Ramanujan an Hardy: Vom ersten bis zum letzten BriefRamanujan an Hardy: Vom ersten bis zum letzten...

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Ramanujan an Hardy: Vom ersten bis zum letzten Brief Don Zagier Es gibt verschiedene Meinungen zu der Frage, ob die Mathematik eher eine wissenschaftliche oder eher eine künstlerische Aktivität ist. Aber alle sind sich darüber einig, dass sie keine romantische Aktivität ist. Die Ge- schichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, ist eine der seltenen Ausnahmen dieser Regel. Es ist die Ge- schichte eines Autodidakten, eines selbst in seinem ei- genen Land unbekannten Genies, der es gewagt hat, ei- nem der berühmtesten Mathematiker seiner Epoche zu schreiben, um ihm einige seiner Entdeckungen zu enthül- len; die Geschichte der warmherzigen und großzügigen Aufnahme dieses Schreibens und der außergewöhnlichen Zusammenarbeit, die daraus entstand; und schlussend- lich die Geschichte des glorreichen letzten Schreibens des Genies an seinen Freund, welches inmitten einer Pe- riode von Krankheit und Depression kurz vor seinem viel zu frühen Tod entstand und trotzdem bis heute nicht aufhört, uns zu faszinieren und zu verblüffen. Das unbe- kannte Genie war der Inder Srinivasa Ramanujan, sein uneigennütziger Gönner der Engländer Godfrey Harold Hardy, und es ist heute mein Ziel, Ihnen die Umstände näher zu bringen, die die beiden zusammenbrachten, und auch etwas die Mathematik, um die es sich dabei handel- te. Als man mich gebeten hatte, in diesem Konferenzzyklus mit dem Titel „Ein Text, ein Mathematiker“ zu sprechen, 1 hatte ich zuallererst in Erwägung gezogen, diesen Titel leicht abzuändern in „Drei Texte, ein Mathematiker“ und über drei Schriften von Hardy zu sprechen, die meine Karriere und – wie ich glaube – auch die vieler meiner Kollegen beeinflusst haben. Es handelte sich um die drei Bücher von Hardy, die Sie hier sehen: die Einführung in die Zahlentheorie, die er in Zusammenarbeit mit E.M. Wright geschrieben hat, sein Mathematician’s Apology und seine mathematische Biographie von Ramanujan. Ich erhielt das erste dieser Bücher im Alter von 14 Jahren als Preis für einen Wettbewerb, den ich in meinem Jahr an einer eng- lischen „public school“ gewonnen hatte (es handelt sich übrigens um das Winchester College, das gleiche Colle- ge, an dem Hardy Schüler war – und das er verabscheu- te). Als ich diesen Preis erhielt, war ich nicht sonderlich beeindruckt, da ich im Jahr zuvor in den Vereinigten Staa- ten für einen ähnlichen Wettbewerb ein Stipendium in Höhe von 1000 Dollar für mein Hochschulstudium ge- wonnen hatte und mir deshalb ein Preis im Wert von zweieinhalb Pfund nicht sehr aufregend erschien. Aber ich hatte Unrecht, denn das Stipendium hat nichts an mei- nem Leben verändert, die Einführung in die Zahlentheorie dagegen schon. Geschrieben mit der Klarheit und dem Elan, für die Hardy berühmt war, zeigt dieses Buch mit unfehlbarem Scharfsinn und unwiderstehlichem Enthusi- asmus die ganze Schönheit der Zahlentheorie auf einem Niveau, das auch einem guten Gymnasiasten zugänglich ist, ohne den Tiefgang der Theorie zu vereinfachen oder zu verschleiern. Wenn ich Zahlentheoretiker geworden bin, liegt das ohne Zweifel zum Teil an diesem Meister- werk. Das zweite Buch ist ein ganz anderes Werk. A Mathe- matician’s Apology, von dem es leider keine Übersetzung zu geben scheint, ist einzig in seiner Art. Geschrieben in Hardys letzten Lebensjahren gibt es, wie der Titel sagt, ei- ne Art Rechtfertigung für das Leben eines theoretischen Mathematikers. Es ist ein wunderbares Buch: intellektu- ell, persönlich und zuweilen ziemlich traurig, da eine der Srinivasa Ramanujan Godfrey Harold Hardy MDMV 18 / 2010 | 21–28 FOKUS 21

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Page 1: Ramanujan an Hardy: Vom ersten bis zum letzten BriefRamanujan an Hardy: Vom ersten bis zum letzten Brief Don Zagier Es gibt verschiedene Meinungen zu der Frage, ob die Mathematik eher

Ramanujan an Hardy: Vom ersten bis zum letzten BriefDon Zagier

Es gibt verschiedene Meinungen zu der Frage, ob dieMathematik eher eine wissenschaftliche oder eher einekünstlerische Aktivität ist. Aber alle sind sich darübereinig, dass sie keine romantische Aktivität ist. Die Ge-schichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, ist eineder seltenen Ausnahmen dieser Regel. Es ist die Ge-schichte eines Autodidakten, eines selbst in seinem ei-genen Land unbekannten Genies, der es gewagt hat, ei-nem der berühmtesten Mathematiker seiner Epoche zuschreiben, um ihm einige seiner Entdeckungen zu enthül-len; die Geschichte der warmherzigen und großzügigenAufnahme dieses Schreibens und der außergewöhnlichenZusammenarbeit, die daraus entstand; und schlussend-lich die Geschichte des glorreichen letzten Schreibensdes Genies an seinen Freund, welches inmitten einer Pe-riode von Krankheit und Depression kurz vor seinemviel zu frühen Tod entstand und trotzdem bis heute nichtaufhört, uns zu faszinieren und zu verblüffen. Das unbe-kannte Genie war der Inder Srinivasa Ramanujan, seinuneigennütziger Gönner der Engländer Godfrey HaroldHardy, und es ist heute mein Ziel, Ihnen die Umständenäher zu bringen, die die beiden zusammenbrachten, undauch etwas die Mathematik, um die es sich dabei handel-te.

