Quellen für den Unterricht 58 Florian Hellberg / Tobias Roth · M 2: 0–Identifizierbare Opfer...

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Quellen für den Unterricht 58 erkennen. Die Frauen rechts und links sind unscharf, wodurch der Fokus des Betrachters auf die Frau in der Mitte der Fotografie gelenkt wird. Alle drei abge- bildeten Personen wirken fröhlich, was durch das Lachen der Frau im Bildzen- trum unterstrichen wird. Sowohl der Schattenwurf als auch die Kleidung deu- ten darauf hin, dass die Fotografie in den Sommermonaten geschossen wurde. Obwohl keine der Frauen direkt in die Kamera blickt, handelt es sich allem An- schein nach nicht um einen Schnapp- schuss von drei weiblichen Personen bei der Trümmerräumung, sondern viel- mehr, aufgrund der strengen Symmetrie, um ein gestelltes Foto. Mythos „Trümmerfrauen“ Die Fotografie erweckt den Eindruck, dass es vor allem die Frauen waren, die freudig und freiwillig mit bloßen Hän- den Trümmer wegräumten und somit maßgeblich für den Wiederaufbau nach dem Krieg verantwortlich waren. Diese Vorstellung ist nach der Lektüre des Textauszuges der Historikerin Leonie Treber nicht mehr zu halten, da sie nach- weisen konnte, dass vor allem professio- nelle Verwertungsgesellschaften und schweres Gerät die Trümmer in Deutsch- land nach dem Krieg beseitigten (M 6). Trotzdem gibt es in ganz Deutschland zahlreiche Denkmäler sowie Darstellun- gen, die das vermeintliche Massenphä- nomen Trümmerfrau sowie die damit eng verbundenen Leistungen der Frauen für den Wiederaufbau Deutschlands un- kritisch heroisieren. Allerdings wurde die Trümmerfrau als Nachkriegsheldin in der Bundesrepublik erst seit den 1980er Jah- Mythos „Trümmerfrauen in Freiburg“ Archivnachrichten 59 / 2019 51 Operation Tigerfish Der 27. November des Jahres 1944 gilt als schwärzester Tag der jüngeren Frei- burger Stadtgeschichte. Bei diesem hölli- schen Furioso, so war der Lokalpresse in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu ent- nehmen, bombardierten britische Kampfflugzeuge weite Teile der Altstadt, die gesamte Nordstadt, die Mooswald- siedlung und Betzenhausen sowie den Stühlinger. Im insgesamt 23 Minuten dauernden und mit dem militärischen Codenamen Operation Tigerfish bezeich- neten Angriff wurden mehr als 14.500 Bomben über der Stadt abgeworfen (M 3). Dass sich die Zahl der Opfer auf rund 2.800 beschränkte, ist auf die zahlreichen tiefen Keller, das in Freiburg teilweise ausgebaute System unterirdischer Fluchtwege sowie Fluchtmöglichkeiten auf den angrenzenden Schlossberg zu- rückzuführen (M 2). Freiburg in Trümmern Die Folge des Flächenbombardements waren rund eine Million Kubikmeter Schutt. Dies entsprach einer Schutt- menge von zehn Kubikmeter pro Kopf. Wie aus zahlreichen anderen deutschen Städten sind auch aus Freiburg Fotogra- fien erhalten, die junge Frauen bei der Trümmerräumung zeigen. Die unda- tierte Schwarz-Weiß-Fotografie aus einer Loseblattsammlung des Pressefotografen Karl Müller zeigt drei Frauen, die aufge- reiht vor einer etwa hüfthohen Mauer aus Backsteinen stehen (M 1). Sie rei- chen sich in einer Menschenkette Steine. Im Hintergrund sind einige Bäume sowie die Silhouette eines Gebäudes zu ren in den Rang eines identitätsstiften- den Gründungsmythos zwischen Wäh- rungsreform, Wirtschaftswunder und Wunder von Bern erhoben. In der DDR hingegen wurden die Trümmerfrauen be- reits seit den 1950er Jahren als positiver Prototyp der neuen sozialistischen Frau ideologisch aufgeladen (M 7). Freiburger Trümmerexpress Auch in Freiburg erfolgte die Trümmer- räumung maßgeblich durch Großgeräte zur Trümmerbeseitigung. Am 12. Fe- bruar 1947 feierte die städtische Freibur- ger Schuttbahn (auch Trümmerexpress) ihre Jungfernfahrt (M 5). Für den Be- trieb standen insgesamt fünf Dampflo- komotiven, vier Diesellokomotiven und 146 Loren zur Verfügung (M 4). Nach der allmählichen Umstellung der Ent- trümmerung auf den Lkw-Betrieb wurde die Schuttbahn im August 1949 demon- tiert. Quellen für den Unterricht 58 Florian Hellberg / Tobias Roth

