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8 DIE SÄULE 2/2013 8 Studie Neue Rückenschule R. Tutzschke, C. Borys, B. Nodop, C. Anders, O. Rößler, B. Strauß, H.-C. Scholle Die Neue Rückenschule Ergebnisse zur Wirksamkeit – Fazit für die Praxis In Deutschland liegt die Lebenszeitprävalenz für Rückenschmerzen nach ak- tuellen Angaben des Robert-Koch-Institutes (RKI) bei 74 bis 85 % (Gesund- heitsberichterstattung Rückenschmerz RKI 2012). Hierbei handelt es sich größtenteils um sogenannte unspezifische/nichtspezifische Rückenschmer- zen, , d.h. es können keine spezifischen Ursachen, wie z.B. ein die Beschwer- den erklärender Bandscheibenvorfall, nachgewiesen werden. In der Regel klingen diese akuten Schmerzen nach kurzer Zeit ohne weitere Folgen ab. Friedrich-Schiller-Universität Jena Bild: FSU/Günther

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Studie Neue RückenschuleStudie Neue Rückenschule

R. Tutzschke, C. Borys, B. Nodop, C. Anders, O. Rößler, B. Strauß, H.-C. Scholle

Die Neue Rückenschule Ergebnisse zur Wirksamkeit – Fazit für die Praxis

In Deutschland liegt die Lebenszeitprävalenz für Rückenschmerzen nach ak-tuellen Angaben des Robert-Koch-Institutes (RKI) bei 74 bis 85 % (Gesund-heitsberichterstattung Rückenschmerz RKI 2012). Hierbei handelt es sich größtenteils um sogenannte unspezifi sche/nichtspezifi sche Rückenschmer-zen, , d.h. es können keine spezifi schen Ursachen, wie z.B. ein die Beschwer-den erklärender Bandscheibenvorfall, nachgewiesen werden. In der Regel klingen diese akuten Schmerzen nach kurzer Zeit ohne weitere Folgen ab.

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sitiven Entwicklung der bestehenden subjektiv erlebten Funktionsbeeinträchtigung, der Schmerzintensität und der rückenschmerzbedingten Arbeitsunfähigkeitstage kommt.

Fragestellung und StudiendesignKernziele der Neuen Rückenschule mit ihrem biopsycho-sozialen Ansatz sind die Stärkung der physischen und psychosozialen Gesundheitsressourcen. Diese beiden Aspekte müssen sich deshalb auch im Untersuchungsde-sign der Evaluierung widerspiegeln.

Somit wurden folgende Fragestellungen in der Stu-die geprüft:1. Sind die physischen Gesundheitsressourcen der Rü-

ckenschulteilnehmer durch koordinativ- und halte-motorische Aufgaben der Rumpfmuskulatur zu ana-lysieren und mittels Ober� ächen-EMG-Messungen (OEMG) zu kennzeichnen? Die eingesetzten Tests (Propriomed, Deviator, s. Abb. 1) waren nicht Be-standteil der im Rahmen der Studie verwendeten Übungen der Neuen Rückenschule, sind jedoch hin-sichtlich der Fragestellung in Verö£ entlichungen als wirksam beschrieben (Anders et al. 2008 a, b).

2. Sind die psychischen Gesundheitsressourcen der Rü-ckenschulteilnehmer durch Kennwerte zu charakte-risieren, die u.a. schmerzbezogene Kognitionen und Schmerzbewältigungsverhalten, Depressivität sowie krankheitsbezogene Kontrollüberzeugungen erfas-sen?

Es wurde erwartet, dass die Absolvierung der Rücken-schule zu einer positiven Entwicklung der bestehen-den subjektiv erlebten Funktionsbeeinträchtigung, der Schmerzintensität und der rückenschmerzbedingten Ar-beitsunfähigkeitstage führt.

