Rainer Gries, Katharina Krovat »LuftfRacht ist mein Leben« · tes Lesebuch zur...

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ISBN 978-3-87154-453-8 © Kühne + Nagel (2), Fraport »LUFTFRACHT IST MEIN LEBEN« 100 JAHRE FRACHTFLUG IN DEUTSCHLAND RAINER GRIES, KATHARINA KROVAT »LUFTFRACHT IST MEIN LEBEN« 100 JAHRE FRACHTFLUG IN DEUTSCHLAND Im Jahr 2011 ist es 100 Jahre her, dass ein Flugzeug erstmals Güter von einem Ort in Deutschland zu einem anderen transportierte. Diese erste Luftfracht bestand aus aktuellen Tageszeitungen. Im Laufe des Jahrhunderts hat sich der Frachtflug zu einem Medium der Welt und zu einem Motor der Weltwirtschaft entwickelt. Bis heute sind es vor allem eilige und wertvolle Sendungen, die Länder und Kontinente auf dem Luftweg überwinden – und verbinden. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Transportflieger des »Dritten Reiches« hohe Verluste zu verzeichnen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde aus der Berliner Luftbrücke heraus geboren – und damit aus dem Widerstands- und Abenteuer- geist der alliierten Frachtpiloten. Spätestens seit den 1960er-Jahren bildete die Route über den Nordatlantik das Rückgrat des westdeutschen Luftfrachtgesche- hens. Seit den 1970er-Jahren erlebt diese Branche eine Epoche der Entgrenzung und der Entfesselung. Der Fracht-Jumbo avancierte zum Symbol dieses Auruchs in die Zukunft. In der Geschichte des Frachtfluges verdichten sich wie in einem Brennglas die Chancen und Risiken der globalisierten Welt. Wenn wir in diesem reich bebilder- ten Lesebuch von Gütern und Containern, von Flughäfen und Maschinen, von Flugrouten und Frachtraten erzählen, geht es stets darum, mehr über die Conditio humana zu erfahren. Auch in der Geschichte der Luftfracht stehen die Menschen im Mittelpunkt: die Mitarbeiter und die Manager, die Piloten und die Lademeister, die Kunden und die Wettbewerber. Zahlreiche Zeitzeugen berichten hier über ihr Leben, über ihre Visionen und über Mythen, über ihre Erwartungen und Erfahrungen – kurz: über die ganz besondere Cargo-Kultur. Rainer Gries, Katharina Krovat LUFTFRACHT IST MEIN LEBEN p 100 JAHRE FRACHTFLUG IN DEUTSCHLAND p Rainer Gries, Katharina Krovat FRACHTFLUG IN

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ISBN 978-3-87154-453-8© Kühne + Nagel (2), Fraport

»LuftfRacht ist mein Leben« 100 JahRe fRachtfLug in DeutschLanD

RaINeR GRIeS, KathaRINa KRovat

»LuftfRacht ISt meIN LeBeN« 100 JahRe fRachtfLug in DeutschLanD

Im Jahr 2011 ist es 100 Jahre her, dass ein Flugzeug erstmals Güter von einem Ort in Deutschland zu einem anderen transportierte. Diese erste Luftfracht bestand aus aktuellen Tageszeitungen. Im Laufe des Jahrhunderts hat sich der Frachtflug zu einem Medium der Welt und zu einem Motor der Weltwirtschaft entwickelt. Bis heute sind es vor allem eilige und wertvolle Sendungen, die Länder und Kontinente auf dem Luftweg überwinden – und verbinden.

Im Zweiten Weltkrieg hatten die Transportflieger des »Dritten Reiches« hohe Verluste zu verzeichnen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde aus der Berliner Luftbrücke heraus geboren – und damit aus dem Widerstands- und Abenteuer-geist der alliierten Frachtpiloten. Spätestens seit den 1960er-Jahren bildete die Route über den Nordatlantik das Rückgrat des westdeutschen Luftfrachtgesche-hens. Seit den 1970er-Jahren erlebt diese Branche eine Epoche der Entgrenzung und der Entfesselung. Der Fracht-Jumbo avancierte zum Symbol dieses Aufbruchs in die Zukunft.

In der Geschichte des Frachtfluges verdichten sich wie in einem Brennglas die Chancen und Risiken der globalisierten Welt. Wenn wir in diesem reich bebilder-ten Lesebuch von Gütern und Containern, von Flughäfen und Maschinen, von Flugrouten und Frachtraten erzählen, geht es stets darum, mehr über die Conditio humana zu erfahren. Auch in der Geschichte der Luftfracht stehen die Menschen im Mittelpunkt: die Mitarbeiter und die Manager, die Piloten und die Lademeister, die Kunden und die Wettbewerber. Zahlreiche Zeitzeugen berichten hier über ihr Leben, über ihre Visionen und über Mythen, über ihre Erwartungen und Erfahrungen – kurz: über die ganz besondere Cargo-Kultur.

Rainer Gries, Katharina Krovat

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»Luftfracht ist mein Leben«100 Jahre frachtfLug in DeutschLanD

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Luftfracht ist mein Leben

ambitionen Des anfangs

Die geburt Der bunDesrePubLiK

aus Dem geist Des frachtfLuges

Die Ära Des aufschwungs

Die Ära Der entgrenzungen

LegenDen Der LÜfte

frachtgÜter

sicherheit unD nachhaLtigKeit

mÄnnermythos Luftfracht

Die Luftfracht – meDium Der einen weLt

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vorwort

100 Jahre sind vergangen, seit ein Flugzeug erstmals Fracht von einem Ort in Deutsch­land zu einem anderen transportierte. Dieses Jubiläum nehmen wir zum Anlass, Aspekte der Geschichte der Luftfracht Revue passieren zu lassen. Unser Buch vermag freilich nicht, diese Geschichte in all ihren Verästelungen zu präsentieren; das lässt der aktuelle Forschungsstand nicht zu. Vielmehr offerieren wir ein reich bebilder­tes Lesebuch zur Luftfrachtgeschichte in Deutschland, das die großen Zäsuren und Fragen im Stil eines Magazins aufzeigt und aufwirft.

Dieser Band ist das Ergebnis eines Lehrprojekts am Institut für Publizistik­ und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Studentinnen und Studenten unseres Magisterstudienganges haben für dieses Buch recherchiert und geschrie­ben. Daher danken wir zuerst unseren studentischen Mitautoren Matthias Appin­ger, Caroline Aschenberger, Adisa Begic, Harald Dragan, Simon Eichinger, Christian E. Führer, Sylvia Gerstl, Bianca Grießer, Julia Jassoy, Birgit Kobler, Marlene Lobis, Emilia Paunescu, Markus Petrakovits, Doris Pichlbauer, Ilinca Popescu, Christoph Punzengruber, Paul Reiter, Michael Ritzmann, Liesa Sertel, Katharina Strigl, Ani­ta Weinbub, Miriam Weisheitinger und Manuela Wiesinger für ein spannendes Forschungsseminar im Wintersemester 2010/11.

Unsere Ergebnisse stützen sich nicht nur auf die aktuelle Fachliteratur, sondern auch auf Quellenrecherchen in der Unternehmensdokumentation der Deutschen Lufthansa AG in Frankfurt am Main, in den Abteilungen des Bundesarchivs in Koblenz, im Bundesarchiv­Militärarchiv in Freiburg im Breisgau, bei der Presse­ dokumentation des Deutschen Bundestages in Berlin und im Deutschen Rundfunk­archiv Potsdam. Zahlreiche Zeitzeugen aus der Branche waren überdies gerne bereit, sich den ebenso neugierigen wie kritischen Nachfragen der Wiener Studierenden zu stellen. Damit haben sie wesentlich zum Gelingen dieses Projektes beigetragen.

