Q09 // Hannes Bajohr // Koordinaten // Erzählungen

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Erzählungen · Hannes Bajohr

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Die Schären liegen nicht vor Stockholm, Irkutsk befindet sich am Walden Pond und New York ist eine Zeitschleife, die im Futur II beginnt: Bajohrs Prosadebüt verschmelzt mit präziser, dichter Sprache Erzählungen, Prosamini­aturen und atmosphärische Reisebeschreibungen zu einem Amalgam aus Fremdheit … und Vertrautheit.

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Erzählungen · Hannes Bajohr

Hannes Bajohr · Erzählungen

eins Tokio

zwei Zimmer i–iV

drei Schären

vier PeTerSburg

fünf oSTen

sechs cuT

sieben Weichbild

acht Zerfall

neun irkuTSk

zehn freie Wahl

elf moSkau

zwölf memoiren

dreizehn Wochenende

vierzehn hiroShima

fünfzehn fähre

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TOKIO

zum Beispiel Shibuya, dort artifizielle Gestalten und die Lichter scharf und sechzehn Stockwerke bunt, darin mit Aufzügen werden geschleust die Besucher und kommengehen akkordweise. Stadt, das ist keine mehr; nur zwei Arten Mensch, in Arbeit und Freizeit, auch das Arbeit. Orange leuchtet Yoshinoya billig als Anker, Asyl zehn Minuten bei Reis mit Rindfleisch und Gratiswasser, das kann hier ein Glück sein wie ein Gerechter. Hinter der Theke schwitzen die Kellner und Köche und nehmen und tragen und schieben und braten. Ich danke ihnen mit Schweigen und dreihundert Yen

die Pornoläden mit vier Etagen Videos und allemwasdazu, man wills nicht wissen im Detail, aber Neugier schiebt durch die Gänge, vorbei an kindlichen Schuluniformen, anal und amphib in gleichberechtigtem Verhältnis, man wills nicht wissen, und die Salarymen mit dem Einkaufskorb nehmen Gleitgel und was für Instrumente mit in die Kabine, nicht im Detail; und Hallen davon, eine Masse, dass Straßenqueren möglich ist und trotzdem der Katalog nie dem Blickrand forttaucht

sie sind nicht zu fassen: die dreißig Millionen, die hier die Erde zuhalten, ich kann sie nicht ausmalen, irgendwo be-schneidet immer der Horizont die aufgewühlte Vorstellung und lenkt sie ab in Bahnen und in Ruhe. An den Haltestellen, die als Katakomben die Stadt untererd spiegeln und am Darüber zweifeln lassen, fließen die Menschen als Plasma

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mit Terminen ohne Widerstand. Ihr Metronom kann ich nicht kennen, es ist mir fremd, ich bin hier unter Millionen Wissenden der einzige, der den Takt verfehlt. Wer allein ist, ist nur auf dem Weg, es gibt nur Kollektive. Ich kann nicht schwimmen und treibe bloß obenauf

ich entstieg dem Bus, als noch Nebel und Krähen als dunkle Schatten über Shinjuku kreisten, die Menschleere gegen fünf und die Fußgängerbrücken, die das Oben übersteigen, gefährlich fern über den Straßen schwingen, ein Windhauch und der Beton wird zu Papier, ein bekanntes Gesicht und die Häuser bekämen Rinde, würden lachen und freundlich auf die Schulter klopfen. Tagsüber weisen die Fassaden ums Rathaus die Menschen aus, feindliche Fenster in schlanker Linie. Ein Rauschen über der Stadt, aber selten ein Laut. Und die Panik, nicht überall sein zu können, die alte Weis-heit, Dort halt ichs auch aus – wenn dort hier sein soll: dann nicht

auch Sen Gawa, ruheloser Vorort, der geile Bruder in Miniatur, Hoffnung auf Zäune und Planken vergebens, dafür Zwingen an den Rändern, da dreht einer dran und dreht. Kriminelle gibt es nie. Und nur eine Partei seit fünfzig Jahren. Einbahn-straßen, die ich mit ausgestreckten Armen umarmen kann. Einmal bin ich umarmt worden, unverhofft in einer Bar, als ich trank und einer kam und mit mir trank

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ZIMMER I-IV

ISie nimmt Anteil, wir teilen aus, er teilt sich mit, die Dielen teilen das Zimmer in dreißig kleine Streifen. Es ist gut, dass diese Streifen da sind, sonst wär die Luft über ihnen ge-setzlos wie die Verwirrung vor der Tür. Das soll ja nicht sein. In die Streifen muss er die Schritte setzen, es muss hier drin ein Raster geben, in das er sich schlafen legen kann. Da sind überall Gitter und Schranken. Die Gitter trennen die Brachflächen seines Denkens, die Schranken verhindern die Durchfahrt. Ein Zöllner steht an jedem Schlagbaum, seine Uniform ist schwarz, sein Gesicht streng gescheitelt, wir kennen uns doch, wir haben uns doch schon so oft gesehen. Gesprochen wird nicht. Rein oder nicht.

IIDer Kaffee dampft auf dem Küchentisch und bewegt tröstlich die Luft. Das macht er immer: Wenn die Luft flirrt und tanzt, da starrt er lange rein. Diesen Tanz will er behalten, aber das ist unmöglich. Dieser Tanz ist nur aufgemalt, kein Griff daran, dieser Tanz ist nur ein Vorschlag. Kann man nicht magazinieren. Mit den Sachen sein Leben malen! Die sind doch heim-tückisch und heucheln einen Inhalt, der mehr sein soll als seine Hülle. Dabei ist das lachhaft. Denkt er oft: Einen Stein

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oder ein Stück Holz an jede Stelle und nichts würde sich ändern. Das ist Esoterik oder Angst, die sich in Romantik flüchtet: dass es einen Geist gibt, der das durchwabert.

IIIDer Teppich hat Löcher, kleine, rund eingefressene Hohl-räume, deren Ränder weich den Stoff zu Asche deklinieren. Der Kratzer im Lack der Tür. Die geplatzten Putzrisse in der Wand. Das sind Zeugnisse, die einzigen, die ihn ausweisen. Aber sie sind genauso wenig wert, wie die Sachen, die stumm und zufällig das Zimmer füllen. Denn sie wissen keine Antwort auf die Fragen, wen sie ausweisen und wessen Leben gemalt wird. Wir laden Sie vor und hinter dem Glas stehen die Verdächtigen, rechts ihre Leben auf dem Haufen, was gehört wohin, Sie haben Stunden Zeit. Sammeln und mischen wirs, nichts lässt sich zurückverfolgen.

IVDer Zöllner singt am Abend sein Lied, wir sehen das Lager-feuer und seine Beine im Sand, der Kaffee ist umgestoßen und sickert im Teppich den Dielen entgegen. Die Wände eingestürzt geht der Blick aufs Meer, Möwen treten in den Himmel und die Laken wehen leicht über der Fensterbank.

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