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Quellen für den Unterricht 58

erkennen. Die Frauen rechts und linkssind unscharf, wodurch der Fokus desBetrachters auf die Frau in der Mitte derFotografie gelenkt wird. Alle drei abge-bildeten Personen wirken fröhlich, wasdurch das Lachen der Frau im Bildzen-trum unterstrichen wird. Sowohl derSchattenwurf als auch die Kleidung deu-ten darauf hin, dass die Fotografie in denSommermonaten geschossen wurde.Obwohl keine der Frauen direkt in dieKamera blickt, handelt es sich allem An-schein nach nicht um einen Schnapp-schuss von drei weiblichen Personen beider Trümmerräumung, sondern viel-mehr, aufgrund der strengen Symmetrie,um ein gestelltes Foto.

Mythos „Trümmerfrauen“

Die Fotografie erweckt den Eindruck,dass es vor allem die Frauen waren, diefreudig und freiwillig mit bloßen Hän-den Trümmer wegräumten und somitmaßgeblich für den Wiederaufbau nachdem Krieg verantwortlich waren. DieseVorstellung ist nach der Lektüre desTextauszuges der Historikerin LeonieTreber nicht mehr zu halten, da sie nach-weisen konnte, dass vor allem professio-nelle Verwertungsgesellschaften undschweres Gerät die Trümmer in Deutsch-land nach dem Krieg beseitigten (M 6).Trotzdem gibt es in ganz Deutschlandzahlreiche Denkmäler sowie Darstellun-gen, die das vermeintliche Massenphä-nomen Trümmerfrau sowie die damiteng verbundenen Leistungen der Frauenfür den Wiederaufbau Deutschlands un-kritisch heroisieren. Allerdings wurde dieTrümmerfrau als Nachkriegsheldin in derBundesrepublik erst seit den 1980er Jah-

Mythos „Trümmerfrauen in Freiburg“

Archivnachrichten 59 / 2019 51

Operation Tigerfish

Der 27. November des Jahres 1944 giltals schwärzester Tag der jüngeren Frei-burger Stadtgeschichte. Bei diesem hölli-schen Furioso, so war der Lokalpresse inder unmittelbaren Nachkriegszeit zu ent-nehmen, bombardierten britischeKampfflugzeuge weite Teile der Altstadt,die gesamte Nordstadt, die Mooswald-siedlung und Betzenhausen sowie denStühlinger. Im insgesamt 23 Minutendauernden und mit dem militärischenCodenamen Operation Tigerfish bezeich-neten Angriff wurden mehr als 14.500Bomben über der Stadt abgeworfen (M3). Dass sich die Zahl der Opfer auf rund2.800 beschränkte, ist auf die zahlreichentiefen Keller, das in Freiburg teilweiseausgebaute System unterirdischerFluchtwege sowie Fluchtmöglichkeitenauf den angrenzenden Schlossberg zu-rückzuführen (M 2).

Freiburg in Trümmern

Die Folge des Flächenbombardementswaren rund eine Million KubikmeterSchutt. Dies entsprach einer Schutt-menge von zehn Kubikmeter pro Kopf.Wie aus zahlreichen anderen deutschenStädten sind auch aus Freiburg Fotogra-fien erhalten, die junge Frauen bei derTrümmerräumung zeigen. Die unda-tierte Schwarz-Weiß-Fotografie aus einerLoseblattsammlung des PressefotografenKarl Müller zeigt drei Frauen, die aufge-reiht vor einer etwa hüfthohen Maueraus Backsteinen stehen (M 1). Sie rei-chen sich in einer Menschenkette Steine.Im Hintergrund sind einige Bäumesowie die Silhouette eines Gebäudes zu

ren in den Rang eines identitätsstiften-den Gründungsmythos zwischen Wäh-rungsreform, Wirtschaftswunder undWunder von Bern erhoben. In der DDRhingegen wurden die Trümmerfrauen be-reits seit den 1950er Jahren als positiverPrototyp der neuen sozialistischen Frauideologisch aufgeladen (M 7).

