wissenschaft:

� Hypothesen = kreative Entwürfe, nicht Schlüsse aus Erfahrung

� Möglichst gehaltvolle Hypothesen, viele Falsifikationsmöglichkeiten

� Wissenschaft = Kritik, Versuch der Falsifizierung von Hypothesen

� Etablierte Theorien: „corroborated“, aber nicht dogmatisieren

� Langfristig steigt die „Wahrheitsähnlichkeit“ (verisimilitude); Realismus

� (Notabene: wahrheitsähnliche Hypothesen können falsch sein)

� Kriterien für Theorien:

- behauptet die Theorie, überhaupt irgendein Problem zu lösen?

- wenn ja, löst sie es?

- wenn ja: löst sie es besser als andere?

- ist sie fruchtbar, einfach, vereinbar mit anderen gut bewährten Theorien?

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4. „Kritischer Rationalismus“

Umfassende Theorie der Natur- und Kulturwissenschaften; conjectures & refutations

Fast eine Populärphilosophie in D / Ö, besonders in Sozialwissenschaften

„wissenschaftliche“ Theorien: kritisierbar! (anders: Ideologien, Dogmen)

Mittelweg zwischen unkritischem Rationalismus (selbstwiderlegend, überzogen) und Irrationalismus (→Gewalt, Ungleichheit, Paternalismus)

Entscheidungssache, keine Letztbegründung, „irration. Glaube an die Vernunft“

Wichtigkeit von Institutionen, die freies, kritisches Denken fördern

Ethische Hintergrundannahmen des Kritischen Rationalismus

- Gleichheit und Gleichberechtigung

- Einsatz gegen jedermanns Leid ist moralische Pflicht

- (Aber: Einsatz für das Glück anderer ist Sache nur von Freunden!)

- moralische (!) Pflicht zur Klarheit und Eindeutigkeit der Sprache

5. Einflüsse von Poppers Wissenschaftstheorie: Kuhn, Lakatos

Kritik an Popper: ist seine Theorie wirklich realistisch?

1962 T.S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions

Wissenschaftsgeschichte; Bedeutung von Soziologie und Macht

Wechsel von (1) „normal science“ mit stabilem „Paradigma“ und (2) „scientific revolution“ / Paradigmenwechsel

Kritik: Totaler Relativismus, Wissenschaft nur eine Machtfrage?

Lakatos: 1978 (posthum) The Methodologies of Scientific Research Programmes: Philosophical Papers

Forschungsprogramme; „harter Kern“ (ähnlich Kuhns Paradigma) und „belt of auxiliary hypotheses“ (ähnlich Poppers falsifizierbaren Hypothesen)

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Einheit 10

Poppers Politische Philosophie: „Piecemeal Social Engineering“ und die „offene Gesellschaft“

1. Das Grundproblem der Politischen Philosophie (O.S. Kap.7)

Nicht: „Wer soll herrschen, was ist die beste Regierungsform“?

(Falsche Voraussetzung dahinter!)

Sondern: „Wie kann man schlechte Machtträger wieder loswerden und sie daran hindern, großen Schaden anzurichten?“

2. Ein Zentralgedanke, der Poppers Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie verbindet

→→→→ Kritisierbarkeit von Autoritäten und Machtträgern als Zeichen der „offenen Gesellschaft“!

Politische Vorschläge ähneln Hypothesen, müssen kritisierbar sein. Vergleich:

politische Vorschläge – wiss.Hypothese

Undurchführbarkeit – Falsifizierung

Ideologien – Unfalsifizierbare Theorien

unangreifbare Systeme – immunisierte Wissenschaftsformen

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3. „Piecemeal social engineering“ / Stückwerk-Sozialtechnik

Auch soziale Gestaltung nach Versuch & Irrtum

Ablehnung revolutionärer Umstürze (Gewalt); kleine, überprüfbare Schritte!

Keine irreversiblen sozialen Experimente (unkritisierbar!)

Keine Experimente mit unkontrollierbarem Ausgang

4. Gegen „Historizismus“ und „Wissenssoziologie“

Ablehnung von unangreifbaren Ideologien, unfalsifizierbaren Geschichts-deutungen („innere Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“, Marx u.a.)