Als man mich gebeten hatte, in diesem Konferenzzyklusmit dem Titel „Ein Text, ein Mathematiker“ zu sprechen,1

hatte ich zuallererst in Erwägung gezogen, diesen Titelleicht abzuändern in „Drei Texte, ein Mathematiker“ undüber drei Schriften von Hardy zu sprechen, die meineKarriere und – wie ich glaube – auch die vieler meinerKollegen beeinflusst haben. Es handelte sich um die dreiBücher von Hardy, die Sie hier sehen: die Einführung in die

Zahlentheorie, die er in Zusammenarbeit mit E.M. Wrightgeschrieben hat, sein Mathematician’s Apology und seinemathematische Biographie von Ramanujan. Ich erhielt daserste dieser Bücher im Alter von 14 Jahren als Preis füreinen Wettbewerb, den ich in meinem Jahr an einer eng-lischen „public school“ gewonnen hatte (es handelt sichübrigens um das Winchester College, das gleiche Colle-ge, an dem Hardy Schüler war – und das er verabscheu-te). Als ich diesen Preis erhielt, war ich nicht sonderlichbeeindruckt, da ich im Jahr zuvor in den Vereinigten Staa-ten für einen ähnlichen Wettbewerb ein Stipendium inHöhe von 1000 Dollar für mein Hochschulstudium ge-wonnen hatte und mir deshalb ein Preis im Wert vonzweieinhalb Pfund nicht sehr aufregend erschien. Aberich hatte Unrecht, denn das Stipendium hat nichts an mei-nem Leben verändert, die Einführung in die Zahlentheoriedagegen schon. Geschrieben mit der Klarheit und demElan, für die Hardy berühmt war, zeigt dieses Buch mitunfehlbarem Scharfsinn und unwiderstehlichem Enthusi-asmus die ganze Schönheit der Zahlentheorie auf einemNiveau, das auch einem guten Gymnasiasten zugänglichist, ohne den Tiefgang der Theorie zu vereinfachen oderzu verschleiern. Wenn ich Zahlentheoretiker gewordenbin, liegt das ohne Zweifel zum Teil an diesem Meister-werk.

Das zweite Buch ist ein ganz anderes Werk. A Mathe-matician’s Apology, von dem es leider keine Übersetzungzu geben scheint, ist einzig in seiner Art. Geschrieben inHardys letzten Lebensjahren gibt es, wie der Titel sagt, ei-ne Art Rechtfertigung für das Leben eines theoretischenMathematikers. Es ist ein wunderbares Buch: intellektu-ell, persönlich und zuweilen ziemlich traurig, da eine der

Srinivasa Ramanujan Godfrey Harold Hardy

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Thesen, die Hardy aufstellt, besagt, dass ein Mathemati-ker nur in seiner Jugend kreativ sein kann, und er daherwohl nie wieder die Freude einer großen Entdeckung er-leben würde. Aber das Buch gibt auch viele Einblicke indie Philosophie und Psychologie der Mathematik und derMathematiker und auch in seine eigene Philosophie, zumBeispiel seine Überzeugung, dass nichts, was er gemachthat, jemals nützlich sein könnte und dass er dies absolutso haben wollte.

Das dritte Buch, um das es sich gehandelt hätte, wäre ichbei den Büchern von Hardy geblieben, wäre seine Bio-graphie von Ramanujan gewesen, die allerdings eher einmathematischer Text als eine Biographie ist, da elf derzwölf Kapitel der Mathematik gewidmet sind und nur eineinziges dem Leben von Ramanujan. Ich wollte also erstüber diese drei Bücher sprechen, die mir so viel bedeu-ten, aber letztendlich erschien es mir besser, nur überdie Verbindung zwischen den Mathematikern Hardy undRamanujan zu sprechen und als Texte nicht die brillan-ten und geschliffenen Bücher des Ersteren, sondern diebeiden ungelenk und schlecht geschriebenen Briefe desLetzteren zu nehmen, da sie vielleicht einen noch größe-ren Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik im letz-ten Jahrhundert hatten und bis zum heutigen Tage nochimmer haben.

Ich habe nicht die Zeit, Ihnen das Leben von Ramanujan,auch nur in Kurzform, zu schildern und ziehe es sowiesovor, Ihnen Ramanujan so vorzustellen, wie er sich selbstHardy in seinem berühmten ersten Brief vom Januar 1913vorstellte, der den halben Titel meines heutigen Vortragsbildet.