Ihnen gilt unser Dank – ebenso wie Nils Haupt, Michael Göntgens und Dominik Zimmermann von der Kommunikationsabteilung der Lufthansa Cargo AG, die unser Vorhaben stets nach Kräften unterstützt haben. Das gilt nicht minder für den Air­cargo Club Deutschland in Frankfurt. Oliver Detje und Kai Jacobsen von der DVV Media Group GmbH in Hamburg gelang das Unmögliche: Ihr Team hat unser Ma­nuskript rasch und kompetent in dieses ästhetisch ambitionierte Buch verwandelt.

Dieser Band versteht sich als ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Historie der Luftfahrt und der Luftfracht in Deutschland. Er versteht sich als ein Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog – auf der Folie der Geschichte. Und er versteht sich als Einladung dazu, das Engagement für die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft der Frachtfliegerei weiterhin zu fördern.

Wien und Weimar, im Juni 2011rainer gries und Katharina Krovat

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Köpfe der Luftfracht (von links oben nach rechts unten): ewald heim, gail halvorsen, christina rossi, monika Könning, stefanie Däubler, Lucius D. clay, manfred schölch, Klaus holler, nigel ironside, sisko-alice oechslin, ulrike schlosser, Detlef schlemmer, susanne meier, wilhelm althen, wolf-Dietrich von helldorff, Karl-heinz Köpfle, maria muller © Bildnachweise auf Seite 206

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Gibt es tatsächlich eine Magie der Luftfracht? Oder gibt hier ein Insider bloß seine eigenen romantischen Sehnsüchte zu Protokoll? Sicher ist: Die Geschichte der Luftfracht ist ein essenzieller Bestand­teil der Geschichte der Luftfahrt. Sie gehört also zu den großen Erzählungen der Menschheit, die seit jeher davon träumte, den Himmel zu erobern. Die Mythen der Völker sind von geflügelten Wesen aller Art beseelt, seit Menschengedenken entwickeln wir Apparate, um dem Traum vom Fliegen nahezukommen. Die Luftfracht – ein Abenteuer?

»LUFTFraChT haT eTwas MaGisChes. LUFTFraChT birGT UnheiMLiCh vieL abenTeUer UnD ein Ganz spezieLLes FeeLinG.« Willi Rörig, ehemaliger Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von Lufthansa Cargo

Luftfracht ist mein Leben

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In den Narrativen der Transport­ und Frachtflieger erfuhr das Fliegen in der Tat noch einmal eine Steigerung, vielleicht auch eine Überhöhung: Schwer be­ladene Maschinen bringen ihre Güter zu allen nur denkbaren Zielen auf dem Erd­ball; sie landen auf den entlegensten und gefährlichsten Pisten; die Piloten sind kernige Männer, die alle Herausforderungen meistern – unkonventionell und inno­vativ. Der Frachtflug ist der verwegene kleine Bruder des Passagierflugs – ein sym­pathischer Draufgänger der Lüfte. Dies ist das über Jahrzehnte hinweg tradierte Selbstbild. So gesehen, müssten die Geschichten vom Frachtflug in der Mediengesellschaft attraktiv sein.

»meines erachtens sitzt die Luftfracht bei der medialen berichterstattung nicht in der

ersten reihe, sondern eher in der dritten oder vierten. Die gründe sind vielfältig. sie sei

nicht sexy, ist ein oft gehörter satz. also stehen die massenmedien nicht gerade schlange

zwecks berichterstattung. Die unternehmen selbst tragen auch wenig dazu bei, ihre volks-

wirtschaftlich bedeutsamen Leistungen gegenüber der Öffentlichkeit adäquat zu vermitteln.

Dies mag auch daran liegen, dass die Luftfracht über keinen zentralen verband verfügt,

der ihr anliegen einer breiteren Öffentlichkeit anschaulich und kontinuierlich vermittelt.

Die fragmentierung (in speditionen, handling-unternehmen und airlines) führt zu einem

vielstimmigen chor mit bisweilen unterschiedlichen tönen.« Heiner Siegmund, Fachjournalist und Publizist in Hamburg

Luftfracht ist für viele nur ein Aufkleber auf einem Paket. Wer denkt schon daran, dass der Bote eines Paketdienstes das letzte Glied einer Lieferkette ist, in der die Frachtflieger eine bedeutende Rolle einnehmen? Dass die Horizonte der Luftfracht in der öffentlichen Wahrnehmung so wenig präsent sind, steht in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung für unsere modernen Gesellschaften. Ein Natur ereignis lenkte vor einem Jahr unser Augenmerk auf die Relevanz der Luftfahrt und der Luftfracht.

aUF Der sUChe naCh Der ConDiTio hUMana

»wenn heUTzUTaGe noCh irGenDwo abenTeUer vorherrsChT, Dann siCherLiCh in ansäTzen iM FraChTbereiCh.« Tim Holderer, First Officer bei Lufthansa Cargo

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Luftfracht ist weltweite Kommunikation

Im April 2010 spuckte der isländische Vulkan Eyjafjallajökull eine riesige Aschewolke in die Atmosphäre und legte den gesamten Flugverkehr Europas für knapp eine Woche lahm. Hunderte Flughäfen wurden gesperrt, mehr als 100.000 Flüge gestrichen. Acht Millionen Reisende saßen fest. Flugunternehmen mussten wegen des verordneten Flugverbots teils enorme Verluste hinnehmen. Begründet wurden die drastischen Vorsichtsmaßnahmen damit, dass Par­tikel der Vulkanasche nicht nur zu Triebwerksausfällen führen, sondern auch die Messgeräte für Höhe und Geschwindigkeit der Flugzeuge beeinträchtigen könnten.

»iCh GLaUbe, Der vULkanaUsbrUCh iM LeTzTen Jahr war eiGenTLiCh sehr bezeiChnenD DaFür, weLChe beDeUTUnG Die LUFTFraChT iM GLobaLen zUsaMMenhanG einniMMT.« Wolf­Dietrich von Helldorff, ehemaliger Luftfracht­Chef von Kühne + Nagel

abhängig: Der ausbruch des isländischen vulkans eyjafjallajökull im april 2010 offenbarte die verwundbarkeit des internationalen flugverkehrs © Árni Friðriksson

Denn als der Verkehr über den Wolken zum Erliegen kam, schwand in Deutschland und in Europa nicht nur der Vorrat an exotischen Früchten. Längst ist die Luftfracht integraler und integrierender Bestandteil von global vernetzten, eng verzahnten Liefer­ und Produktionsketten, die die Vulkanasche auseinanderriss. So kam es, dass Konzerne wie BMW ihre Produktion unterbrechen mussten, da die dringend benötigten Bauteile ausblieben.

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Die mcDonnell Douglas mD-11: etwa 90 Prozent dieser flugzeuge sind heute als reine frachter im einsatz© Hoppe, Lufthansa­Bildarchiv

In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Bedeutung der Luftfracht fast exponenziell gestiegen. Im Jahr 2003 wurden weltweit mehr als 156 Milliarden be­zahlte »Tonnenkilometer«, sogenannte »revenue-ton kilometers« (RTK), geflogen. Ein Tonnenkilometer bedeutet, dass eine Tonne Fracht über die Strecke von einem Kilo­meter befördert wird. Zum Vergleich: Zehn Jahre zuvor, 1993, lag diese Mess ziffer global bei »nur« 87 Milliarden. Die Luftfracht spielt heutzutage eine zentrale Rolle für den reibungslosen Ablauf von Produktions­, Beschaffungs­ und Absatzprozessen der Industrie. Sie trans­portiert nicht nur leicht verderbliche hochwertige Güter, sondern auch unzählige Einzelteile, die sich zu ebenso hochwertigen Produkten zusammenfügen. Luftfracht bringt also zusammen, was zusammengehört – weltweit. Luftlogistik stellt insofern eine besondere Art von globaler Kommunikation dar.