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Bei einem Teil der Betro£ enen treten jedoch wiederholt Rückenschmerzen mit der Möglichkeit einer Chroni¤ zie-rung auf. Nach eingetretener Chroni¤ zierung (Beschwer-dedauer über 3 Monate) wird von einem chronisch un-spezi¤ schen/nichtspezi¤ schen Rückenschmerz (CURS) gesprochen. Derartige Beschwerdebilder verursachen dem Gesundheitssystem hohe direkte und indirekte Kosten. In Deutschland wird von zweistelligen Milliar-denbeträgen ausgegangen (Statistisches Bundesamt, Krankheitskosten 2008; Gesundheitsberichterstattung Rückenschmerz RKI 2012).

Mit dem Rückenschul-Ansatz wird seit der Gründung der ersten Rückenschule im Jahr 1969 in Schweden (Zachris-son-Forssel 1980) insbesondere versucht, Wiederholun-gen von unspezi¤ schen Rückenschmerzepisoden zu ver-meiden und der Chroni¤ zierung von Rückenschmerzen vorzubeugen. Die ersten Rückenschulen hatten einen vorwiegend edukativen Charakter, d.h. die Aufklärung und Unterrichtung zu Problemen des Rückens standen im Vordergrund. Später kamen auch Rückenschul-Ansätze mit biomechanischer, medizinisch-psychologischer und sportpädagogischer Orientierung hinzu. In den 1990iger Jahren wurde die Rückenschule zunehmend kritisiert, wobei in diesen Publikationen von einem rein biome-chanisch-edukativen Rückenschul-Ansatz ausgegangen wurde (Lühmann et al 1999, Airaksinen et al. 2004). Als Reaktion auf diese Kritik wurde 2004 die Konföderation der deutschen Rückenschulen (KddR) mit dem Ziel der „gemeinsamen Weiterentwicklung der präventiven Rü-ckenschule“ gegründet. Aus dieser Initiative entwickelte sich die Neue Rückenschule mit biopsychosozialem An-satz (Kempf 2010).

Multimodale biopsychosoziale Konzepte bei chroni-schem Rückenschmerz wurden bereits 2004 in den euro-päischen Leitlinien (European guidelines for the manage-ment of chronic non-speci¤ c low back pain, Airaksinen et al. 2004; www.backpaineurope.org) empfohlen. Die Wir-kung der Neuen Rückenschule auf biologische und psy-chologische Charakteristika der Rückenschulteilnehmer wurde jedoch erstmals in der hier vorgestellten Studie komplex überprüft. Neben diesem Hauptziel ist auch die Nachhaltigkeit der Neuen Rückenschule evaluiert wor-den. Da E£ ekte im Rahmen der Primärprävention me-thodisch schwer nachweisbar sind (www.versorgungs-leitlinien.de, Kreuzschmerz), wurden in der dargestellten Studie Rückenschulteilnehmer unter einer überwiegend sekundärpräventiven Zielstellung analysiert. So wurde bei Rückenschulteilnehmern, die mehrheitlich bereits Erfahrung mit unspezi¤ schen Rückenschmerzen hatten, untersucht, ob es nach der Rückenschule z.B. zu einer po-

Die Neue Rückenschule: eine präventive Maßnahme mit langfristigem Wirkungsnachweis

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Es wurde angenommen, dass während der 3-monatigen Wartezeit (Untersuchungszeitpunkte vor Beginn der Rü-ckenschule) keine signi¤ kanten Parameterveränderun-gen nachweisbar sind. Ein signi¤ kant positiver Verlauf wurde für den Zeitraum der 3-monatigen Rückenschul-intervention erwartet. Diese positiven Auswirkungen der Rückenschulintervention wurden in abgeschwäch-ter Form auch für die späteren Untersuchungszeitpunk-te (3 und 12 Monate nach Abschluss der Rückenschule) erwartet.