Freiburger Trümmerexpress

Auch in Freiburg erfolgte die Trümmer-räumung maßgeblich durch Großgerätezur Trümmerbeseitigung. Am 12. Fe-bruar 1947 feierte die städtische Freibur-ger Schuttbahn (auch Trümmerexpress)ihre Jungfernfahrt (M 5). Für den Be-trieb standen insgesamt fünf Dampflo-komotiven, vier Diesellokomotiven und146 Loren zur Verfügung (M 4). Nachder allmählichen Umstellung der Ent-trümmerung auf den Lkw-Betrieb wurdedie Schuttbahn im August 1949 demon-tiert.

Quellen für den Unterricht 58 Florian Hellberg / Tobias Roth

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Archivnachrichten 59 / 201952 Quellen für den Unterricht 58

M 1: Drei Freiburger Trümmerfrauen, undatierte Schwarz-Weiß-Fotografie Vorlage: Stadtarchiv Freiburg, Sammlung Karl Müller, N 75/1 Positivkasten 14; Landesbildungsserver http://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/epochen/nachkriegszeit/freiburg/photoalbum_ freiburg/b2h.jpg.

M 2: Identifizierbare Opfer des Bomben-krieges in Freiburg im Breisgau nach Alter und GeschlechtNach Walter Vetter: Freiburg in Trüm-mern 1944–1952. Bild- und Textdoku-mentation Teil II. Freiburg 1984. S. 171. Die Zahl der Todesopfer lag insgesamt bei 2.797, vgl. Geschichte der Stadt Freiburg, Bd. 3: Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart. Hg. von Heiko Haumann und Hans Schadek. Stuttgart 2001. S. 361.

Altersgruppe

0–10 Jahre11–20 Jahre11–30 Jahre11–40 Jahre11–50 Jahre11–60 Jahre11–70 Jahre11–80 Jahre11–90 Jahreüber 90 JahreAlter unbekannt

insgesamt

Zahl

378269305400374339346227704

71

2.783

i n s g e s a m t

davon nicht geborgen

3736326062628368312

13

487

männlich

19410885

13712612915582271

50

1.094

d a v o n

unbekannt

––––––––––4

4

weiblich

184161220263248210191145433

17

1.685

M 1

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Archivnachrichten 59 / 2019 53

M 3: Anzahl der abgeworfenen Bombenauf Freiburg im Breisgau am Abend des27. November 1944Insgesamt wurden von den mitgeführten1725,9 Tonnen Bomben 1723,1 Tonnenabgeworfen, davon 1456,9 Tonnen Spreng-bomben und 266,2 Tonnen Brand- undLeuchtbomben. Die Einsatzberichte derGruppen nennen im einzelnen folgendeZahlen für den Bombenabwurf:308 Stück der 4000 lbs.-Sprengbomben1282 Stück der 1000 lbs.-Sprengbomben1412 Stück der 500 lbs.-Sprengbomben1229 Stück der 4 lbs.-14er Brandkanister10200 Stück der 4 lbs.-Brandbomben94 Stück der 250 lbs.-Markierungsbom-ben.Aus: Gerd R. Ueberschär: Freiburg imLuftkrieg 1939–1945. Freiburg im Breis-gau/München 1990. S. 242.

M 4: Freiburger Trümmerbahn, unda-tierte Schwarz-Weiß-FotografieVor dem Nordflügel der Hildaschule an der Rheinstraße befand sich eine Station der Trümmerbahn. Vorlage: Stadtarchiv Freiburg, Sammlung Karl Müller, N 75/1 Positivkasten 14; Landesbildungsserver https://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/epochen/nachkriegszeit/freiburg/photoalbum_ freiburg/b2b.jpg.