»es GibT niChTs iM TäGLiChen GebraUCh, Das niChT zUMinDesT aM ranDe MiT LUFTFraChT in berührUnG koMMT.« Klaus Holler, ehemaliger Amerika­Chef bei Lufthansa Cargo

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1911: Der erste Frachtflug in Deutschland

2011 können die Leute der Luftfracht in Deutschland ein rundes Jubiläum feiern. Vor 100 Jahren beförderte ein Flugzeug erstmals eine eilige Fracht: Zeitun­gen. Am 19. August 1911 charterte die »berliner Morgenpost« eigens ein Flugzeug. Der Pilot Siegfried Hoffmann flog Zeitungen in einem »harlan Motorplane« von Berlin­Johannisthal nach Frankfurt an der Oder. Das bedeutete damals eine Stunde Zeit­ersparnis gegenüber dem üblichen Transport per Eisenbahn. Schon vor 100 Jahren wurde so deutlich, für welche Güter sich der vergleichsweise teure Transport per Flugzeug lohnt. Es sind seit jeher eilbedürftige und wertvolle Frachten, die weite Distanzen auf dem Luftweg überwinden.

Bis heute transportieren die Frachtflieger Sendungen, die unsere Gesell­schaft bewegen und verändern. Ihr Vorteil gegenüber den anderen Verkehrsträgern war von Anfang an ihre Geschwindigkeit – und mit der Zeit kamen Sicherheiten hinzu: Die Sicherheit des Transportes an sich und die Zusicherung der Zustellung zu einer bestimmten Zeit. Das Jahr 1911 darf mit gutem Recht als signifikanter Punkt in der Ge­schichte der Luftfracht gelten, weil wir in jenem Jahr den Beginn des kommerziel­len, motorisierten Frachtfluges verorten können. Aus dem Prozess des Durchbruchs der Moderne seit der Jahrhundertwende heraus wurde auch der Frachtflug geboren. Damit nahm eine lange und spannende Geschichte von Transport und Logistik im Krieg und im Frieden, von technischen Entwicklungen, von menschlichen Schick­salen, Erwartungen und Erfahrungen ihren Lauf. Luftfracht ist im Laufe dieses Centenniums nicht nur zum Bestandteil einer weltweiten ökonomischen Verflech­tung geworden, sondern ebenso zu einem gesellschaftlich und kulturell bedeutsa­men Faktor. Sie ist nicht mehr wegzudenken aus unserem täglichen Leben – auch wenn sie für die Vielen unsichtbar bleibt.

Die erste europäische zeitungs-fl ugpost auf der strecke

berlin–weimar: verladen der Pakete im Jahr 1919

© Lufthansa­Bildarchiv

»Das TransporTwesen häLT Die weLT in beweGUnG UnD haT sie überhaUpT in beweGUnG GebraChT.« Günter Mosler, Autor des Buches »Luftfracht – Made in Germany«

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Dass vor 100 Jahren Zeitungen zum allerersten Luftfrachtgut avancierten, mag daher auch eine Verpflichtung sein: Luftfracht transpor­tiert materielle Güter – zugleich hat sie aber von Anbeginn mit immateri­ellen Gütern zu tun. Luftfracht mag als Medium, vielleicht sogar als Motor der Weltwirtschaft gelten. Im selben Atemzug verknüpft und vernetzt sie die eine Welt – woraus gerade der Luftfracht eine besondere Verantwortung für diese eine Welt, für die Verzahnung von Ökonomie und Ökologie entsteht.

»iCh arbeiTe MiT MensChen aUs Der Ganzen weLT UnD aUs aLLen kULTUrkreisen zUsaMMen, Das MaChT es spannenD UnD sehr inTeressanT.« Jürgen Weidner, Teamleiter im Bereich Airmail bei Lufthansa Cargo

cockpit einer mD-11 © Lufthansa­Bildarchiv

vergangenheit: ein Pilot am steuerhorn einer (restaurierten) Ju 52© Jens Görlich, Lufthansa­Bildarchiv

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Wenn wir über den Frachtflug sprechen, so geht es uns letztlich immer da­rum, etwas über die Conditio humana zu erfahren. Wenn wir über die Entwicklung von Containern, Flugzeugen und Frachtgütern schreiben, geht es letztlich darum, den Menschen im Frachtfluggeschehen näherzukommen – ihren Sehnsüchten und ihren Enttäuschungen. Dieses Buch will Anstöße geben, die Bedeutungshorizonte der Luftfracht für die Menschen unserer Moderne zu hinterfragen: Welchen Stellenwert nahm und nimmt Luftfracht in unserer Gesellschaft ein? Welche Kommunikationen und welche Kulturen wurden und werden von ihr getragen? Diesen Fragen wollen wir anhand der wesentlichen Zäsuren und Kontinuitäten der Geschichte der Luftfracht in Deutschland nachgehen. Vielleicht wird es am Ende sogar ein Buch sein, das seinen Lesern die eigen­tümliche und eigenwillige Erotik der Cargo­Welt auch sinnlich erfahrbar macht. 1

»Die LoGisTik isT so FaszinierenD, Dass iCh sie soGar sexy FinDe.« Günter Mosler über seine persönliche Berufung zur Luftfracht

Die Geschichte der Luftfracht in Deutschland lässt sich anhand der technischen Neuerungen erzählen: Wir können nach Containern und Flugzeu­gen fragen. Sie lässt sich entlang der ökonomischen Entwicklungen in der Branche erzählen: Wir können die Geschichte von Unternehmen, von Erfolgen und Rück­schlägen aufzeichnen. Die Geschichte der Luftfracht lässt sich an der Ausdehnung der Streckennetze und am Wachstum der beförderten Gütermenge ablesen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges – und der Geschichte des Kalten Krieges. Die Geschichte der Luftfracht lässt sich kom­munikations­ und kulturgeschichtlich hinterfragen. Wir können nach dem Selbst­ und dem Fremdbild und nach den Kulturen fragen, die damit verbunden werden. In diesem Buch unternehmen wir den Versuch, diese Zugriffe zu synthetisieren.

wir haben diese sentenz unserem buch vorangestellt.

Die Geschichten, die sich von der und über die Luftfracht erzählen lassen, sind abenteuerlich, berührend, aufregend und erstaunlich. Die Anfänge der Luft­fracht sind gekennzeichnet von visionären und wagemutigen Entwicklungen – und allen dazugehörigen Fehlschlägen. In den 1920er­ und 1930er­Jahren beginnt der Frachtflug vorsichtig Fuß zu fassen und sich zu etablieren. Im Zweiten Weltkrieg sind die Transportflieger militärisch notwendig, doch seit dem Wendejahr 1943 vermögen auch die deutschen Transportgeschwader keine Rolle mehr zu spielen. Nach dem Krieg ist es der Frachtflug, der die Berliner Luftbrücke ermöglicht. Mit dem Einsatz der alliierten Frachtpiloten sind zutiefst menschliche Geschichten verbunden: Aus Feinden werden Freunde. Zugleich demonstriert diese Operation eindrucksvoll, was Frachtflug zu leisten vermag. Es dauert noch ein paar Jahre, bis er sich nach dem Krieg erholen kann, um sich schließlich in einer sich globalisieren­den Welt zu einem ebenso weltweiten Player zu entfalten. Sowohl die Flugzeuge als auch die Güter haben in diesem wechselhaften Geschichtsverlauf des Frachtflugs ihre Geschichten zu erzählen, wie auch die Gefahren und Probleme des Frachtver­kehrs ihren Platz in der Geschichte haben.

»LUFTFraChT isT Mein Leben«, sagte Klaus Holler von Lufthansa Cargo im Gespräch mit uns.