MADRAS, 16 January 1913

DEAR SIR,

I beg to introduce myself to you as a clerk in the AccountsDepartment of the Port Trust Office at Madras on a salaryof only £20 per annum. I am now about 23 years of age. Ihave had no University education but I have undergone theordinary school course. After leaving school I have been em-ploying the spare time at my disposal to work at Mathematics.I have not trodden through the conventional regular coursewhich is followed in a University course, but I am striking outa new path for myself. I have made a special investigation ofdivergent series in general and the results I get are termed bythe local mathematicians as “startling”.

. . .

I would request you to go through the enclosed paper. Be-ing poor, if you are convinced that there is anything of valueI would like to have my theorems published. I have not giventhe actual investigations nor the expressions that I get butI have indicated the lines on which I proceed. Being inex-perienced I would very highly value any advice you give me.Requesting to be excused for the trouble I give you.

I remain, Dear Sir, Yours truly,S. RAMANUJAN

P.S. My address is S. Ramanujan, Clerk Accounts Department,Port Trust, Madras, India

Die Geschichte von Hardys Reaktion auf diesen Briefwurde sowohl von Hardy selbst, als auch von C.P. Snowin seinem Vorwort zu A Mathematician’s Apology geschil-dert und ist berühmt geworden.

. . . At the back of his mind, getting in the way of his completepleasure in his game, the Indian manuscript nagged away. Wildtheorems. Theorems such as he had never seen before, norimagined. A fraud of genius ? A question was forming itself inhis mind. As it was Hardy’s mind, the question forming itselfwith epigrammatic clarity : is a fraud of genius more proba-ble than an unknown mathematician of genius ? Clearly theanswer was no. Back in his rooms in Trinity, he had anotherlook at the script. He sent word to Littlewood (probably bymessanger, certainly not by telephone, for which, like all me-chanical contriviances including fountain pens, he had a deepdistrust) that they must have a discussion after hall.

. . .

Apparently it did not take them long. Before midnight theyknew, and knew for certain. The writer of these manuscriptswas a man of genius. That was as much as they could judgethat night. It was only later that Hardy decided that Ramanu-jan was, in terms of natural mathematical genius, in the classof Gauss and Euler : but that he could not expect, because ofthe defects of his education, and because he had come on thescene too late in the line of mathematical history, to make acontribution on the same scale.

C. P. Snow

Vorwort zu A Mathematician’s Apology

Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein renommierterMathematiker und würden eines schönen Tages den Briefeines Unbekannten erhalten, der wie folgt beginnt: „Sehrgeehrter Herr, erlauben Sie mir, dass ich mich Ihnen vor-stelle. Ich bin Angestellter in der Buchhaltung des Schiff-fahrtsbüros von Madras mit einem Jahresgehalt von nur20 Pfund pro Jahr“, und Ihnen weiter mitteilt, dass derVerfasser 23 Jahre alt ist, dass er keine Universitätsaus-bildung hat, aber dass er neue Wege geöffnet und Resul-tate erhalten hat, die die Mathematiker vor Ort als „ver-blüffend“ bezeichnen. Es folgen dann ein Dutzend Seiten,die eng mit schreckenerregenden und ungewöhnlich aus-sehenden Formeln beschrieben sind, insgesamt mehr alshundert.

Ihre erste Reaktion wird ohne Zweifel sein, diesen Briefin den Papierkorb zu werfen, so wie Sie es mit den Brie-fen zu machen pflegen, die Sie von Zeit zu Zeit von Halb-verrückten erhalten, die sich für die Mathematik begeis-tern, davon aber nichts verstehen. Und genau das ha-ben zwei Ihrer Kollegen bereits getan, was Sie natürlichjetzt nicht wissen. Aber Ihre zweite Reaktion – wennSie Hardy wären – wäre, sich die Formeln etwas genau-er anzuschauen, festzustellen, dass sie ein gewisses Et-was besitzen, und dann schnell Ihren guten Freund Litt-lewood aufzusuchen, um bis tief in den Abend mit ihmdieses außergewöhnliche Schriftstück zu studieren. Undbevor der Tag sich zu Ende neigt, werden Sie – obwohl

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Sie längst nicht alle Resultate überprüfen und deren Ur-sprung verstehen konnten – zum Schluss gekommen sein:Dieser Brief, der ganz offensichtlich entweder das Werkeines Verrückten, eines Betrügers oder eines Genies ist,kann eigentlich nur das Werk eines Genies sein, dennkein Verrückter und kein Betrüger hätte die Vorstellungs-kraft, solch phantastische Resultate zu erfinden, wenn sienicht wahr wären. In den folgenden drei Wochen wer-den Sie fieberhaft arbeiten, um wenigstens einige der 120Theoreme zu beweisen, die dieser Brief enthält. In ei-nigen Fällen wird Ihnen das leicht gelingen, in anderennur mit unglaublicher Mühe, und bei vielen überhauptnicht. Und selbst die scheinbar unschuldigsten Formelnsind voll versteckter und überraschender Eigenschaften.Drei Wochen nach Erhalt des Briefes werden Sie antwor-ten: „Verehrter Herr, mit großem Interesse habe ich IhrSchreiben und Ihre dargelegten Lehrsätze vernommen“,und zum Schluss werden Sie ihn inständig um die genaueBeweisführung seiner Ergebnisse bitten.