Ablehnung von politischem Prophetentum und „Orakelphilosophie“ (Opfer!)

„Wissens-Soziologie“ nach Poppers Beschreibung: „Wissen ist nur ein Produkt geschichtlicher, psychologischer u.a. Kontexte, abhängig vom sozialen Standpunkt, von unbewussten/unterbewussten Faktoren etc.“

Dagegen: (u.a.)

(1) Dreiweltenlehre (materiell – psychisch – geistig) und Wahrheitsnähe;

(2) Bedeutung der Subjekte, ihrer Bewusstseinszustände, der Freiheit;

(3) öffentlicher Charakter der wissenschaftlichen Methode und Kritik

Historizismus & Wissenssoziologie sind „doppelt verschanzter Dogmatismus“:

(1) unfalsifizierbarer Inhalt ihrer Behauptungen

(2) Auch der Kritiker ist Teil der Theorie

5. Ausblick: Religionsphilosophische Implikationen, kritische Überlegungen

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Einheit 11

Gerechtigkeit, Logik und Recht: Hans Kelsen, die „Reine Rechtslehre“ und die

Österreichische Verfassung von 1920

1. Hans Kelsen (1881-1973)

1881 geboren in Prag, jüdische Familie

Studium der Rechtswissenschaften, Promotion, Habilitation 1911

1918 außerordentlicher Professor in Wien

1919 ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht

Mitarbeit an der österreichischen Verfassung 1920

1930 Professor in Köln

1933 Emigration nach Genf

1936-1938 Professor in Prag für Völkerrecht (International Law)

1939 Flucht in die USA, Harvard Law School

1942 Professor an der University of California at Berkeley

Wichtigste Werke:

1911 Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (2.Auflage 1923, Reprint 1960)

1920 Sozialismus und Staat

1925 Allgemeine Staatslehre

1934 Reine Rechtslehre (2., stark veränderte Auflage 1960)

1948 The Political Theory of Bolshevism

1957 What is Justice? (Essays)

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2. Was ist eine Rechtsnorm? Naturrecht und positives Recht

Recht und Moral:

Ähnlichkeit: beides sind Normen, Vorschriften des Sollens

Unterschied: Art der Sanktion, wenn man die Norm bricht: Moral: nur soziale Kontrolle Recht: Zwang des Staates

Ein Übersetzungsproblem:

Recht ≈ law (objektives Recht)

Unrecht = wrong, injustice

ein Recht auf x haben = to have a right to x (subjektives Recht)

Gesetz = law

Rechtsphilosophie = philosophy of law (rarely: philos. of right)

Rechtspositivismus = legal positivism

Rechtsstaat = legal state

Traditionell: - Recht ist eine gerechte Norm, ein vernünftiger Imperativ - der/die mit der Drohung des Zwangs verbunden ist

Kelsen: - Recht ist jede beliebige Norm, die - auf korrektem Weg erzeugt worden ist und - die mit der Drohung des Zwangs verbunden ist

Das heißt: wesentlich ist die Drohung des Zwangs, nicht der Inhalt „Gerechtigkeit“ hat keinen fixen Inhalt; (wäre Metaphysik!)

Kelsen u.a. = Rechtspositivismus: Recht ist das, was als Recht erzeugt wurde, d.h. nur „positives Recht“

Jede beliebige Norm kann Recht werden, auf den Inhalt kommt es nicht an

Warum „reine“ Rechtslehre? Normen dürfen sich nicht auf politische Ideologien oder naturwissenschaftliche Begründungen stützen; Strikte Trennung Recht – Politik !

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Gegenposition: Naturrecht Es gibt „vor-positives“ Recht

Daran kann man das positive Recht beurteilen

Positives Recht, das gegen vorpositives Recht verstößt, ist kein „Recht“, sondern Unrecht

Thomas von Aquin R. Dworkin u.a.: General Principles of Law, (1224/5–1274) wichtig für „hard cases“

Wo ist das wichtig? Darf man die Leute, die Nazi-Recht exekutiert haben, später dafür bestrafen? Ähnlich: Ex-DDR: „Mauer-Schützen-Prozesse“

Verstößt die Todesstrafe gegen „höheres Recht“?