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1936: beladung einer heinkel he 111 mit Postsäcken © Lufthansa­Bildarchiv

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»Der krieg ist der vater aller Dinge«, so der vorsokratische Philosoph Heraklit. Der Erste Weltkrieg darf sicher als die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) gelten, aber dieser Krieg war auch der Urvater zahlreicher Entwicklungen und Neuerungen: Er war ein Katalysator, ein Motor der Moderne. Das gilt auch für die Kommunikation, für das Flugwesen – und nicht zuletzt für den Frachtflug. Das Deutsche Reich hatte den Krieg verloren und avancierte in der Zwischenkriegszeit doch zum Pionier des kommerziellen Luftfrachtverkehrs. Vom nationalsozialistischen Regime gefördert, erfuhr der Transport von Post und von Gütern durch die Luft in den 1930er­Jahren einen deutlichen Aufschwung. Die Transportflieger der Luftwaffe des »Dritten reiches« erlitten im Zweiten Weltkrieg hohe Verluste – und blieben doch eine anonyme Truppe ohne Namen.

»Terras LiCeT eT UnDas obsTrUaT: aT CaeLUM CerTe paTeT.

er MaG über Die LänDer GebieTen UnD Das Meer versperren: JeDoCh Der hiMMeL sTehT siCher oFFen.« Ovid, Metamorphosen – Daedalus und Ikarus

ambitionen Des anfangs

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Der FraChTFLUG in Der ersTen häLFTe Des 20. JahrhUnDerTs Der Traum vom Fliegen ist alt, und ebenso alt ist der Spott, der all dieje­nigen traf, die versuchten, diese Vision wahr zu machen. Flugpioniere mussten sich immer wieder gegen die Verfechter der Vernunft behaupten, sie wurden gerne als Fantasten und Verrückte abgestempelt. Und tatsächlich brauchte es Jahrhunder­te, unzählige Vordenker – am berühmtesten unter ihnen Leonardo da Vinci – und unzählige Vorarbeiten – nicht zuletzt jene des Deutschen Otto Lilienthal –, bis am 17. Dezember 1903 die Brüder Orville und Wilbur Wright mit ihrem ersten Motor­flug in die Weltgeschichte eingehen konnten. Sie lösten damit ein Wettrennen um Zeiten, Weiten und Rekorde aus, sodass der Anfang des 20. Jahrhunderts auch den Beginn der rasanten Entwicklung des Luftverkehrs markierte. In Deutschland lag der Fokus zunächst auf der Entwicklung von Luft­schiffen – dank Graf Ferdinand von Zeppelin. Obwohl die Luftschifffahrt große Erfolge erzielen konnte, kristallisierte sich bald heraus, dass Deutschland bei der motorisierten Luftfahrt ins Hintertreffen geriet. Während die Zeppeline noch an ihrer Flugfähigkeit arbeiteten, überquerte der Franzose Louis Blériot 1909 bereits mit einem Flugzeug den Ärmelkanal.

1926: verladung von Luftfracht in eine fokker f.iii der Deutschen Luft hansa © Lufthansa­Bildarchiv

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Erster Weltkrieg: Die Feldpost fliegt

Der technische Fortschritt war in den Anfängen des Ersten Weltkriegs noch nicht so weit gediehen, dass Flugzeuge für den Transport von Gütern in nennens­wertem Ausmaß hätten eingesetzt werden konnten. Die Motorleistung war zu gering, es fehlte an Stauraum, und die Stabilität in der Luft ließ bei zusätzlicher Beladung nach. Es war für die Piloten bereits eine Herausforderung, die von Propellern ange­triebenen Militärflugzeuge gerade in der Luft zu halten. Mit den ersten Doppeldeckern, der Albatros D.II und der Fokker D.II, konnten die Deutschen Anfang 1917 an der Westfront aber strategische Vorteile für sich verbuchen. Diese Maschinen lagen stabiler in der Luft und waren wendiger als die gegnerischen Flugzeuge. Mit den deutschen Doppeldeckern konnte erstmals auch Feldpost per Luftweg transportiert werden, sodass das deutsche Militär 1918 so­gar erste regelmäßige Luftpostverbindungen einrichtete: zwischen Berlin und Köln sowie von St. Petersburg auf die Krim. Der geringfügige Transport von Gütern blieb während des Krieges ausschließlich militärischen Zwecken vorbehalten. R

Zwischen Abenteuerlust und Wirtschaftsfaktor

Früh war klar, dass der Motorflug nicht nur die Abenteuerlust und den Pioniergeist von Ingenieuren befriedigte, sondern dass Luftfahrt auch ökonomisch interessant war – auf lange Sicht würde man damit Geld verdienen können. Um die Entwicklung des Motorflugs in Deutschland zu fördern, stiftete der Mannhei­mer Industrielle Karl Lanz, ein Produzent von Landmaschinen, den »Lanz-preis der

Lüfte«. Der Wettbewerb sollte dem technologischen Fortschritt in der Luftfahrt auf die Sprünge helfen. Bereits 1910 konnte die erste nationale Flugwoche mit aus­schließlich deutschen Teilnehmern veranstaltet werden. Die Wettbewerbe fanden auf dem Flugplatz Johannisthal in Berlin­Treptow statt, der schon bald den Ruf als die »wiege der motorisierten Luftfahrt in Deutschland« erlangte. Johannisthal war einer der ersten Flugplätze Deutschlands und wurde in den folgenden Jahren auch als Testgelände für Prototypen genutzt. Auch der erste Frachtflug in Deutschland startete am 19. August 1911 von diesem Flugfeld.

moskau 1936: ein Deruluft-flugzeug bringt export-fracht nach berlin © Lufthansa­Bildarchiv

»es war noCh abenTeUerGeisT!« Werner Kruse, Global Handling Management, Lufthansa Cargo, über seine Anfänge bei der Luftfracht

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Die posTrakeTe Unter den vielen, teilweise recht kuriosen Ideen, die die Anfänge der Luftfahrt begleiteten, findet sich auch die Postrakete – eine Erfindung, die sich freilich nicht durchsetzen konnte. Ihre Ursprünge liegen im Jahr 1914, als Sol­daten der kaiserlichen und königlichen Armee Öster­reich­Ungarns sich in der polnischen Festung Przemyśl verschanzt hatten und nicht mit der Außenwelt kom­munizieren konnten. Der 13­jährige Friedrich Schmiedl war mit einem der Soldaten verwandt; dessen Schicksal beschäftigte den Schüler offenbar so sehr, dass er sich intensiv damit auseinandersetzte, wie in einem solchen Fall der Kontakt über große Distanzen hinweg herge­stellt werden konnte. Ergebnis seiner Überlegungen war die Postrakete. Er versuchte, seine Idee dem mili­tärischen Oberkommando anzupreisen, wurde jedoch nicht ernst genommen.

Schmiedl aber war überzeugt, dass die Rakete das Transportmittel der Zukunft sein würde, und arbeitete auch als Erwachsener an seiner Idee weiter. Da­mit war er nicht allein: Auch in Deutschland fanden sich Verfechter des Raketen­flugs. Reinhold Tiling arbeitete auf dem Gelände des niedersächsischen Schlosses Arenshorst an solchen Flugkörpern, zeitgleich baute der Ingenieur Rudolf Nebel in einem Schuppen in Berlin­Reinickendorf explosive Geschosse, und im Harz bastelte der Techniker Gerhard Zucker an umgebauten Feuerwerkskörpern. Der weltweit erste geglückte Flug einer Rakete mit Post an Bord fand am 2. Februar 1931 in Österreich statt. Es war ein Test von Friedrich Schmiedl: Seine Rakete namens V 7 transportierte erfolgreich 102 Briefe über eine Strecke von fünf Kilometern. Im selben Jahr, am 15. April 1931, gelang es dem 37­jährigen Reinhold Tiling – Weltkriegspilot, Kunstflieger und Raketentechniker –, für Deutschland den ersten erfolgreichen Raketenflug zu verbuchen. Auf dem Ochsenmoor am Düm­mersee nahe Osnabrück bewunderten etwa 200 Zuschauer den Start und die Lan­dung seiner Rakete. Senkrecht schoss sie in die Höhe, und nachdem sie etwa 1.500 Meter erreicht hatte, breitete sie ihre Segel aus und kehrte in einem ruhigen und kreisförmigen Gleitflug unversehrt zum Boden zurück. Auch der Konstrukteur Gerhard Zucker arbeitete 1933 an einer Post­rakete. Als er 1934 seine Vorstellungen über diese Art der Brief­ und Postkartenbe­förderung den nationalsozialistischen Behörden darlegte, wurden ihm sogar For­schungsmittel angeboten – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er seine Raketen mit Bomben statt mit Post bestücke. Dieses Ansinnen lehnte der Mann ab und emigrierte nach Großbritannien. 1

ankündigung: start von tillings Postrakete am Dümmersee © Sammlung Martin Frauenheim