Quellen für den Unterricht 58

M 4

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Archivnachrichten 59 / 201954

M 5: Streckenverlauf der TrümmerbahnFreiburg im Breisgau (1947–1949)Vorlage:https://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%BCmmerbahn_Freiburg#/media/File:Tr%C3%BCmmerbahn_Freiburg_Karte.png(aufgerufen am 19. April 2019), Karte er-stellt von Grauer Elefant, CC BY-SA 3.0(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

M 6: Trümmerräumung in DeutschlandBereits vor Beginn des Luftkrieges etab-lierten die Nationalsozialisten zentral ge-lenkte Maßnahmen zur Trümmerräu-mung, die mit der verstärkten Bombardie-rung durch die Alliierten beständig ausge-weitet wurden. Zum Einsatz kamen nebenBauhandwerkern und Mitgliedern unteranderem der Luftschutzpolizei, des Reichs-arbeitsdienstes, der Hitlerjugend und derWehrmacht vor allem Zivilarbeiter,Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Dermassive Einsatz von Zwangsarbeitern kon-notierte die Trümmerräumung deutlichals Strafarbeit. Diese Idee wurde in derNachkriegszeit von den alliierten Militär-regierungen und deutschen Stadtverwal-tungen weiter fortgesetzt, denn nun wur-den zuallererst ehemalige NSDAP-Mitglie-der und deutsche Kriegsgefangene als Süh-nemaßnahme zur Trümmerräumungeingesetzt. Davon abgesehen waren in derNachkriegszeit in erster Linie professio-

nelle Firmen und Gesellschaften – wie bei-spielsweise die Frankfurter Trümmerver-wertungsgesellschaft – mit schweremGerät und Fachkräften die Träger der Ent-trümmerung. Über die Initiierung vonBürgereinsätzen und Dienstverpflichtun-gen von Arbeitslosen wurde der Arbeits-kräftemangel ausgeglichen.Während in der amerikanisch und in derfranzösisch besetzten Zone die Heranzie-hung von Frauen zur Trümmerräumung

dezidiert abgelehnt wurde, wurde in derbritisch besetzten Zone zwischen 1945 und1947 eine sehr geringe Zahl von Frauenhierfür eingesetzt. Lediglich für Berlin unddie Städte der sowjetischen Besatzungs-zone (SBZ) lässt sich der Einsatz von vorallem arbeitslosen Frauen zur Enttrüm-merung in einem größeren Umfang nach-weisen. Generell waren dort Männer undFrauen im arbeitsfähigen Alter verpflich-tet, sich bei den Arbeitsämtern registrierenzu lassen, sodass Arbeitslose zu lebensnot-wendigen Arbeiten herangezogen werdenkonnten, worunter auch die Trümmerräu-mung fiel. Wurden die Anweisungen derArbeitsämter nicht befolgt, konnte dies mitdem Entzug der Lebensmittelkarte sank-tioniert werden. […] Insgesamt ist dem-nach festzuhalten, dass Frauen bei derTrümmerräumung eine deutlich nachge-ordnete Rolle zukam.Aus: Leonie Treber: Mythos „Trümmer-frau“: deutsch-deutsche Erinnerungen.In: Aus Politik und Zeitgeschichte 16–17(2015) S. 29.

Generell kann für die westdeutschenStädte festgehalten werden, dass dasSchlagwort für die Beteiligung von Frauenbei der Trümmerbeseitigung Freiwilligkeitlautete; sieht man einmal von der geringenZahl von Frauen ab, die in der britischenZone als Arbeitslose zur Trümmerräu-mung verpflichtet worden waren. Alles an-dere als eine freiwillige Beteiligung derFrauen war kaum denkbar, was sich auchdadurch unterstreichen lässt, dass Frauen

zu keinem einzigen Bürgereinsatz zurTrümmerräumung in den westdeutschenStädten verpflichtend herangezogen wur-den. Entweder waren die Bürgereinsätzezu denen Frauen ganz explizit aufgerufenworden waren, zumindest formal freiwillig[…], oder die Verpflichtung galt nur fürdie Männer und die Frauen konnten sichfreiwillig daran beteiligen […].In diesem Zusammenhang lohnt es sicheinen Blick auf die Stadt Freiburg zu wer-fen […]. „Alle in der Stadt Freiburg woh-nenden männlichen Personen im Alter von16–60 Jahren und weibliche Personen imAlter von 16–45 Jahren haben im Ehren-dienst mindestens 1 Mal im Monat bei derTrümmerbeseitigung oder bei anderen,dem Wiederaufbaubüro dienenden Arbei-ten mitzuhelfen.“ [StAFr, C5/3146: Ent-wurf für Aufruf an die Bevölkerung, 30.September 1946.][…] Diese Variante des Bürgereinsatzes

[scheiterte] an der Nichtbeteiligung der

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M 5

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Archivnachrichten 59 / 2019 55