Genau so ist es geschehen. Dreizehn Monate nach Erhaltvon Ramanujans Brief (im April 1914) gelang es Hardy mitHilfe seines Freundes Neville, der nach Madras reiste, umden Weg zu ebnen, Ramanujan nach Cambridge zu ho-len, und es begann eine intensive Zusammenarbeit, die inder Geschichte der Mathematik berühmt werden sollte.Ramanujan verbrachte vier fruchtbare Jahre in England.Fruchtbare, aber gleichzeitig auch unglückliche Jahre: Er

litt sehr unter dem Klima und vor allem unter dem eng-lischen Essen. (Nein, es war nicht die Qualität der eng-lischen Küche, die ihm Probleme bereitete, sondern dieSchwierigkeit, sich vegetarisch zu ernähren.) Trotz sei-ner Freundschaft mit Hardy, den wunderbaren Resulta-ten, die er allein und mit ihm erzielte, und den Ehren, dieihm zuteil wurden – er wurde im Jahr 1918 als erster In-der Fellow der Royal Society und Fellow of Trinity, wennauch nicht ohne rassistischen Widerstand seitens man-cher englischer Kollegen – wurde er krank und depressivund wollte nach Indien zurückkehren, was aufgrund desersten Weltkriegs nicht möglich war. 1918 unternahm ereinen Selbstmordversuch, indem er sich vor die U-Bahnwarf, und wurde nur durch ein Wunder gerettet. KurzeZeit später kehrte er heim. Im Januar 1920, genau siebenJahre nach seinem ersten Brief an Hardy, schickte er ihmseinen letzten, der den zweiten Teil meines Vortragstitelsausmacht und auf den ich später zurückkommen werde.Einige Monate später, im April 1920, und nachdem sichsein gesundheitlicher Zustand gerade zu bessern schien,starb er. Er war 32 Jahre alt.

Ich möchte Ihnen eine ganz kleine Vorstellung von demGemeinschaftswerk von Hardy und Ramanujan anhandeiner ihrer berühmtesten Entdeckungen geben. Es han-delt sich dabei um die Anzahl der Partitionen einer gege-benen natürlichen Zahl, ein Problem, das auf Euler undsomit ins 18. Jahrhundert zurückgeht. Für jede natürli-

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che Zahl n fragt man, auf wie viele Arten man n Objektegruppieren kann. Man bezeichnet diese Anzahl mit p(n).So gibt es beispielsweise für n = 5 sieben mögliche Grup-pierungen, und demzufolge gilt p(5) = 7:

1 + 1 + 1 + 1 + 1 (•) (•) (•) (•) (•)1 + 1 + 1 + 2 (•) (•) (•) (• •)1 + 1 + 3 (•) (•) (• • •)1 + 2 + 2 (•) (• •) (• •)1 + 4 (•) (• • • •)2 + 3 (• •) (• • •)5 (• • • • •)

Für n = 1, 2, 3, 4 oder 6 kann man die Partitionen eben-falls von Hand abzählen:

p(1) = 1 : 1p(2) = 2 : 1 + 1, 2p(3) = 3 : 1 + 1 + 1, 1 + 2, 3p(4) = 5 : 1 + 1 + 1 + 1, 1 + 1 + 2, 1 + 3, 2 + 2, 4p(6) = 11 : 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1, 1 + 1 + 1 + 1 + 2,

1 + 1 + 1 + 3, 1 + 1 + 4, 1 + 1 + 2 + 2,

1 + 2 + 3, 1 + 5, 2 + 4, 2 + 2 + 2,

3 + 3, 6

aber diese Methode würde offenbar für n = 200 kaumgelingen, denn jetzt hat man

p(200) = 3 972 999 029 388 .

Dieser riesige Wert wurde von Major MacMahon im Jahr1917 (von Hand!) mit Hilfe einer Rekursionsformel vonEuler ermittelt.

Das Ergebnis von Hardy und Ramanujan ist keine exak-te Formel für p(n), sondern vielmehr eine so unglaub-lich präzise Approximation, dass sie eine exakte Berech-nung ermöglicht. Diese Approximation ist die Summevon mehreren Termen, von denen bereits der erste ei-ne exzellente Approximation gibt, die sich dann durchdas Addieren der anderen Terme noch weiter verbessert.Hier sehen Sie diese Terme für n = 200:

T1 = 3972 998 993 185 , 896T2 = 36282 , 978T3 = −87 , 555T4 = 5 , 147T5 = 1 , 424T6 = 0 , 071T7 = 0 , 000T8 = 0 , 043

T1 + T2 + · · · + T8 = 3972 999 029 388 , 004

und man findet jetzt den exakten Wert von p(200) ein-fach als die nächstgelegene natürliche Zahl zu dieser Ap-proximation.2 Ein schönes Beispiel für die verstecktenTiefen der Zahlentheorie!

Aber mein heutiges Thema ist nicht so sehr die gemein-same Mathematik von Ramanujan und Hardy, sondernvielmehr Ramanujans eigene Mathematik in seinem ers-ten und seinem letzten Brief. Ich kann selbstverständlich

nicht über alle 120 Theoreme sprechen, auch nicht überalle Themenbereiche, die im Brief von 1913 behandeltwerden. In der Zeit, die mir verbleibt, beschränke ichmich auf die Resultate, die mit einer einzigen Theorie zu-sammenhängen – der Theorie der Modulformen, die meineigenes Spezialgebiet ist und das ich sehr liebe. Fast alleFormeln, die ich Ihnen vorher gezeigt habe, hängen mitdieser Theorie zusammen.