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Durchbruch der Moderne: Der Frachtflug etabliert sich

Nach dem Ersten Weltkrieg waren zahlreiche Bomber und Jagdflugzeuge, die im und für den Krieg produziert worden waren, nutzlos. Zusätzlich untersagte der Versailler Vertrag Deutschland jegliche militärische Nutzung der Flugzeuge. Diese Umstände führten zu einer Konzentration auf die zivile Luftfahrt und damit auch zu den Anfängen des kommerziellen Luftfrachtverkehrs. Bereits 1917 war die »Deutsche

Luft-reederei« gegründet worden. Maßgeblich verantwortlich für diese Firmengrün­dung zeichnete die »allgemeine elektricitäts-Gesellschaft« (aeG), überdies die Reederei »hamburg-amerikanische packetfahrt-actien-Gesellschaft« (hapaG), die »Luftschiffbau

zeppelin« und die »Deutsche bank«. Am 8. Januar 1919 erhielt die »Deutsche Luft-

reederei« , deren Angebot aus Passagier­, Post­ und Rundflügen bestand, die Zulassung für den zivilen Luftverkehr, und schon am 5. Februar 1919 nahm sie den Luftpostdienst zwischen Berlin und Weimar auf. Damit machte die Luft­Reederei Deutschland zum Gründungsland der kommerziellen Luftfracht. Sehr früh wurde deutlich, dass eine ernst zu nehmende und ökonomisch sinnvolle Etablierung von Luftfahrt und Luftfracht eines internationalen Strecken­

Der Kranich als symbol: werbeprospekt der Deutschen Luft-reederei um 1920© Lufthansa­Bildarchiv

netzes bedurfte. Um die dafür benötigte Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu organisieren, wurde am 28. August 1919 eine Dachorganisation eingerichtet. Sechs Luftfahrtunternehmen, darunter auch die »Deutsche Luft-reederei«, gründeten in Den Haag die »international air Traffic association«, kurz IATA. Sie ist die Vorgängerin der 1945 neu gegründeten »international air Transport association« (ebenfalls IATA), die auch heute noch als Dachverband der internationalen Fluggesellschaften fungiert. 1919 war das wichtigste Anliegen der Fluggesellschaften, die Flugrouten in Europa zu koordinieren. Außerdem sollte eine funktionierende Dachorganisation für die Einhaltung von Regeln und Bestimmungen im Luftverkehr geschaffen werden, die die Fluggesellschaften dabei unterstützte, sowohl für das technische als auch für das organisatorische Prozedere Standards festzulegen. Auch Kooperationen boten sich an, um den großen logistischen Vorteil des Flugverkehrs zur Geltung zu bringen: die schnelle Überwindung von großen Distanzen. Denn: Weite Strecken zu bedienen und zu befliegen, bedeutete schon in den 1920er­Jahren, nationale Grenzen zu überwinden. Die erste internationale Kooperation mit deutscher Beteiligung war die deutsch­russische Luftverkehrsge­sellschaft »Deruluft«, die im November 1921 gegründet wurde. Im Mai 1922 nahm diese Gesellschaft mit deutsch­russischen Besatzungen den Luftverkehr auf der Strecke Königsberg – Moskau auf. Vier Jahre später, im Jahr 1926, wurde die Strecke um Berlin als Ausgangsflughafen erweitert, und bereits 1928 wurde die Verbindung Berlin – Danzig – Königsberg – Riga – Reval – St. Petersburg eröffnet. In der Hauptsache wurden damals Brief­ und Paketpost, Zeitschriften, Textilien, Instrumente und Ma­schinenteile, Eisen­ und Holzwaren, Gold und Silber, Wertpapiere und Dokumente, aber auch Blumen und lebende Tiere befördert. Im Lauf von nur zehn Jahren konn­te die »Deruluft« eine Steigerung der Frachtleistung von 18 Tonnen im Jahr 1922 auf 104 Tonnen im Jahr 1932 verzeichnen.

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»Luftkrieg« in der Weimarer Republik

Obwohl das Luftfrachtaufkommen, also die an deutschen Flughäfen ver­ladene Luftfracht, von 9 Tonnen im Jahr 1919 auf 808 Tonnen im Jahr 1925 anstieg, waren staatliche Subventionen notwendig, um den kommerziellen Luftverkehr auf­rechtzuerhalten. Die Förderung von öffentlicher Seite führte anfänglich zu einem regelrechten Boom, sodass im Jahr 1920 insgesamt 37 deutsche Fluglinien in Betrieb waren. Viele von ihnen konnten nicht rentabel arbeiten – Liquidationen und Ko­operationen waren die Folge. Schließlich kristallisierten sich zwei große Unterneh­men heraus: zum einen die »Deutsche aero Lloyd aG« – ein Zusammenschluss der »Deutschen Luft-reederei« und der »Lloyd«­Gruppe, und zum anderen die »Junkers-

Luftverkehrs aG«. Die beiden Konsortien waren erbitterte Konkurrenten, die viel Energie und Geld in den Wettstreit um den Markt investierten. Sie waren nicht die einzigen Gesellschaften, aber die größten. Ohne Förderungen der öffentlichen Hand konnten sie aber nicht existieren. Diesen Umstand machte sich das Verkehrsministerium in Berlin zunutze. Die Weimarer Reichsregierung wollte eine leistungsfähige Luftfahrtindustrie auf­bauen und fördern – und durchaus auch den Grundstein für eine spätere Luftwaffe legen. Um den Bedarf an Zuschüssen zu reduzieren, aber auch um die staatliche Steuerung zu erleichtern, bot es sich an, den harschen Wettbewerb einzuschränken und ein faktisches Monopol in der deutschen Luftfahrt zu errichten. So trafen sich am 6. Januar 1926 Vertreter der Interessenverbände aus Politik und Wirtschaft, um aus der »Deutschen aero Lloyd aG« und der »Junkers-

Luftverkehrs aG« eine neue und schlagkräftige Luftfahrtgesellschaft zu machen: Die »Deutsche Luft hansa aG« (DLH) war geboren. Eigentümer dieses Unternehmens waren das Deutsche Reich zu 26 Prozent am Stammkapital, die Länder zu 19, Kom­munen zu 27,5 und Junkers und Aero Lloyd zusammen ebenfalls zu 27,5 Prozent. Gestützt von der Reichsregierung und von der preußischen Staatsregierung sollte sich die Luft Hansa nun zum Marktführer entwickeln.

Luftexpress-aufkleber Deutscher aero Lloyd a. g. aus den 20er-Jahren© Lufthansa­Bildarchiv

verladung der fracht: Dornier Komet iii von aero Lloyd © Lufthansa­Bildarchiv

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Ihr Weg dahin wurde allerdings erschwert. Denn schon zwei Monate nach der Gründung der Luft Hansa drängte ein neues Unternehmen auf den Markt: die in Fürth und Nürnberg beheimatete »nordbayrische verkehrsflug«, dann »Deutsche

verkehrsflug«. Mit Beihilfen aus süd­ und mitteldeutschen Ländern und Gemeinden konnte sie in nur zwei Jahren ein respektables Streckennetz errichten, mit dem sie ein Drittel Deutschlands abdeckte. Damit trat sie in spürbare Konkurrenz zur Luft Hansa. Während Berlin die Luft Hansa förderte, kam für die »verkehrsflug« Unter­stützung aus Dresden, Weimar und München. Nicht zuletzt fanden auch politische Konfliktlinien ihren Niederschlag in diesem »Luftkrieg« der Zwischenkriegszeit. Sachsen wehrte sich gegen die von Preußen propagierte Ausschaltung des Leipziger Flugplatzes und bekämpfte die seiner Meinung nach überdimensionale Förderung der Luft Hansa. Bayern wollte seine »hoheitsrechte« wahren und einer »verreich-

lichung« des Landes widerstehen. Das Reichverkehrsministerium hingegen wollte sein industriepolitisches Projekt Luft Hansa stabilisieren und den Markteindring­ling zurückdrängen. Doch keine der beiden Parteien konnte sich wirklich durchsetzen. Die Luft Hansa wurde geschwächt, aber damit auch zur Rationalisierung gezwungen – die »verkehrsflug« arbeitete von Anfang an kosteneffizienter, hatte aber weniger verlässliche Geldgeber.