Fragen der Euthanasie, des Klonens etc. – darf man alles in ein Gesetz schreiben?

Gefahren:

Gefahr des Rechtspositivismus: Unrecht wird „Recht“, weil es eben Gesetz ist

Gefahr des Naturrechts: In der Geschichte wurde viel als „natürliche Ordnung“ angesehen: - Sklaverei - Minderwertigkeit der Frau etc.

(Verwechslung: „vertraut (familiar)“ mit „natürlich“!)

Rechtssicherheit/Kontrollierbarkeit wird besser durch Rechtspositivismus geschützt

Auch Kelsen ist nicht frei von Wertungen / Präferenzen/Idealen:

„Demokratie ist eine gerechte Staatsform, weil diese Staatsform individuelle Freiheit sichert.“

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3. Der „Stufenbau der Rechtsordnung“

a) Vorbemerkung: Über kontinentale und angelsächsische Rechtskultur

„Case-Law“ oder Gesetzesrecht?

Die Rolle des Richters: – Recht neu „finden“ oder

– einen Fall unter ein Gesetz „subsumieren“?

b) Der „Stufenbau der Rechtsordnung“

Art. 18 der Österreichischen Verfassung (Rechtsstaatsprinzip)

Art. 18. (1) Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. (2) Jede Verwaltungsbehörde kann auf Grund der Gesetze [...] Verordnungen erlassen.

Logische „Pyramide“ der Normen:

Verfassungsgesetze (laws in constitutional rank)

regeln die Erzeugung und begrenzen den möglichen Inhalt von ...

einfache Gesetze (simple laws)

regeln die Erzeugung und begrenzen den möglichen Inhalt von ...

Verordnungen (regulations)

regeln die Erzeugung und begrenzen den möglichen Inhalt von ...

individuelle Akte (private Verträge, Genehmigungen, ...)

c) Die „Grundnorm“

- „tiefere“ Normen dürfen „höheren“ nicht widersprechen; müssen gedeckt sein

- wieso gilt die höchste Norm? Wodurch gedeckt? Grundnorm! Reines Sollen!

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Einheit 12

Die Vielfalt der Sprachspiele: Wittgensteins späte Philosophie

1. Über „Wittgenstein I“ und „Wittgenstein II“

TLP: Sprache dient der Beschreibung von Sachverhalten; Abbildtheorie des Satzes

Aber schon im TLP: 4.002, 4.0031 Alltagssprache ist äußerst kompliziert! Philosophie = Klärung von Missverständnissen

Wittgensteins Wende etwa 1929-30

Posthume Editionen: Blue Book, Brown Book, Philosophische Grammatik, Philosophische Untersuchungen [PU / PI], On Certainty

Grundthese der PU: Sprachverhalten als Teil des sonstigen Verhaltens; Sprache dient sehr verschiedenen Zwecken; Bedeutung = Gebrauch

2. Eine falsche Theorie von der Sprache: PU 1, 3, 5 u.v.a.

Wörter benennen Gegenstände, Sätze sind Verbindungen von Wörtern

Die Bedeutung ist der Gegenstand, der für das Wort steht; „Museumstheorie“

(Woher wir das kennen: „Abbildtheorie“ und „logische Form“ im Tractatus

Russells Theorie der (leeren) Kennzeichnungen (jedes Wort hat eine Bedeutung) !!)

Die Grenzen dieser Theorie: Was ist z.B. die Bedeutung von „fünf“? (PU 1)

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3. Sprechen und Handeln

Was man aus dem Apfelbeispiel lernen kann: Sprechen hat mit Handeln zu tun

Manche Wörter stehen nicht für Gegenstände, sondern gehören zu einem Handlungsmuster! (PU 1; „Ende der Erklärungen“)

PU 7, 23: Definition „Sprachspiel“

(→ Verbindung Sprachverhalten -- nicht-sprachliches Verhalten !)

