Rechtsmittel in Strafsachen - justiz.bayern.de · luten Fahrtuntüchtigkeit, 1,1‰ bei § 316...

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1 Rechtsmittel in Strafsachen Riin OLG Weinland/RiOLG Sauer Verwendete Literatur/Skripten „Die Revision in Strafsachen“, überarbeitet von RiAG Fleindl „Strafprozessuale Revision“, RiOLG Norbert Mutzbauer Rechtsmittel/Rechtsbehelfe I. Rechtsmittel der StPO (§§ 296 ff StPO) 1. Beschwerde (§§ 304 ff StPO) 2. Berufung (§§ 312 ff StPO) 3. Revision (§§ 333 ff StPO) Wesen des Rechtsmittels: (vgl. M/G Vor § 296/2) Devolutiveffekt (Verfahren kommt in höhere Instanz) Suspensiveffekt (kein Eintritt der Rechtskraft, Vollstreckbarkeit ist gehindert; Ausnahme: § 307 I StPO) Rechtsbehelfen fehlt stets einer der beiden Effekte. Rechtsmittel haben i.d.R. beide, Ausnahme Beschwerde. II. Rechtsbehelfe der StPO (M/G Vor § 296 ff StPO): z.B.: 1. Wiedereinsetzungsantrag (§§ 44 ff StPO) 2. Einspruch gegen Strafbefehl (§ 410StPO) 3. Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff StPO) 4. Antrag auf gerichtliche Entscheidung §§ 161 a III, 172, 319 II, 346 II StPO) (besonders klausurträchtig!) 5. Haftprüfung (§ 117 StPO) III. Wesen von Berufung und Revision Berufung Mit der Berufung wird eine vollständige „Überprüfung“ des Urteils er- möglicht (Tatsacheninstanz). Auf eine zulässige Berufung hin findet eine neue Hauptverhandlung statt, die vom Verfahren her mit einigen Modifikationen (z.B. ist u.U. eine Verlesung der Zeugenaussagen aus dem Protokoll der ersten Instanz zulässig, vgl. § 325 StPO) derjenigen in der ersten Instanz entspricht (näheres zu den Besonderheiten der Berufung später). Das Berufungsgericht nimmt eine eigene Beweis- würdigung, eine eigene materiell-rechtliche Subsumtion unter die Strafrechtsnormen und eine eigene Strafzumessung vor.

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Rechtsmittel in Strafsachen Riin OLG Weinland/RiOLG Sauer

Verwendete Literatur/Skripten„Die Revision in Strafsachen“,überarbeitet von RiAG Fleindl„Strafprozessuale Revision“,RiOLG Norbert Mutzbauer

Rechtsmittel/Rechtsbehelfe

I. Rechtsmittel der StPO (§§ 296 ff StPO)

1. Beschwerde (§§ 304 ff StPO)2. Berufung (§§ 312 ff StPO)3. Revision (§§ 333 ff StPO)

Wesen des Rechtsmittels: (vgl. M/G Vor § 296/2) Devolutiveffekt (Verfahren kommt in höhere Instanz) Suspensiveffekt (kein Eintritt der Rechtskraft, Vollstreckbarkeit

ist gehindert; Ausnahme: § 307 I StPO)

Rechtsbehelfen fehlt stets einer der beiden Effekte. Rechtsmittelhaben i.d.R. beide, Ausnahme Beschwerde.

II. Rechtsbehelfe der StPO (M/G Vor § 296 ff StPO):

z.B.:

1. Wiedereinsetzungsantrag (§§ 44 ff StPO)2. Einspruch gegen Strafbefehl (§ 410StPO)3. Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff StPO)4. Antrag auf gerichtliche Entscheidung §§ 161 a III, 172, 319 II,

346 II StPO) (besonders klausurträchtig!)5. Haftprüfung (§ 117 StPO)

III. Wesen von Berufung und Revision

BerufungMit der Berufung wird eine vollständige „Überprüfung“ des Urteils er-möglicht (Tatsacheninstanz). Auf eine zulässige Berufung hin findeteine neue Hauptverhandlung statt, die vom Verfahren her mit einigenModifikationen (z.B. ist u.U. eine Verlesung der Zeugenaussagen ausdem Protokoll der ersten Instanz zulässig, vgl. § 325 StPO) derjenigenin der ersten Instanz entspricht (näheres zu den Besonderheiten derBerufung später). Das Berufungsgericht nimmt eine eigene Beweis-würdigung, eine eigene materiell-rechtliche Subsumtion unter dieStrafrechtsnormen und eine eigene Strafzumessung vor.

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Das bedeutet: Eine Berufung ist (nur) dann sinnvoll, wenn der Beru-fungsführer entweder mit der durch den Erstrichter vorgenommenenBeweiswürdigung nicht einverstanden ist und er sich Chancen aus-rechnen kann, bei einer erneuten Beweisaufnahme ein anderes Ergeb-nis zu erlangen, oder wenn die materiell-rechtliche Würdigung falschwar oder wenn der Berufungsführer eine andere Rechtsfolgenentschei-dung anstrebt. Da hier das erkennende Instanzgericht – auch das Be-rufungsgericht – nach h.M. einen Ermessensspielraum hat, liegt hierin der Praxis die hauptsächliche Motivation für die Durchführung ei-ner Berufung.Dagegen macht es kaum Sinn, Berufung einzulegen, wenn „nur“ einVerfahrensfehler in erster Instanz aufgetreten ist. Die meisten Verfah-rensfehler können bei Wiederholung der Hauptverhandlung in der Be-rufungsinstanz nämlich vermieden werden, ohne dass der Tatnach-weis scheitert. Nur wenn Verwertungsverbote vom Erstgericht miss-achtet wurden oder unbehebbare Verfahrenshindernisse vorliegen, diein erster Instanz übersehen wurden, besteht Aussicht auf ein anderesUrteil in der Berufungsinstanz.

RevisionDurch das Rechtsmittel der Revision wird dem Rechtsmittelführer le-diglich die Überprüfung des angegriffenen Urteils auf Rechtsfehler er-möglicht (Rechtsinstanz). Dem Revisionsgericht ist nicht gestattet, dieBeweiswürdigung des Erstgerichts oder die Ausübung von Ermessens-entscheidungen (vor allem die Strafzumessung) durch Wiederholungauf „Richtigkeit“ zu überprüfen. In diesem Bereich kann – auf dieSachrüge hin – lediglich geprüft werden, ob diese Entscheidungen vor-genommen wurden, im schriftlichen Urteil ausreichend und mit zuläs-sigen Argumenten begründet wurden, nicht aber auch, ob sie ange-messen sind oder ob das Revisionsgericht hierbei auch zum gleichenErgebnis gekommen wäre wie das Ausgangsgericht. Andererseits kanndie Revision „erfolgreich“ sein, d.h. zur Aufhebung des Urteils und Zu-rückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung führen, wennein Verfahrensfehler vorliegt, ohne dass später im Endergebnis für denRechtsmittelführer tatsachlich eine günstigere Entscheidung rechts-kräftig wird. Dies ist meist dann zu erwarten, wenn der Verfahrensfeh-ler bei Neuauflage der Hauptverhandlung vermieden werden kann, oh-ne dass Beweismittel entfallen. „Gewonnen“ hätte der Rechtsmittelfüh-rer dann letztendlich nur eine Verzögerung der Vollstreckbarkeit derEntscheidung, was gelegentlich tatsächlich erstrebenswert sein kann.Fazit: Auch bei erfolgversprechender Revision ist genau zu überlegen,ob diese auch durchgeführt werden soll, ob also auch im EndergebnisVorteilhaftes erreicht werden kann.

Weil das Revisionsgericht die Beweisaufnahme und Beweiswürdigungzu Schuld und Strafzumessung nicht selbst vornimmt/wiederholt,wird oft behauptet, dass in dieser Instanz keine Beweisaufnahmestattfindet. Das ist so nicht zutreffend. Das Vorliegen von Verfahrens-hindernissen oder –voraussetzungen, die Zulässigkeit der Revision unddas Vorliegen der Tatsachen, die einen Verfahrensfehler begründen

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könnten, sind vom Revisionsgericht in eigener Zuständigkeit zu prüfenund festzustellen. Hier findet u.U. auch eine Beweisaufnahme statt.Auch die Feststellung von Erfahrungssätzen (z.B. die Grenze der abso-luten Fahrtuntüchtigkeit, 1,1‰ bei § 316 StGB) erfordert u.U. eineBeweisaufnahme durch das Revisionsgericht.1

Plakatives Beispiel:In der Hauptverhandlung sagt der einzige Zeuge C aus, er habe nichtgenau gesehen, dass der Angeklagte A die angeklagte Tat begangenhabe. In den Urteilsgründen steht als Sachverhaltsfeststellung: A hatdie Tat (...) begangen. In der Beweiswürdigung des Urteils ist festgehal-ten, dass der Zeuge C den A als Täter eindeutig erkannt habe und dieTat beobachtet habe.Wenn Berufung möglich ist (Ausgangsgericht war das Amtsgericht),dann besteht Aussicht auf Erfolg des Rechtsmittels, da eine Wiederho-lung der Hauptverhandlung mit eigener Beweisaufnahme stattfindetund das Berufungsgericht eine eigene Beweiswürdigung vornimmt.Mit der Revision kann dieses Urteil aber nur erfolgreich angefochtenwerden, wenn bei der Vernehmung des Zeugen C ein Verfahrensfehlerunterlaufen ist oder die Beweiswürdigung an sich an Rechtsfehlernleidet. Das falsche Ergebnis alleine führte nicht zum Erfolg der Revisi-on. Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit kann in der Revisionsin-stanz nur bei Vorliegen von Rechtsfehlern, nicht auch bei Fehlern imtatsächlichen Bereich erreicht werden. (In derart krassen Fällen wiedem vorstehend geschilderten vermag nur die Wiederaufnahme z.B.wegen Rechtsbeugung o.ä. weiterzuhelfen).

1 Vgl. Mutzbauer, S. 1

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Allgemeine Rechtsmittelfragen

§§ 296 – 303 StPO enthalten allgemeine Vorschriften für alle drei Rechtsmit-tel. Sie gelten direkt für die drei Rechtsmittel, sind aber per gesetzlicherVerweisung (z.B. § 410 I 2 StPO) auch für bestimmte Rechtsbehelfe und ge-nerell – wo sie passen – analog auch auf die übrigen Rechtsbehelfe anwend-bar. Deswegen erfolgt deren Darstellung vorab, bevor auf die – besondersklausurrelevante – Revision eingegangen werden wird.

I. Rechtsmittelberechtigte

1. Angeklagter, § 296 I StPO

2. Verteidiger, § 297 StPO Handelt aus eigenem Recht und in eigenem Namen Bei Zusammentreffen verschiedenartiger Rechtsmittel durch Be-

schuldigten/Angeklagten und Verteidiger ist der Wille des Be-schuldigten/Angeklagten maßgebend, vgl. § 297 StPO (s.a. M/G§ 335/16). Dieser Wille muss aber ausdrücklich gegenüber demGericht oder dem Verteidiger erklärt werden.

Auch ein Vertreter, der nicht Verteidiger ist, kann Rechtsmitteleinlegen

Ein vor Entzug der Vollmacht oder vor Zurückweisung einesVerteidigers nach § 146 a StPO eingelegtes Rechtsmittel bleibtwirksam bis zu dessen evtl. Rücknahme.

3. Gesetzlicher Vertreter, § 298 StPO Gesetzlicher Vertreter und Beschuldigter können nebeneinander

Rechtsmittel einlegen (hier findet § 335 III StPO Anwendung) Gesetzlicher Vertreter ist vom Willen des Beschuldigten unab-

hängig. Wird der Beschuldigte nach Rechtsmitteleinlegung durch den

gesetzlichen Vertreter mündig, so bleibt das Rechtsmittel wirk-sam eingelegt, der Beschuldigte muß es nicht bestätigen, kannes aber zurücknehmen.

4. Staatsanwaltschaft, § 296, I. II StPO Beachte § 301 StPO und § 296 II i.V.m. § 302 I 1 StPO

5. Privatkläger, § 390 StPO

6. Nebenkläger, §§ 401 I 1, 400 StPO

Beschwer

Beschwer muss sich aus dem Entscheidungstenor ergeben (nicht ausden Gründen), sog. Tenorbeschwer.

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Angeklagter ist durch jede für ihn nachteilige Entscheidung beschwert.

Also durch: Verurteilung Straffreierklärung, § 199 StGB Absehen von Strafe, § 60 StGB Ausnahmsweise bei Verfahrenseinstellung, wenn Verfah-

renshindernis noch behoben werden kann (M/G Vor §296/14)

Nicht durch: Freispruch (auch nicht wegen Schuldunfähigkeit, § 20StGB), str.

Verfahrenseinstellung wegen Prozesshindernis

(Siehe M/G Vor § 296/12 ff.)

Staatsanwaltschaft ist durch jedwede rechtsfehlerhafte Entscheidungbeschwert. Das gilt selbst dann, wenn das Urteil dem Antrag des Sit-zungsvertreters entspricht oder gar darüber hinaus geht. Darüber hin-aus bedarf es keines Rechtsschutzinteresses.

Anfechtungserklärung

Als Prozesshandlung bedingungsfeindlich

§ 300 StPOAchtung: Diese Regelung hilft aber dem Rechtsmittelführer nur dann,wenn aus seiner Erklärung unter Berücksichtigung aller dem Gerichtbekannten Umstände im Wege der Auslegung zu entnehmen ist, dasseine solche Falschbezeichnung vorliegt und welches Rechtsmittel ei-gentlich gewollt war.

Wichtig ist die Möglichkeit der „unbestimmten Anfechtung“ (M/G §335/2):

Ist gegen ein Urteil statt Berufung auch Revision zulässig, sokann es angefochten werden, ohne dass das konkrete Rechts-mittel bezeichnet wird („Gegen das Urteil des Amtsgerichts ... le-ge ich Rechtsmittel ein“). Bis zum Ablauf der Revisionsbegrün-dungsfrist (§ 345 I StPO) hat der Rechtsmittelführer die Wahl, obdas Rechtsmittel als Berufung oder Revision behandelt werdensoll (Grund: Erst nach Vorliegen des Protokolls bzw. der schrift-lichen Urteilsgründe, vgl. § 275 I StPO, können die Erfolgsaus-sichten einer Revision beurteilt werden). Geht innerhalb der Re-visionsbegründungsfrist keine Erklärung ein, so wird dasRechtsmittel als Berufung behandelt.

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Da Berufung und Revision nebeneinander nur bei Urteilendes Amtsgerichts möglich sind, stellt sich dieses Problemnie, wenn das Landgericht erstinstanzlich entschieden hat.

Manchmal wichtig für Klausuren: Übergang von Berufung zu Revisi-on (M/G § 335/9 ff):

Nach Berufungseinlegung ist innerhalb der Revisionsbegrün-dungsfrist (§ 345 I StPO) der Übergang zur Revision zulässig:

„Ich erkläre, dass die mit Schreiben vom ... eingelegte Berufung gegen das Ur-teil des Amtsgerichts ... als Revision weitergeführt werden soll“.(Die Einreichung eines ausdrücklich als „Revisionsbegründungsschrift“ be-zeichneten Schriftsatzes würde aber auch genügen. In der Klausur ist letzte-res jedoch nicht zu empfehlen!)

Der Übergang von Revision zu Berufung innerhalb der Frist des §345 I StPO ist ebenfalls zulässig (dürfte in Klausuren wohl keine Rollespielen, da Revision das zentrale Thema ist).

Beachte auch § 335 III StPO

IV. Rechtsmittelverzicht, § 302 StPO

1. Erklärung durch Angeklagten (beachte: der Verzicht des Angeklagten erstreckt

sich auch auf Rechtsmittel des Verteidigers, M/G § 302/26,Arg. Aus § 297 StPO)

Verteidiger (nur mit besonderer Ermächtigung, bgl. Auch §302 II StPO und M/G § 302/30)

Staatsanwalt

2. Frühester Zeitpunkt

Nicht vor Erlass der Entscheidung (aber vor Bekanntgabe derUrteilsgründe möglich), vgl. M/G § 302/14

3. Form

Wie Rechtsmitteleinlegung, also schriftlich oder zu Protokoll derGeschäftsstelle (§§ 314 I, 341 I StPO). Die Verzichtserklärung istauch in der Hauptverhandlung zu Protokoll des Urkundsbeam-ten möglich. Vgl. dazu M/G § 302/18 ff.

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4. Wirkung

Unzulässigkeit von Rechtsmitteln des Verzichtenden (bzw. sei-nes Verteidigers)

Verzicht ist grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar, a-ber grundsätzlich beschränkbar.

Allerdings wird nach h.M. eine Unwirksamkeit der Rücknahme(bzw. auch des Verzichts) angenommen, wenn

- der Erklärende verhandlungsunfähig war, oder- der Erklärung eine unwirksame Absprache zugrunde lag

(siehe auch Deal)- oder die Art und Weise des Zustandekommens der Er-

klärung unter schweren Mängeln litto z.B. nach § 136 a StPO verbotene Methoden ange-

wandt wurden (etwa, wenn die Aufhebung einesHaftbefehls von der Rücknahme des Rechtsmittelsabhängig gemacht wurde2)

o die vorherige Beratung mit einem Verteidiger un-möglich war.

Exkurs: Absprachen im Strafprozess – „Deal“(guter Überblick über die gesamte Problematik bei M/G Einl./119 ff)

Grundsätzlich sind Absprachen im Strafprozess als ein in der Praxis heraus-gebildetes Faktum anzusehen, das wohl weder hinwegzudenken, noch prin-zipiell als unzulässig anzusehen ist.3 Allerdings findet im Rahmen eines„Deals“ kein besonderes – anderen prozessualen Regeln folgendes - Verfah-ren statt, sondern sowohl die StPO als auch allgemeine Prinzipien des Straf-verfahrens müssen dabei gewahrt werden.

Im Rahmen eines „Deals“ bietet der Angeklagte/die Verteidigung regelmäßigein Geständnis, den Verzicht auf Stellung bestimmter Beweisanträge bzw.die Rücknahme bereits gestellter solcher und damit eine Verkür-zung/Vereinfachung der gesamten Beweisaufnahme/Hauptverhandlung. ImGegenzug wird ihm seitens des Gerichts eine milde Strafe zugesagt.

Unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Idee derGerechtigkeit sowie der Notwendigkeit einer funktionierenden Strafrechts-pflege wurden durch den BGH4 folgende Regeln aufgestellt, unter denen einwirksamer „Deal“ zustande kommen kann:

Es darf keine Absprache über den Schuldspruch, die strafrechtlicheWürdigung eines Sachverhalts5 oder die Anordnung einer Sicherungs-verwahrung nach § 66 StGB6 getroffen werden

2 vgl. weitere Beispiele bei M/G § 302 Rn. 223 Auch verfassungsrechtlich sind sie zulässig, vgl. BVerfG NJW 1987, 26624 BGHSt 43, 195 = NJW 1998, 86 = NStZ 1998, 315 So nur im amerikanischen Rechtssystem möglich

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Das Geständnis ist in jedem Falle auf seine Glaubwürdigkeit hin zuüberprüfen, sich aufdrängende Beweiserhebungen (§ 244 II StPO) dür-fen nicht unterbleiben.