Luftexpressgut: aufkleber der Deutschen Luft hansa ende der 20er-Jahre© Lufthansa­Bildarchiv

Die Eroberung der Nacht

Die frühen 1920er­Jahre waren für die Luftfahrt von Schwierigkeiten ge­prägt. Aufgrund von Treibstoffmangel musste 1919/1920 der gesamte Flugbetrieb in Deutschland kurzfristig eingestellt werden. Außerdem galten durch den Friedens­vertrag von Versailles und das Londoner Ultimatum von 1921 strenge Limitierungen für den Bau von Flugzeugen und für die Ausbildung von Piloten; auch Funktech­nik an Bord war genehmigungspflichtig. Nachts zu fliegen war zunächst noch nicht möglich, da keine entsprechenden Navigationssysteme zur Verfügung standen. All diese Faktoren stellten für die Luftfahrtunternehmen Hürden dar. Am 1. Mai 1926 um 2 Uhr in der Nacht startete eine dreimotorige Junkers G 24 mit drei Besatzungsmitgliedern zum ersten offiziellen Nachtflug. Mit diesem Flug von Berlin nach Königsberg war der Luftverkehr rund um die Uhr eröffnet, und ein weiterer Nachteil des Flugbetriebs gegenüber dem Schiffs­ und Bahnverkehr konnte ad acta gelegt werden. Die Eroberung der Nacht war damals noch ein durch­aus aufwendiges Unterfangen: Damit die Piloten sich orientieren konnten, wurden am Boden zwischen dem Start­ und dem Zielflughafen eigens Lichter straßen errich­tet. Alle 25 bis 30 Kilometer waren Drehscheinwerfer installiert; im Abstand von vier bis fünf Kilometern befanden sich dazwischen weitere Leuchtsignale. Die Piloten sollten selbst bei schlechter Witterung mithilfe der auf Masten oder Hausgiebeln montierten Lichter navigieren können. Nahezu 500.000 Kilometer konnte die Luft Hansa zwischen 1926 und 1928 mit ihren Flugzeugen in der Nacht absolvieren. 1

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FraChTFLUG iM »DriTTen reiCh«

Krieg in der dritten Dimension

Schon in der Zwischenkriegszeit wurde in Europa angestrengt über die Gestalt künftiger Kriege nachgedacht – insbesondere natürlich darüber, mit wel­chen Mitteln sie zu gewinnen seien. Im Jahre 1921 veröffentlichte der italienische General Giulio Douhet ein höchst einflussreiches Buch: »Dominio dell‘aria« (»Luft-

herrschaft«). Er war der Erste, der eine neue strategische Vision für den Krieg entwi­ckelte. Der ausgebildete Ingenieur und technische Avantgardist behauptete, künfti­ge Kriege würden von derjenigen Partei entschieden werden, die ihre Luftherrschaft durchsetzen könne. Künftige Kriege würden ein hohes Maß an Gewalt freisetzen, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen müsse, die Moral des Gegners zu brechen, weite Areale und große Territorien müssten aktiv in die Kampfhandlungen einbe­zogen werden. Für solche Aufgaben sei die Luftwaffe prädestiniert, die daher aufge­baut und gefördert werden müsse. Dieses Buch wurde in Italien mehrmals aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auch in Deutschland diskutierte man seit Mitte der 1920er­Jahre über die Rolle der Luftstreitkräfte im Krieg der Zukunft. Am 30. Januar 1933 übernahmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Adolf Hitler wurde Kanzler des Deutschen Reiches. Wie die Rechten im Reich wollte er das Rad der Geschichte zurückdrehen. Er wollte wie sie einen anderen, autoritären Staat, und er verabscheute die zersplitterte Parteienlandschaft der Weimarer Republik. Wie die Rechte wollte er die Demokratie und die Errungen­schaften der Revolution von 1918 wieder abschaffen. Vor allem aber wollte er die »schmach von versailles« tilgen und die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges revidie­ren. Es waren keineswegs nur die Nationalsozialisten, die einen neuen, großen Krieg anstrebten, der Deutschland zur führenden Macht in Europa machen sollte. Adolf Hitler visierte vom ersten Tag seiner Herrschaft dieses Ziel an. 1933 begann seine »regierung der nationalen konzentration« mit der Vorbereitung des nächsten Welt­krieges – und mit dem Aufbau eines diktatorischen Systems. Die Entwicklung der Luftfahrt und der Luftwaffe spielten in den Planun­gen und in der Politik des »Dritten reiches« vor dem Hintergrund dieser Vision da­her von Anfang an eine entscheidende strategische Rolle.

im nationalsozialismus: Die gleichgeschaltete »Deutsche Lufthansa aktiengesellschaft« wird monopolistin© Lufthansa­Bildarchiv

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Ambivalenzen der 1930er-Jahre

Drei Tage nach der Machtübernahme handelte Hitler: Er ernannte sei­nen Parteifreund Hermann Göring zum ersten Reichskommissar für Luftfahrt. Mehr noch: Der hochdekorierte Jagdflieger und Geschwaderkommandeur des Ers­ten Weltkrieges wurde kurz darauf auch zum Reichsminister der Luftfahrt ernannt. 1935 avancierte er zudem zum Oberbefehlshaber der neu aufzubauenden Luftwaffe. Diese Personalunion zeigte die Richtung: Die Belange der zivilen Luftfahrt wurden mit den Interessen der Wehrmacht politisch wie administrativ parallelisiert. Die Deutsche Luft Hansa AG wurde ebenfalls noch 1933 im Sinne der Nationalsozialis­ten »gleichgeschaltet«, wobei sie nunmehr einen modernisierten Firmennamen an­nahm: »Deutsche Lufthansa aktiengesellschaft«. Der damalige Technische Direktor, Erhard Milch, ein glühender Nationalsozialist, wechselte sogleich ins neue Minis­terium. Am Ende des Krieges war er zum Staatssekretär im Reichsluftfahrtminis­terium im militärischen Rang eines Generalfeldmarschalls avanciert. Die Macht in der zivilen Luftfahrt in Deutschland wurde bis Mitte der 30er­Jahre radikal auf das Ministerium und die Lufthansa konzentriert. Die gleichgeschaltete Lufthansa wurde nun endlich zur Monopolistin, die den Vorgaben des Ministeriums und der Partei bedingungslos Folge leistete. Die Lufthansa hatte nun auch dem Ziel zu dienen, möglichst rasch Luftstreitkräf­te aufzubauen und Piloten für die Luftwaffe auszubilden. Die Luftfracht bot sich für ein solches Trainingsprogramm geradezu an. In Zusammenarbeit mit der nicht minder gleichgeschalteten Reichsbahn wurden Piloten für Kampfflüge ausgebildet – getarnt als Frachtflieger. Die Nationalsozialisten verfochten zwar eine rückwärts­gewandte Ideologie, doch gleichzeitig trieben sie die Modernisierung voran – stets den kommenden großen Krieg vor Augen. Das galt auch für die Luftfahrt und da­mit auch für die Luftfracht. Das »Dritte reich« förderte den Ausbau der deutschen Flughäfen, die Entwicklung leistungsstarker Flugmotoren und die Verbesserung der Funktechnologie mit erheblichen Subventionen.