4. Die Vielfalt der Sprachspiele

-- PU 23 (eine immer unvollständige Liste!)

-- Die Flexibilität / Dynamik der Sprachspiele („...wie eine alte Stadt“)

-- „Was kennzeichnet alle Sprachspiele?“: unbeantwortbar

-- aber „family resemblances“ (Familienähnlichkeiten) PU 3, 11 u.a.

5. „Meaning is use“ – Die „Gebrauchstheorie der Bedeutung“

Was bedeuten die Wörter? – Rückblick auf die Abbildtheorie: PU 23/Schluss

„Gebrauchstheorie der Bedeutung“: PU 43

Folge: Bedeutung eines Wortes ist nichts Fixes für alle Zeiten, sondern liegt in ihrem Gebrauch; (Auch hier. „... wie eine alte Stadt!“)

Folge: „Die eigentliche“, „die richtige“ Bedeutung eines Wortes gibt es nicht!

Spracherwerb / Spracherlernen: Mitspielen im Spiel, in der Lebensform, soziale Korrektur, „Abrichtung“ (PU 5) (Beispiele: Kinder; faux-pas in fremder Kultur)

[(normal) nicht durch: Erklären und Studieren der Wort-Bedeutungen PU 1]

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Einheit 13

Mit Wittgenstein weiter denken: Austin, Searle und die speech act theory;

„Wittgensteinische“ Religionsphilosophie

1. Die „Sprechakttheorie“

J.L. Austin: How to do things with words (1962) John Searle: Speech acts (1969)

Austin: lokutionärer Akt – illokutionärer Akt – perlokutionärer Akt Searle: utterance act – propositional act – illocutionary act

„Glückensbedingungen“ von Sprechakten (der Einfachheit halber Englisch!) (siehe schon Wittgenstein, Tractatus 4.002!)

Searle’s felicity conditions for promising (1969):

Given that a speaker S utters a sentence T in the presence of a hearer H, then, in the literal utterance of T, S sincerely and non-defectively promises that p to H if and only if the following conditions 1-9 obtain:

1. Normal input and output conditions obtain.

2. S expresses the proposition that p in the utterance of T.

3. In expression that p, S predicates a future act A of S.

4. H would prefer S’s doing A to his not doing A, and S believes H would prefer his doing A to his not doing A..

5. It is not obvious to both S and H that S will do A in the normal course of events.

6. S intends to do A.

7. S intends that the utterance of T will place him under an obligation to do A.

8. S intends (i-1) to produce in H the knowledge (K) that the utterance of T is to count as placing S under an obligation to do A. S intends to produce K by means of the recognition of i-1, and he intends i-1 to be recognized in virtue of (by means of) H's knowledge of the meaning of T.

9. The semantical rules of the dialect spoken by S and H are such that T is correctly and sincerely uttered if and only if conditions 1-8 obtain.

Performative; Explizite und implizite Performative

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2. Wittgensteins Religionsphilosophie

2.1 „Wittgensteinianism“ / „Wittgensteinian Fideism“ – einige häufige Klischees

WICHTIG: Bei Wittgenstein nur verstreute Texte; der „Wittgensteinianism“ wurde konstruiert, bevor wichtige Texte posthum publiziert wurden!

� Religiöse(s) Sprachspiel / Lebensform ist eines neben vielen, wird eben von manchen Menschen gespielt

� eingebettet in religiöses Handeln, soziale Praxis

� Keine Frage nach vernünftiger Rechtfertigung – „so handle ich eben“

� PU 373: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)“ – „theology is the grammar of the word >God<“ (Cambridge lectures 1932-35)

� „Gott existiert“ ist keine Faktenbehauptung, sondern grammatische Bemerkung, „Gott existiert nicht“ auch „Gott ist allmächtig, weise, gütig, ...“ sind nicht Aussagen über Eigenschaften Gottes, sondern über den Gebrauch des Wortes „Gott“ „Wie du das Wort „Gott“ verwendest, zeigt nicht, wen du meinst – sondern, was Du meinst. (VB 521)

Vergleiche: Über Gewißheit 35 „>There are physical objects.< is nonsense.“

„Physikalische Objekte existieren.“, „Rot existiert“ sind keine Faktenbehauptungen, sondern Behauptungen darüber, dass „physikalisches Objekt“ und „rot“ in unserer Sprache verwendet hat und eine Bedeutung hat.