Für die Revision bedeutet dies:Es kann – mit der Sachrüge – erfolgreich gerügt werden, dass die Be-weiswürdigung (zu) lückenhaft ist, wenn nach einem „Deal“ im schrift-lichen Urteil nichts ausgeführt ist dazu, aus welchen Gründen das Ge-richt dem Geständnis des Angeklagten Glauben schenkte. U.U. kannauch die Aufklärungsrüge – Verfahrensrüge nach § 244 II StPO erfolg-reich sein

Alle Verfahrensbeteiligten (d.h. der gesamte Spruchkörper, die Staats-anwaltschaft, die Verteidigung, der Angeklagte und evtl. weitere Betei-ligte, wie der Nebenkläger) sind bei der Absprache miteinzubeziehen.

Für die Revision bedeutet dies:In der Regel wird ein diesbezüglicher Verstoß nicht revisibel sein. Diemangelnde Beteiligung eines Verfahrensbeteiligten macht zwar den„Deal“ unwirksam, aber das Urteil beruht nicht auf dem „Deal“, son-dern auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO). Ein Ver-stoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs (§ 33 StPO) liegt i.d.R.auch nicht vor, denn in der stattfindenden Hauptverhandlung hat je-der die Möglichkeit, sich zu äußern.Allerdings gibt ein Gericht, das Absprachen mit einer Seite trifft, ohneauch die andere Seite zu beteiligen, Anlass zur Besorgnis der Befan-genheit nach § 24 I StPO, so dass ein entsprechender Ablehnungsan-trag begründet sein dürfte.Wenn aber ein solcher nicht (rechtzeitig und formgerecht und mit er-forderlicher Glaubhaftmachung - §§ 24 ff StPO) angebracht wurde,liegt auch kein Revisionsgrund nach § 338 Nr. 3 StPO (wäre dann einabsoluter Revisionsgrund) vor.

Das Ergebnis der Absprache ist in der Hauptverhandlung offen zu le-gen und als wesentliche Förmlichkeit derselben (§§ 273, 274 StPO) zuprotokollieren.

Für die Revision bedeutet dies:Auch ein Verstoß gegen dieses Prinzip macht den „Deal“ unwirksam,was an und für sich für die Revision unerheblich ist (s.o.). Ein Verstoßgegen die Maxime der Öffentlichkeit (§ 169 GVG) liegt nicht vor, denndanach muss nur die Hauptverhandlung selbst öffentlich durchgeführtwerden. Die Anbahnung der Absprache erfolgt dagegen in der Regelund zulässigerweise außerhalb der Hauptverhandlung. Wenn dannauch die endgültige Vereinbarung außerhalb derselben (d.h. nicht öf-fentlich) geschieht, ist dies für sich noch nicht rechtsfehlerhaft. Fazit:§ 169 GVG ist nicht verletzt.

6 Zu letzterem: BGH 4 StR 17/98 vom 28.05.1998

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In Betracht kommt jedoch zum einen (wie oben), dass sich ein Gerichtbei „heimlicher“, d.h. nicht offen gelegter und protokollierter Abspra-che befangen macht mit oben ausgeführter Folge.

Des Weiteren ist zu beachten, dass

o ein Geständnis bei unwirksamem „Deal“ – wie hier – widerrufenwerden kann. Dann kann wohl auf ein derart widerrufenes Ges-tändnis nach gescheitertem Deal alleine keine Verurteilung ge-stützt werden.7

o das Geständnis kann sogar unverwertbar sein. Das ist i.d.R.dann der Fall, wenn es unter Verstoß gegen den Grundsatz desfair trial (oder sogar unter Verletzung der §§ 136, 136 a StPO)zustande gekommen ist. Davon wird man bei Nichtoffenlegungselten ausgehen können, dies ist in Extremfällen aber auch ni-cht ausschließbar. Wenn Unverwertbarkeit zu bejahen ist, kannder Verstoß als Verletzung des § 261 StPO mit der Verfahrens-rüge beanstandet werden.

Es darf beim „Deal“ keine Fixstrafe versprochen werden, sondern al-lenfalls eine Obergrenze der ins Auge gefassten Strafe oder ein gewis-ser Strafrahmen, in dem sich die Strafe bewegen wird. Bei wirksamem„Deal“ darf diese Obergrenze nicht überschritten werden, wenn nichtin der Hauptverhandlung neue schwerwiegende Umstände zu Lastendes Angeklagten offenbar werden. Zudem ist auf eine beabsichtigteAbweichung hinzuweisen (Arg. e. § 265 StPO).

Für die Revision bedeutet dies:o Nicht gegebener Hinweis auf Abweichung ist als Verstoß gegen §

StPO i.V.m. fair trial mit der Verfahrensrüge angreifbar.o Abweichung von zugesagter Strafobergrenze stellt einen Verstoß

gegen das Gebot des fair trial dar. Problematisch ist hier aber,ob die Verfahrensrüge oder die Sachrüge zu erheben ist. Da der„Deal“ selbst nicht unwirksam ist, dürfte das Geständnis ver-wertbar bleiben und damit eigentlich der „Weg zu den Feststel-lungen“ fehlerfrei sein. Jedoch: Nach der von mir empfohlenen„Faustregel.“, dass die Sachrüge nur dann die richtige Rüge ist,wenn allein die Urteilsgründe zur Feststellung des Fehlers aus-reichen (s.u.), ist diese Sachrüge hier wohl (nach m.E.) nichtausreichend, denn dieser Verstoß gegen den fair-trial-Grundsatzlässt sich gerade nicht allein aus diesen Urteilsgründen ent-nehmen.Eine Entscheidung dazu habe ich noch nicht gefunden, m.E. istdie Verfahrensrüge (beachte § 344 II StPO) zu erheben, was einsorgfältiger Rechtsanwalt im Zweifel ohnehin sicherheitshalbertun wird.

7 Vgl. M/G Einl. 119 g

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Das Gericht muss bei seiner Zusage einer Strafobergrenze bzw. einesStrafrahmens

o zum einen sich noch einen echten Spielraum für eine Abwägungbei der Strafzumessung lassen.

o zum anderen die allgemeinen Strafzumessungsregeln beachten,d.h. die zugesagte Strafe bzw. die verhängte Strafe muss schuld-angemessen sein.

Für die Revision bedeutet dies:Dieser Aspekt bezieht sich auf die Höhe der gefundenen Strafe.Grundsätzlich unterliegt das Strafmaß nur eingeschränkt der Revision(s.u.). Ein Urteil kann durch das Revisionsgericht in diesem Punkt nuraufgehoben werden, wenn die Strafe nicht mehr im Rahmen dessenliegt, was noch von „vernünftig und gerecht Denkenden“ anerkanntwerden kann. Revisibel sind also nur gröbste Fehlgriffe des Gerichts(vgl. M/G § 337/34). Ist dies aber gegeben, so kann ein solcher Ver-stoß auch – mit der Sachrüge – angegriffen werden.

Schließlich darf durch das Gericht (oder u.U. auch durch die Staats-anwaltschaft mit Duldung des Gerichts!) kein unzulässiger Zwang aufden Angeklagten zum Abschluss eines „Deals“ ausgeübt werden.8

Das bedeutet nicht nur, dass (selbstverständlich) keine Mittel des §136 a StPO bei Erlangung der Zustimmung des Angeklagten zu einem„Deal“ angewandt werden dürfen. Es darf auch nicht eine „psychologi-sche Drucksituation“ aufgebaut werden, wie z.B. durch Angebot einersehr milden Strafe bei Geständnis und einer sehr hohen Strafe ohneein solches. Auch die Androhung der Untersuchungshaft bei Ableh-nung des „Deals“ fällt hierunter oder anderweitige spürbare Nachteileim Falle der Weigerung (der Phantasie sind hier wohl keine Grenzengesetzt).

Für die Revision bedeutet dies:o Das Geständnis im Rahmen eines unter Druck abgeschlossenen

„Deals“ ist entweder in direkter Anwendung des § 136 a StPOoder wegen Verstoß gegen fair trial unverwertbar. Zu rügen wärealso ein Verstoß gegen § 261 StPO i.V.m. der entsprechendenVerbotsregen.

o Der Richter macht sich durch solches Vorgehen befangen undkann abgelehnt werden. Wurde der Ablehnungsantrag ord-nungsgemäß angebracht, hatte aber keinen Erfolg, kann Ver-stoß gegen § 338 Nr. 3 StPO (als absoluter Revisionsgrund) gel-tend gemacht werden.

Unabhängig von der Wirksamkeit eines „Deals“ stellt sich die weitere (derzeitheftig diskutierte, oft entschiedene und daher sehr klausurrelevante!) Frage,ob ein nach Absprache erklärter Rechtsmittelverzicht wirksam ist oder nicht.

8 M/G Einl. 119 c; BGH NJW 2005, 1440, 1441 und stets

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Grundsätzlich kann ein solcher Verzicht erst ab Existenz, d.h. Verkündungeines Urteils wirksam erklärt werden. Vorherige Erklärungen sind daherfraglos unbeachtlich.Als Prozesshandlung ist der Verzicht prinzipiell „anfechtungs- und wider-rufsfeindlich“. D.h. an eine solche Erklärung ist der Angeklagte grundsätz-lich gebunden, er kann sie weder zurücknehmen, noch anfechten. (Die im-mer schon anerkannte Ausnahme für den Fall des Verzichts aufgrund täu-schender Erklärungen des Gerichts spielt weder in der Praxis noch in derKlausur eine relevante Rolle). Hier hat der BGH in mehreren Entscheidungenimmer weiter die Wirksamkeit der Rechtsmittelverzichts in Frage gestelltbzw. eingeschränkt. Zuletzt stellte er – als vorläufigen Schlusspunkt - fol-gende Regelung auf:9

o Ein unwirksam zustande gekommener „Deal“ macht auch den an-schließenden Rechtsmittelverzicht unwirksam.

o Da faktisch aber auch bei einem wirksamen „Deal“ auf den Angeklag-ten (zumindest ein psychologischer) Zwang lasten kann, auf Rechts-mittel zu verzichten, gilt der Verzicht auch bei ordnungsgemäßem„Deal“ als unwirksam, es sei denn der Angeklagte wurde im Anschlussan die Urteilsverkündung qualifiziert belehrt, d.h. es wurde ihm ver-ständlich erklärt, dass er trotz Absprache frei sei in seiner Entschei-dung, ob er Rechtsmittel einlegen wolle oder nicht. Nach einer solchenqualifizierten Belehrung aber ist der Verzicht nicht mehr zu beseitigen,d.h. das Rechtsmittel unzulässig.

Achtung: Zwar ist ohne qualifizierte Belehrung der Rechtsmittelverzicht un-wirksam, die Revision zulässig, jedoch nur innerhalb der Einle-gungsfrist des § 341 StPO! Wiedereinsetzung gegen die Versäu-mung der Frist kann aber u.U. dann erfolgreich angestrebt wer-den, wenn die Umstände des Einzelfalls ergeben (Glaubhaftma-chung!) dass sich der Angeklagte tatsächlich an das Urteil gebun-den fühlte.10

!!! Bei Gesprächen über Deal darf Thema „späterer Rechtsmittelverzicht“durch das Gericht nicht angesprochen werden. Das Gericht darf sich aneinem solchen Gespräch zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigungauch nicht beteiligen.

V. Rechtsmittelrücknahme, §§ 302, 303 StPO

1. Erklärung durcha. Angeklagten (Erstreckung stets auf Rechtsmittel des Verteidi-

gers, M/G § 302/4)b. Verteidiger (nur mit ausdrücklicher Ermächtigung, § 302 I StPOc. Staatsanwalt (bei Rechtsmitteleinlegung zu Gunsten des Ange-

klagten nur mit dessen Zustimmung, § 302 I 2 StPO).

9 BHG NJW 2005, 1440, 1445 f10 Zum ganzen Komplex BGH NJW 2005, 1440, 1445 ff !

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2. Spätester ZeitpunktBis zur Entscheidung über das Rechtsmittel, beachte aber § 303StPO!

3. FormWie Rechtsmitteleinlegung (M/G § 302/7)

4. Wirkung Unzulässigkeit des Rechtsmittels des Rücknehmenden Unwiderruflichkeit und Unanfechtbarkeit der Rücknahme, M/G

§ 302/12

Beachten Sie, dass die nachträgliche Beschränkung (Einzelheiten zurBeschränkung von Rechtsmitteln unter VI.) eines unbeschränkt einge-legten Rechtsmittels eine Teilrücknahme darstellt (vgl. M/G § 303/1),die ursprüngliche Beschränkung aber nicht die spätere Erweiterung(in noch laufender Einlegungsfrist!) verwehrt.

VI. Beschränkung des Rechtsmittels

Ein Rechtsmittel kann auf bestimmte Teile der Entscheidung be-schränkt werden.

Berufung, § 318 StPO Beschwerde, allgemein anerkannt Revision, § 344 StPO Einspruch gegen Strafbefehl, § 410 II StPO

Die Folge einer wirksamen Rechtsmittelbeschränkung ist, dass dernicht angefochtene Teil der Entscheidung für das weitere Verfahrenbindend ist. Manchmal ist hier zu lesen: „Der nicht angefochtene Teilist rechtskräftig“. Dies ist so nicht ganz zutreffend. Eine gerichtlicheEntscheidung ist entweder im ganzen rechtskräftig, oder sie ist esnicht. „Teilrechtskraft“ ist zwar vielleicht ein griffiger Terminus, jedochnicht anerkannt und dogmatisch eigentlich falsch. Richtig ist nur,dass der nicht angefochtene Teil einer Entscheidung einer Überprü-fung/Abänderung nicht mehr unterliegt.

Trennbarkeitsformel (M/G § 318/6):Eine Beschränkung ist nur zulässig, wenn der angefochtene Teil losge-löst vom übrigen Urteilsinhalt überprüfbar ist.

Merke: Bei unwirksamer Beschränkung gilt das Rechtsmittel als un-beschränkt eingelegt.

1. Beschränkung innerhalb des Schuldspruchs

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Die Beschränkung eines Rechtsmittels allein auf den Schuldspruchist unzulässig, da der Schuldspruch Voraussetzung für den Rechtsfol-genausspruch ist. Würde sich der Schuldspruch ändern, müsste sichzwangsläufig auch der Rechtsfolgenausspruch ändern.

Wird das Rechtsmittel innerhalb des Schuldspruchs auf bestimmteTatbestände beschränkt, so ist folgendes zu beachten.

Tateinheit

Bei Tateinheit kann das Rechtsmittel nicht auf einen von mehre-ren Tatbeständen beschränkt werden, denn sie stehen aufgrundder Tateinheit miteinander in untrennbarer Verknüpfung.

Tatmehrheit

o Bei Tatmehrheit ist eine Beschränkung des Rechtsmittelsauf einen Tatbestand oder mehrere Tatbestände möglich.Natürlich erfasst in diesem Fall das beschränkte Rechts-mittel nicht nur den Schuldspruch, sondern auch denRechtsfolgenausspruch.

z.B.:

Verurteilung wegen Untreue und Betrugs zu Gesamtstrafe.Berufung wird auf Verurteilung wegen Betrugs be-schränkt.

Die Berufung erfasst damit Den Schuldspruch wegen Betrugs Den Rechtsfolgenausspruch wegen Betrugs Die aus Untreue und Betrug gebildete Ge-

samtstrafe

Für Interessierte (dürfte in Klausuren wohl keine Rollespielen):

Eine Beschränkung ist auch dann möglich, wenn diein Tatmehrheit stehenden Delikte zu derselben pro-zessualen Tat gehören (vgl. M/G § 318/10). DerRichter ist aber an die Feststellungen zu dem nichtangefochtenen Urteilsteil gebunden.

Ausnahme (vgl. M/G § 318/11):§§ 315 c, 229, 52 StGB in Tatmehrheit mit §§ 142,316, 52 StGB (Unfall des alkoholisierten Fahrersund Unfallflucht: eine prozessuale Tat)

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Beschränkung unzulässig, da Alkoholisierung fürbeide materielle Taten eine Rolle spielt. Gefahr wi-dersprüchlicher Entscheidungen im Rahmen einerprozessualen Tat.

Ist das Erstgericht unzutreffend von Tatmehrheitstatt Tateinheit ausgegangen, ist Beschränkung aufeine „tatmehrheitliche“ Tat unzulässig (M/G §318/13).

Folge einer wirksamen Beschränkung innerhalb des Schuld-spruchs:Der nicht angefochtene Teil erwächst in (vertikaler) „Teil-rechtskraft“ (M/G Einl. 185).

Weiteres Problem:Nach feststehender Rechtsprechung ist die Beschränkung aufeinen Teil der Entscheidung nur dann möglich, wenn die tat-sächlichen Feststellungen des nicht angefochtenen Teils hinrei-chend sind. Das bedeutet, dieser Teil wird daraufhin zu über-prüfen sein, ob die Umgrenzungsfunktion noch gewahrt wird.(Dieser Aspekt spielt vor allem im Verkehrsrecht, wo das Bay-ObLG die gefahrene Strecke und die Umstände einer Alkohol-aufnahme festgestellt wünscht und auch im Betäubungsmittel-recht, wo insbesondere stets verlangt wird, dass das Gericht denWirkstoffgehalt des Betäubungsmittels konkret feststellen muss,eine wichtige Rolle. Fehlt es daran, ist die Beschränkung desRechtsmittels nicht möglich, bzw. wenn erklärt, dann unwirk-sam!)

2. Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch, vgl. dazu M/G §318/16 ff.

Das Rechtsmittel kann auf den Rechtsfolgenausspruch beschränktwerden. Die Feststellungen zum Schuldspruch sind dann für dasRechtsmittelgericht bindend. Sie erwachsen in horizontaler „Teil-rechtskraft“11 (M/G Einl. 185 a).

Bindend festgestellt sind (vgl. M/G Einl. 187)

Die Tatbestandsmerkmale Alle zum geschichtlichen Vorgang gehörenden Fest-

stellungen

11 wie erwähnt ist das keine „echte Rechtskraft“. Besser wäre es, von einer innerprozessua-len Bindungswirkung zu sprechen. Ich verwende die Bezeichnung dennoch, da sie in ande-ren Werken ebenfalls zu finden ist, um nicht zu viele Bezeichnungen einzuführen.

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(beachte insoweit das Problem der „doppelt relevanten Tat-sachen“ (siehe auch M/G § 327/5:Dies sind Tatsachen, die Grundlage des Schuldspruchssind, zugleich aber auch für den RechtsfolgenausspruchBedeutung haben. Hierzu zählen z.B. Feststellungen überdie Schadenshöhe oder Feststellungen zum Vorliegen einesRegelbeispiels nach § 243 StGB. Zwar sind sie Strafer-schwerungsgründe, sie charakterisieren aber auch denUnrechts- und Schuldgehalt der Tat, vgl. BGH NJW 81,589.

Wendet sich der Rechtsmittelführer, der sein Rechtsmittelauf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat, gegendoppelt relevante Tatsachen, so gilt sein Rechtsmittel imZweifel als unbeschränkt und ergreift auch den Schuld-spruch.)