Lufthansa Junkers g 38 auf dem flughafen halle-Leipzig (um 1933)© Lufthansa­Bildarchiv

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Der Sprung übers Wasser

Während der 1930er­Jahre gelang es der Deutschen Lufthansa, in ganz Eu­ropa ein Luftpostnetz aufzubauen, das über Nacht beflogen wurde. Doch nicht nur der heimische Kontinent wurde für die Luftpost und für die Luftfracht erschlossen. Der Luftpostdienst wurde sogar über den Atlantik hinweg ausgebaut, und fortan wurden Ziele in Nord­ und Südamerika angeflogen. Da die Reichweite der Flugzeu­ge einen Transatlantikflug ohne Zwischenhalt nicht zuließ, behalf man sich, indem man Schiffe zu schwimmenden Flugbasen machte. Flugzeuge und Schiffe wurden zu einer Logistikkette verknüpft – diese Kombination verringerte die Distanzen in der Welt von damals bereits in erheblichem Maß. Die in Europa gestarteten Flug­zeuge wurden von Schiffen, die im Atlantik stationiert waren, aufgenommen und weiter gen Amerika katapultiert. Schon im Juli 1929 hatte das Heinkel­Katapult des Passagierdampfers »bremen« 400 Kilometer vor der Küste Amerikas das zweisitzige Schwimmerflugzeug Heinkel He 12 in Richtung New York in die Luft geschossen. Damit konnten bereits 24 Stunden Laufzeit auf der Strecke von Deutschland nach New York eingespart werden. Bald schon wurde die Distanz für diese Katapultflüge auf bis zu 1.200 Kilometer ausgeweitet. Die Idee wurde aber noch weiter getrieben, und 1934 eröffnete die Lufthansa die erste transatlantische Luftpoststrecke von Ber­lin nach Rio de Janeiro. Diese Route war als Stafettenlauf organisiert: Von Deutsch­land nach Spanien flog eine Heinkel He 70, den Part von Spanien nach Afrika über­nahm eine Ju 52, weiter ging es mit einem zweimotorigen Dornier­Flugboot, das am Gambia­River startete und bei dem im Atlantik kreuzenden Frachtschiff »westfalen« landete. Dieser schwimmende Flugstützpunkt verfügte über ein Heinkel­Katapult und schoss die Dornier, nachdem sie wieder aufgetankt war, weiter gen Natal in Bra­silien, von wo aus Flugzeuge der »syndicato Condor Ltda.« die Post weiter nach Rio de Janeiro brachten. Dieses System reduzierte die Laufzeit eines Briefes von Frankfurt am Main nach Rio de Janeiro auf gerade einmal zwei Tage. Auf dem Seeweg wäre derselbe Brief womöglich drei Wochen unterwegs gewesen.

Das Katapult-flugzeug »new york« an bord des Lloyd-Dampfers »bremen« kurz vor einem start© o. Ang., Bundesarchiv, Bild 102­12384

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Diese Zahlenreihe markiert einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der Luftracht in Deutschland. Interessant sind nicht so sehr die absoluten Ziffern, sondern die außerordentlichen Steigerungsraten: Innerhalb von sechs Jahren ver­zwölff achte sich die Tonnage an beförderter Luftpost. Bereits in den 1930er­Jahren zeichnete sich ab, für welche Gattungen von Gütern die Luftfracht im folgenden Jahrhundert zuständig sein würde: 1932 wurden in Europa vor allem Teile für die Herstellung von Radioapparaten geflogen. Die Luftfracht transportiert seither tradtionell Bauelemente für Medien. Damals war das Radio das modernste Medium seiner Zeit. Heute fliegen die Fracht­Airlines Bauelemente für Mobiltelefone und MP3­Player. Schon damals wurden Blumen via Luftfracht versandt – bis heute werden Blumen, Gemüse und Obst in großen Mengen befördert. Auch Kleider und Textilien spielten eine große Rolle. Schon damals wurden hochwertige und leicht verderbliche Güter den Luftfracht­Spezialisten anvertraut.

In den 1930er­Jahren erfuhren die Luftfracht und die Luftpost einen deutlichen Aufschwung. Dafür lassen sich zahlreiche Gründe finden: Rder weltweite Durchbruch der Moderne, der technische Innovationen gebar und den internationalen Austausch beförderte,Rder wirtschaftliche Aufschwung, der sich just seit 1933 bemerkbar machte, Rdie erheblichen Investitionen des nationalsozialistischen Regimes in die Luftfahrt – im Interesse der Vorbereitung eines neuen Krieges.

Der Aufschwung des Frachtfluges

Tonnen 467 772 1.401 2.597 3.754 5.483

Jahr 1933 1934 1935 1936 1937 1938

30er-Jahre: Take-oFF Der LUFTposT in DeUTsChLanD

beförderte post im deutschen Fluglinienverkehr1933 –1938

Luftfracht-aufkleber © Lufthansa­Bildarchiv

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An vorderster Front:Transportflieger im Zweiten Weltkrieg

Der Zweite Weltkrieg fand zu Lande und zu Wasser statt, aber er war in der Tat vor allem auch ein Krieg in der Luft und aus der Luft, ein Krieg in der dritten Dimension. Die Flotte der Lufthansa wurde daher im Laufe des Krieges mehr und mehr für den Bedarf der Wehrmacht und der Rüstungswirtschaft eingesetzt und teilweise beschlagnahmt. Maschinen gingen verloren, Piloten dienten als Soldaten. 1944 war das Unternehmen fast vollständig am Boden: Mit den verbliebenen Flug­zeugen erreichte die Lufthansa gerade einmal die Anzahl an geflogenen Kilometern, die sie in ihrem Gründungsjahr 1926 bewältigt hatte. Die Geschichte der Luftfracht in Deutschland fand von 1939 bis 1945 weniger im kommerziellen als vielmehr im militärischen Bereich ihre Fortsetzung, mithin bei den Transportfliegern der Deutschen Luftwaffe. Obwohl der Transport von militärischem Material durch die Luft von erheblicher Bedeutung war, ließ sich die Reichsluftwaffe bis 1943 Zeit, um eigens eine Transportfliegertruppe aufzustellen. Bis dahin gab es zwar auch Frachtflieger bei der Luftwaffe, aber sie nahmen diese Aufgabe gewissermaßen nur im Nebenjob wahr – das zeigte sich schon daran, dass sie nicht einmal namentlich als Transport­flieger zu erkennen waren: Im damaligen Militärjargon wurden sie geradezu ano­nym als »kampfgruppen zur besonderen verwendung (kGr zbv)« bezeichnet. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges standen etwa 430 Flugzeuge des Typs Ju 52 bei Bedarf und von Fall zu Fall für Transportaufgaben zur Verfügung – in der Hauptsache dienten diese Flugzeuge aber als Ausbildungsmaschinen der Schulen für Kampfflieger und Beobachter. Später verfügten die Transportflieger auch über einige wenige Maschi­nen der Typen Messerschmitt Me 323, Junkers Ju 90 und Ju 290.