OEMG-UntersuchungAbbildung 1: Analyse der koordinativ motorischen und haltemotorischen Kennwerte der Rückenschulteilneh-mer mittels OEMG-Methoden. Die motorischen Aufga-ben waren nicht Bestandteil der Rückenschulübungen.

Es wurde das OEMG von funktionell wichtigen Rumpf- und ausgewählten Beinmuskeln analysiert. Dazu gehör-ten der M. rectus abdominis (ra), M. obliquus abdominis internus (oi), M. obliquus abdominis externus (oe), M. multi¤ dus lumbalis (mf), M. longissimus (lo), M. biceps femoris (bf ) und M. rectus femoris (rf ).

OEMG-ElektrodenlokalisationDer Studienablauf, insbesondere die Untersuchungs-zeitpunkte und die Anzahl der Rückenschulteilnehmer, sind aus Abbildung 3 zu entnehmen. Zusätzlich wurde eine ausreichende Anzahl von Kon-trollpersonen mit den genannten OEMG-Methoden

koordinativ motorische Aufgabe(Propriomed, HAIDER Bioswing, Pullenreuth), Bild: UKJ

Abb.1: haltemotorische Aufgabe: graduell abgestufte Kippung des Oberkörpers (Devia-tor, BFMC, Leipzig), Bild: UKJ

Abb.2: OEMG-Elektrodenlokalisation

untersucht (N=56; sogenannte „matched pairs“). Dabei wurden das individuelle Alter und der Body-Mass-Index (BMI) der Gruppe der Rückenschulteilnehmer und der Kontrollpersonen berücksichtigt.

Die Datenauswertung wurde mit der Statistiksoftware SPSS (Version 19.0) durchgeführt (uni- und multivaria-

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te Varianzanalysen unter Berücksichtigung von Mess-wiederholungen und E£ ektstärken).

RückenschulinterventionDie Rückenschulintervention wurde über 12 Wochen à 1,5 Stunden von drei Rückenschullehrern durchgeführt, die eine Ausbildung nach dem aktuellen Curriculum der KddR erhalten haben (Kempf 2010). Inhalte während der Rückenschulintervention – zusätzlich zum Training von Kondition und Koordination – waren Wissensvermitt-lung (Anatomie, Muskelfunktion, Verhaltenstheorien, Schmerz- und Stressbewältigung u.v.m.), Körperwahr-nehmung, Haltungsschulungen, Entspannung sowie die Entwicklung selbstverantwortlicher Handlungsan-reize und die Zielbindung im Hinblick auf eine langfris-tige gesundheitssportliche Aktivität (Kempf 2010). Jede Rückenschul-Gruppe umfasste maximal 10 Teilnehmer.

ErgebnisseSoziographische DatenDie Gesamtgruppe der Rückenschulteilnehmer bestand überwiegend aus einer Population mit sekundärprä-ventiver Zielstellung. Die Studienteilnehmer (N=88 mit vollständigen Daten zu Untersuchungsbeginn (Fragebö-gen)) waren durchschnittlich 47,2 Jahre alt und wiesen ein hohes Bildungsniveau auf (67 % Abitur bzw. Fach-hochschulreife). 79,5 % der Rückenschulteilnehmer wa-ren berufstätig.

Psychologische DatenDie Schmerzintensität und funktionelle Beeinträchti-gung der Untersuchten lagen mit Werten unterhalb von 30 % auf der Numerischen Ratingskala (NRS; auf Basis des Deutschen Schmerzfragebogens, s. P¤ ngsten et al. 2007) auf grundsätzlich niedrigem Niveau.

Die E£ ektstärken (Maß für Bedeutsamkeit von Ergebnis-sen) der signi¤ kanten Veränderungen (p<0,05) lagen im niedrigen bis mittleren Bereich. Für die Reduktion der Schmerzintensität lagen hohe E£ ektstärken vor.