3. Beschränkung innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs, vgl. M/G §318/18 ff

Auf Anzahl oder Höhe der Tagessätze: möglich Auf Strafaussetzung zur Bewährung (M/G § 318/20): grds. mög-

lich (Voraussetzung für eine wirksame Beschränkung ist, dassdie Frage der Bewährung unabhängig von den Strafzumes-sungserwägungen gemäß § 46 II StGB ist; bei Interesse (wohlkaum examensrelevant) siehe auch BGH NJW 2001, 3134)

Auf Entziehung der Fahrerlaubnis, § 69 StGB (M/G § 318/28:sehr problematisch und strittig M/G: grds. möglich, m.E. wohleher abzulehnen!

Auf Fahrverbot, § 44 StGB (M/G § 318/22): nein (a.A.: Bay-ObLG)

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Die Berufung

(beachte: Die Abfassung von Berufungsurteilen ist nicht Gegenstand derschriftlichen Arbeiten der Zweiten Juristischen Staatsprüfung, da aber auchim Berufungsverfahren Fehler vorkommen können, die in einer Revision zurügen wären, müssen die wichtigsten Vorschriften und Rechtsprobleme zurBerufung gekannt werden!)

I. Wesen der Berufung

Berufung ist nur gegen Urteile des Amtsgerichts möglich, § 312 StPO

Das Berufungsgericht entscheidet unabhängig vom erstinstanzlichenVerfahren ausschließlich aufgrund der Berufungshauptverhandlung(„Zweite Erstinstanz“), vgl. §§ 323 III, 324, 332 StPO.

II. Berufungsgericht

Amtsgericht, § 24 GVG Landgericht, § 74 III GVG

Strafrichter, § 25 GVGKleine Strafkammer, § 76 I GVG

Schöffengericht, § 28 GVG

Also:Die kleine Strafkammer am Landgericht (1 Vorsitzender + 2 Schöffen), §74 III, 76 I GVG, ist stets Berufungsgericht!

III. Zulässigkeit der Berufung

1. Statthaftigkeit, § 312 StPO

Gegen Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts(In Ausnahmefällen ist gemäß §§ 313, 322 a StPO ein Annahme-beschluss des Berufungsgerichts erforderlich. Die Prüfung derBerufungsannahme erfolgt nach Maßgabe von §§ 313 II, IIIStPO).

2. Berufungsberechtigung, §§ 296 – 298 (siehe oben)3. Beschwer (siehe oben)4. Adressat, Form, § 314 I StPO

Beim Gericht des ersten Rechtszugs schriftlich oder zu Protokoll derGeschäftsstelle.

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5. Frist, § 314 I StPO: 1 Woche!(bei verspäteter Einlegung: § 319 StPO)

6. Keine Berufungsrücknahme und kein Verzicht (siehe oben)

Keine Zulässigkeitsvoraussetzung ist die Berufungsbegründung gemäß § 317StPO („kann“).

Bei Unzulässigkeit:Verwerfung der Berufung durch Berufungsgericht (außer-halb der Hauptverhandlung durch Beschluss, § 322 I 1StPO, innerhalb der Hauptverhandlung durch Urteil, § 322I 2 StPO)

Bei Zulässigkeit:Anberaumung einer Hauptverhandlung

IV. Gang der Berufungsverhandlung

§§ 324 – 326, 332 StPO

Die Berufungsverhandlung verläuft im Wesentlichen wie die Hauptverhand-lung erster Instanz.

Aber:

Keine Verlesung des Anklagesatzes, sonder Vortrag über die Ergebnis-se des bisherigen Verfahrens

Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 250 S. 2 StPO)durch § 325 StPO (dazu unten)

Besonderheiten bei Ausbleiben des Angeklagten (dazu gleich)

V. Sonderfall: Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungs-hauptverhandlung

Im erstinstanzlichen Verfahren gilt gemäß § 230 I StPO der Grundsatz, dassgegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht statt-findet (Folge: § 230 II StPO). In der Berufungshauptverhandlung findet § 230StPO keine Anwendung, vielmehr gilt § 329 StPO.

Unterscheide:

Berufung des Angeklagten, § 329 I StPO: Verwerfung der Berufung desAngeklagten

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Berufung der Staatsanwaltschaft, § 329 II StPO: Verhandlung in Ab-wesenheit des Angeklagten

(Haben Angeklagter und Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, ist zu-nächst ein Verwerfungsurteil nach § 329 I StPO zu erlassen und sodanngemäß § 329 II StPO über die Berufung der Staatsanwaltschaft zu ver-handeln und zu entscheiden, vgl. M/G § 329/31).

Aufklärungspflicht gemäß § 244 II StPO sowie Hinweis- und Fürsorge-pflicht gemäß § 265 StPO können ausnahmsweise ein persönliches Er-scheinen des Angeklagten gebieten. In diesen Fällen muß das Gerichtgemäß § 329 IV StPO die Vorführung oder Verhaftung des Angeklagtenanordnen.

Voraussetzungen für ein Verwerfungsurteil nach § 329 I StPO:

1. Zulässigkeit der BerufungAnsonsten: Verwerfung der Berufung gemäß § 322 StPO als unzuläs-sig

2. Vorliegen der Prozessvoraussetzungen

h.M.:Fehlt eine Prozessvoraussetzung (z.B. verjährt, Strafantrag fehlt,Strafklageverbrauch), so ergeht kein Verwerfungsurteil, vielmehr hatdas Berufungsgericht das Verfahren unter Aufhebung des erstinstanz-lichen Urteils (§ 328 I StPO) gemäß § 260 III StPO durch Einstellungs-urteil einzustellen (a.A. M/G § 329/9).

3. Nichterscheinen des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung

Ordnungsgemäße Ladung, § 323 I StPO

Die bloße Anwesenheit des Verteidigers genügt nicht, es sei denn esliegt ein Fall der zulässigen Vertretung vor (z.B. bei vorausgehendemStrafbefehlsverfahren, § 411 II StPO). Außerdem muss der Verteidigereine besondere Vertretungsmacht haben. Diese ist nicht in der norma-len Prozessvollmacht enthalten, sondern muss gesondert erteilt wor-den sein.

4. Ausbleiben nicht genügend entschuldigt.

Maßgeblich ist nicht, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondernob er entschuldigt ist (Einzelheiten bei M/G § 329/18 ff.)

Rechtsbehelfe/Rechtsmittel gegen ein Verwerfungsurteil gemäß § 329StPO:

1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 329 III StPO

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Angeklagter muss glaubhaft machen, dass er ohne Verschuldenverhindert war. Auf die vom Berufungsgericht bereits gewürdig-ten Gründe kann Wiedereinsetzungsantrag nicht gestützt wer-den.

2. Revision

Muss gemäß § 337 StPO darauf gestützt werden, dass das Beru-fungsgericht § 329 StPO nicht richtig angewendet hat.

(1. und 2. sind nebeneinander möglich, vgl. § 342tPO)

VI. Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch §325 StPO

§ 325 1. HS bringt keine Erweiterung für die Verlesung von Schrift-stücken. Die Zulässigkeit der Verlesung bemisst sich nach § 332i.V.m. §§ 249 – 256 StPO.

§ 325 2. HS enthält eine Erweiterung für Aussagen der in der Haupt-verhandlung des ersten Rechtszugs vernommenen Zeugen und Sach-verständigen, deren wesentlicher Inhalt nach § 273 II StPO in die Sit-zungsniederschrift aufzunehmen ist. In diesen Fällen ist die Verlesung(abgesehen von § 251 und § 253 StPO) zulässig, wenn

o alle Prozessbeteiligten (Staatsanwalt, Angeklagter, Verteidiger)zustimmen oder

o keine Ladung des Zeugen/Sachverständigen erfolgt ist und derAngeklagte (bzw. sein Verteidiger) die Ladung nicht oder nichtrechtzeitig beantragt hat.

Beachte:Wenn es auf die Aussage eines Zeugen entscheidend ankommt, mussdas Berufungsgericht aufgrund seiner Aufklärungspflicht (§ 244 IIStPO) den Zeugen stets persönlich vernehmen und sich einen eigenenEindruck verschaffen.

VII. Verbot der reformatio in peius, § 331 StPO

Bei Berufung des Angeklagten oder durch die Staatsanwaltschaft zu-gunsten des Angeklagten:

§ 331 StPO verbietet eine Abänderung der Rechtsfolgen zu Lasten desAngeklagten, eine Änderung des Schuldspruchs zu Ungunsten des An-geklagten ist dagegen zulässig.

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Das Verbot der Schlechterstellung gilt nicht, wenn zugleich mit demAngeklagten auch die Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Ange-klagten Rechtsmittel eingelegt hat.

VIII. Entscheidungsmöglichkeiten des Berufungsgerichts

1. Bei Ausbleiben des Angeklagten(siehe oben)

2. Bei erfolgloser Berufung (unzulässig oder unbegründet

Verwerfungsurteil

3. Bei erfolgreicher Berufung (§ 328 I StPO)

Aufhebung und eigene Sachentscheidung

4. Sonderfall: Unzuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszugs, § 328II StPO

Aufhebung und Verweisung an das zuständige Gericht (beachte aber §16 S. 2, 3 StPO)

(beachte: die Unterschreitung der sachlichen Zuständigkeit – z.B.Schöffengericht verhandelt über Sache, die eigentlich zum Strafrichtergehört – ist wegen § 269 StPO kein Zurückverweisungsgrund i.S.d. §328 II StPO, vgl. M/G § 328/7).

Merke:

Das Berufungsgericht hat dieselbe Strafgewalt wie das Amtsgericht (§ 24 IIGVG)! Hält das Berufungsgericht eine Rechtsfolge für erforderlich, die nichtmehr von § 24 II GVG erfasst wird, muss es die Sache an die Große Straf-kammer zur erstinstanzlichen Verhandlung überweisen (vgl. dazu M/G §328/9ff.).

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Die Beschwerde

(beachte: die Abfassung von Beschwerdeentscheidungen ist nicht Gegen-stand der schriftlichen Prüfungsarbeiten der Zweiten Juristischen Staats-prüfung. Jedoch kann verlangt werden, dass z.B. ein Anwaltsschriftsatz miteiner Beschwerdeschrift verfasst wird)

I. Arten der Beschwerde

1. Einfache Beschwerde, §§ 304 – 309 StPO

Nicht fristgebunden

2. Sofortige Beschwerde, § 311 StPO

Sofortig ist die Beschwerde nur, wenn das Gesetz dies ausdrück-lich bestimmt (z.B. §§ 210 II; 28 II 1; 322 II StPO)

Einlegungsfrist: 1 Woche, § 311 II StPO

II. Beschwerdegericht

Beschwerdegericht ist das dem Ausgangsgericht übergeordnete Gericht

Amtsgericht Landgericht (§§ 73 I 1, 76 I 2 GVG)Landgericht Oberlandesgericht (§ 121 I Nr. 2 GVG)Oberlandesgericht BGH (§ 135 II GVG)

III. Zulässigkeit der Beschwerde

1. Statthaftigkeit, § 304 I StPOa. Einfache Beschwerde, § 304 I StPO

Gegen Beschlüsse und Verfügungen

Ausnahmen: Die durch Gesetz der Anfechtbarkeit ausdrücklich

entzogenen Beschlüsse, § 304 I letzter Halbsatz (z.B.§§ 210 I, 153 II 3, 28 I StPO)

Keine Beschwerde gegen Beschlüsse und Verfügun-gen des BGH; eingeschränkte Anfechtbarkeit vonBeschlüssen und Verfügungen des OLG, § 304 IVStPO

Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die derUrteilsfällung vorausgehen, § 305 StPO

(z.B. Ablehnung eines Beweisantrags gemäß § 244 VIStPO; Beschluss über die Verlesung eines Protokolls

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gemäß 251 IV StPO; Entscheidung über die Vereidi-gung von Zeugen, §§ 59 ff StPO.Solche Entscheidungen stehen im Zusammenhangmit der späteren Urteilsfindung, entfalten aber dar-über hinaus keine Wirkung. Sie sind nur zusammenmit dem Urteil anfechtbar. Anderenfalls könntedurch Einlegung einer Beschwerde die Hauptver-handlung verzögert werden. I.ü. kann das Be-schwerdegericht nicht Einzelfragen, z.B. einer Be-weisaufnahme, beurteilen, ohne dem erkennendenGericht „hineinzuregieren“. Dem Beschuldigten ge-reicht diese Regelung auch nicht zu einem unan-nehmbaren Nachteil, denn mit der späteren Revisionkönnen hier geschehene Verfahrensfehler ja nochbeanstandet werden.)

b. Sofortige Beschwerde, § 311 StPO

Gegen Beschlüsse, sofern ausdrücklich vorgeschrieben

2. Beschwerdeberechtigung (vgl. M/G § 304/6)

Bei Verletzung von Freiheit, Vermögen oder sonstigem Recht

Das betrifft Die Verfahrensbeteiligten (Beschuldigter, Verteidiger,

Staatsanwalt)

Die in § 304 StPO genannten (Zeugen, Sachverständige)

3. Adressat, Form, § 306 StPO

4. Frist, nur bei sofortiger Beschwerde, § 311 II StPO

IV. Abhilfemöglichkeit, § 306 II StPO

Bei der einfachen Beschwerde hat das Gericht, dessen Entscheidungangefochten wird, die Möglichkeit der Abhilfe (dies ist aber keine Zu-lässigkeitsvoraussetzung einer Entscheidung des Beschwerdegerichts).Ansonsten sofortige Vorlage an das Beschwerdegericht, § 306 II StPO

Bei sofortiger Beschwerde grundsätzlich keine Abhilfemöglichkeit, §311 III 1 StPO

V. Verfahren vor dem Beschwerdegericht

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Beschwerdegericht hat Entscheidung der Vorinstanz in rechtlicherund tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, § 308 II StPO (Klärung er-folgt im Freibeweisverfahren)

Keine mündliche Verhandlung, § 309 I StPO

VI. Entscheidungsmöglichkeiten des Beschwerdegerichts

Verwerfung der Beschwerde als unzulässig Zurückweisung der Beschwerde als unbegründet Eigene Sachentscheidung des Beschwerdegerichts bei begründeter Be-

schwerde, § 309 II StPO

VII. Rechtsmittel gegen Beschwerdeentscheidung

Gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts gibt es grundsätzlichkein weiteres Rechtsmittel, § 310 II StPO.

Ausnahme:Weitere Beschwerde (§ 310 I StPO) gegen Beschlüsse des Landge-richts oder Oberlandesgerichts über Verhaftungen (§§ 112, 230 II,236, 329 IV StPO) und einstweilige Unterbringungen (§§ 126 a StPO;71 I JGG).

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Revision

A. Revisionsgericht

I. Revision gegen

Urteil des Amtsgerichts

Berufungsurteil des Landgerichts (= kleine Strafkammer)

Oberlandesgericht, § 121 I Nr. 1 a – c GVGRechtsgeschichtlich: früher in Bayern Bayerisches Oberstes Landesgericht(BayObLG)

II. Revision gegen

Erstinstanzliches Urteil des Oberlandesgericht

Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts (= Große Strafkammer)

Bundesgerichtshof (§ 135 I GVG)

B. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision

I. Statthaftigkeit, §§ 333, 335 StPO

Gegen erstinstanzliche Urteile des Oberlandesgerichts, § 333StPO

Gegen erstinstanzliche Urteile des Landgerichts (Große Straf-kammer), § 333 StPO

Gegen Berufungsurteile des Landgerichts (Kleine Strafkammer),§ 333 StPO

Gegen erstinstanzliche Urteile des Amtsgerichts (Sprungrevisi-on), § 335 StPO

(Problem: Sprungrevision bei Bagatelldelikten, § 313 StPO

M/G § 335/21: erfordert zunächst Berufung und Annah-mebeschluss gemäß § 322 a StPO, danach Übergang zurRevision

BayObLG: Revision ist ohne weiteres statthaft. Frage, obBerufung nach § 313 II StPO hätte angenommen werdenkönnen, ist nicht zu prüfen. Grund: Bei dieser „Vorprü-fung“ müsste das Gericht die Erfolgsaussichten in der Sa-

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che, d.h. im Hinblick auf den letztendlichen Erfolg prüfen,derartiges ist aber dem Revisionsverfahren fremd.)

II. Revisionsberechtigter

(siehe oben unter „Rechtsmittelberechtigter“)

III. Beschwer

(siehe oben unter „ Beschwer“)

IV. Ordnungsgemäße Revisionseinlegung (§ 341 StPO)

1. Anfechtungserklärung

2. Adressat, § 341 StPO

3. Form, § 341 StPO(siehe dazu M/G Einl. 128 ff)

Zu Protokoll des Rechtspflegers des Ausgangsgerichts, § 24 INr. 1 b RPflG (Ausnahme: § 299 StPO) oder

Schriftlich (Unterschrift ist nicht erforderlich)

Beachte: Es besteht für die Einlegung der Revision keinRechtsanwaltszwang!

4. Frist, §§ 341 I, II 43 StPO

Abs. I: Eine Woche nach Verkündung des Urteils(Regelfall)

Abs. II: Eine Woche ab Zustellung des Urteils

Merkregel:Frist endet grundsätzlich an dem Wochentag, auf den dasfristauslösende Ereignis fiel.(z.B.: Urteilsverkündung bzw. – zustellung am Mittwoch,01.03.

Fristende am Mittwoch, 08.03., 24.00 Uhr)

Beachte:

Bei unterbliebener Rechtsmittelbelehrung (§ 35 aStPO) läuft Frist dennoch. Es besteht aber die Mög-lichkeit der Wiedereinsetzung gemäß § 44 S. 2 StPO(M/G 341/9)

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Zur Frage, ob Frist als gewahrt anzusehen ist, wennWahrung der Frist zweifelhaft ist, siehe M/G §261/35

V. Ordnungsgemäße Revisionsbegründung (§ 345 StPO)

Im Gegensatz zur Berufung muss die Revision begründet wer-den, § 344 I StPO.

1. Adressat, § 345 I StPO

2. Form, § 345 II StPO

Zu Protokoll des Rechtspflegers (§ 24 I Nr. 1 b RPflG)

Von Verteidiger oder Rechtsanwalt unterzeichneterSchriftsatzDamit übernimmt der Rechtsanwalt die volle Verantwor-tung für diese Revisionsbegründung. Das bedeutet auch,dass er hinter den tatsächlichen Behauptungen im Sach-vortrag stehen muss und sich nicht „hinter dem Protokolloder dem Mandantenvortrag verstecken“ darf, was aus derFormulierung hervorgehen muss!

Für die Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft ge-nügt dagegen die einfache Schriftform, vgl. RiStBV Nr. 149

3. Revisionsbegründungsfrist, § 345 I StPO

Die Revisionsbegründungsfrist beträgt 1 Monat. Für die Fristbe-rechnung ist zwischen § 345 I Satz 1 und Satz 2 zu unterschei-den.

Satz 2 (Regenfall!): Wurde das Urteil nicht innerhalb einerWoche nach Urteilsverkündung zuge-stellt, läuft die Revisionsbegründungs-frist erst ab der Zustellung.