Freiburger Bürger. Möglicherweise trugdazu auch die mangelnde Bereitschaft bei,Frauen zur Teilnahme aufzufordern. Dennbereits kurz nach Anlaufen des „Ehren-dienstes“ fiel in einer Arbeits-Ausschusssit-zung in diesem Zusammenhang der Satz:„Es ist unrichtig, wenn behauptet wird[…] die Stadt zöge verwerflicherweiseFrauen zur Arbeit heran.“ [StAFr,C5/3146: Protokoll der Arbeits-Aus-schußsitzung [vermutlich], 19. Novem-ber 1946.] Und schließlich verabschiedetesich der Freiburger Stadtrat nicht nur vonder freiwilligen Variante des „Ehrendien-stes“, in dem er diesen in einen verpflich-tenden umwandelte, sondern auch von derHeranziehung von Frauen zu demselben.Denn zum verpflichtenden Einsatz zurTrümmerbeseitigung wurde nur noch „diegesamte männliche Bevölkerung im Altervon 16–60 Jahren“ [StAFr, C5/3146:Schreiben des Wiederaufbaubüros an dasBürgermeisteramt Abt. I, 24. Mai 1948]aufgerufen.Dies unterstrich der Freiburger Oberbür-germeister, als er in der Stadtratssitzungseinen Plan verkündete, alle Mitglieder desStadtrats zu einer gemeinsamen symbol-trächtigen Teilnahme beim Bürgereinsatzaufzufordern: „Ich werde mir erlauben,die Mitglieder des Stadtrats zu einer ge-meinsamen Schippaktion aufzurufen. DieDamen werden nicht dabei sein, wenn siesich nicht vordrängen. Wir wollen auf dieFrauenarbeit ganz allgemein verzichten.“[StAFr, C5/3146: Protokoll der Stadtrats-sitzung, 24. April 1947].Aus: Leonie Treber: Mythos Trümmer-frauen. Von der Trümmerbeseitigung inder Kriegs- und Nachkriegszeit und derEntstehung eines deutschen Erinne-rungsortes. Bonn 2015. S. 62f.

M 7: Auszug aus den Freiburger Biogra-phienAuf eine Million Kubikmeter schätzte mannach dem Bombenangriff des 27. Novem-ber 1944 die Trümmer, in denen Freiburgversunken war. Die Zahl sagt nichts ausüber die rund 3.000 Menschen, die in derBombennacht starben; sie sagt auch nichtsaus über mehr als 20.000 beschädigte oderzerstörte Wohnungen und über die unwie-derbringlich verlorengegangenen Bau-denkmale, die von 14.000 [sic!] Bombenin 23 Minuten zerschlagen worden waren.Die Last der Aufräumarbeiten lag in denersten Monaten und weit über das Kriegs-ende hinaus bei den Frauen, die man bald

„Trümmerfrauen“ nannte. Sie trugen dieSorge um die materielle Existenz ihrer Fa-milien. Zahlreiche Männer waren imKrieg gefallen oder noch nicht wiederheimgekehrt, so daß 1947 die Zahl derFrauen im Stadtkreis noch um 50 Prozenthöher lag als die der Männer. Frauenwaren es, die zur Arbeit in „kriegswichti-gen Produktionsbetrieben“ verpflichtetworden waren und jede freie Minute dar-auf verwandten, im Schwarzwald zu„hamstern“, um die schlimmste Not zulindern. Ohne daß die Gesellschaft sie dar-auf vorbereitet hatte, waren sie zur Selb-ständigkeit und Eigenverantwortung ge-zwungen.Es waren unvorstellbare Leistungen, dieeine Generation von Frauen erbracht hat– in Freiburg ebenso wie in jeder anderendeutschen Stadt. Hat dies ihre Rolle in derGesellschaft und ihr Selbstverständnis ge-ändert? Die meisten gaben die Erwerbstä-tigkeit wieder auf, sobald die Männer wie-der heimgekehrt waren, und kümmertensich um den häuslichen Bereich. Dort waraufgrund der katastrophalen Ernährungs-lage genug zu tun.Aus: Walter Preker: Die Trümmerfrauen.In: Freiburger Biographien. Hg. vonDems. und Peter Kalchthaler. Freiburgim Breisgau 12002. S. 292f.