Wartezeitraum (3 Monate)Die psychologischen Kennwerte wurden bei Beginn und am Ende des Wartezeitraums bestimmt. Folgende Verän-derungen der psychologischen Variablen wurden festge-stellt:

- Signi¤ kante Verbesserung der körperlichen Funktions-fähigkeit (Disability Score nach von Kor£ /von Kor£ & Ormel 1992)

- Reduzierung passiver Schmerzbewältigungsstrategien (CSQ/Luka-Krausgrill et al. 1994)

Bei allen anderen Parametern gab es keine signi¤ kanten Veränderungen im Wartezeitraum.

Zeitraum der Rückenschulintervention (3 Monate)Die psychologischen Kennwerte wurden bei Beginn und am Ende der Rückenschulintervention (Prä-Post-Analy-

Abb. 3: Studienablauf

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se) gemessen. Folgende Veränderungen der psychologi-schen Variablen wurden festgestellt:

- Signi¤ kante Reduzierung der Schmerzintensität - Signi¤ kante Verbesserung der körperlichen Funktions-

fähigkeit - Signi¤ kante Abnahme des Angst-Vermeidungsverhal-

tens bezüglich körperlicher Aktivität (FABQ/P¤ ngsten M, Leibing E, Franz C et al. 1997)

- Signi¤ kanter Anstieg der internalen krankheitsbezoge-nen Kontrollüberzeugungen (KKG/Lohaus A, Schmitt GM 1989).

Zeitraum vom Beginn der Rückenschulintervention bis zum Katamnese-Zeitpunkt nach 3 Monaten Es wurden die psychologischen Kennwerte bei Beginn und am Ende der Rückenschulintervention sowie der Katamnese-Zeitpunkt nach 3 Monaten berücksichtigt (Varianzanalyse über 3 Messzeitpunkte). Folgende Ver-änderungen wurden festgestellt:

- Signi¤ kante Reduzierung der Schmerzintensität - Signi¤ kante Verbesserung der körperlichen Funktions-

fähigkeit - Signi¤ kante Abnahme des Angst-Vermeidungsverhal-

tens bezüglich körperlicher Aktivität - Signi¤ kanter Anstieg der internalen krankheitsbezoge-

nen Kontrollüberzeugungen

Zeitraum vom Beginn der Rückenschulintervention bis zum Katamnese-Zeitpunkt nach 12 Monaten Es wurden die psychologischen Kennwerte bei Beginn und am Ende der Rückenschulintervention sowie der Katamnese-Zeitpunkt nach 12 Monaten berücksichtigt (Varianzanalyse über 3 Messzeitpunkte). Folgende Ver-änderungen wurden festgestellt:

- Signi¤ kante Reduzierung der Schmerzintensität - Signi¤ kante Verbesserung der körperlichen Funktions-

fähigkeit - Signi¤ kante Abnahme des Angst-Vermeidungsverhal-

ten bezüglich körperlicher Aktivität - Signi¤ kanter Anstieg der internalen krankheitsbezoge-

nen Kontrollüberzeugungen - Signi¤ kante Reduktion der Depressivität- Signi¤ kante Reduzierung passiver Schmerzbewälti-

gungsstrategien

Eine Analyse der rückenschmerzbedingten Arbeitsunfä-higkeitstage erwies sich in der untersuchten Stichprobe als nicht relevant, da abgesehen von wenigen Ausnah-men sowohl vor als auch nach der Rückenschule und dem Katamnesezeitraum keine Ausfalltage vorlagen.

Ergebnisse OEMG-Daten Die physiologische Varianz der erhobenen EMG-Mess-werte ist sowohl bei Gesunden (Kontrollgruppe) als auch bei den Rückenschulteilnehmern sehr hoch. Dadurch führt der direkte Vergleich des muskulären Antwortver-haltens der Kontrollgruppe und der Rückenschulteilneh-mer auf unterschiedliche Belastungen zu wenig aussage-kräftigen Ergebnissen.