Einwöchige Einlegungsfrist Beginn der Revisionsbegründungs-Gemäß § 341 StPO frist gemäß § 345 I 2 StPO

▌-------------------------------▌ ▌---------------------------------------

Verkündung Zustellung des Urteils

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Satz 2: Wurde das Urteil innerhalb einer Wochenach Urteilsverkündung zugestellt, läuftdie Revisionsbegründungsfrist im An-schluss an die Einlegungsfrist gemäß §341 I StPO und zwar unabhängig da-von, wann tatsächlich die Revision ein-gelegt wurde!

Einwöchige Einlegungsfrist Beginn der Revisionsbegründungs-Gemäß § 341 I StPO frist gemäß § 345 I 1 StPO

▌--------------------▼-----------------▌--------------------------------------------------------

Verkün- Zustellungdung des Urteils

Beispiel:

Gegen das am 04. April in seiner Anwesenheit verkündete Urteillegt der Angeklagte am 09. April Revision ein. Damit ist die ein-wöchige Einlegungsfrist gemäß § 341 I StPO gewahrt.

Wann endet die Revisionsbegründungsfrist, wenn demAngeklagten das Urteil am 20. April zugestellt wurde ?

Ablauf der Revisionsbegründungsfrist richtet sich nach §345 I 2 StPO, da die Zustellung des Urteils nicht innerhalbder Einlegungsfrist von einer Woche (§ 341 I StPO: 11. Ap-ril, 24.00 Uhr) erfolgte.

Wann endet die Revisionsbegründungsfrist, wenn dem An-geklagten das Urteil am 10. April zugestellt wurde ?

Ablauf richtet sich nach § 345 I 1 StPO, da Zustellung desUrteils noch innerhalb der Einlegungsfrist (siehe oben) er-folgte.

Fristberechnung:

Ablauf der Einlegungsfrist (§ 341 I StPO): 11. April, 24.00 Uhr Beginn der Begründungsfrist: 12. April, 00.00 Uhr Ende der Begründungsfrist

(§§ 345 I 2, 43 StPO) 12. Mai, 24.00 Uhr(so BGH und h.M., vgl. M/G § 43/1nach MM findet nicht § 43 StPO, sondernfinden §§ 187, 188 BGB Anwendung, sodass Fristablauf 1 Tag früher erfolgt, weilder erste Tag des Fristlaufs „mitgerechnet“wird.

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Einzelprobleme zur Revisionsbegründungsfrist

Die entgegen § 273 IV StPO vor Fertigstellung des Proto-kolls vorgenommene Urteilszustellung ist unwirksam(M/G § 273/34), d.h. es muss erneut das Urteil zugestelltwerden, sonst beginnt die Frist überhaupt nicht.

Bei Versäumung der Einlegungsfrist (§ 341 StPO) undnachfolgendem Wiedereinsetzungsantrag beginnt die Revi-sionsbegründungsfrist nicht mit der Zustellung des Ur-teils, sondern mit der Zustellung des (erfolgreichen) Wie-dereinsetzungsbeschlusses (M/G § 345/6).

4. Inhalt der Revisionsbegründung (§ 344 StPO)

Die Revisionsbegründung muss den (formalen) Anforderungendes § 344 StPO entsprechen.

Dazu einige Anmerkungen (nur zum Verständnis, in der Klausurführen Sie dies nicht aus !):

Eine ordnungsgemäße Revisionsbegründung muss enthalten:

Revisionsanträge, § 344 I StPO

Revisionsbegründung, § 344 I, II StPO

Zu den Revisionsanträgen

Zulässigkeitsvoraussetzung ist nur der Aufhebungsantrag (§ 353I StPO), nicht der Antrag zur Folgeentscheidung (§§ 354, 355StPO). Allerdings ist sogar das Fehlen von Anträgen unschäd-lich, wenn das Ziel der Revision aus dem Inhalt der Revisions-schrift eindeutig hervorgeht (M/G § 344/2). In der Klausur soll-ten Sie allerdings eindeutige Anträge stellen!

Zur Revisionsbegründung

Wegen § 344 I StPO ist die Begründung der Revision zwingendeZulässigkeitsvoraussetzung. Dabei unterscheidet das Gesetz in §344 II StPO zwischen der Verfahrensrüge und der Sachrügeund stellt an diese Rügen unterschiedliche formale Anforderun-gen:

Sachrüge

Bei der Sachrüge wird gerügt, dass der Richter Vorschrif-ten des materiellen Rechts im Urteil nicht richtig ange-

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wandt habe (z.B. § 315 c I StGB wurde mit fehlerhafterBegründung bejaht). = sog. „spezielle Sachrüge“.

Um eine ordnungsgemäße Sachrüge zu formulieren, ge-nügt aber auch allein der Satz:

„Ich rüge die Verletzung materiellen Rechts.“

= sog. allgemeine Sachrüge

Verfahrensrüge

Hier werden verfahrensrechtliche Verstöße, also Fehler aufdem Weg zum Urteil gerügt (z.B. Zeugin wurde nicht ge-mäß § 52 III StPO belehrt).

Achtung: Es wäre fatal, allein aus der Tatsache, dass dieverletzte Norm aus dem StGB stammt, auf Sachrüge zuschließen und daraus, dass sie der StPO entstammt, aufVerfahrensrüge!Vielmehr empfehle ich folgende (für die Klausurlösung völ-lig ausreichende) Faustregel:

o Wenn Sie zur Darlegung des gefundenen Rechtsfeh-lers nicht auf das Protokoll der Hauptverhandlungoder andere Aktenteile zurückgreifen müssen, son-dern alles, was Sie brauchen in den Urteilsgründenzu finden ist, so ist die Sachrüge zu erheben.

o Wenn der Tatsachenvortrag (§ 344 II StPO) zu IhrerRüge – zumindest auch – aus dem Protokoll derHauptverhandlung bewiesen wird, so ist die Verfah-rensrüge zu erheben.

Für Interessierte:

Problem der „doppelrelevanten Fehler“

In manchen Werken ist zu lesen, es gebe Rechtsfehler, diezugleich das Verfahrensrecht und das sachliche Recht ver-letzen.12 In anderen steht, dass ein und derselbe Rechts-verstoß, wenn er als Verfahrensfehler gerügt wurde, nichtauch daneben nochmals als Verstoß gegen materiellesRecht gerügt werden könne.13

Richtig dürfte folgendes sein:o Ein Rechtsverstoß, d.h. die Verletzung einer Norm

(z.B. § 261 StPO) oder eines Rechtsprinzips (fair trialoder nemo tenetur …) kann stets nur entweder ein

12 M/G § 337/8 a.E.13 Mutzbauer, S.

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Verfahrensverstoß, der mit der Verfahrensrüge zubeanstanden ist, oder ein sachlich-rechtlicher Feh-ler sein, der mit der Sachrüge zu beanstanden ist,sein (wobei die Abgrenzung im Einzelfall durchausschwierig oder strittig sein kann).

o Aber: Durch ein bestimmtes Vorgehen des Gerichtsbzw. einen Satz in einem Urteil können zwei ver-schiedene Normen/Prinzipien verletzt sein, so dasseigentlich zwei Fehler begangen sind, die dann na-türlich auch u.U. verschieden, d.h. einer mit derVerfahrensrüge, der andere mit der Sachrüge zu be-anstanden sind.

Insoweit beruht obige Meinungsdiskrepanz eigentlichnur auf einem Missverständnis.

Beispiel:Der Angeklagte schweigt in der Hauptverhandlung zur Sache voll-ständig. Das Gericht wertet das Schweigen im Urteil und argumen-tiert, der Angeklagte müsse einen Grund zum Schweigen gehabthaben, d.h. es müsse Relevantes geben, das er nicht preisgebenwolle. Wenn er unschuldig wäre, so könnte er doch reden und sichentlasten. Da er das nicht getan habe, sei er wohl der Täter. SeinSchweigen sei eines (unter mehreren) Indizien für seine Täter-schaft.Damit hat das Gericht gegen zwei Prinzipien verstoßen.Ein mit der Verfahrensrüge zu beanstandender Verfahrensfehlerliegt darin, dass das Schweigen des Angeklagten überhaupt als ein(verwertbares) Beweismittel herangezogen wurde. Bei Totalschwei-gen des Angeklagten zur Sache darf nämlich nach h.M. überhauptkein Schluss daraus gezogen werden (Unverwertbarkeit des Ver-haltens des Angeklagten in diesem Fall = Verstoß gegen § 261StPO i.V.m. Grundsatz „nemo tenetur se ipse accussare).Ein mit der Sachrüge zu beanstandender (weil aus den Urteils-gründen allein ersichtlicher!) materiell-rechtlicher Fehler liegt dar-in, dass das Gericht aus dem Schweigen des Angeklagten einenunerlaubten Schluss zog (Verstoß gegen Denkgesetze). Hier wirdalso nicht mehr beanstandet, dass das Schweigen überhaupt ver-wertet wird, sondern wie! Da es faktisch viele verschiedene Mög-lichkeiten gibt, warum ein Angeklagter keine Angaben macht,kann daraus auch kein – noch so schwaches – Indiz auf die Täter-schaft konstruiert werden. Dies kann somit als Verletzung der imSchuldspruch genannten materiell-rechtlichen Strafrechtsnorm(+ Denkfehler) mit der Sachrüge zusätzlich beanstandet werden.14

Übrigens: Eine Verfahrensrüge ist nur dann erfolgreich,wenn die den Verfahrensfehler begründendenSachverhaltsvoraussetzungen zur Überzeugungdes Revisionsgerichts feststehen. Zweifel indiesem Bereich wirken sich nicht zugunstendes Revisionsführers (oder des Angeklagten)aus, denn der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt,

14 Ähnlich liegt es wohl in allen angeblich doppelt relevanten Fehlern in Literatur undRechtsprechung, vgl. das bei M/G § 337/8 genannte Beispiel

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da materielle Rechtsnorm, nicht für Verfah-renstatsachen15 (und auch nicht für Tatsachen,die für Prozessvoraussetzun-gen/Verfahrenshindernisse von Bedeutungsind!).

Die Formulierung einer ordnungsgemäßen Verfahrensrügeist nicht ganz einfach, da hierfür gemäß § 344 II 2 StPOein bestimmter Tatsachenvortrag erforderlich ist. Einzel-heiten später !

Für die Zulässigkeit der Revision als solche genügt es, dass we-nigstens eine Rüge ordnungsgemäß formuliert wurde, unabhän-gig davon, ob sämtliche Rügen den Anforderungen des § 344 IIStPO entsprechen. Da die Formulierung der Sachrüge problem-los ist, sollte ein Verteidiger an der Zulässigkeit eigentlich nichtscheitern.(Beachte: Die Rügen, die nicht den Anforderungen des § 344 II 2StPO entsprechen, werden vom Revisionsgericht aber im Folgen-den nicht mehr beachtet!)

15 M/G § 337/12

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Aufgabenstellung: Fertigen Sie die Revisionsbegründung desStaatsanwalts (oder des Verteidigers)

Ein Muster findet sich bei Böhme/Fleck/Kroiß Nr. 42Im Folgenden werde ich mit der Begründung beginnen, Ausführungen zuden Anträgen erfolgen erst später.

A. Prozessvoraussetzungen/Verfahrenshindernisse

Das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen bzw. das Fehlen von Ver-fahrenshindernissen (Terminologie uneinheitlich, das Eine ist aber imGrunde das Spiegelbild des Anderen) prüft das Revisionsgericht vonAmts wegen, also auch dann, wenn die Revisionsbegründungsschrifthierzu keine Rüge enthält. Voraussetzung für diese Prüfung durch dasRevisionsgericht ist allerdings das Vorliegen zumindest einer zulässi-gen Rüge (also z.B. der allgemeinen Sachrüge).

Achtung: Dies gilt unangefochten für solche Prozesshindernis-se/Verfahrensvoraussetzungen, die ein Befassungsverbot beinhalten(wie z.B. Vorliegen einer zulässigen Anklage/Eröffnungsbeschluss,Verhandlungsfähigkeit, Anwendbarkeit deutschen Strafrechts u.ä.).Liegt „nur“ ein Bestrafungsverbot vor (z.B. fehlender oder zurückge-nommener Strafantrag, Verjährung u.a.), ist nach M/G (aber sehr str.!)eine Berücksichtigung durch das Revisionsgericht nur auf die Verfah-rensrüge hin zulässig.16

Falls eine Klausur ein Verfahrenshindernis enthält (was nicht immerder Fall ist!), so sollten Sie dieses dennoch in Ihrer Revisionsbegrün-dungsschrift erwähnen. Es empfiehlt sich folgende Formulierung:

„Ohne dass es einer Rüge bedarf, weise ich auf das Vorliegen fol-genden von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshin-dernisses hin: ...“

(Beachten Sie, dass die Formulierung dieser „Rüge“ nicht den Anforde-rungen des § 344 II 2 StPO entsprechen muss. D.h., eine Tatsachen-schilderung ist nicht erforderlich, Sie können sofort das rechtlicheProblem erörtern.)

Hier einige wichtige Verfahrenshindernisse:

I. Mängel bei der sachlichen Zuständigkeit

1. Gericht niedriger Ordnung hat zu Unrecht entschieden

16 M/G § 337/6; Einl. 143 ff = MM!

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z.B.:Strafrichter verurteilt wegen eines Verbrechens (Verstoß gegen §25 GVG)

Strafrichter/Schöffengericht/Kleine Strafkammer verhängt mehrals 4 Jahre Freiheitsstrafe (Überschreitung der Strafgewalt des §24 II GVG)

Aufhebung des Urteils und Verweisung an das sach-lich zuständige Gericht gemäß § 355 StPO

(Wichtig:Für die Frage der sachlichen Unzuständigkeit ist entscheidend,ob der Tatrichter bei Erlass des Urteils zuständig war. SetzenSie also nicht Ihre eigene materiell-rechtliche Würdigung der Tatan die Stelle des Urteils! M/G § 338/32 ist insoweit missver-ständlich bzw. dürfte sich auf Ausnahmefälle beziehen.)

2. Gericht höherer Ordnung hat zu Unrecht entschieden

Die Entscheidung des höheren anstelle des niedrigeren Gerichtsist unschädlich (M/G § 338/32), vgl. § 269 StPO.

Wurde also in Ihrer Klausur vor dem Schöffengericht oder demLandgericht verhandelt, stellen Sie keinesfalls Überlegungen an,ob nicht etwa eine Verhandlung vor dem Strafrichter ausgereichthätte.Im Falle willkürlicher Verweisung an ein Gericht höherer Ord-nung oder willkürlicher Anklage/Eröffnung bei diesem höherenGericht liegt allerdings doch ein revisibler Fehler vor. Streitig istdabei nur, ob dieser Fehler von Amts wegen (so BGHSt 44, 34,36; M/G § 338/32), oder nur auf Rüge hin (so BGH NJW 1999,42; 1995, 245) zu beachten ist. Sicherheitshalber wird daher einsorgfältiger Rechtsanwalt die Verfahrensrüge (mit Sachvortragnach § 344 II StPO) erheben (in der Klausur können Sie dasRechtsproblem dann im Hilfsgutachten erläutern).

Beachte:Verstöße gegen die örtliche und funktionelle Zuständigkeitwerden vom Revisionsgericht nicht von Amts wegen geprüft. Eshandelt sich um absolute Revisionsgründe gemäß §338 Nr. 4StPO, die mit einer Verfahrensrüge (Anforderungen des § 344 II2 StPO beachten) geltend zu machen sind (str.).

II. Fehlender/unwirksamer Strafantrag und keine Bejahung des beson-deren öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft

III. Verjährung

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IV. Fehlende bzw. unwirksame Anklage

Eine unwirksame Anklage dürfte in Ihren Klausuren wohlkaum vorkommen. Mängel der Anklage führen nämlichnur dann zur Unwirksamkeit, wenn sie so gravierend sind(z.B. Fehlen von Tatzeit und Tatort), dass unklar bleibt,welche prozessuale Tat dem Angeklagten zur Last gelegtwird, also ein sogenannter Mangel bei der „Umgrenzungs-funktion“ der Anklage vorliegt (bgl. M/G § 200/27). BloßeUngenauigkeiten und kleinere Fehler (sog. Mangel bei der„Informationsfunktion“ der Anklage) machen eine Anklagenicht unwirksam.

Das Fehlen einer Anklage kann in Klausuren durchaus re-levant sein. Meist fehlt dann nicht insgesamt eine Anklage,vielmehr verurteilt das Gericht wegen einer (weiteren) pro-zessualen Tat, die nicht Gegenstand der Anklage war.(Typischer Referendarsfehler:Diese Konstellation wird häufig rechtlich falsch eingeord-net. Die meisten Referendare formulieren hier eine Verfah-rensrüge – zu den Verfahrensrügen siehe unten B – undrügen die Verletzung von § 266 StPO. Das ist aber nichtrichtig! Verletzt ist der Anklagegrundsatz gemäß § 151StPO. Dies stellt ein von Amts wegen zu berücksichtigen-des Verfahrenshindernis dar.)

V. Fehlender bzw. unwirksamer EröffnungsbeschlussVgl. dazu M/G § 203/4; Wankel/Demmel, Fallrep. Rn. 234 ff

Die Existenz eines – die abgeurteilte prozessuale Tat erfassenden - Er-öffnungsbeschlusses ist Verfahrensvoraussetzung (und damit in derRevisionsinstanz von Amts wegen zu beachten).

Nach h.M. kann jedoch – bis zum Urteilserlass – der fehlende bzw. feh-lerhafte und deswegen unwirksame Eröffnungsbeschluss nachgeholtwerden.17 In der Berufungsinstanz ist dies nicht mehr möglich.18 DieZulässigkeit der Nachholung ist aber sehr strittig (M/G a.a.O. ist da-gegen!).

Folge in der Revisionsinstanz bei Fehlen/Unwirksamkeit des Eröff-nungsbeschlusses ist die Einstellung des Verfahrens nach §§ 355, 260III StPO.

17 Achtung: nur in der Besetzung des Gerichts außerhalb der Hauptverhandlung, d.h. bei„kleiner Besetzung“ in der HV für diesen Beschluss alle drei Richter der großen Kammer amLandgericht, BGH NJW 2006, 24018 M/G § 203/4

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VI. Strafklageverbrauch

Das Vorliegen von Verfahrenshindernissen hat grundsätzlich die Ein-stellung des Verfahrens gemäß §§ 354 I, 260 III StPO durch das Revisi-onsgericht zur Folge (Ausnahme: Zuständigkeitsfehler, die zur Aufhe-bung und Verweisung an das zuständige Gericht führen).

VII. Besonderheiten bei der Revision gegen ein Berufungsurteil

Bei Einlegung der Revision gegen ein Berufungsurteil ist ausschließ-lich dieses und nicht die Entscheidung der ersten Instanz Gegenstandder Untersuchung. Dabei muss das Revisionsgericht folgendes vonAmts wegen prüfen:

Zulässigkeit der Berufung

War die Berufung unzulässig, fehlte es dort an einerSachurteilsvoraussetzung, so dass schon kein Berufungs-urteil hätte ergehen können.Folge:

- Aufhebung des Berufungsurteils- Verwerfung der Berufung als unzulässig

Ersturteil wird wiederhergestellt. Evtl. ist aber § 358II StPO zu beachten.