� „metaphysische Behauptungen“ sind also grammatikalische Regeln, sie sagen uns nicht, „was es in der Welt gibt“, sondern wie wir die Welt beschreiben / einteilen / strukturieren

� „Wittgensteinianische Religionsphilosophie“ untersucht religiöse Sprachspiele auf ihre Regeln, und Zusammenhang mit Handlungsmustern

� religiöse Sätze sind eigentlich moralisch, drücken Gebote, Handlungs-regeln aus („Tu dies! – denk so!“, VB S. 491), oder ein Lebensgefühl

� jedenfalls: nonkognitive (emotive oder moralische) Umdeutung religiöser Sätze, kein Bezug auf Transzendenz

� keine von außen anlegbaren Vernünftigkeitsstandards, „Wittgensteinian Fideism“; Relativismus verschiedener religiöser Sprachspiele

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2.2 Einige nähere Betrachtungen

� Vermutung: undifferenzierter „Wittgensteinianismus“...

� verbindet Motive und Themen aus verschiedenen Phasen

� Übergewicht der sozialen Aspekte: Handeln, Ethik

� Untergewichtung der „persönlichen, existentiellen“ Aspekte: Lebens-/ Weltgefühl, „Tiefendimension“, Art „religiöse Erfahrung“

� Was ist eigentlich ein „religiöses Sprachspiel“, was eine „religiöse Lebensform“? (Dahinter: allg. Deutungsfragen!)

- viele Mini-Sprachspiele innerhalb einer Religion? (PU 23) - je eines für jede Religion? („Wittgensteinianismus“) - eines, das alle Religionen umfasst (wohl W.s Meinung) - religiöse Lebensform ist eine unter vielen (Malcolm?) - Religion ist Teil einer Lebensform (Phillips?) - religiöse Lebensform ist „Tönung“ des gesamten Lebens, Wahrnehmungsfähigkeit für Tiefendimension, „feeling“ jede Lebensform kann (nicht-)religiös gelebt werden

„Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich kann mir nicht helfen, jedes Problem unter einem religiösen Gesichtspunkt zu sehen.“ (Bemerkung gegenüber Maurice Drury)

� Parallel: Wittgensteins partielles Interesse an Religion:

- wenig Interesse an Vorstellungswelten der Religionen und deren inhaltlichen Unterschieden

- wenig Interesse an ihren Wahrheitsansprüchen

- Interesse am Zursprachebringen einer Tiefendimension des Lebens. Religiöse Grundgefühle: Staunen und Problemhaftigkeit des Lebens (Tod, Schuld, Sicherheitsgefühl)

- gewisser Romantizismus, urspr. Tiefe gegen wiss. Weltbild

� Daraus folgt aber auch: Der Relativismusvorwurf gegen Wittgenstein geht z.T. ins Leere

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„Gott existiert“ ist eine grammatikalische Bemerkung, „Gott existiert nicht“ auch (und als grammatikalische Bemerkungen sind sie OK!)

„Gott ist allmächtig, weise, gütig, ...“ sind nicht Aussagen über Eigenschaften Gottes, sondern über den Gebrauch des Wortes „Gott“

„>Gott kannst Du nicht mit einem Andern reden hören, sondern nur, wenn Du der Angeredete bist.< – Das ist eine grammatische Bemerkung.“ (Zettel 717)

Grammatikalische Behauptungen sind „gewiss“ – nicht diskutierbar mit evidence/counter-evidence, sind keine wahrscheinlichen/unwahrscheinlichen Faktenaussagen

Das religiöse Sprachspiel wird gespielt, die religiöse Lebensform wird praktiziert, und ist OK

→ theologische Sätze drücken eine „Sicht der Welt aus“, beschreiben eine Lebensform: wie „Gott“ mit verschiedenen Handlungen zusammenhängt, etc.