Didaktisches Potenzial derQuellenFotografien sind Einzelbilder und ihnenfehlt der für eine historische Narrationkonstitutive Kontext des Vorhergehen-den und des Nachfolgenden. Trotzdemtreten Fotografien nie isoliert auf. DieZusammenhänge, in die sie gestellt wer-den, die Worte und Texte, mit denen sieerläutert werden, erfüllen eine spezifi-sche Funktion, nämlich eine Narrationin den Köpfen der Betrachter auszulö-sen. Der Betrachter rekontextualisiert dieAufnahmen und stellt aus dem Horizontder jeweiligen Gegenwart heraus Sinnbe-züge und Deutungen her. Gerade ausdiesem Konstruktcharakter heraus ergibtsich die Notwendigkeit, die Darstellun-gen der Vergangenheit in Fotografien alsstets perspektivengebunden, kontextab-hängig und dadurch dekonstruktionsbe-dürftig zu erkennen.Damit ist der Unterrichtsvorschlag an

den neuen Bildungsplan Baden-Würt-temberg hochgradig anschlussfähig, wirddoch sowohl ein methodischer Schwer-punkt über die Fotografieanalyse gelegt

als auch die Reflexions- und Orientie-rungskompetenz gefördert, indem aufder einen Seite Deutungen aus verschiede-nen Perspektiven erkannt und beurteiltwerden müssen (Reflexionskompetenz),auf der anderen Seite das kollektive Ge-dächtnis […] analysiert und bewertetwird, auch unter Berücksichtigung ihrermedialen Darstellung.Methodisch siehtsich der hier gewählte Ansatz dem trans-disziplinären Instrumentarium der Vi-sual History (nach Gerhard Paul) ver-pflichtet. Demnach werden die auch inder geschichtsunterrichtlichen Praxisgängigen Methoden der HistorischenBildkunde um Fragen der Rezeptionsge-schichte (Nutzungs- und Wirkungsreali-tät) erweitert (M 8). Bilder im Allgemei-nen und Fotografien im Speziellen wer-den somit über ihre zeichenhafte Abbild-haftigkeit hinaus als Medien und Aktivamit einer eigenständigen Ästhetik be-trachtet. Das Ziel besteht nicht in der Er-setzung von methodischen Ansätzen, diesich mit der Visualität von Geschichte be-fassen, sondern um dessen Erweiterungvon Fragen nach der Historizität des Vi-suellen.Dies wird am Beispiel des MythosTrümmerfrauen besonders deutlich, dasich aus einer ikonischen regionalge-schichtlichen Fotografie ein Narrativentfaltet, das zu verschiedenen Zeitenunterschiedliche Verwendung erfuhr. DieFotografie M 1 stammt aus einer priva-ten Sammlung des Presse-FotografenKarl Müller, die dem Stadtarchiv Frei-burg vermacht wurde. Aus dieser Foto-grafie, die durch zwei Statistiken M 2und M 3 kontextualisiert wird, lässt sichdas Narrativ, das Grundlage für die My-thenbildung sowohl in Ost und Westwar, konstruieren. Es erweckt den Ein-druck, dass v. a. junge Frauen mit Freudeund Eifer dabei mithalfen, die Stadt vonden Trümmern zu befreien und somitwiederaufzubauen. Eine kognitive Disso-nanz entsteht durch die Kontrastierungmit zwei weiteren Quellen M 4 und M 5,die die Vermutung nahelegen, dass v. a.schweres Gerät notwendig war, um Frei-burg von den Trümmern zu befreien.Gerade die Darstellung der Karte M 5zeigt die logistischen Herausforderun-gen, vor denen die verantwortlichen re-gionalen Behörden standen.Über einen Auszug aus Leonie Trebers

Studie Mythos Trümmerfrauen wird dieDekonstruktion des Narrativs auf einewissenschaftliche Grundlage gesetzt. So

Quellen für den Unterricht 58

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Archivnachrichten 59 / 201956

Verwendung im Unterricht

ErarbeitungsphaseDie Lernenden lesen den Auszug ausLeonie Trebers Studie und im Vergleichmit dem kontrastierenden Auszug ausden Freiburger Biographien wird deut-lich, dass die Reproduktion des Mythosbis in die Gegenwart anhält.Die Sicherung erfolgt über eine tabellari-sche Gegenüberstellung der beiden Nar-rative anhand ausgewählter Kriterien:- verantwortlich für die Trümmer-

räumung - Maßnahmen zur Trümmerräumung - Grad der Freiwilligkeit

Vertiefung / ProblematisierungAbschließend diskutieren die LernendenUrsachen für die Hartnäckigkeit undWirkmächtigkeit des Mythos Trümmer-frauen bis in die Gegenwart. Hierzu kön-nen weitere Beispiele der tagesaktuellenpolitischen Diskussion herangezogenwerden, um zu verdeutlichen, wie gegen-wärtig Geschichte als Argument für poli-tische Ansichten verwendet wird.