Verstöße gegen das Verschlechterungsverbot (§ 331 StPO) über-prüft das Revisionsgericht ebenfalls von Amts wegen.

B. Formulierung der Verfahrensrügen

Dieser Teil wird üblicherweise mit der Formulierung „Ich rüge die Ver-letzung formellen Rechts“ eingeleitet.

Im folgenden sind die einzelnen Verfahrensrügen jeweils getrennt dar-zustellen. Ich empfehle folgendes dreigeteilte Aufbauschema (veran-schaulicht an einem Beispiel):

Ich rüge die Verletzung des § 265 I StPO.

a. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legte dem An-geklagten einen Diebstahl gemäß § 242 StGB zur Last.

Beweis: Anklage vom 01.03.06Eröffnungsbeschluss vom 14.03.06

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Das Gericht verurteilte den Angeklagten wegen Unterschlagung gemäß § 246StGB.

Beweis: Urteilsgründe

Dabei hat es den Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht auf die Verän-derung des rechtlichen Gesichtspunktes hingewiesen.

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung vom 01.04.06

b. Damit hat das Gericht § 265 I StPO verletzt. Nach § 265 StPO darf die Ver-urteilung wegen eines anderen als des in der zugelassenen Anklage aufge-führten Strafgesetzes nur nach einem entsprechenden Hinweis des Gerichtsin der Hauptverhandlung erfolgen. Das Gericht hätte daher den Angeklagtendarauf hinweisen müssen, dass auch eine Verurteilung wegen Unterschla-gung in Betracht kommt.

c. Das Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler, § 337 StPO. Hätte das Ge-richt einen entsprechenden rechtlichen Hinweis erteilt, hätte sich der Ange-klagte gegen den rechtlich veränderten Vorwurf der Unterschlagung verteidi-gen können und das Urteil wäre für den Angeklagten möglicherweise günsti-ger ausgefallen.

Erläuterungen:

I. Angabe der Tatsachen, die den Verfahrensfehler enthalten(§ 344 II 2 StPO)

Der Revisionsführer muss einen bestimmten Sachverhalt vortragen,aus dem sich der Verfahrensfehler ergibt. Diese Sachverhaltsschilde-rung enthält keine rechtliche Würdigung. Sie muss so vollständig undgenau sein, dass das Revisionsgericht allein aufgrund Ihres Sachvor-trags in der Lage ist, zu prüfen, ob ein Verfahrensfehler vorliegt. DerRevisionsführer sollte hinsichtlich der Genauigkeit des Tatsachenvor-trags lieber zu viel als zu wenig schreiben. Insbesondere sind Bezug-nahmen auf außerhalb der Revisionsbegründung liegende Schriftstü-cke (auch Aktenteile oder das Protokoll u.ä.) nicht erlaubt.19

In obigem Fall wäre zum Beispiel folgender „Sachvortrag“ völlig unzu-reichend:

a. Das Gericht hat den Angeklagten in der Hauptverhandlungnicht auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts hin-gewiesen.

An sich brauchen Anträge nur dann im Wortlaut wiedergegeben zuwerden, wenn es gerade auf ihn ankommt. Es ist jedoch zu empfehlen,zur Vermeidung von Unklarheiten in jedem Fall Antrag und Beschlusswörtlich anzuführen.

19 BGH NJW 2006, 457 und stets

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Beispiel:

Ich rüge die Verletzung des § 250 S. 2 StPO

a) Der Vorsitzende ordnete in der Hauptverhandlung die Verlesung des ärztli-chen Attestes des Dr. Müller über die Verletzungen des Zeugen Herzner an.Der Verteidiger widersetzte sich der Verlesung. Daraufhin erließ das Gerichtfolgenden Beschluss:

„Das ärztliche Attest des Dr. Müller vom 12.03.06 über die Verletzungen desZeugen Herzner ist gemäß § 256 StPO zu verlesen."

Sodann wurde das Attest des Dr. Müller verlesen.

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung

Der Angeklagte wurde auf der Grundlage dieses Attestes wegen schwererKörperverletzung gemäß § 226 StGB verurteilt.

Beweis: Urteilsgründe

b) Damit hat das Gericht gegen § 250 S. 2 StPO verstoßen. Eine Verlesung desärztlichen Zeugnisses nach § 256 StPO war nicht zulässig, weil .....

c) Das Urteil beruht auf dem Fehler, § 337 StPO. Wäre der Arzt persönlich ver-nommen worden, hätte das Gericht möglicherweise die Verletzungen andersbeurteilt und der Angeklagte wäre nicht wegen schwerer Körperverletzungverurteilt worden.

Unzulässigkeit der Protokollrüge

Unzulässig ist die sogenannte Protokollrüge. Mit der Protokollrüge wird letzt-lich nur beanstandet, dass das Protokoll unrichtig ist. Auf der bloßen Un-richtigkeit des Protokolls kann das Urteil aber nicht beruhen. Vielmehr be-ruht das Urteil ausschließlich auf dem Ergebnis der Hauptverhandlung (vgl.§ 261 StPO).

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Beispiel:

Falsch:

„Das Protokoll enthält keinen Hinweis darauf, ob dem Angeklagten das letzte Wortgewährt wurde.“

Richtig:

„Nachdem der Staatsanwalt seinen Schlussvortrag gehalten hatte, zog sich das Ge-richt zur Beratung zurück und verkündete anschließend das Urteil. Dem Angeklag-ten wurde nicht das letzte Wort gewährt.

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung vom ...“

Zur Vermeidung einer unzulässigen Protokollrüge empfiehlt es sich, bei derTatsachenschilderung jeden Hinweis auf das Protokoll zu unterlassen. Un-bedingt zu vermeiden sind daher Formulierungen wie „Ausweislich des Pro-tokolls ...“ oder „Nach dem Inhalt des Protokolls ...“.

Unzulässigkeit bedingter Rügen

Die Erhebung einer Rüge darf nicht mit einer Bedingung verbunden werden,also insbesondere ist die hilfsweise Erhebung einer Rüge unzulässig. Wich-tig: Im Unterschied zur Regelung bei sonstigen Prozesshandlungen sind alsoauch innerprozessuale Bedingungen nicht zulässig.

II. Benennung der Beweise

Zwar verpflichtet § 344 II 2 StPO den Revisionsführer nur, den Verfahrens-fehler enthaltenden Sachvortrag vollständig zu formulieren. Allerdings ist esüblich, (ähnlich wie im Zivilrecht) für die Behauptung jeweils Beweis anzu-bieten und zwar jeweils abschnittsweise das geeignete Beweismittel, nicht,wie im Böhme/Fleck/Kroiß empfohlen unter „b“ als „Sammelsurium“ amEnde des Sachvortrages. Dafür genügt es, das Beweismittel (meist handelt essich um das Hauptverhandlungsprotokoll) lediglich zu benennen. Also:

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung vom ...

Oder

Beweis: Urteilsgründe, S. ...

Oder

Beweis: Eröffnungsbeschluss vom ...

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Eine Wiedergabe des Inhalts des Beweismittels ist also nicht erforderlich !20

Das Protokoll der Hauptverhandlung hat für die Revision eine entscheidendeBedeutung. Denn Beweisgrundlage ist für das Revisionsgericht in erster Li-nie das Sitzungsprotokoll, im übrigen gilt das Freibeweisverfahren (Revisi-onsgericht ist an die Beweisvorschriften der StPO nicht gebunden, sondernkann sich zum Beweis beliebiger Mittel bedienen).

Zu beachten ist, dass für Verfahrensfehler, die wesentlichen Förmlichkei-ten (vgl. § 273 I StPO) betreffen, die unwiderlegliche Beweiskraft des Proto-kolls gemäß § 274 StPO gilt (vgl. dazu M/G § 274/1 ff). Das bedeutet, dassdie Einhaltung bzw. Nichteinhaltung wesentlicher Förmlichkeiten aus-schließlich durch das Sitzungsprotokoll bewiesen werden kann. Das Proto-koll hat insoweit

Positive Beweiskraft: die im Protokoll beurkundeten wesentlichenFörmlichkeiten der Hauptverhandlung geltenals geschehen, selbst wenn sie nicht stattge-funden haben.

Negative Beweiskraft: nicht protokollierte wesentliche Förmlichkei-ten gelten als nicht geschehen, selbst wenn inder Hauptverhandlung das Gegenteil der Fallwar.

Die Beweiskraft des Protokolls ist eine absolute. Sie kann nicht im Wege desFreibeweisverfahrens entkräftet werden.

Was wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens sind, können Sie der Kom-mentierung bei M/G zu § 273/7 ff und § 274/8 ff entnehmen. Beispiele:

Verlesung des Anklagesatzes, § 243 III 1 StPO Letztes Wort des Angeklagten, § 258 II StPO Angaben über Öffentlichkeit der Verhandlung, §§ 169 ff GVG Belehrung über Zeugnisverweigerungsrecht, § 52 III StPO Inhalt der Urteilsformel, § 268 II 1 StPO Erhebung von Beweisen

Der Inhalt der nach § 273 II StPO protokollierten Aussagen von Zeugen undSachverständigen wird nicht von der absoluten Beweiskraft des Protokollserfasst. Insoweit sind bei einem Widerspruch von Protokoll und Urteil dieUrteilsgründe maßgeblich (M/G § 274/10). Das Wortprotokoll nach § 273 IIIStPO unterliegt dagegen der Beweiskraft des Protokolls.

20 Ich rate ab, der Vorgehensweise von Mutzbauer, Strafprozessuale Revision, zu folgen.Statt einfach (z.B.) das Hauptverhandlungsprotokoll als Beweismittel anzuführen, formuliertMutzbauer wie folgt:„ Dieser Verfahrensgang ergibt sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll vom ..., das inso-fern folgenden Eintrag enthält: ... (Wiedergabe der Sitzungsniederschrift).“

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Beachten Sie, dass die absolute Beweiskraft nach § 274 StPO nur für dasHauptverhandlungsprotokoll gilt, nicht dagegen für Protokolle über richterli-che Untersuchungshandlungen außerhalb der Hauptverhandlung. Zwar istauch insoweit das Protokoll als Beweismittel verwertbar, es kann jedochdurch andere Beweismittel widerlegt werden.(M/G § 274/8).

Widersprüche zwischen Protokoll und Urteil:

Für den Beweis wesentlicher Förmlichkeiten der Hauptverhandlung istallein das Sitzungsprotokoll maßgeblich, auch wenn das Urteil hierzuabweichende Angaben enthält.z.B.: Protokoll: Zeuge nicht beeidigt

Urteil: Zeuge beeidigt

Bei Abweichungen zwischen Urteilsformel im schriftlichen Urteil undder Sitzungsniederschrift ist die Sitzungsniederschrift maßgeblich.

Im Urteil wird eine Urkunde/Zeugenaussage (usw.) als Beweismittelverwertet, obwohl dieses nach dem Protokoll gar nicht in die Haupt-verhandlung eingeführt worden war.z.B.:Gericht verwertet in den schriftlichen Urteilsgründen zu Lasten desAngeklagten dessen Vorstrafen. Aus dem Hauptverhandlungsprotokolllässt sich nicht entnehmen, dass die Vorstrafen des Angeklagten in ir-gendeiner Form, etwa durch Verlesung des Bundeszentralregisteraus-zugs, in die Hauptverhandlung eingeführt wurden.

Verstoß gegen § 261 StPO, bewiesen durch die negativeBeweiskraft des Protokolls

Wegfall der Beweiskraft (M/G § 274/15):

Protokoll enthält Widersprüche Protokoll enthält eine offensichtliche Lücke Eine der beiden Urkundspersonen distanziert sich nach Fertig-

stellung (§271 I StPO) vom Protokollinhalt. Protokoll verliert in-soweit Beweiskraft (Folge: Freibeweis). Aber: Distanzierung istunbeachtlich, wenn sie einer bereits erhobenen Verfahrensrüge,die sich auf den Protokollinhalt stützt, nachträglich den Bodenentziehen würde.

Protokollberichtigung: Eine Protokollberichtigung muss vomVorsitzenden und Protokollführer gemeinsam vorgenommenwerden. Dies ist unbeschränkt zulässig. Der neue Inhalt desProtokolls unterliegt dann der Beweisregel des § 274 StPO. Aber:Einer Berichtigung steht zwar nicht entgegen, dass ein Beteilig-ter bereits Revision eingelegt hat. Die Berichtigung ist jedochnicht geeignet, einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge den Bo-den zu entziehen.Achtung: In einem obiter dictum hat ein Senat des BGH ange-deutet, dass er diese bislang geltende Rechtsprechung auf-

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zugeben gedenkt. Hier wird wohl die weitere Entwicklung abzu-warten sein21 (klausurträchtig!).

Nachweis der Fälschung, § 274 S. 2 StPO. Eine Fälschung liegtaber nicht schon dann vor, wenn das Protokoll falsch ist, son-dern, wenn es bewusst und absichtlich falsche Tatsachen wie-dergibt. Es muss also hier auch die Absicht des Fälschendenbewiesen werden! (Kommt weder in der Praxis, noch in der Klau-sur in relevantem Maße vor!)

Abhandenkommen des Protokolls, dann ebenfalls Freibeweis (a-ber wenig klausurrelevant, genau wie die Fälschung!)

III. Rechtliche Auseinandersetzung mit der gesetzlichenNorm, gegen die das Gericht verstoßen hat (§ 337 II StPO)

Hier liegt in der Revisionsklausur der Schwerpunkt. Achten Sie darauf,dass Sie sich mit den Rechtsproblemen ausführlich auseinandersetzenund demgemäss auch ausführlich argumentieren. Der Hinweis auf ei-ne Kommentarfundstelle ist keinesfalls ausreichend. Punkte sammelnSie allein durch die Argumentation!

Die absoluten Revisionsgründe (§ 338 StPO)

Die Bedeutung der absoluten Revisionsgründe liegt darin, dass bei denin § 338 StPO aufgezählten Verfahrensfehlern unwiderleglich vermutetwird, dass das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Obwohl § 338StPO also letztlich nur die „Beruhensfrage“ regelt, ist das Vorliegen ei-nes absoluten Revisionsgrundes gleichwohl bei der Frage, gegen wel-che Norm das Gericht verstoßen hat (§ 337 II StPO), zu prüfen.

§ 338 Nr. 1 StPO: Fehlerhafte Besetzung des Gerichts

§ 338 Nr. 2 StPO: Mitwirkung eines kraft Gesetzes aus-geschlossenen Richters

§ 338 Nr. 3 StPO: Mitwirkung eines abgelehnten Rich-ters

§ 338 Nr. 4 StPO: Unzuständigkeit des Gerichts

§ 338 Nr. 5 StPO: Abwesenheit einer Person, deren An-wesenheit das Gesetz zwingend vor-schreibt

21 BGH wistra 2006, 70 f, aber jetzt auch: BGH NStZ 2005, 281 und NStZ 2006, 181

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§ 338 Nr. 6 StPO: Verletzung der Vorschriften über dieÖffentlichkeit des Verfahrens

§ 338 Nr. 7 StPO: Fehlende/verspätete Urteilsbegrün-dung

(§338 Nr. 8 StPO: Unzulässige Beschränkung der Vertei-digung: !!! Nach h.M. enthält Nr. 8 kei-nen absoluten Revisionsgrund. Hiermuss also der Beruhensnachweis ge-führt werden.)Begründet wird dies unter Berufung aufdas Wort „wesentlicher“ Punkt. „We-sentlich“ i.S. dieser Norm ist jede Be-schränkung der Verteidigung (Achtung:nicht des Verteidigers!), auf der das Ur-teil beruhen kann (gleiche Argumentati-on erforderlich, wie bei § 337 StPO).

Einzelheiten zu den absoluten Revisionsgründen können den Lehr-büchern von Kroiß, Mutzbauer und Wankel entnommen werden.

Für die Klausur empfehle ich, bei jedem Verfahrensfehler, den Siegefunden haben, anhand von § 338 StPO zu überprüfen, ob es sichevtl. um einen absoluten Revisionsgrund handelt. Falls Sie dies be-jahen, könnte eine Rüge etwa wie folgt lauten:

Es liegt ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 5 StPO vor.22

1. Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten, dem der Vorwurf einesRaubes zur Last lag, fand vor der großen Strafkammer des LandgerichtsNürnberg-Fürth statt. Der Pflichtverteidiger des Angeklagten entferntesich nach seinem Schlussvortrag aus dem Sitzungssaal. Dem Angeklagtenwurde das letzte Wort in Abwesenheit seines Pflichtverteidigers gewährt.Auch die Verlesung der Urteilsformel und die Bekanntgabe der Urteils-gründe fand in Abwesenheit des Pflichtverteidigers statt.

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung vom 20.04.2004Anklageschrift vom 20.02.2004

2. Damit liegt ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO vor. DerVerteidiger des Angeklagten stellt eine Person dar, deren Anwesenheit dasGesetz vorschreibt. Denn nach § 140 I Nr. 1 und 2 StPO handelte es sichum einen Fall der notwendigen Verteidigung, so dass die Anwesenheit desPflichtverteidigers in der Hauptverhandlung unerlässlich war. Zwar be-gründet nur die Abwesenheit bei einem wesentlichen Teil der Hauptver-handlung die Revision. Die Gewährung des letzten Wortes und die Verle-sung der Urteilsformel stellen jedoch einen wesentlichen Teil der Haupt-verhandlung dar. Das Recht des letzten Wortes ist ein elementares Recht

22 Achtung: Es wäre ein Fehler, zu formulieren: „Ich rüge die Verletzung des § 338 Nr.5 StPO“

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des Angeklagten, das der Wahrung des rechtlichen Gehörs dient. Es ge-hört zum Inbegriff der Hauptverhandlung und muss auch bei der Urteils-findung berücksichtigt werden. Ebenso ist die Verlesung der Urteilsformeldem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung zuzurechnen. Die Urteils-formel nach § 268 II StPO enthält den eigentlichen Urteilsspruch. Er hatdaher für das Verfahren eine zentrale Bedeutung. Ohne Verkündung derFormel läge kein Urteil im Rechtssinne vor.

3. Nach § 338 Nr. 5 StPO wird unwiderleglich vermutet, dass das Urteil aufdem Verfahrensmangel beruht.

Es ist ratsam, sich für die Frage, ob ein absoluter Revisionsgrund vor-liegt, zunächst am Wortlaut des § 338 StPO zu orientieren (also: genauprüfen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen) und für Detail-fragen stets den Kommentar heranzuziehen.

Übrigens: Im Klausuren kommen absolute Revisionsgründe relativ sel-ten vor.

Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung

Die überwiegende Zahl der revisionsrechtlich relevanten Verfahrens-fehler geschehen in der Hauptverhandlung. Da das Protokoll derHauptverhandlung die primäre Nachweisquelle für diese Verfahrens-verstöße bildet, sollte das Hauptverhandlungsprotokoll chronologischauf Verfahrensfehler überprüft werden.