Kessel Demjansk (russland) im Januar 1942: Die 16. armee der wehrmacht wird mithilfe von flugzeugen des typs Ju 52 versorgt © Ullrich, Bundesarchiv, Bild 101I­003­3445­33

transportflugzeug messerschmitt me 323 »gigant« im flug (bei start oder Landung) © Menzendorf, Bundesarchiv, Bild 101I­596­0367­05A

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Die Transportfliegerstaffeln flogen Soldaten, Waffen und Munition, aber auch Lebensmittel und Feldpost, Ersatzteile für Militärfahrzeuge und für Flugzeu­ge. Sie flogen aber auch im Interesse der politischen Propaganda: eilige Berichte und Bildmaterial zur redaktionellen Bearbeitung nach Berlin und nicht minder ei­lige Druckunterlagen für Propagandablätter wie die Auslandsillustrierte »signal«, gedruckte Flugblätter und Propagandaschriften in alle Gebiete des von der Wehr­macht besetzten Europa. Besonders häufig wurden die Transportflieger zur Überführung von ver­letzten Soldaten eingesetzt. Um die Maschinen möglichst rationell und effizient zu nutzen, wurden die Transportflieger einerseits als Frachtflieger eingesetzt: Auf dem Weg in Richtung Front nahmen sie gewöhnlich Ersatzteile und Lebensmittel mit, und auf dem Rückflug fungierten sie als Sanitätsflieger, die Verwundete transpor­tierten. Voraussetzung für eine solche Flugpassage war freilich eine Bescheinigung des Truppenarztes; dieser musste bestätigen, dass es medizinisch geboten war, den Soldaten von der Front abzuziehen. Die Transportflugzeuge übernahmen im Zweiten Weltkrieg in begrenz­tem Umfang auch die Aufgabe, Passagiere zu befördern. Solche Flugpassagen wurden jedoch nur ranghohen Personen gewährt, wenn die Reise kriegswichtigen Belangen diente. In den Genuss dieses Services kamen Angehörige des General­stabs der Luftwaffe, die Chefs der Luftflotten sowie Offiziere, die Inspektionsflüge unternahmen. Nicht zu den Aufgaben der Transportflieger gehörte die Überführung ge­fallener oder verstorbener Soldaten; diese wurden, wenn überhaupt, mit der Bahn in die Heimat gebracht. R

tiefflug: eine Junkers Ju 52 der Deutschen Luftwaffe über-fliegt 1943 im norden russlands ein Pferdegespann © Richard Muck, Bundesarchiv, Bild 101I­700­0256­38

»Der wiChTiGsTe MoMenT in Der GesChiChTe Der LUFTFraChT war Der ersTe FraChTFLUG.« Karl­Heinz Köpfle, Vorstand Operations bei Lufthansa Cargo

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www.100-jahre-luftfracht.de

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Literatur

In diesem Lesebuch haben wir die Aussagen von Zeitzeugen sowie Archivmaterial und journalistische Quellen ausgewertet. In unsere Darstellung sind auch die Ergebnisse anderer Autoren eingeflossen. Dieses Buch ist im Magazinstil gehalten, daher konnten wir die Bezüge zu weiterer Literatur nicht immer ausweisen.

Mads andersen: Superflieger der Welt. Die sensationellsten Flugzeuge aller Zeiten, München 2008.

rudolf braunburg: Die Geschichte der Lufthansa. Vom Doppeldecker zum Airbus, Hamburg 1991.derselbe: Der Pilot. Traum, Beruf, Abenteuer. Von der Faszination des Fliegens, Mün­chen 1991.

albert Fischer: Luftverkehr zwischen Markt und Macht (1919–1937). Lufthansa, Ver­kehrsflug und der Kampf ums Monopol (Vierteljahrschrift für Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte Nr. 167), Wiesbaden 2003.

rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003.derselbe: Produktkommunikation. Geschichte und Theorie, Wien 2008.

Gerd hoff: Entwicklung und Bedeutung des Luftfrachtverkehrs in der Bundes republik Deutschland, Berlin 1972.

katharina krovat: (Selbst­)Bilder einer Ausstellung: Wien und die Wiener. Wir­Inszenierungen anno 1927, unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2007.

Günter F. Mosler: Luftfracht – Made in Germany. Günter F. Mosler erzählt, 2010.

karl-Dieter seifert: Der deutsche Luftverkehr. 1926–1945. Auf dem Weg zum Weltver­kehr, Bonn 2001.derselbe: Der deutsche Luftverkehr. 1955–2000. Weltverkehr, Liberalisierung, Globalisierung, Bonn 1999.

helmut Trunz: Die Geschichte der Lufthansa. Luftfahrtlegende seit 1926, München 2008.

Christoph Tschamler: Vom Postdienst zum Exportmotor – die Entwicklung der Luftfracht in Deutschland, unveröffentlichte Diplomarbeit, Regensburg 2004.

Joachim wachtel: Die Zeit im Fluge. Geschichte der Deutschen Lufthansa 1926 bis 1990, Köln 1990.

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Bilder

Die Bildquellen sind – mit Ausnahme von Kapitel 1 – bei jedem Bild aufgeführt.Wir haben die Herkunft der Bilder nach bestem Wissen und Gewissen geprüft und aufgeführt. Sollten uns hier Fehler unterlaufen sein, freuen wir uns über eine Nachricht.

seite 4:

Lufthansa­Bildarchiv, Montage: Anne­Katrin Gronewold

seite 6:

(von links oben nach rechts unten) DVZ; U.S. Air Force; Lufthansa­Bildarchiv; Gert Schuetz, picture alliance/akg­images; Fraport; Lufthansa­Bildarchiv; Nigel Ironside; Lufthansa­Bildarchiv (3); Siegmund, DVZ; Lufthansa­Bildarchiv; Wachholz, DVZ; Lufthansa­Bildarchiv; Rostock Airport

seite 7:

Lufthansa­Bildarchiv

seite 8:

Richard Fuchs

seite 9:

Wachholz, DVZ

seite 12:

Moritz Schmid

seite 13

Lufthansa­Bildarchiv; Günter Mosler

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Die Autoren

rainer Gries

geboren 1958 in Heidelberg, Dr. phil. habil., forscht und lehrt als Universitätsprofessor am Institut für Publizistik­ und Kommunikationswis­senschaft der Universität Wien und am Historischen Institut der Friedrich­Schiller­Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Themenfelder Geschichte – Kommunikation – Kultur: die Gesellschaftsgeschichte Deutsch­lands und Österreichs, die Theorie und Geschichte der Geschichtskultur (»public history«) und die Geschichte der persuasiven Kommunikationen (politische Propaganda und Produktkommunikation). 2002 habilitierte er sich über »produkte als Medien« in West­ und Ostdeutschland. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Zum Themen kreis Konsum­ und Kommunikationsgeschichte sind zuletzt erschie­nen: »ernest Dichter. Doyen der verführer« (Wien 2007), »produktkommunikation.

Ge schi chte und Theorie« (Wien 2008) sowie »ernest Dichter and Motivation

research« (Houndmills, Basingstoke 2010).

katharina krovat

geboren 1977 in Klagenfurt, Mag.a phil., forscht und lehrt am In sti­tut für Publizistik­ und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Katharina Krovat hat in Wien Kommunikations­ und Geschichts­wissenschaften studiert. Außerdem ist sie ausgebildete Buchhändlerin und Kommunikationstrainerin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Themenfelder Gedächt niskulturen und kulturelles Gedächtnis sowie kollektive Identitäts­forschung; sie promoviert mit einer Arbeit zur Theorie und Geschichte der Ge­schichtskultur (»public history«).

© Ondrej Hlavacek

© Robert Harson

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Page 33: Rainer Gries, Katharina Krovat »LuftfRacht ist mein Leben« · tes Lesebuch zur Luftfrachtgeschichte in Deutschland, das die großen Zäsuren und Fragen im Stil eines Magazins aufzeigt

»Luftfracht ist mein Leben«100 Jahre Frachtflug in Deutschland

verLaGDVV Kundenmagazine GmbH(Ein Unternehmen der DVV Media Group GmbH)Nordkanalstraße 26D­20097 Hamburg

proJekTLeiTUnGKai Jacobsen

reDakTion UnD TexTRainer GriesKatharina Krovat

LekToraTJuliane Topka, Lektorat für Unternehmenskommunikation

GesTaLTUnGKatrien Stevens, Karavandesign

biLDreDakTionAnne­Katrin GronewoldKai Jacobsen

DrUCkv. Stern'sche Druckerei GmbH & Co KG, Lüneburg

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1. aUFLaGe, aUGUsT 2011ISBN 978­3­87154­453­8

0208 1 0 0 J a h r e F r a C h T F L U G i n D e U T s C h L a n D