Literatur

Arbeit am Bild. Visual History als Praxis(=Visual History. Bilder und Bildpraxenin der Geschichte Bd. 3). Hg. von JürgenDanyel, Gerhard Paul und Annette Vo-winckel. Göttingen 2017.Bildungsplan 2016 für Baden-Württem-berg. http://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/bpExport/4151958/Lde/index.html?_page=0&requestMode=PDF&_finish=Erstellen (aufgerufen am19.04.2019).Freiburger Biographien. Hg. von WalterPreker und Peter Kalchthaler. Frei-burg im Breisgau 12002.Freiburg in Trümmern 1944–1952. Bild-und Textdokumentation. 2 Teile. Hg. vonWalter Vetter. Freiburg im Breisgau21983 und 1984.Geschichte der Stadt Freiburg Bd. 3: Vonder badischen Herrschaft bis zur Gegen-wart. Hg. von Heiko Haumann undHans Schadek. Stuttgart 2001. S. 361.Christoph Hamann: Fotografien im Ge-schichtsunterricht. Visual History als di-daktisches Konzept. Frankfurt am Main2019.Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschlandund die Deutschen 1945–1955. Berlin2019.Marita Krauss: Trümmerfrauen. Visuel-les Konstrukt und Realität. In: Das Jahr-hundert der Bilder. 1900–1949 Bd. 1. Hg. von Gerhard Paul. Göttingen 2009.S. 738–745.Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter.Punkt und Pixel. Göttingen 2016.Gerhard Paul: Visual History. Ein Studi-enbuch. Göttingen 2006.Christiane Pfanz-Sponagel: Blumenstatt Bomben? Die Situation der Freibur-gerinnen bei Kriegsende und in derNachkriegszeit. In: Zeitschrift des Breis-gau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“125 (2006) S. 185–196.Leonie Treber: Mythos Trümmerfrauen.Von der Trümmerbeseitigung in derKriegs- und Nachkriegszeit und der Ent-stehung eines deutschen Erinnerungs-ortes. Bonn 2015.Leonie Treber: Mythos „Trümmerfrau“:deutsch-deutsche Erinnerungen. In: AusPolitik und Zeitgeschichte 16–17 (2015)S. 28–34.Gerd R. Ueberschär: Freiburg im Luft-krieg 1939–1945. Freiburg im Breisgau/München 1990.

Quellen für den Unterricht 58

war die Arbeit der Trümmerräumungnicht zuletzt aufgrund ihrer ursprüngli-chen Praxis durch die Nationalsozialistenals Strafarbeit kodiert. Auch die Alliier-ten setzten v. a. Kriegsgefangene und NS-Häftlinge zur Strafarbeit ein.Die letzte Quelle M 7 weitet die Per-

spektive und verdeutlicht den Mehrwertder Fragestellungen der Visual History.Die Publikation Freiburger Biographienunternimmt als Sammelband den Ver-such, Berühmtheiten ebenso wie unbe-kannte oder vergessene Personen […],Menschen, die in Freiburg geboren sind,längere Zeit oder nur kurz hier lebten, injedem Fall ihre Spuren hinterlassen habe(siehe http://www.promo-verlag.de/shop/Freiburger-Biographien; aufgeru-fen am 19.04.2019) zu portraitieren. Ausdiesem Auszug kann ersichtlich werden,wie die Konstruktion des Mythos in sei-ner heutigen gängigen Version nach wievor präsent ist und weiterhin reprodu-ziert wird. Die in den 1980er Jahren imZuge der Diskussion um die Einführungeines Babyjahres in der Bundesrepublikvorgenommene Anpassung des Narrativsspiegelt sich auch in diesem Auszug wie-der: Aus einem isolierten, v. a. BerlinerPhänomen wird eine unvorstellbare Lei-stung gemacht, die eine ganze Generationvon Frauen erbracht hat – in Freiburgebenso wie in jeder anderen deutschenStadt. Abschließend denkbar wäre nocheine Vertiefung oder Problematisierungder Verwendung des Trümmerfrauenbil-des als politisches Argument im Land-tagswahlkampf in Bayern 2018 (So warv. a. die Grünen-Abgeordnete KatharinaSchulze Ziel einer Kampagne der AfD,siehe https://twitter.com/AfD_Bayern/status/1050734187509108736, aufgeru-fen am 19.04.2019) oder die Darstellungbeispielsweise von Andrea Nahles alsTrümmerfrau der SPD im Zuge ihrerWahl zur SPD-Parteivorsitzenden. Kari-katuren beispielsweise aus der FederHorst Haitzingers (siehe https://www.badische-zeitung.de/meinung/karikaturen/truemmerfrauen--149340801.html, aufgerufen am19.04.2019) sind online frei zugänglich.