Ein wichtiges Hilfsmittel ist in diesem Zusammenhang der Kommen-tar! Bei Meyer-Goßner findet sich zu allen wichtigen Normen eineRandnummer mit dem Stichwort „Revision“.

1. Fehler im Zusammenhang mit § 243 StPO

1. Unterlassen der Verlesung des Anklagesatzes, § 243 III 1 StPO

Die Verlesung des Anklagesatzes ist eine wesentliche Förmlichkeitdes Verfahrens. Sie dient dazu, den Verfahrensbeteiligten (u.a.Schöffen!) den historischen Lebenssachverhalt, der dem Angeklag-ten zur Last gelegt wird, mitzuteilen. Ein Verstoß hiergegen be-gründet grundsätzlich die Revision. Nur ganz ausnahmsweise be-ruht das Urteil nicht auf dem Gesetzesverstoß, wenn bei einfacherSach- und Rechtslage davon ausgegangen werden kann, dass alleVerfahrensbeteiligten auch ohne Verlesen des Anklagesatzes denTatvorwurf erfassen können (M/G § 243/38; dies dürfte in IhrenKlausuren kaum der Fall sein).

Wird nicht nur der Anklagesatz, sondern die gesamte Anklage-schrift (einschließlich wesentlichen Ermittlungsergebnisses) verle-sen, so kann dies bei Beteiligung von Schöffen ein Revisionsgrund

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sein (Schöffen folgen dem Verfahrensgang evtl. nicht mehr unvor-eingenommen).

Belehrung vor Vernehmung des Angeklagten zur Sache, § 243IV S. 1 StPO

Anders als bei der Feststellung der Personalien (§ 243 II 2 StPO) istder Angeklagte vor der Vernehmung zur Sache über sein Schwei-gerecht zu belehren. Ein Verstoß gegen § 243 IV 1 StPO ist grund-sätzlich revisibel. Es handelt sich nicht um eine bloße Ordnungs-vorschrift (Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren so-wie des nemo-tenetur-Grundsatzes).

Das Urteil beruht aber nicht auf dem Verstoß, wenn der Angeklagteim Zeitpunkt seiner Aussage einen Verteidiger hatte oder seinSchweigerecht kannte.

Beachte:Fragen nach dem schulischen Werdegang und des wirtschaftlichenVerhältnissen gehören nicht zur Vernehmung zur Person, sondernzur Vernehmung zur Sache. Will das Gericht den Angeklagten hier-zu befragen, muss es ihn gemäß § 243 IV StPO belehren (M/G §243/12). Ein Verstoß hiergegen wäre jedoch mangels Beruhensnicht revisibel, insbesondere bei Fragen nach dem Einkommenu.a., wenn anschließend eine Freiheitsstrafe verhängt wurde.

2. Verstoß gegen § 52 III StPO(kommt in Klausuren häufig vor)

Beispiel:

Ich rüge die Verletzung von § 52 III StPO.

a) In der Hauptverhandlung wurde die Zeugin Maria Müller zur Peron und zurSache vernommen. Wie ihre Angaben zur Person ergaben, ist sie die Verlobtedes Angeklagten. Das Gericht hat die Zeugin nicht über ihr Recht, das Zeug-nis zu verweigern, belehrt.

Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll vom 01.05.2006

Die Angeklagte wurde wegen Diebstahls verurteilt, wobei das Gericht die Aus-sage der Zeugin Müller zu Lasten des Angeklagten verwertete, indem es aus-führt: „Der Angeklagte wird schließlich auch durch die Aussage der ZeuginMüller überführt.“

Beweis: Urteil vom 01.05.2006

b) Damit hat das Gericht gegen § 52 III StPO verstoßen. Gemäß § 52 I Nr. 1StPO war die Zeugin Müller als Verlobte des Angeklagten berechtigt, dasZeugnis zu verweigern. Über dieses Recht hätte sie gemäß § 52 III StPO be-lehrt werden müssen. Ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht führt dazu,dass die Aussage nicht verwertet werden darf. Der Angeklagte kann sich auchauf diesen Verstoß berufen, da § 52 StPO nicht nur auf die Konfliktsituationder Zeugin Rücksicht nehmen, sondern auch den Rechtskreis des Angeklag-

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ten schützen will. Geschützt sind die Familienbande, die den Angeklagten mitseiner Verlobten verbinden.

c) Das Urteil beruht auch auf dem Verfahrensfehler, § 337 StPO. Hätte das Ge-richt die Zeugin belehrt, hätte sie möglicherweise von ihrem Zeugnisverweige-rungsrecht Gebrauch bemacht und das Gericht hätte nicht die Überzeugungvon der Schuld des Angeklagten gewonnen.

Beachte:

Auch ein Mitangeklagter kann sich auf einen Verstoß gegen § 52 IIIStPO berufen, wenn die Aussage des Angehörigen (des anderen Mitan-geklagten) gegen ihn verwendet wurde (bgl. M/G § 52/11; § 337/18).

3. Verstoß gegen § 55 StPO

Nach § 55 StPO braucht sich kein Zeuge selbst zu belasten. Gemäß § 55II StPO ist der Zeuge über sein Auskunftsverweigerungsrecht zu belehren.§ 55 StPO dient aber allein dem Schutz des Zeugen. Da der Rechtskreisdes Angeklagten nicht betroffen ist, kann er einen Verstoß gegen die Be-lehrungspflicht nicht mit der Revision rügen.23

4. Verstoß gegen die Vereidigungsvorschriften, §§ 59 ff StPO

a) Verstoß gegen § 59 StPO

Nach der Änderung der Vereidigungsnormen gibt es den Grund-satz der regelmäßigen Vereidigung jedes Zeugen im Strafverfah-ren nicht mehr. Aber das Gericht muss ein Ermessen ausüben,ob es einen Zeugen vereidigt oder nicht, sofern kein Vereidi-gungsverbot nach § 60 StPO besteht. Allerdings kann nach An-sicht des BGH in einer neueren Entscheidung24 aus dem Fehleneines entsprechenden Vermerks im Protokoll der Hauptverhand-lung nicht geschlossen werden, dass dieses Ermessen nichtausgeübt worden wäre. Vielmehr muß nur bei einem auf Verei-digung gerichteten Antrag eines Prozessbeteiligten ausdrücklichund im Protokoll festgehalten über die Vereidigung auch ent-schieden werden.Gerügt wird dann ein Verstoß gegen § 59 StPO. Beim Beruhenist auszuführen, dass, wenn das Gericht sich hierüber Gedan-ken gemacht hätte und Ermessen ausgeübt hätte, es möglicher-weise diese Vereidigung vorgenommen hätte und dann entweder– je nachdem, ob es sich um einen Belastungszeugen oder einenEntlastungszeugen handelte – dieser von seiner ursprünglichenAussage abgewichen wäre oder ihm ein höherer Beweiswert zu-gekommen wäre.

23 Der Angeklagte kann nur solche Verfahrensfehler rügen, die ihn selbst beschwerden (M/G§ 337/18). Ausreichend ist aber eine mittelbare Beschwer (Beispiele bei M/G § 337/18).24 BGH

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Wichtig:Auf einen Verstoß gegen § 59 StPO konnte nach frühererRechtslage die Revision auch gestützt werden, wenn zuvor keineEntscheidung des Gerichts gemäß § 238 II StPO herbeigeführtworden ist (M/G § 59/13). Nunmehr – da der BGH für die Not-wendigkeit einer ausdrücklichen Entscheidung über die Vereidi-gung – einen Antrag voraussetzt, hat sich wohl auch dies geän-dert: Ein Verstoß gegen § 59 StPO in Form der Nichtverbeschei-dung trotz Antrag bedarf wohl der Anrufung des Gerichts nach §238 II StPO um in der Revision nicht verwirkt zu sein!25

Exkurs: Rügeverlust durch Nichtanrufung des Gerichts, § 238 IIStPO

Trifft der Vorsitzende allein eine Verfügung (also: kein Gerichtsbe-schluss), sollte in der Klausur stets § 238 II StPO geprüft werden. DieZulässigkeit einer Verfahrensrüge setzt grundsätzlich voraus, dass derBeschwerdeführer von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 II StPOGebrauch gemacht hat. Ansonsten verwirkt er insoweit das Recht aufRevision. Die Herbeiführung eines Beschlusses nach § 238 II StPO istjedoch dann nicht erforderlich, wenn der Vorsitzende eine von Amtswegen vorzunehmende unverzichtbare Handlung unterlassen hat (vgl.M/G § 238/22).

Für einen Angeklagten, der ohne Verteidiger ist, gilt dies jedochnicht!

Auch Anordnungen des Strafrichters (§ 25 GVG) müssen zum Er-halt der Revisionsrüge nach § 238 II StPO beanstandet werden(M/G § 238/18; str.).

In der Klausur bereitet die Frage der Erforderlichkeit eines Beschlus-ses nach § 238 II StPO keine Schwierigkeiten, da der Kommentar hier-zu stets Stellung nimmt (Stichwort „Revision“).

Halten Sie in der Klausur einen Zwischenrechtsbehelf nach § 238 IIStPO für erforderlich, muss im Rahmen Ihrer Sachverhaltsschilderung(§344 II 2 StPO) deutlich werden, dass der Beschwerdeführer einenGerichtsbeschluss herbeigeführt hat.

Beispiel zu Verstoß gegen § 59 StPO:

Ich rüge die Verletzung des § 59 StPO.

a) Der Belastungszeuge Klein wurde in der Hauptverhandlung zurPerson und zur Sache vernommen.

25 BGH BStZ 2006, 234, 235

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Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll

Dabei gab er sein Alter zutreffend mit 17 Jahren an.

Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll (als Frei-beweismittel

Mit Verfügung des Vorsitzenden blieb der Zeuge unter Berufungauf § 60 Nr. 1 StPO unbeeidigt. Die Verteidigung rügte dieses Vor-gehen und beantragte eine Gerichtsentscheidung über diese Fra-ge, die jedoch nicht erging.

Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll

Das Gericht verurteilte den Angeklagten, wobei es sein Urteil auchauf die Aussage des Zeugen Klein stützte.

Beweis: Urteilsgründe

b) Damit hat das Gericht § 59 StPO verletzt. Ein Vereidigungsverbotdes § 60 Nr. 1 StPO bestand nicht, da dieses für den 17jährigenZeugen nicht gilt.Der Angeklagte kann die Verletzung von § 59 StPO rügen, obwohler keine Entscheidung des Gerichts nach § 238 II StPO herbeige-führt hat. Zwar ist diese Norm auf Fälle der fehlerhaften Nichtver-eidigung nach § 60 StPO grundsätzlich anwendbar (vgl. M/G §60/31), auch kann dahingestellt bleiben, ob auch Entscheidungendes Strafrichters nach § 238 II StPO beanstandet werden müssen,um die Revisionsrüge zu erhalten. Jedenfalls muss der Beschwer-deführer dann keinen Gerichtsbeschluss herbeiführen, wenn er alsAngeklagter ohne Verteidiger ist und ihn der Vorsitzende auchnicht auf die Möglichkeit der Beanstandung hingewiesen hat.

c) Das Urteil beruht auf dem Fehler, § 337 StPO. Hätte das Gerichtgesehen, dass kein Vereidigungsverbot besteht, hätte es ein Er-messen hierüber ausgeübt und möglicherweise den Zeugen dochvereidigt. Dann aber hätte dieser Zeuge möglicherweise seine Aus-sage nicht mehr aufrechterhalten und den Angeklagten nicht(mehr) belastet.

(Handelte es sich nicht um einen Belastungszeugen, sondern um ei-nen Entlastungszeugen, so wäre wie folgt zu argumentieren:

c) Das Urteil beruht auf dem Fehler, § 337 StPO. … Dann aber hättedie unter Eid abgegebene Zeugenaussage einen höheren Beweiswertgehabt und das Gericht hätte möglicherweise dieser entlastenden Aus-sage geglaubt und den Angeklagten nicht verurteilt.)

Beachte: Der Eid hat zwei Funktionen/Zwecke, nämlich zum einen,den Zeugen zur wahrheitsgemäßen Aussage anzuhalten (u.U. auch ei-ne Berichtigung der bisherigen Aussage zu erreichen) und zum ande-ren einen höheren Beweiswert herbeizuführen.Je nach Lage des Einzelfalles ist beim Beruhen auf den einen oder an-deren Zweck abzustellen.

Beispiel für Beruhensausschluss:Entlastungszeuge wurde fälschlich vereidigt, das Gericht glaubte ihmdennoch nicht und verurteilte den Angeklagten.

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Hier kann sich der Angeklagte nicht mit Erfolg auf den Fehler stüt-zen, denn ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler ist ausgeschlos-sen. Wenn das Gericht der eidlichen Aussage schon nicht Glaubenschenkte, hätte es das bei geringerem Beweiswert erst Recht nicht ge-tan. Wenn der Zeuge selbst bei Eidesabnahme seine Aussage nichtänderte, so hätte er dies ohne (Nach-) Eid erst recht nicht getan. Folg-lich wäre bei korrektem Vorgehen des Gerichts (Unterlassen der Eide-sabnahme) auch kein anderes Ergebnis im Urteil zu erwarten gewe-sen.

b) Verstoß gegen das Vereidigungsverbot, § 60 StPO

Zu § 60 Nr. 2 StPO: Ein Vereidigungsverbot besteht nur bezüg-lich solcher Taten, die außerhalb der Hauptverhandlung began-gen wurden. Nur dann besteht die Zwangslage des Zeugen, ent-weder einen Meineid zu leisten oder eine Straftat offenbaren zumüssen (M/G § 60/20). Hat der Zeuge dagegen erst in derHauptverhandlung falsch ausgesagt, findet § 60 Nr. 2 StPO kei-ne Anwendung.

Beispiel:

Ich rüge die Verletzung des § 60 StPO.

a) In der Hauptverhandlung vom 17.02.2006 wurde der Entlastungs-zeuge Max Mutzer vernommen. Im Anschluss an seine Verneh-mung verfügte der Vorsitzende, dass der Zeuge nicht zu vereidigenist. Auf Widerspruch des Verteidigers des Angeklagten fasste dasGericht folgenden Beschluss:

„Die Vereidigung des Zeugen Mutzer unterbleibt gemäß § 60 Nr. 2StPO, da der Zeuge falsch ausgesagt hat, um den Angeklagten zubegünstigen.“

Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll vom17.02.2006

Das Gericht verurteilte den Angeklagten wegen Betruges, wobei esin den Gründen ausführte, dass die Aussage des Entlastungszeu-gen Mutzer nicht glaubhaft sei.

Beweis: Urteilsgründe, S. ...

b) Damit hat das Gericht § 60 StPO verletzt. ...

c) Das Urteil beruht auch auf diesem Verstoß, § 337 StPO. Hätte dasGericht den Zeugen vereidigt, hätte es seiner Aussage möglicher-weise einen höheren Beweiswert beigemessen und der Angeklagtewäre freigesprochen worden.

Verfügt der Vorsitzende unter Verstoß gegen § 60 StPO die Ver-eidigung des Zeugen, setzt eine Revisionsrüge nicht voraus, dassder Beschwerdeführer die Entscheidung des Gerichts nach § 238II StPO herbeigeführt hat (M/G § 60/31).

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Geht der Vorsitzende dagegen zu Unrecht davon aus, dass einFall des § 60 StPO vorliegt und vereidigt er den Zeugen nicht, somuss für eine erfolgreiche Revision vom Zwischenrechtsbehelfnach § 238 II StPO Gebrauch gemacht werden (M/G § 60/31).

c) Verstoß gegen die Belehrung über das Eidesverweigerungsrecht ge-mäß § 61 StPO

Personen, denen ein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52StPO zusteht, können die Vereidigung gemäß § 61 StPO verwei-gern. Darüber sind sie gemäß § 61 HS. 2 StPO zu belehren. So-fern sich das Urteil auf die Aussage stützt, begründet eine unter-lassene Belehrung die Revision.

6. Verfahrensverstöße im Bereich des Urkundsbeweises, §§ 249 ff StPO

Die Beherrschung der Vorschriften zum Urkundsbeweis ist für Revisi-onsklausuren unerlässlich.

Überblick über die wesentlichsten Fragen beim Urkundsbeweis:1. Rechtsgrundlage für die Zulässigkeit des Urkundsbeweises ist nach

h.M. § 249 StPO, obwohl er eigentlich vom Wortlaut her nur dasVerfahren, d.h. das „wie“ der Beweisführung regelt. (M/G weistdarauf hin, dass deswegen das „ob“ sich nach §§ 244 II, III – V, 245StPO richtet. – wichtig ist dieser Streit aber für Sie in der Klausurwohl nicht!)

Der Urkundsbeweis bezieht sich auf die Ermittlung und Verwer-tung des gedanklichen Inhalts einer Urkunde.

Unterscheide daher den Urkundsbeweis vom Vorhalt aus einer Urkunde, dabei wird einem Angeklagten,

Zeugen oder Sachverständigen (Personalbeweismittel) beidessen Vernehmung etwas aus einer Urkunde vorgehal-ten, um Widersprüche oder Gedächtnislücken zu beseiti-gen. Der Vorhalt ist ein Vernehmungsbehelf, d.h. es wirdspäter nicht der Inhalt der vorgehaltenen Urkunde, son-dern die Reaktion des Personalbeweismittels auf denVorhalt im Urteil verwertet. Grundsätzlich ist jedwederVorhalt dabei erlaubt (bis zur Grenze der Täuschung desPersonalbeweismittels, weil z.B. der Vorhalt unzutreffendist). Im Zusammenhang mit Vorhalten werden daher wohlkaum revisible Fehler vorkommen.

Augenschein, dieser ist das zutreffend gewählte Beweis-mittel, wenn es nicht um die Ermittlung des gedanklichenInhalts der Urkunde, sondern um deren Zustandund/oder Aussehen geht.

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Beispiel: Gefälschter Wechsel

o Er ist in Augenschein zu nehmen, sofern es um die Frage geht, obder Wechsel gefälscht ist und

o Er ist als Urkunde zu verlesen, sofern es um die Ermittlung des inihm festgehaltenen Inhalts (Schadenshöhe etwa und Geschädigter)geht.

Wird also ein solcher Wechsel in der Hauptverhandlung nur(als Urkunde) verlesen und dann im Urteil festgestellt, dass ei-ne Fälschung vorlag, so kann entweder

Mit der Aufklärungsrüge gemäß § 244 II StPO gerügtwerden, dass der Augenschein unterblieb (, wenn ersich aufdrängte), oder

Ein Verstoß gegen § 261 StPO gerügt werden mit derBegründung, dass etwas im Urteil verwertet wurde, dasnicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden war.