Zunächst wurden daher die einzelnen Muskeln ohne Be-rücksichtigung der Untersuchungszeitpunkte analysiert. Dabei wurden für jeden einzelnen Muskel alle durchge-führten Testergebnisse zusammengeführt und es wur-de überprüft, welcher Muskel sich insgesamt am deut-lichsten von der Kontrollgruppe unterscheidet. Durch die muskelbezogene Auswertung konnten signi¤ kante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen ermittelt werden. Der M. biceps femoris (bf ) zeigte beispielsweise in 42 % aller Tests signi¤ kante Unterschiede zur Kontroll-gruppe auf.

Für eine zeitpunktbezogene Analyse wurden für jeden einzelnen Untersuchungszeitpunkt die Messwerte aller Muskeln zusammengeführt. Die Muskeln wurden also nicht mehr einzeln, sondern insgesamt betrachtet, um die Häu¤ gkeit aller signi¤ kanten Unterschiede zu den jeweiligen Messzeitpunkten ermitteln. Beispielsweise liegt für den Zeitpunkt U0 ein Wert von 18 % vor. Das bedeutet, dass sich die Rückenschulteilnehmer in 18 % aller durchgeführten Tests zu diesem Zeitpunkt von der Kontrollgruppe signi¤ kant unterschieden.

Bei der dynamischen Belastung (koordinativ-motorische Aufgabe/Propriomed) war für die muskelbezogene Ana-lyse der Anteil signi¤ kanter Unterschiede für den M. multi¤ dus (mf) mit 6,9 % am höchsten, gefolgt in abstei-gender Reihenfolge vom M. biceps femoris (bf ), M. rectus abdominis (ra), M. obliquus externus (oe), M. longissimus (lo), M. rectus femoris (rf ) und M. obliquus internus (oi). Die zeitpunktbezogene Analyse ergab die geringste Abweichung zwischen beiden Gruppen zum 3-Monate-Katamnesezeitpunkt (U3=3,0 %) und zum 12-Monate-Katamnesezeitpunkt (U4=4,6 %). Zu den anderen Unter-suchungszeitpunkten lagen die Werte der prozentualen Abweichung höher (U0=6,1 %; U1=4,9 %; U2=7,1 %).

Bei der statischen Belastung (haltemotorische Aufgabe/Deviator) war im Vergleich zur dynamischen Belastung die Anzahl signi¤ kanter Unterschiede zwischen den Gruppen deutlich höher. Abbildung 4 zeigt die Häu¤ g-keiten dieser Unterschiede je Muskel als Prozentwert aller durchgeführten Tests.

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Insbesondere die Beinmuskel-OEMGs (M. biceps femoris (bf ), M. rectus femoris (rf ) der Rückenschulteilnehmer zeigten signi¤ kante Unterschiede zur Kontrollgruppe. Bei den Rumpfmuskeln war der Muskel mit der deutlichsten Di£ erenz zur Kontrollgruppe der M. multi¤ dus (mf).

Bei der zeitbezogenen Analyse (Abbildung 5) wird deut-lich, dass bestehende Di£ erenzen nicht akut bzw. direkt im Anschluss an die Rückenschule behoben wurden. Drei Monate nach der Rückenschule (U3) ist sogar ein gerin-ger Anstieg signi¤ kanter Unterschiede zur Kontrollgrup-pe eingetreten. Ein deutlicher Rückgang um nahezu die Hälfte aller vorkommenden Di£ erenzen kann ein Jahr nach dem Ende der Rückenschule (U4) verzeichnet wer-den. Der starke Rückgang der Prozentwerte zeigt, dass sich die physiologischen Daten der Rückenschulteilneh-mer an die Messwerte der Kontrollgruppe angenähert haben.