Florian Hellberg ist Landeskundebeauf-tragter des Kultusministeriums Baden-Württemberg im Regierungsbezirk Frei-burg und Gymnasiallehrer in Rheinau.Tobias Roth ist Gymnasiallehrer in Frei-burg.

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Archivnachrichten 59 / 2019 57Quellen für den Unterricht 58

Formale Merkmale

Organisation der Bildfläche

Organisation des Bildraumes

Bildgegenstände / Figurendarstellung

Perspektive

Farbgebung

Fotografische bzw. bildbearbeitende Mittel

Historischer Kontext

Intention des Fotografen bzw. des Auftraggebers

Bildbearbeitung und Präsentation

Nutzung

Wirkung

Quellenwert der Fotografie

- Um welche Art von Bild handelt es sich? (Personenbild, Landschaftsbild, ...)

- Gibt es Achsen, Linien oder Kurven, die die Bildfläche gliedern? - Lässt sich eine bestimmte Lichtführung erkennen?- Lassen sich Ordnungsprinzipien oder Kompositionsmuster ausmachen?- Welche Wirkung entsteht durch diese Ordnung der Fläche? (Ruhe, Spannung, …)

- Wie entsteht die Raumillusion? (Groß-Klein-Beziehung, Überschneidungen, …)- Welcher Bereich des Bildes lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich?

- Wie sind die vorhandenen Objekte und Figuren auf der Fläche arrangiert?- Welche Beziehungen nehmen sie zueinander, zu ihrer Umgebung und zum Betrachter

auf?- Welche Haltung und Handlungen sind zu erkennen?

- Welche Aufnahmeperspektive wurde gewählt? - Wirkt der Raum betretbar? (Weg führt hinein, Hindernisse, …)- Handelt es sich bei dem Bild um einen Ausschnitt oder ein Panorama?

- Wie ist die Farbpalette beschaffen? (Tonumfang, Haupttöne, Mischung, …)- Welche Kontraste fallen auf?- Welche Wirkung geht von der Farbwahl aus?

- Wie ist die Bildoberfläche beschaffen? (rau, glatt, strukturiert, glänzend, …)- Wie wird das Bild präsentiert? (Format, Rahmung, …)

- Wann, wo und wie wurde das Foto aufgenommen bzw. produziert? - Wer hat das Foto aufgenommen und wer war der Auftraggeber?

- Was ist die Botschaft des Fotografen und seines Auftraggebers? - Welche Wirkungsabsicht hatte die Fotografie?

- Wurde die Fotografie nachträglich aus einem bekannten Grund bearbeitet?- In welchem Kontext wurde die Fotografie veröffentlicht/präsentiert?- Hat die Fotografie Bildunterschriften, Kommentare, Anmerkungen?

- In welchem Kontext und mit welcher Absicht wird das Bild (wieder-)verwendet? (politisch, ökonomisch, …)

- Wie verändert sich die Verwendung im jeweiligen historischen Kontext?

- Wie wirkt das Bild in seinem jeweiligen historischen Kontext auf den Betrachter?

- Welchen Stellenwert hat die Fotografie im kollektiven Gedächtnis?- Welche Geschichtskonstruktion verbirgt sich hinter dem Schlüsselbild?

M 8: Methodenblatt Visual History zurAnalyse historischer FotografienI. Be-Schreibung – Abbildungsrealität

II. Be-Deutung – Entstehungsrealität (im historischen Kontext)

III. Be-Nutzung – Rezeption