Die Durchführung des Urkundsbeweises nach § 249 StPO ist generellerlaubt, es sei denn es findet sich eine Verbotsnorm.26

2. Verbotsnorm des § 250 S. 2 StPO

a) Nur nach einer M.M. ergibt sich aus § 250 s. 1 StPO der allge-meine Grundsatz, dass bei der Beweisaufnahme stets und nurdas sachnächste Beweismittel benutzt werden darf und Zeugenvom Hörensagen danach verboten seien. Nach h.M. steht § 250StPO deren Vernehmung gerade nicht entgegen. Vielmehr ist de-ren Vernehmung i.d.R. sogar nach § 244 II StPO geboten.27

b) Aus § 250 S. 2 StPO ergibt sich ein Verlesungsverbot, wenndurch diese Urkundsverlesung die Vernehmung eines Personal-beweismittels ersetzt werden soll. D.h. Ergänzung desselbendurch Urkundsverlesung bleibt erlaubt!

c) Verboten ist die Verlesung – dem Wortlaut der Vorschrift nach –von Protokollen über frühere Vernehmungen des Personalbe-weismittels, sowie anderer schriftlicher Erklärungen.Damit sind alle schriftlichen Äußerungen erfasst, die von vorne-herein in der Absicht verfasst wurden, zu Beweiszwecken zudienen (z.B. vor allem Strafanzeigen oder Erläuterungen zu Ver-nehmungen, aber eben auch echte Vernehmungsprotokolle). An-dere Schriftstücke, wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungenwerden dagegen von § 250 S. 2 StPO nicht erfasst und sind da-nach verlesbar.

d) Bei Rüge des Verstoßes gegen § 250 S. 2 StPO muss vorgetragenwerden, wer der Verfasser der Urkunde ist, von wem die schrift-liche Aussage stammt, ob ihr Verfasser in der Hauptverhand-lung persönlich vernommen wurde und, was die Urkunde inhalt-

26 M/G § 249/1; BGHSt 20. 160,16227 M/G § 250/3

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lich ergibt (, damit das Revisionsgericht prüfen kann, ob nichtdie Verlesung nach §§ 249, 256 StPO etwa zulässig war28).

3. Ausnahmen vom Verlesungsverbot des § 250 S. 2 StPO(die nachfolgend dargestellten Ausnahmen beseitigen nur dasVerlesungsverbot aus § 250 S. 2 StPO. Greift dagegen (auch) §252 StPO als Verbotsnorm ein, so können sie nicht weiterhelfen!)

I. Verlesung nach § 251 StPO (besonders häufig in Klausurenvorkommend!)o Abs. 1 der Norm bezieht sich auf nichtrichterliche Proto-

kolle, während Abs. 2 der Norm richterliche Protokollebetrifft.

o Bei Vorliegen eines Erlaubnistatbestands nach Abs. 1können aber auch richterliche Protokolle verlesen werden(Arg. aus dem Wort „auch“ in Abs. 2 und „erst-recht-Schluss“).

o Besonders wichtig (in Praxis und Klausur) ist der Aus-nahmefall, dass der Vernehmung des Personalbeweismit-tels ein Hindernis entgegensteht, das in absehbarer Zeitnicht behoben werden kann und zwar aus tatsächlichen,nicht aus rechtlichen Gründen.Der unbestimmte Rechtsbegriff der „absehbaren Zeit“ istdurch Abwägung der relevanten gegenläufigen Interessen,d.h. dem Interesse des Angeklagten an fairem Verfahrenund möglichst sicherer Sachverhaltsaufklärung und demInteresse des Staates an effektiver und möglichst be-schleunigter Strafverfolgung, zu bestimmen.Dabei sind die Umstände des Einzelfalles, insbesonderedie Bedeutung des zu ersetzenden Beweismittels für diegesamte Beweisaufnahme und die Schwere der Straftat,d.h. die Schwere der dem Angeklagten drohenden Rechts-folge zu berücksichtigen.29

Konkret muss also länger abgewartet werden, bevor verle-sen werden darf, wenn es sich um das einzige Beweismittelhandelt und dem Angeklagten eine hohe Strafe (lebenslan-ge Freiheitsstrafe etwa) droht, als wenn die Urkunde nureines unter vielen Beweismitteln ist und dem Angeklagtennur eine geringfügige Geldstrafe droht. Genaue Zeitspan-nen können hier generalisiert nicht angegeben werden. (Inder Klausur dürfen Sie aber durchaus auf eindeutig zuor-denbare Sachverhalte vertrauen!)

Wichtig: Die Tatsachen, aus denen sich die Verlesungs-voraussetzungen des § 251 StPO ergeben, sind – weil nichtfür Schuld und Straffrage von Relevanz – im Freibeweis-verfahren zu klären.

Beispiel:

28 M/G § 250/329 M/G 251/27

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Der Verteidiger beantragt, zur Frage, ob sich der Zeuge tatsächlich fürmehrere Jahre in Brasilien aufhält, dessen Mutter als Zeugin zu ladenund zu hören. Das Gericht lehnt dies mit dem Hinweis ab es habe tagszuvor bereits mit dieser Mutter telefoniert und entsprechende Aus-kunft erhalten.

Kein Rechtsfehler, da die aufzuklärende Frage im Freibeweis,also auch durch Telefonat mit der Mutter, aufgeklärt werdenkonnte.

o Formale Behandlung der Verlesung nach § 251 StPO

Gerichtsbeschluss Mit Begründung § 251 IV 2 StPO Bei richterlichen Protokollen Feststellung, ob ver-

eidigt und, wenn nein, Entscheidung ob weiterhinunvereidigt bleiben soll. (Auch ein Fehler bei die-ser formalen Behandlung kann mit der Revisiongerügt werden. Beachte aber, dass mangelndeAngabe eines Grundes dann keine erfolgreicheRüge rechtfertigt, wenn der Grund auch ohnediese Angabe durch das Gericht allen Verfah-rensbeteiligten offensichtlich war.30

II. Protokollverlesung nach § 253 StPO

o Bei Zeugen oder Sachverständigeno Lücke im Erinnerungsvermögen, d.h. nicht, wenn sich der

Zeuge oder Sachverständige überhaupt nicht mehr erin-nert

o oder Widerspruchsaufklärungo verlesbar dann das Protokoll über seine frühere Verneh-

mung.

Gegenbeispiel:

Polizeibeamter erinnert sich nur lückenhaft daran, was ihm der Ange-klagte bei dessen Vernehmung erzählt habe. Das Gericht überlegt, obes zur Lückenschließung gemäß § 253 I StPO das Protokoll dieserVernehmung verlesen darf.

Nein! Denn das ist allenfalls ein vom Zeugen gefertigtes Protokoll,nicht aber das (alleine von § 253 StPO betroffene) Protokoll über diefrühere Aussage des Zeugen.

o Verwertet wird dann aber nicht – wie beim Vorhalt – nurdie Reaktion des Zeugen auf die Verlesung, sondern der ver-lesene Urkundsinhalt selbst.

III. Protokollverlesung nach § 254 StPO

o Geständnis des Angeklagten in diesem Strafverfahren

30 M/G § 251/42

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o Oder Widerspruchsaufklärungo Richterliches Protokollo Vom Angeklagten stammende Erklärungen dürfen aberauch verlesen werden.31 Grund: Die Gewähr für die Richtig-keit der schriftlichen Niederlegung, die durch den Richter ge-wahrt wird, ist erst recht gegeben, wenn der Angeklagte dasSchreiben selbst verfasst hat.

IV. Verlesung von Urkunden nach § 256 StPO(wichtig vor allem für Blutalkoholgutachten, Rückrechnungund sonstige ärztliche Atteste!)

Verwertungsverbot nach § 252 StPO

o Ergänzung zu § 52 StPOo Betrifft nur Aussagen von Zeugen mit Zeugnisverweigerungs-

rechten nach §§ 52 ff StPO, nicht auch solche mit Auskunfts-verweigerungsrecht nach § 55 StPO.

o „Aussage“ vor der Hauptverhandlung ist nicht nur förmlicheVernehmung, sondern auch schriftliche Erklärung in Frage-bogen der Polizei, telefonische Befragungen und informatori-sche Befragungen. Nur Äußerungen aus freien Stücken oderBriefe (sehr str.!) werden nicht erfasst.Allerdings hat das BVerfG in einem obiter dictum geäußert,es tendiere dazu, auch Befragungen durch Dritte, (also keineErmittlungspersonen) dann unter § 252 StPO (analog?!) fallenzu lassen, wenn diese Dritte im Ermittlungsverfahren auf denZeugen angesetzt waren, um ihn auszuhorchen (wg. der Ge-fahr der Umgehung des § 252 StPO!).32

o Verboten ist dem Wortlaut nach Protokollverlesungo Nach allgemeiner Ansicht zieht aber § 252 StPO ein allgemei-

nes Verwertungsverbot hinsichtlich aller Beweismittel nachsich (Arg.: Zweck der §§ 252, 52 StPO)

o Ausnahme zum Verwertungsverbot nach BGH: Vernehmungdes vernehmenden Richters als Zeugen vom Hörensagen überden Inhalt der Zeugenaussage erlaubt. Evtl. auch erlaubt dieVernehmung des Sachverständigen über Aussagen des Zeu-gen, aber nur, wenn es sich um Befundtatsachen handelt,denn dann ist der Sachverständige „Gehilfe des Richters“,nicht auch, wenn es sich um Zusatztatsachen handelt, denndann ist er „Zeuge“.In jedem Falle aber muss bei dieser früheren Vernehmungder Zeuge bereits sein Zeugnisverweigerungsrecht gehabt ha-ben und vom Richter über sein Recht zum Schweigen zu-treffend belehrt worden sein.

31 M/G § 249/1332 BVerfG NStZ 2000, 489 – aber BGH verneint derzeit noch Verwertungsverbot; M/G §252/8

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Das bedeutet auch. Entsteht das Zeugnisverweigerungsrechterst nach dieser früheren Vernehmung, dann bleibt auch dieAussage des Richters hierüber unverwertbar. Grund: DerZeuge soll einmal die Entscheidung darüber, ob er reden undseinen Verwandten belasten will, oder ob er schweigen willgehabt haben. Erst wenn er sich einmal (belehrt!) zum Redenentschlossen hat, obwohl er schweigen durfte, ist er hinsicht-lich der Verwertung der Aussage nicht mehr schutzwürdig.

Recht instruktiv ist auch die Kommentierung M/G § 251/45/46 (ins-besondere zum notwendigen Revisionsvorbringen).

7.Unzulässige Ablehnung von Beweisanträgen, §§ 244, 245 StPO

Das Gericht darf einen Beweisantrag nur ablehnen, wenn ein gesetzli-cher Grund im Sinne des § 244 III – V StPO (bzw. § 245 StPO) vorliegt.Die strengen Ablehnungsformalitäten der §§ 244 III – VI, 245 StPO gel-ten jedoch nur für (echte) Beweisanträge.

Ein ordnungsgemäßer Beweisantrag muss enthalten

Bestimmte Tatsachenbehauptung („Beweisergebnis“!) Bestimmtes Beweismittel Bei subjektiven und negativen Tatsachen zusätzlich Vortrag zu

Konnexität zwischen Beweismittel und Beweistatsache

Beispiel:

„Zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte sich zur Tatzeit bei seiner FreundenCharlotte Huber in Hamburg aufhielt, benenne ich die Zeugin Huber, wohnhaft El-bestraße 87, Hamburg.“

Gegenbeispiele:

„Zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte den Unfall, den er am01.04.2006 um 14.00 Uhr in der Adlerstraße in Nürnberg verursacht habensoll, nicht (optisch, taktil oder akustisch) wahrgenommen hat, beantrage istdie Vernehmung des Zeugen Wolfram Hinterseer, wohnhaft in Freising, Bert-ramstraße 5.“

„Zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte am Tattag, den 01.04.2006zur Tatzeit um 14.00 Uhr nicht am Tatort in Nürnberg, Adlerstraße gewesenist, beantrage ich die Vernehmung des Zeugen Wolfram Hinterseer, wohnhaftin Freising, Bertramstraße 5.“

Bei beiden Anträgen handelt es sich - nach BGH33- um Beweisermittlungsanträ-ge und nicht um echte Beweisanträge. Denn Gegenstand des Zeugenbeweiseskönnen nur solche Umstände oder Geschehnisse sein, die mit dem Beweismittelunmittelbar bewiesen werden sollen. (Also was der Zeuge selbst gehört, gesehen

33 Bgl. BGH NJW 1996, 331, 332

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oder in sonstiger Weise wahrgenommen hat). Soll mit dem Beweismittel ein wei-teres Geschehen bewiesen werden, so ist eigentlich nicht dieses weitere Gesche-hen, sondern die direkte Wahrnehmung eigentliches, direktes Beweisziel. Des-halb ist bei solcher Sachlage unverzichtbar, im „Beweisantrag“, damit es einerwird, selbst anzugeben, was genau der Zeuge (oder sonstige Beweismittel) erge-ben wird (sog. Konnexität zwischen Beweismittel und Beweisziel).

(Erfüllt ein „Beweisantrag“ diese Anforderungen nicht, so handelt essich um einen Beweisermittlungsantrag oder eine Beweisanregung.34

Bei der Ablehnung eines Beweisermittlungsantrages ist das Gerichtnicht an die Ablehnungsgründe und Formalien des § 244 III – VI StPOgebunden, hat aber stets die Aufklärungspflicht gemäß § 244 II StPOzu beachten.)

Ablehnungsgründe des § 244 III StPO

I. Unzulässige Beweiserhebung

Unzulässig ist eine Beweiserhebung, wenn sie aus Rechts-gründen verboten ist.

Beispiel:

Die Tochter T des Angeklagten hat diesen in ihrer polizeilichen Verneh-mung der sexuellen Nötigung beschuldigt. In der Hauptverhandlung be-ruft sie sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO. DerStaatsanwalt beantragt die Vernehmung des Polizeibeamten P zum Be-weis der Tatsache, dass T bei der Polizei angegeben habe, von ihrem Va-ter sexuell genötigt worden zu sein.

Der Beweisantrag ist gemäß § 244 III 1 StPO unzulässig. Die Zeugnis-verweigerung führt gemäß § 252 StPO zu einem allgemeinen Verwer-tungsverbot. Der vernehmende Polizeibeamte darf nicht als Zeuge ver-nommen werden.

II. Überflüssige Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit

Eine Beweiserhebung ist wegen Offenkundigkeit überflüs-sig, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache entweder all-gemein- oder gerichtsbekannt ist. Es genügt, wenn das Ge-genteil der Beweistatsache offenkundig ist.

Beispiel:

Der Angeklagte beantragt die Vernehmung des Zeugen Z dazu, dass diezulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Fürther Straße in Nürnberg 80km/h betrage.

Beweisantrag ist wegen Offenkundigkeit abzulehnen, da allgemeinbe-kannt ist, dass die Höchstgeschwindigkeit in der Fürther Straße 50km/h beträgt.

34 Richtigerweise sollte hier nicht von „unzulässigem“ Beweisantrag gesprochen werden!

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Unterfälle der Offenkundigkeit sind:

o Allgemeinkundigkeit: Tatsachen und Erfahrungssätze, von de-nen verständige und erfahrene Menschenregelmäßig ohne weiteres Kenntnis habenoder über die sie sich aus allgemein zu-gänglichen zuverlässigen Quellen (ohneFachkenntnisse zu besitzen) unschwerunterrichten können.35

o Gerichtskundigkeit: Tatsachen und Erfahrungssätze, die derRichter (bei Kollegialgerichten genügt einMitglied des Gerichts, das die anderendann informieren kann) im Zusammen-hang mit seiner amtlichen Tätigkeitzuverlässig in Erfahrung gebracht hat.

oAchtung: Tatsachen, die unmittelbar das Vorliegen oderNichtvorliegen des äußeren oder inneren Tatbe-stands ergeben, sind niemals gerichtskundig.36

oBeachte: Auch wenn eine Tatsache/ein Erfahrungssatz zuläs-sigerweise als offenkundig behandelt werden kann,so muss das Gericht in der öffentlichen Hauptver-handlung kundtun, wovon es als offenkundig aus-zugehen gedenkt. Andernfalls läge ein Verstoß gegen§ 261 StPO i.V.m. dem Mündlichkeitsprinzip vor,denn es wurden dinge im Urteil verwertet, die nichtin die Hauptverhandlung eingeführt wurden. BeimBeruhen würde dann wie folgt argumentiert:„c) Das Urteil beruht auf diesem Verstoß, § 337 StPO, dennhätte das Gericht kundgetan, von welcher Tatsache es als of-fenkundig auszugehen gedenkt, so hätte die Verteidigung sichhierauf einstellen können und evtl. auch weitere/andere Be-weisanträge stellen können. Dann aber wäre das Gericht mög-licherweise von anderen Feststellungen zu überzeugen gewe-sen und der Angeklagte nicht (so) verurteilt worden.“

III. Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache

Bedeutungslos = Behauptete Tatsache hat keine Beziehung zum Pro-

zessstoff Oder sie hat zwar Beziehung zum Prozessstoff, ist aber

für die Entscheidung ohne Bedeutung

Beispiel:

Dem Angeklagten liegt zur Last, nachts in die Wohnung der G einge-stiegen zu sein. In der Hauptverhandlung beantragt der Angeklagte dieVernehmung der Zeugin G zu der Tatsache, dass diese noch in dersel-

35 M/G § 244/5136 M/G § 244/52

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ben Nacht dem Angeklagten versprochen habe, wegen dieses Vorfallskeinen Strafantrag zu stellen.

Da ein gegenüber dem Täter erklärter Verzicht auf den Strafantragunwirksam ist, ist die behauptete Tatsache für die Entscheidung ohneBedeutung.

Beachte:Ein Beweisantrag darf nicht wegen Bedeutungslosigkeitmit der Begründung zurückgewiesen werden, das Gerichtsei bereits vom Gegenteil überzeugt (M/G § 244/56).

V. Erwiesensein der Tatsache

Ist das Gericht von der Richtigkeit der Tatsache aufgrunddes bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme schonüberzeugt, braucht diese nicht mehr bewiesen zu werden.

Ein Revisionsgrund liegt aber vor, wenn die Begründungder Zurückweisung darin liegt, dass das Gegenteil der zubeweisenden Tatsache bereits erwiesen sei.

Beispiel:

Der Verteidiger des Angeklagten beantragt in der Hauptverhandlungdie Vernehmung der Zeugin Z zum Beweis der Tatsache, dass der An-geklagte zur Tatzeit sich bei seiner Freundin aufgehalten habe. DasGericht lehnt den Antrag mit der Begründung ab, es stehe aufgrundder bisherigen Beweislage bereits fest, dass der Angeklagte am Tatortwar.

Ablehnung des Beweisantrags war unzulässig. Hier erachtet Gerichtdas Gegenteil der behaupteten Tatsache als erwiesen. Dies stellt eineunzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung dar.

VI. Ungeeignetes Beweismittel

Völlig ungeeignet ist ein Beweismittel nur, wenn sich seineNutzlosigkeit für die weitere Sachaufklärung von vornher-ein aus sich selbst ergibt.

Beispiel:

In der Hauptverhandlung beantragt der Angeklagte zum Beweis dafür,dass er die ihm zur Last gelegten Vorwürfe zu Recht bestreite, die Ein-holung eines Gutachtens mittels Lügendetektor.

Die polygraphische Untersuchung ist ein völlig ungeeignetes Beweis-mittel i.S.d. § 244 III 2 Alt. 4 StPO (BHG NJW 1999, 567).

VII. Unerreichbarkeit des Beweismittels

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Z.B. wenn der Zeuge unbekannten Aufenthalt ist undsein Aufenthalt in angemessener Zeit nicht zu ermittelnist.