DiskussionDie Neue Rückenschule hat einen deutlichen E£ ekt auf die in vorliegender Studie analysierten psychologischen und biologischen Kennwerte gezeigt. Die Mehrheit der

analysierten Rückenschulteilnehmer hat am Anfang der Studie angegeben, Erfahrung mit Rückenschmerz und funktionellen Beeinträchtigungen zu haben. Die Werte für diese beiden Kenngrößen lagen unterhalb von 30 % auf der NRS jedoch auf einem niedrigen Niveau. Dem-nach hat der Hauptteil der Rückenschulteilnehmer an der Neuen Rückenschule nicht unter dem Gesichtspunkt einer primärpräventiven Fragestellung teilgenommen, sondern es wurden sekundärpräventive Ziele verfolgt. Hinsichtlich dieses Parameters entsprachen die hier Un-tersuchten grundsätzlich denen anderer Rückenschul-gruppen (Kempf 2010).

Analyse vor und nach der Wartezeit von 3 MonatenDie im Rahmen der Fragenbogenanalysen festgestell-te verbesserte körperliche Funktionsfähigkeit sowie die Reduktion der passiven Schmerzbewältigungsstrategien sind wahrscheinlich mit den Erwartungen der Rücken-schulteilnehmer bezüglich der bevorstehenden Rü-ckenschule zu begründen. Veränderungen von weiteren Parametern (einschließlich der biologischen) wurden in diesem Zeitraum nicht nachgewiesen. Das heißt, die Er-gebnisse des Wartezeitraums können als Ausgangsbasis für die folgenden Untersuchungszeitpunkte verwendet werden.

Analyse vor und nach der RückenschulinterventionDie Schmerzintensität der Rückenschulteilnehmer auf der NRS nahm während der Rückenschulintervention bei hoher E£ ektstärke deutlich ab, ebenso das Angst-Vermei-dungsverhalten bezüglich körperlicher Aktivität. Die kör-perliche Funktionsfähigkeit entwickelte sich in positiver Richtung.

Die biologischen Kennwerte der Rückenschulteilnehmer zeigten nach der Rückenschulintervention weiterhin Dif-ferenzen zur Kontrollgruppe, jedoch war trotz hoher Va-riabilität ein Trend der Annäherung der Kennwerte von Rückenschulteilnehmern und Kontrollgruppe festzustel-len. Die deutlich häu¤ ger nachweisbaren Veränderun-gen des Multi¤ dus-OEMG bei Rückenschulteilnehmern korrelieren mit Ergebnissen aus der Literatur (Hides et al. 1996, Anders et al. 2010) und sind höchstwahrscheinlich durch verminderte Muskel-Koordinationsleistungen der Rückenschulteilnehmer im Vergleich zur Kontrollgruppe zu erklären. Bei Personen, die akut oder chronisch unter Rückenschmerzen leiden, ist die Koordination der Rumpf-muskulatur im Vergleich zu Gesunden verändert (Anders et al. 2005, Macdonald et al. 2010).

Somit werden die kurzfristigen Verbesserungen durch die Neue Rückenschule in der vorliegenden Studie haupt-sächlich durch psychologische Kennwerte re� ektiert.Abb. 5

Abb. 4

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Analyse zu den Katamnese-Zeitpunkten 3 und 12 Monate nach RückenschulinterventionNach der Neuen Rückenschule blieben von den psycholo-gischen Variablen die Schmerzintensität, die körperliche Funktionsfähigkeit sowie das Angst-Vermeidungsverhal-ten bezüglich körperlicher Aktivität bis zum 12-Monate-Katamnese-Zeitpunkt auf einem niedrigen Niveau, eben-so die passiven Schmerzbewältigungsstrategien und die internalen krankheitsbezogenen Kontrollüberzeugun-gen. Bei den biologischen Kennwerten näherten sich insbesondere nach isometrischen Belastungen und zum 12-Monate-Katamnese-Zeitpunkt die Reaktionen der Rü-ckenschulteilnehmer und der Kontrollgruppe an. Damit demonstrieren sowohl die psychologischen als auch die biologischen Kennwerte E£ ekte der Nachhaltigkeit der Neuen Rückenschule.