Sind aber Wunder der Natur, design argument keine „Argumente für Gott“? – Nein, eher: Interpretation der Welt im Lichte einer bestimmten Weltsicht.

2.2 „Wittgensteinian Fideism“ / Glaube ohne Gründe?

� Wittgenstein und Gott: Hat der Tiefenbezug des religiösen Menschen doch einen Gegenstand?

� kein totaler Irrationalismus: (a) innerhalb religiöser Lebensformen gibt es sehr wohl Begründungen, (b) bestimmte Formen des Redens von Gott sind als „abergläubisch“ zurückweisbar

� Was Religion „wirklich“ ist, ist nur von außen beurteilbar (wie Marx, Freud, ...): hier hätte gerade Wittgenstein widersprochen!

� Unterschiede zwischen Religionen wären irrelevant

� Unterschied zu nichtreligiösen Phänomenen verschwimmt:

„Wenn man versucht, Religion und religiösen Glauben auf eine grundlegende tiefe Verpflichtung [commitment] und die Bemühung reduziert, ein anständiger Mensch zu sein, sich wirklich um andere zu sorgen und Gutes zu tun, [...] dann nimmt man eine notwendige Bedingung für echte Religiosität und verwandelt sie in eine hinreichende. Aus dieser Sicht der Dinge würden Marx, Engels, Luxemburg, Durkheim, Freud, Dewey, Weber, Gramsci alle religiös sein. Aber das ist ein Reduktionismus.“ (Kai Nielsen 2001, 155)

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CUTS:

4. Die wichtigsten Epochen der Philosophie in Europa

Antike: „Vorsokratiker“ (Thales, Heraklit, Parmenides, ...)

Sokrates

Platon (427-347 v.Chr.)

Aristoteles (384-322 v.Chr.)

Mittelalter: Augustinus (354-430) CHRISTLICHER PLATONISMUS

Anselm (1033-1109)

Thomas von Aquin (1225-1274) CHRISTLICHER ARISTOTELISMUS ( & Einfluss von Augustinus!)

Neuzeit: Francis Bacon (1561-1626) „PROGRAMM“ DER NEUEN NATURWISSENSCHAFT

Isaac Newton (1642-1727) MODERNE PHYSIK

Das Problem der Gewissheit:

RATIONALISMUS: René Descartes (1596-1650) Baruch Spinoza (1632-1677) Gottfr. Wilh. Leibniz (1646-1716) Christian Wolff (1679-1754) Grundidee: Gewiss und real ist, was im Denken klar „nachkonstruiert“ werden kann. „Erkennen = in Gedanken konstruieren“

EMPIRISMUS: John Locke (1632-1704) David Hume (1711-1776) Grundidee: Begründbar ist nur das, was sich aus einfa- cher Sinneserfahrung rekonstruieren läßt „Erkennen = in Erfahrung Hinnehmen“

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(→ Tendenz zum Skeptizismus!)

IMMANUEL KANT (1724-1804); „Kritizismus“

Verbindet Ideen des Ration. & Emp.

Erkennen = Synthese von Erfahrung & „Apriorischen Formen“

Es gibt allgemeine Erkenntnis, auch in der Wissenschaft, aber:

Sie bezieht sich nicht auf das „Ding an sich“, sondern nur die „Erscheinung“, das „Ding für uns“

Existenz Gottes, Freiheit des Menschen, Unsterblichkeit der Seele nicht theoretisch beweisbar; sind nur „praktische Postulate“

Kants Ethik, Rechts- und Staatsphilos.: „kategorischer Imperativ“; Freiheit

DEUTSCHER IDEALISMUS Joh.Gottl. Fichte (1762-1814) F.W. Schelling (1775-1854) G.W.F. Hegel (1770-1831)

Hoch spekulative „allgemeine Theorie der Wirklichkeit“ Objektiv wirklich ist nur der Geist, Materie ist eine Form davon, ...

ENTWICKLUNG NACH KANT: bunt; wichtige Strömungen

Marxismus (19./20.Jh.)

Neukantianismus (versch. Richtungen)

Neuscholastik (1850-)

Phänomenologie (20.Jh.)