Eine Modulform ist ein mathematisches Objekt mit zweiGesichtern: einem sichtbaren und einem versteckten.Das sichtbare ist das, was man eine q-Reihe nennt, undist nichts anderes als eine kompakte und handliche Art,eine Folge von Zahlen hinzuschreiben, die einen inter-essiert. Zum Beispiel kann man, anstatt die Werte dergerade besprochenen Funktion „Partition“ als Tabelle zuschreiben,

n 1 2 3 4 5 6 · · ·p(n) 1 2 3 5 7 11 · · ·

· · · 200 · · ·· · · 3972999029388 · · ·

dieselbe Information in der Form einer q-Reihe darstel-len:

P(q) = q + 2q2 + 3q3 + 5q4 + 7q5 + 11q6

+ · · · + 3972999029388q200 + · · ·

Diese q-Reihe, die schon von Euler verwendet wurde,erweist sich (fast3) als eine Modulform.

Aber die Schönheit der Theorie liegt darin, dass es aucheine versteckte Seite gibt, die die Eigenschaften derje-nigen q-Reihen aufleuchten lässt, welche Modulformensind. Um diese zu sehen, muss man den kleinen Buch-staben „q“ ernst nehmen und einen Ausdruck wie der,den ich Ihnen gerade für P(q) gezeigt habe, nicht nurals eine praktische Art sehen, um eine Zahlenliste zu or-ganisieren, sondern als eine echte Funktion von q (odervielmehr von einer anderen Variablen z , die mit q durcheine einfache Formel4 verbunden ist). Wenn unsere q-Reihe eine Modulform ist, besitzt diese Funktion eine be-merkenswerte Symmetrie – nicht bloß eine Symmetrieder Ordnung 2 durch Spiegelung, wie man sie von denParabeln kennt, die man in der Schule studiert (Bild a aufder folgenden Seite), noch eine Symmetrie unendlicherOrdnung durch Verschiebungen, wie im Graph der Funk-tion sin(x), die man im Gymnasium kennenlernt (Bild b),sondern eine unendliche Symmetrie einer viel raffinierte-ren Sorte (man nennt sie nicht-abelsch), die man nicht bes-ser veranschaulichen kann als mit einer Zeichnung vonEscher (Bild c).

Wenn man einmal diesen versteckten Aspekt der mo-dularen q-Reihen kennt, erklären sich die schwierigstenFormeln von selbst. Jede Modulform verfügt über einen„Fingerabdruck“, bestehend aus einer expliziten Liste vonberechenbaren Invarianten (das „Gewicht“, die „Stufe“und die ersten Koeffizienten der q-Reihe), die sie ein-deutig charakterisiert. Jede beliebige Identität zwischen

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f (x) = x2

−3 −2 −1 0 1 2 3

1

2

3

4

5

6

a. Eine Symmetrie der Ordnung 2

b. Eine Symmetrie unendlicher Ordnung

c. Eine nicht-abelsche Symmetrie. M. C. Eschers „Circle Limit IV“( c©2010 The M. C. Escher Company-Holland. All rights reserved.www.mcescher.com)

q-Reihen, wie tiefliegend auch immer die mathematischeAussage sein mag, die sie verkörpert, wird also trivial, so-bald man weiß, dass die in ihr auftretenden q-Reihen Mo-dulformen sind: es genügt, die „Fingerabdrücke“ zu ver-gleichen, und wenn diese übereinstimmen, tun das die q-Reihen auch. Es ist eine Art „magisches Prinzip“, welchesdie tiefgründigsten Dinge einfach werden lässt. So wirdbeispielsweise die Eulersche Identität bezüglich p(n), dieich vorhin erwähnte und die Euler erst nach jahrelangenBemühungen beweisen konnte, nahezu banal, wenn mandie Modularität der Funktion P(q) kennt.

Die zwei Aspekte der Modulformen1. Sie sind formale q-Reihen mit aus arithmetischer Sicht in-

teressanten Koeffizienten.2. Sie habe eine versteckte, nichtabelsche Symmetrie.

Das „magische Prinzip“ der ModulformenJede Modulform hat einen „Fingerabdruck“, bestehend aus ei-ner Liste von berechenbaren Invarianten:– ihr Gewicht,– ihre Stufe,– eine bestimmte Anzahl von Termen ihrer q-Reihe,der sie vollkommen charakterisiert: wenn zwei Modulformendie gleichen Invarianten besitzen, sind sie identisch.

Dieses magische Prinzip wäre natürlich ohne Interesse,wenn es in der Mathematik keine arithmetisch interessan-ten q-Reihen gäbe, die gleichzeitig Modulformen sind.Glücklicherweise ist dies bei weitem nicht so. Hier ist

eine Liste der Namen einiger q-Reihen, von denen mandie Modularität kennt oder vermutet, mit den arithmeti-schen Eigenschaften ihrer Koeffizienten:

Name der Modulform Eigenschaft, die durch denKoeffizienten von qn beschrieben wird

Thetareihen Darstellung von n als Summe vonQuadraten

Eisensteinreihen Anzahl oder Summe der Teilervon n

q-Reihen vonelliptischen Kurven

Lösungsanzahl von Kongruenzenmodulo n

q-Reihen vonGaloisdarstellungen

Zerfällung von n in einemZahlkörper

bestimmtehypergeometrischeq-Reihen

Partitionen von n,Quanteninvarianten, . . .