Fazit für die PraxisDie vorliegende Studie zeigt, dass der biopsychosoziale Ansatz der Neuen Rückenschule kurz-, mittel- und ins-besondere langfristige positive E£ ekte bei den Rücken-schulteilnehmern auslöst. Die langfristigen Wirkungen sind ein eindeutiger Beleg für die Nachhaltigkeit der Neuen Rückenschule. Diese Aussagen sind durch Ver-wendung eines komplexen Untersuchungsansatzes, der sowohl psychologische als auch biologische Kennwerte für die Evaluierung der Neuen Rückenschule berücksich-tigt, erstmals möglich. Die verwendeten psychologischen Kennwerte re� ektieren die kurz-, mittel- und langfristi-gen Wirkungen der Neuen Rückenschule auf psychischer Ebene. Die der Studie zugrunde liegenden biologischen Kennwerte spiegeln hauptsächlich die mittel- und lang-fristigen Wirkungen der Neuen Rückenschule auf der kör-perlichen Ebene wider.

Besonderes Augenmerk sollte der Rückenschullehrer auf die langfristige Motivation der Teilnehmer legen, da die kurzfristigen positiven E£ ekte zunächst hauptsäch-lich auf psychologischer Ebene bestehen. Durch die Ab-nahme der empfundenen Schmerzintensität sowie der körperlichen Funktionseinschränkungen der Rücken-schulteilnehmer reduziert sich ihr Angstvermeidungs-verhalten. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die folgenden mittelfristigen und langfristigen E£ ekte der Neuen Rückenschule auf psychologischer und biologi-scher Ebene.

Letztere werden durch die Abnahme der Di£ erenzen zwischen Rückenschulteilnehmern und Kontrollgruppe bei den biologischen Kennwerten belegt und können durch eine anhaltende Verhaltensänderung begründet werden. Dazu zählen Anpassungen wie die Steigerung

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gesundheitssportlicher Aktivität und vor allem die ge-steigerte Integration von mehr Bewegung im Alltag (Treppensteigen, Radfahren, dynamische Positionierung am Arbeitsplatz etc.). Auch ist davon auszugehen, dass eine verbesserte Körperwahrnehmung hilft, sensibler auf Belastungsfaktoren und damit einhergehende innere Signale zu reagieren und entsprechend zu handeln. Da-für sprechen die psychologischen Ergebnisse der Studie – vor allem die Reduktion passiver Copingstrategien, die verbesserte körperliche Funktionsfähigkeit und ein ge-ringeres Angst-Vermeidungsverhalten. Was bedeutet das für das Konzept der Neuen Rücken-schule? Es handelt sich um eine präventive Maßnahme mit langfristigem Wirkungsnachweis, deren Potenzial in der Gleichstellung der Bausteine des biopsychosozi-alen Modells liegt. Bei der eigenen Kursplanung sollte entsprechend ausreichend Zeit für die Umsetzung der psychosozialen Bausteine eingeräumt werden. Die Neue Rückenschule soll den Teilnehmern vorrangig zu mehr Selbstaufmerksamkeit und Selbstwirksamkeit verhelfen, das Bewusstsein für die Eigenverantwortlichkeit erhöhen und einen Prozess des Umdenkens auslösen. Somit liegt die Hauptzielstellung in der Etablierung einer gesunden Lebensführung bei den Teilnehmern. Dies bewirkt die Neue Rückenschule durch ihr biopsychosoziales Konzept und durch eine langfristige sowie kursübergreifende Be-gleitung der Teilnehmer.

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Prof. Dr. med. H. Ch. ScholleFriedrich-Schiller-Universität JenaUniversitätsklinikumKlinik für Unfall-, Hand- und Wieder-herstellungschirurgieFB Motorik, Pathophysiologie und BiomechanikErfurter Str. 3507740 Jena