Existenzphilosophie (20.Jh.)

Analytische Philosophie

Wissenschaftstheorie

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Neomarxismus

ZU BRENTANO: Wahrheit und Religionsphilosophie

3. Was ist „Wahrheit“?

„Wahrheitstheorien“: Adäquationstheorie

Kohärenztheorie

Konsenstheorie

Evidenztheorie etc.

Brentanos Ablehnung der Adäquationstheorie: ein Regreßargument

Ein Schritt zur Lösung: Wahrheits-definition und Wahrheits-kriterien

4. Wahrheit als Evidenz bei Brentano

Wahrheit = evidente Wahrheit; ein Urteil ist wahr, wenn ihm ein evident Urteilender zustimmen würde

Eine „epistemische“ Wahrheitsdefinition

Das Grundproblem der Evidenztheorie: Evidenz ist nicht intersubjektiv!

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5. Philosophie und Religion bei Brentano

- „Weisheit“ (wisdom) – Lebensorientierung, Klugheit, ...

- Brentano: Religion als Vorstufe zu einer „philosophischen Weltanschauung“, „Ersatz“

- Späte religionsphilosophische Werke

(Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung etc.)

- Vom Verhalten des Weisen zur Volksreligion

6. Brentanos rationaler Theismus

a) Kann man Gottes Existenz „beweisen“?

„JA“: Augustinus, Scholastiker, Descartes, Leibniz, 1. Vatikanisches Konzil, ...

„NEIN“: Hume, Kant, Russell, ...

Vorsicht! :

→ Besser nicht von „Beweis“ (proof) sprechen, sondern von „Argumenten“

→ (Wie alle philosophischen Argumente): keine absolut zwingenden „Beweise“

→ Ist der philosophisch erreichbare „Gott“ schon der „Gott“ der Religion?

→ Immerhin: Argumente können zeigen, daß der Glaube nicht unvernünftig ist

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b) Traditionelle Formen von Argumenten für Gottes Existenz

„Ontologisches“ Argument: aus der Definition Gottes als vollkommenstes Wesen folgt seine Existenz

Anselm(11/12.Jh.), Descartes, Leibniz, Plantinga

„Kosmologische“ Argumente:- dass es die Welt gibt, muß einen Grund haben

- einige auffällige Merkmale unserer Welt müssen einen Grund haben

Thomas v. Aquin, u.a.

„Teleologische“ Argumente: - (télos=Ziel) einige Dinge in unserer Welt scheinen so abgestimmt, daß sie auf einen intelligenten „Planer“ hinweisen („design“)

c) Brentanos teleologisches Argument (Vom Dasein Gottes, ed. 1929)

Woher stammen die komplexen Verhältnisse in unserer Welt?

(1) Zufall ?

(2) Evolution?

(3) Göttlicher Plan?

(2) ist nur eine Variante von (1); [Evolution aus einem Material, das zufällig entstanden ist].

Also verbleiben nur 2 Hypothesen: Zufall oder göttlicher Plan.

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Brentano vergleicht die beiden Hypothesen mit probabilistischen Überlegungen.

[stark vereinfacht:]

- Es ist unendlich unwahrscheinlich, daß die Welt zufällig so entstanden ist [Metapher: Affen spielen mit SCRABBLE-Steinen – wie wahrscheinlich ist es, daß sie zufällig den Text der „Odyssee“ zusammenstellen?]

- Die „Gotteshypothese“ ist dagegen recht einfach

- Es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß ein Gott auch eine Welt schafft

[Ähnlichkeit mit R. Swinburne, The Existence of God, Oxford 1979 ! ]

d) Ist Brentanos Argument stichhaltig?

- woher nimmt Brentano die Wahrscheinlichkeiten?

- Der Vergleich mit den Affen, oder mit einer Lotterieziehung ist falsch, denn hier haben wir statistische „Vergleichsdaten“

- unser Universum aber ist einzig, wir haben keine „Vergleichsdaten“ darüber, wie (un-)wahrscheinlich sie ist

- aussichtsreicher sind vermutlich kosmologische Argumente

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