Ich kann selbstverständlich nicht alle Fachbegriffe, die Siein dieser Aufstellung sehen, erklären. Vielleicht reicht esaus, wenn ich Ihnen sage, dass Wiles’ Nachweis der Mo-dularität der in der dritten Reihe genannten q-Reihen denBeweis des berühmten letzten Satzes von Fermat als Ko-rollar hatte, und dass das Zerfällungsproblem in Zahlkör-pern, das in der vierten Reihe erwähnt wird, das zentraleProblem der algebraischen Zahlentheorie ist und einzig inden wenigen Fällen gelöst ist, wenn die q-Reihen, um diees sich handelt, modular sind.

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[Reproduktionsrecht nur fuer Druckausgabe]

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Ich werde trotzdem versuchen, Ihnen ein Beispiel zu ge-ben, das Ihnen zeigt, wie das soeben besprochene magi-sche Prinzip funktioniert (ich hatte zwei vorbereitet, aberdie Zeit reicht hierfür nicht aus). Betrachten wir die q-Reihe

θ(q) =„

12 + q + q4 + q9 + q16 + · · ·

«2

= 14 + q + q2 + 0q3 + q4 + 2q5 + · · · + 4q65 + · · ·

von der der n-te Koeffizient die Zahl r(n) der Darstellun-gen von n als Summe a2 +b2 von zwei Quadraten angibt.Z. B. hat die Zahl

65 = 64 + 1 (= 8 × 8 + 1 × 1)= 49 + 16 (= 7 × 7 + 4 × 4)= 16 + 49 (= 4 × 4 + 7 × 7)= 1 + 64 (= 1 × 1 + 8 × 8)

vier solcher Darstellungen, also ist r(65) = 4. DieseFunktion ist eine Thetareihe, wie in der ersten Zeile derobigen Tabelle, und ist folglich eine Modulform, in diesemFall vom Gewicht 1 und Stufe 4. Andererseits gibt es einegewisse Eisensteinreihe E(q), deren q-Entwicklung eben-falls mit den Termen

E(q) = 14 +q+q2+0q3+q4+2q5+· · ·+4q65+· · ·

beginnt. Auch sie ist eine Modulform, und sie hat diegleichen charakteristischen Invarianten wie Θ(q), so dassdie beiden Funktionen übereinstimmen müssen. Nun giltaber, wie in der Tabelle steht, dass der n-te Koeffizienteiner Eisensteinreihe eng mit den Teilern von n zusam-menhängt und somit besonders einfach wird, wenn n ei-ne Primzahl ist und daher keine echten Teiler besitzt. Inunserem Fall bedeutet dies, dass der Koeffizient von qn

in E(q) gleich 0 ist, wenn n eine Primzahl der Gestalt4d + 1 ist, und gleich 2, wenn n eine Primzahl der Ge-stalt 4d + 1 ist. (Denken Sie an die Terme 0q3 und 2q5

in E(q), wo d = 1.) Damit ergibt sich sofort und ohnejede Mühe der berühmte Satz von Fermat, nach dem sicheine ungerade Primzahl genau dann als Summe von zweiQuadraten schreiben lässt, wenn sie die Gestalt 4d + 1hat.

Ziemlich bemerkenswert ist, dass Ramanujan diesenzweiten Aspekt der Modulformen niemals echt verstan-den hat und fast immer nur von der rein formalen Seiteaus arbeitete, d. h., mit den q-Reihen selbst und nicht un-ter Heranziehung der Symmetrieeigenschaften der vonihnen dargestellten Funktionen. Da er in formalen Rech-nungen ein Genie war – der Einzige in der jüngeren Ma-thematik, der auf die gleiche Ebene mit Euler und Jaco-bi gestellt werden kann – gelang es ihm trotzdem, vielebemerkenswerte Entdeckungen zu Modulformen zu ma-chen, wie beispielsweise jene aus seinem ersten Brief anHardy, die ich Ihnen am Anfang gezeigt habe. Aber dochwar es ein Hindernis, und seine Entdeckungen auf diesemGebiet haben nie die gleiche Bedeutung wie die von Mor-dell, Hecke oder Eichler, die ihm nachfolgten, erreicht.

Es ist in diesem Zusammenhang, dass ich in den verblei-benden Minuten dieses Vortrags auf seinen letzten Briefan Hardy eingehen möchte, den er wenige Monate vorseinem Tod geschrieben hat und von dem ich Ihnen hiereinen Auszug der ersten Seite zeige:

UNIVERSITY OF MADRAS.

12th January 1920

I am extremely sorry for not writing you a single letter up tonow . . . I discovered very interesting functions recently whichI call “Mock” ϑ-functions. Unlike the “False” ϑ-functions(studied partially by Prof. Rogers in his interesting paper)they enter into mathematics as beautifully as the ordinary ϑ-functions. I am sending you with this letter some examples . . .

Mock ϑ-functions

ϕ(q) = 1 + q1 + q2 + q4

(1 + q2)(1 + q4)+ · · · ,

ψ(q) = q1 − q

+ q4

(1 − q)(1 − q3)

+ q9

(1 − q)(1 − q3)(1 − q5)+ · · ·

. . .

Mock ϑ-functions (of 5th order)

f (q) = 1 + q1 + q

+ q4

(1 + q)(1 + q2)

+ q9

(1 + q)(1 + q2)(1 + q3)+ · · ·

. . .

Mock ϑ-functions (of 7th order)

1 + q1 − q2 + q4

(1 − q3)(1 − q4)

+ q9

(1 − q4)(1 − q5)(1 − q6)+ ...

. . .

In diesem Brief informiert er Hardy über die Entdeckungeiner neuen Art von Funktionen, die er „mock thetafunctions“ nennt. „Mock“ ist ein englisches Synonym für„falsch“ oder „Ersatz-“, und „Thetafunktionen“ war dievon Ramanujan verwendete Terminologie für unsere heu-tigen Modulformen. Es handelt sich also um unechte Mo-dulformen, die wir „Mock-Modulformen“ nennen wer-den. Ramanujan definiert sie nicht, aber er beschreibt diewesentlichen charakteristischen Eigenschaften, die dieseFormen besitzen sollen, und gibt 17 Beispiele, plus eineAnzahl von Relationen zwischen ihnen. Diese Funktio-nen, von denen Sie einige auf Seite 40 sehen können, wur-den von ihm in drei Gruppen eingeteilt: vier der „Ord-nung“ 3, zehn der „Ordnung“ 5 und drei der „Ordnung“7, ohne allerdings den Begriff der Ordnung zu erklären.

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Die von ihm angegebenen Identitäten wurden alle vonspäteren Mathematikern bewiesen – Watson, Andrews,Hickerson und andere – aber nur mit großen Schwie-rigkeiten, und die letzten sogar erst kürzlich. Hier sinddie Verhältnisse also genau umgekehrt zu denen, die wirbei den Modulformen gesehen haben: Dort war Rama-nujan gegenüber den europäischen Mathematikern durchseinen Mangel an theoretischen Kenntnissen, den er nurteilweise durch sein Rechengenie ausgleichen konnte, imNachteil; jetzt ist er nicht auf dieselbe Weise benachtei-ligt, weil hier niemand das „zweite Gesicht“ kennt, wiees für die Modulformen existierte und das Ramanujan niehatte ausnutzen können. Diesmal sind es die anderen Ma-thematiker, die sich ihm gegenüber im Nachteil befindenund Jahrzehnte benötigen, um die Resultate, die er in we-nigen Monaten gefunden hatte, zu beweisen.

Zum Schluss meines Vortrags möchte ich Ihnen erzählen– nur, um zu zeigen, wie aktuell diese mit grundlegendenFragen der Zahlentheorie, Topologie und Quantenphysikverbundenen Objekte sind – dass sich die Situation beiden Mock-Modulformen kürzlich geändert hat, dank derDoktorarbeit meines Studenten Sander Zwegers aus Ut-recht. Es gelang Zwegers, die versteckte Eigenschaft derMock-Modulformen zu enthüllen, die der „Eschersymme-trie“ der Modulformen, die wir schon kennen, entspricht.

Die Resultate von Sander Zwegers zu den „mock thetafunctions“ (Mock-Modulformen) von Ramanujan◦ Er findet die versteckte Symmetrieeigen-schaft der

Mock-Modulformen, die analog ist zur der bekann-ten Symmetrie der Modulformen.

◦ Er etabliert ein Analogon des „magischen Prinzips“für die Mock-Modulformen, wodurch man alle Iden-titäten zwischen diesen Funktionen leicht beweisenkann.

◦ Er gibt mehrere Beispiele von bekannten Konstruk-tionen in der Mathematik, die Mock-Modulformenproduzieren:– Lerch-Summen– Thetareihen, die zu indefiniten quadratischen For-

men assoziiert sind– Fourierkoeffizienten von meromorphen Jacobi-

Formen– bestimmte hypergeometrische q-Reihen.

Mit der Theorie, die er ausgearbeitet hat, und die ich imLaufe der letzten Monate noch etwas weiterentwickelthabe, befindet man sich jetzt in der gleichen Situation wiebei den Modulformen: Auch die Mock-Modulformen ha-ben einen „Fingerabdruck“, der berechenbar ist und dersie vollständig bestimmt, wodurch alle Identitäten zwi-

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schen diesen Funktionen rein mechanisch beweisbar wer-den. Dadurch gelingt es nicht nur, neue Formeln für dievon Ramanujan angegebenen Mock-Thetafunktionen zufinden, wie die, die Sie hier sehen,

Beispiele von neuen Identitäten, die man mit Hilfe der neuen Theo-rie entdecken und leicht beweisen kann.

Die Funktion

χ1(q) = 1 + 2q + 2q2 + 3q3 + · · · ,

eine von Ramanujans 10 Mock-Thetafunktionen der Ordnung5, wird durch jede der folgenden Formeln gegeben:

q 71120 χ1(q) = 1

η(z)X

|a| > 5|b|a ≡ 2 (mod 5)

a+b ≡ 2 (mod 4)

(−1)a( −3a2 − b2 ) sgn (a)q

a2−5b2

120

= 1η(5z)

X

r,s>0r ≡ −s ≡ 1 (mod 5)

“ einfacherKoeffizient

sgn (r − s)q rs30

= 12η(z)3

X

3m > |n|n ≡ 2 (mod 5)

(−4m

)( 12n

)(3m sgn (n) − n)q15m2−n2

120

wobei η(z) = q 124 (1 − q)(1 − q2) · · · =

X

n>0( 12

n)q n2

24 .

sondern auch, Ramanujans mysteriöse „Ordnung“ zu ver-stehen und schließlich, 85 Jahre nach seinem Tod, seinenberühmten Beispielen der Ordnung 3, 5 und 7 weitereBeispiele von beliebiger Primzahl-Ordnung hinzuzufügen,die exakt analoge Eigenschaften besitzen:

„Mock-Thetafunktionen“ von beliebiger Primzahlordnung

Für eine Primzahl p ≥ 5 und j = 1, 2, ... , p−12 sei

Mp,j(q) =

1η(z)3

X

m,n ∈ Z

|n| < t−1u m

n ≡ j (mod p)

(−4m

)( 12n

) sgn (n)„

m − u|n|t − 1

«

q3pm2−n2

24p

wobei t2−3pu2 = 1, t, u > 0. Dann sind die Mp,j (q) Mock-Modulformen und sind für p = 5 oder 7 genau Ramanujans„Mock-Thetafunktionen“ der „Ordnung“ 5 und 7.

Dieses Ergebnis ist übrigens gerade mal fünf Tage alt! DieEntdeckungen von Ramanujan und insbesondere die mys-teriösen und wunderbaren Funktionen, die er in seinemletzten Brief an seinen Freund Hardy einführte, bleibenalso bis in die heutige Zeit fruchtbar, und ich bin über-zeugt, dass sie in den kommenden Jahren auf subtile undfaszinierende Weise die Mathematik und die theoretischePhysik beeinflussen werden.

My dream is that I will live to see the day when our youngphysicists, struggling to bring the predictions of superstringtheory into correspondance with the facts of nature, will beled to enlarge their analytic machinery to include not onlytheta-functions but also mock theta-functions.

Freeman J. Dyson

In A Walk Through Ramanujan’s GardenRamanujan Centenary Conference, Illinois, 1987

Anmerkungen1. Dieser Beitrag ist der am 16. März 2005 in der BibliothèqueNationale de France im Rahmen der Ringvorlesung „Un texte,un mathématicien“) gehaltene Vortrag.2. Für diejenigen unter Ihnen, die gerne eine mathematischeFormel bewundern, gebe ich die exakten Ausdrücke für die bei-den ersten Terme der Approximation von Hardy und Ramanu-jan: der erste ist

eπq

23 (n− 1

24 )

4(n − 124 )

√3

0

B

@

1 − 1

πq

23 (n − 1

24 )

1

C

A

und der zweite

(−1)n eπ2

q

23 (n− 1

24 )

4(n − 124 )

√6

0

B

@

1 − 1π2

q

23 (n − 1

24 )

1

C

A

3. Man muss 1 hinzutun und das Ganze mit q−1/24 multiplizie-ren.4. Nämlich, q = e2πiz .

Chronologie1877 Geburt von G.H. Hardy1887 Geburt von Srinivasa Ramanujan1913 Erster Brief von Ramanujan an Hardy1914–1918 Aufenthalt von Ramanujan in England1920 Letzter Brief von Ramanujan an Hardy

Geburt der Mock-Thetafunktionen1920 Tod von Ramanujan1947 Tod von Hardy

Prof. Dr. Don Zagier, Max-Planck-Institut für Mathematik,Vivatsgasse 7, 53111 Bonn. [email protected]

Don Zagier, geboren 1951, hat Mathematik undPhysik studiert. Seit 1995 ist er Direktor am MPIfür Mathematik in Bonn und seit 2000 Professoram Collège de France, Paris. 1984 hat er denCarus-Preis, 1987 den Frank Nelson Cole-Preis,2001 den Karl Georg Christian von Staudt-Preiserhalten.

Seit 2005 findet am Mathematischen Forschungsinstitut Ober-wolfach (MFO) im Rahmen des jährlichen Sitzungswochenendesder Gesellschaft für Mathematische Forschung im Oktober die öf-fentliche Oberwolfach-Vorlesung statt. Die Vortragenden und The-men waren bisher: Gerhard Huisken, „Geometrische Evolutions-gleichungen und die Uniformisierung Riemannscher Mannigfaltigkei-ten“ (2005); Winfried Scharlau, „Wer ist Alexander Grothendieck?“(2006); Wendelin Werner, „Drawing Large Pictures At Random“(2007); Don Zagier: „Das Mysterium von q: Von q-Reihen in derKombinatorik zu Quanteninvarianten von Knoten“ (2008); Fried-rich Hirzebruch, „Characteristic Classes in Topology and AlgebraicGeometry“ (2009).Die Oberwolfach-Vorlesungen erscheinen im Jahresbericht desMFO, wobei 2008 anstelle des Vortrags von Don Zagier der hierwiedergegebene Vortrag abgedruckt wurde. Wiedergabe der deut-schen Fassung in den Mitteilungen mit freundlicher Genehmigung vonDon Zagier und des MFO.

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