Aber:Handelt es sich um einen schwerwiegenden Vorwurfund ist die Aussage des Zeugen von erheblicher Bedeu-tung, so ist auch eine Verzögerung von längerer Dauerhinzunehmen (gleiche Argumentation wie bei § 251 IStPO !).

Befindet sich der Zeuge im Ausland, ist zunächst § 244 V2 StPO zu prüfen. Danach ist eine Ablehnung des Be-weisantrags bereits dann möglich, wenn die Verneh-mung dieses Zeugen nach dem Ermessen der Gerichtszur Wahrheitserforschung nicht erforderlich ist (Gerichtdarf vorweggenommene Beweiswürdigung vornehmen.).

Hält das Gericht die Vernehmung des Zeugen dagegenfür erforderlich, so kann Beweisantrag evtl. Gemäß §244 III StPO wegen „Unerreichbarkeit“ des Zeugen ab-gelehnt werden.

Unerreichbar ist ein Beweismittel aber nur dann, wennes faktisch unerreichbar ist, nicht wenn die „Uner-reichbarkeit“ auf Rechtsgründen beruht (dann Unzu-lässigkeit!). Dieses Problem stellt sich bei Nichterteilungeiner Aussagegenehmigung für einen Zeugen nach § 54StPO. Nach M/G liegt in diesem Fall ein rechtlicherHinderungsgrund für die Vernehmung vor37, nach BGHist ein faktischer Hinderungsgrund und damit Uner-reichbarkeit gegeben.38

Beispiel:

Der Verteidiger beantragt, den polizeilichen Führungsbeamten alsZeugen zu hören, damit dieser die bislang geheim gehaltenen Da-ten und Anschriften von Informanten und verdeckten Ermittlerndem Gericht nenne, so dass ein späterer Beweisantrag zu derenVernehmung gestellt werden könne. Der Dienstvorgesetzte des be-nannten Zeugen verweigert die Aussagegenehmigung nach § 54StPO.

Nach M/G keine Unerreichbarkeit, allenfalls Unzulässigkeit (aberunter weiteren Voraussetzungen) zu bejahen (a.a.O.)

Nach BGH liegt der Ablehnungsgrund der Unerreichbarkeit vor.

VIII. Verschleppungsabsicht

37 M/G § 244/6638 BGH MDR 80, 987

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Der BGH stellt hier extrem strenge Voraussetzungen auf.Der Antragsteller muss ausschließlich eine Verzögerungdes Verfahrens bezwecken. Es muss zweifelsfrei nachge-wiesen werden, dass der Antragsteller genau weiß, dassdie beantragte Beweiserhebung nichts zugunsten des An-geklagten erbringt.

Prozessverschleppung kann nur in den allerseltensten Fäl-len bejaht werden!

IX. Wahrunterstellung

Das Gericht darf eine beantragte Beweiserhebung mit derZusage ablehnen, die Beweistatsache bei der Urteilsfin-dung als wahr zu berücksichtigen. Die Wahrunterstellungist jedoch nur zulässig bei Behauptungen, die zur Entlas-tung des Angeklagten bewiesen werden sollen.

Die Wahrunterstellung muss sich auf die Beweistatsacheselbst beziehen. Es genügt nicht, wenn unterstellt wird,das Beweismittel werde sich so erklären, wie der An-tragsteller behauptet, um dann in der Beweiswürdigungdiesem Beweismittel die Glaubwürdigkeit abzusprechen.

Der Grundsatz des fair trial gebietet es darüber hinaus,nur solche Tatsachen als wahr unterstellt von der Beweis-aufnahme auszuschließen, die erheblich sind. Andernfallssollte sogleich auf den eigentlich ins Auge gefassten Ab-lehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit zurückgegriffenwerden.

Die Ablehnungsgründe des § 244 IV StPO

Die in § 244 III StPO aufgeführten Ablehnungsgründe gelten außer fürZeugen und Urkunden auch für Sachverständige. § 244 IV StPO erwei-tert die Ablehnungsmöglichkeiten für Beweisanträge beim Sachver-ständigenbeweis.

Die Ablehnungsgründe des § 244 V StPO

§ 244 V StPO enthält Sonderregelungen für die Ablehnung von Augen-scheinsbeweisen und Zeugen, deren Ladung im Ausland zu bewirkenist. Hier ist in gewissem Umfang (immer auch § 244 II StPO beachten!)eine vorweggenommene Beweiswürdigung zulässig.

Ablehnungsbeschluss, § 244 VI StPO

Die Ablehnung eines Beweisantrages kann nur durch Beschluss erfol-gen. Dieser ist gemäß § 34 StPO zu begründen. Unterlässt es das Ge-

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richt, einen Beweisantrag zu verbescheiden oder fehlt eine Begrün-dung, kann dies mit der Revision gerügt werden (M/G § 244/83). BeimBeruhen ist im Rahmen der Rüge dann auszuführen, dass die Vertei-digung, hätte sie erfahren aus welchen Gründen das Gericht von derErhebung des beantragten Beweises abgesehen hat, sich darauf hätteeinstellen können und geeignete Maßnahmen schon im Termin hätteergreifen können, die möglicherweise ein anderes Urteil zur Folge ge-habt hätten.

Besonderheit beim Hilfsantrag:

o Als Prozesshandlung ist der Beweisantrag grundsätzlich zwarbedingungsfeindlich. Innerprozessuale Bedingungen, d.h. sol-che, die von einer bestimmten Willensentschließung des Ge-richts abhängen, können aber an ihn geknüpft werden.39

o Hilfsanträge, die abgelehnt werden sollen, brauchen nicht in derHauptverhandlung verbeschieden zu werden (Arg.: Der An-tragsteller hat durch seine Hilfsantragstellung konkludent aufeine solche Verbescheidung verzichtet40), sondern werden erstim Urteil selbst behandelt.

Ablehnungsgründe des § 245 II StPO

§ 245 StPO spielt in Klausuren eine untergeordnete Rolle. Bei präsen-ten Beweismitteln (stehen im Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereitszur Verfügung: förmlich geladen, § 220 StPO, und erschienen) richtetsich die Ablehnung eines Beweisantrages nicht nach § 244 III – VStPO, sondern nach § 245 II StPO.

Wichtig für die Klausur:

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass bei der Ablehnungeines Beweisantrages folgende Verfahrensverstöße in Betracht kom-men (M/G § 244/83).

Verstoß gegen § 244 III, IV oder V: bei unzulässiger Ablehnungdes Beweisantrags

Verstoß gegen § 245 II: bei unzulässiger Ablehnungeines Beweisantrags, der sichauf ein präsentes Beweismit-tel bezieht

Verstoß gegen § 244 VI: bei Unterlassen der Verbe-scheidung

39 M/G § 244/2240 M/G § 244/ 22a

61

Handelt es sich nicht um einen Beweisantrag, sondern um einenBeweisermittlungsantrag, kann dessen Ablehnung nur als Ver-letzung der Aufklärungspflicht gemäß § 244 II StPO beanstandetwerden.

Lehnt das Gericht einen Beweisantrag ab, so dürfen Sie in der Revisi-onsklausur allein den vom Gericht genannten Ablehnungsgrundprüfen. Ob der Beweisantrag aus anderen Gründen hätte abgelehntwerden können, spielt keine Rolle (evtl. Erörterung im Hilfsgutachten).Schieben Sie also keinesfalls andere Gründe unter!

Zum notwendigen Revisionsvorbringen gehört (M/G § 244/87):

Inhalt des Beweisantrags (wörtlich)

Inhalt des gerichtlichen Ablehnungsbeschlusses (eigentlichmuss dies nicht wörtlich sein, zur Fehlervermeidung aber besserschon)

Sonstige Tatsachen, die das Revisionsgericht zur Überprüfungeines Verstoßes gegen §§ 244, 245 StPO benötigt.

Beispiel:

Ich rüge die Verletzung des § 244 III StPO

a) In der Hauptverhandlung wurde das polizeiliche Vernehmungsprotokollvom 01.02.2006 des Belastungszeugen Maier verlesen. Der Verteidigerdes Angeklagten stellte daraufhin folgenden Beweisantrag:

„Zum Beweis der Tatsache, dass der Zeuge Maier bei seiner polizeilichenVernehmung vom 01.02.2006 seine Aussage immer wieder abänderteund er daher unglaubwürdig ist, wird die Vernehmung des POM Ze-bisch, zu laden über die PI Erlangen, beantragt.“

Das Gericht hat den Antrag durch Beschluss mit folgender Begründungzurückgewiesen:

„Der Beweisantrag wird abgelehnt, da die behauptete Tatsache für dieEntscheidung ohne Bedeutung ist, § 244 III 2 StPO.“

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung

Im Urteil führt das Gericht jedoch folgendes aus:

„Der Angeklagte ist auch durch die verlesene Aussage des Zeugen Maierüberführt. Dieser hat glaubwürdig bestätigt, dass der Angeklagte zwei-mal mit der Faust auf sein Opfer eingeschlagen habe…“

Beweis: Urteilsgründe

b) Damit hat das Gericht § 244 III 2 StPO verletzt. Entgegen seiner Be-gründung hat das Gericht der Aussage des Zeugen Maier sehr wohl Be-deutung beigemessen, indem es in den Urteilsgründen auf dessenGlaubwürdigkeit verweist.

62

c) Das Urteil beruht auf diesem Fehler, § 337 StPO. Hätte das Gericht denPOM Zebisch vernommen, hätte es möglicherweise Zweifel an derGlaubwürdigkeit des Zeugen Maier gehabt und der Angeklagte wärefreigesprochen worden.

8. Die Aufklärungsrüge, § 244 II StPO

(Kann schon eine Verletzung von § 244 III – VI, § 245 II StPO gerügt werden,ist daneben nicht noch die Aufklärungsrüge zu erheben, denn die genanntenVorschriften sind gegenüber der Aufklärungsrüge speziellere Normen)

Definition (M/G § 244/12, 80):

Die Aufklärungspflicht gemäß § 244 II StPO ist verletzt, wenn der TatrichterErmittlungen unterlassen hat, obwohl der ihm bekannte Sachverhalt zurBenutzung weiterer Beweismittel drängte.

Seien Sie in der Klausur mit der Erhebung der Aufklärungsrüge eher zu-rückhaltend. § 244 II StPO ist nur dann von Ihnen verlangt, wenn der Ver-stoß recht offensichtlich ist (vgl. folgendes Beispiel).

Zum notwendigen Revisionsvorbringen gehört (vgl. M/G § 244/81):

Bezeichnung der Tatsache, die zu ermitteln das Gericht unterlassenhat

Bezeichnung des Beweismittels, dessen sich der Richter hätte bedie-nen sollen

Welche Umstände hätten das Gericht zu weiteren Ermittlungen drän-gen müssen?

Welches Ergebnis wäre von der unterbliebenen Beweiserhebung zuerwarten gewesen?

Beispiel:

Ich rüge die Verletzung des § 244 II StPO

a) Das Gericht hat es unterlassen aufzuklären, ob der Angeklagte zur Tatzeit am18.03.2006, 20.00 Uhr, vermindert schuldfähig oder sogar schuldunfähig war.Diese Frage hätte durch Erholung eines Sachverständigengutachtens41 aufge-klärt werden müssen. Dies unterließ das Gericht, obwohl in der Hauptverhand-lung das Blutalkoholgutachten des Dr. Müller vom 20.03.2006 verlesen wordenwar, wonach die mittlere Blutalkoholkonzentration des Angeklagten um 23.17Uhr 2,8 ‰ betrug.

Beweis: Protokoll der HauptverhandlungErgebnis der Blutprobe, in den Akten befindlich

41 Einen bestimmten Gutachter brauchen Sie hier nicht zu nennen, da die Person des Gut-achters ohnehin allein das Gericht bestimmt. Nennungen wären in diesem Bereich bloßeAnregungen!

63

Eine Beweiserhebung wäre zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagtezumindest vermindert schuldfähig war.

b) Damit hat das Gericht die Aufklärungspflicht gemäß § 244 II StPO verletzt. Dasverlesene BAK-Gutachten des Dr. Müller vom 20.03.2006 hätte das Gericht zurKlärung des Vorliegens der Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeitbzw. Schuldunfähigkeit drängen müssen. Eine Rückrechnung auf den Tatzeit-punkt hätte eine noch höhere Blutalkoholkonzentration ergeben (evtl. näher aus-führen) Bei BAK-Werten ab 2 ‰ kommt i.d.R. verminderte Schuldfähigkeit, ab 3‰ Schuldunfähigkeit in Betracht.42

c) Das Urteil beruht auf dem Verstoß. Die Erholung eines Sachverständigengutach-tens hätte zur Feststellung des Vorliegens verminderter Schuldfähigkeit oder so-gar der Schuldunfähigkeit geführt. Damit wäre eine Strafmilderung gemäß §§ 21,49 StGB oder ein Freispruch in Betracht gekommen.

Achtung: Die Rüge ist nicht verwirkt, wenn in der Hauptverhandlung keinBeweisantrag gestellt worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre. Ledig-lich aufgrund einer innerdienstlichen Anweisung (RiStBV) soll der Staatsan-walt die Aufklärungsrüge dann nicht erheben, wenn ihm ein solcher Beweis-antrag schon in der Sitzung möglich gewesen wäre, er dies aber unterlassenhat.

9. Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO

Verwendet der Richter im Urteil Beweismittel, die nicht Gegenstandder Hauptverhandlung waren, so handelt es sich um einen (mit derVerfahrensrüge zu beanstandenden) Verstoß gegen § 261 StPO. DieVerfahrensrüge ist nur dann erfolgreich, wenn ohne Rekonstruktionder Beweisaufnahme der Nachweis der Verwertung verhandlungs-fremder Beweismittel geführt werden kann (vgl. M/G § 261/38 a).

z.B.:

Urteil entnimmt die Zeugenaussage allein aus der Akte, Zeuge wurde inder Hauptverhandlung nicht vernommen

Wortprotokoll gemäß § 273 III StPO wird im Urteil völlig anders wiederge-geben

(Aber: Liegt nur ein Inhaltsprotokoll gemäß § 273 II StPO vor bzw. wirdder Inhalt der Zeugenaussage im Protokoll gar nicht wiedergegeben, sokann ein Verstoß gegen § 261 StPO nicht mir der Behauptung gerügtwerden, dass der Zeuge anders ausgesagt habe. Denn ansonsten müß-te das Revisionsgericht die Beweisaufnahme rekonstruieren.)

Beispiel:

Ich rüge die Verletzung des § 261 StPO

42 Allerdings nicht automatisch, die Werte sind nur – sehr starke – Indizien für das Vorliegendieser Zustände, jedoch im Einzelfall widerlegbar.

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a) Das Gericht führt in den Gründen des Urteils vom 25.05.2006 aus:

„Bezüglich der schweren Körperverletzung wirken sich zum Nachteil des An-geklagten dessen einschlägige Vorstrafen aus. Der in den Akten befindlicheAuszug aus dem Bundeszentralregister weist fünf Eintragungen wegen Kör-perverletzung auf.“

Beweis: Urteilsgründe, S. …

In der Hauptverhandlung wurden die Vorstrafen des Angeklagten aber wederdurch Verlesen des Bundeszentralregisterauszugs noch durch sonstige Be-weismittel eingeführt.

Beweis: Protokoll der Hauptverhandlung vom …

b) Damit liegt ein Verstoß gegen § 261 StPO vor. Als Mittel für die Gewinnungder Überzeugung darf nur verwertet werden, was zum Gegenstand der Ver-handlung gemacht worden ist. Das Gericht hat seine Erkenntnisse bezüglichder Vorstrafen aber nur aus den Akten und damit nicht aus dem Inbegriff derHauptverhandlung geschöpft.

c) Das Urteil beruht auch auf diesem Fehler, § 337 StPO. Wären die Vorstrafenin der Hauptverhandlung zur Sprache gekommen, hätte sich der Angeklagtedazu erklären können und deren Bewertung wäre möglicherweise andersausgefallen.

Beachte: Nach § 261 StPO darf das Urteil sich nur auf den Inbegriffder Hauptverhandlung und dabei nur auf dessen zulässigen Inbegriffstützen (Tipp: fügen Sie handschriftlich bei § 261 StPO das Wort „zu-lässigen“ ein). Daraus folgt, dass die Verwertung unzulässiger Be-weismittel gegen § 261 StPO verstößt und so auch mit der Verfahrens-rüge zu beanstanden ist.

Merke also: Jeglicher Verstoß gegen Verwertungsverbote ist ein Ver-stoß gegen § 261 StPO (i.V.m. der jeweiligen Verbotsnorm).

Beispiel:

„Ich rüge die Verletzung des § 261 StPO i.V.m. §§ 136 I 2, 163 IV 2 StPO.

a) Der Angeklagte machte in der Hauptverhandlung keine Angaben zur Sache.Es wurde in der Hauptverhandlung der Zeuge POM Huber uneidlich ver-nommen.

Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll vom …

Dieser bekundete, der Angeklagte habe die Tatbegehung nach seiner vorläufi-gen Festnahme auf Frage ihm gegenüber eingeräumt. Eine vorherige Beleh-rung über sein Schweigerecht sei nicht erfolgt.

Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll vom …(als Freibeweismittel)Polizeiliches Vernehmungsprotokoll vom …

Der Verteidiger widersetzte sich im Termin unverzüglich nach dieser Aussageder Verwertung.

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Beweis: Hauptverhandlungsprotokoll vom …

Im Urteil stützte sich das Gericht in der Beweiswürdigung zum Tatnachweisauf die Aussage des Zeugen Huber wegen des „Geständnisses“ des Angeklag-ten

Beweis: Urteilsgründe

b) Damit hat das Gericht § 261 StPO i.V.m. §§ 136 I 2, 163 IV 2 StPO verletzt.Der Vernehmungsbeamte Huber hätte den Angeklagten bei der ersten Be-schuldigtenvernehmung über sein Schweigerecht nach § 136 I 2 StPO beleh-ren müssen. Dies ist aber nicht geschehen.Der Angeklagte war zum Zeitpunkt seiner Aussage schon Beschuldigter, dabereits Ermittlungsmaßnahmen gegen ihn erfolgt waren (hier: vorläufigeFestnahme43) Der Vernehmungsbeamte Huber trat ihm auch in ersichtlichamtlicher Eigenschaft gegenüber und befragte ihn, so dass auch keine Spon-tanäußerung vorliegt. Es steht auch nicht fest, dass der Beschuldigte, derzum ersten Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, sein Schweigerechtkannte.Folglich führt der Verstoß dazu, dass die Äußerungen des Angeklagten, die erbei dieser Vernehmung gemacht hat, nicht verwertet werden dürfen. Ein Ver-wertungsverbot tritt hier ein, da die verletzte Verfahrensvorschrift dazu be-stimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschul-digten zu sichern. Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sichselbst auszusagen braucht, gehört zu den anerkannten Prinzipien des Straf-prozesses. Die Anerkennung des Schweigerechts schützt das Persönlichkeits-rechts des Beschuldigten und ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfah-rens.Der Verteidiger hatte der Verwertung rechtzeitig widersprochen (§ 257 StPO).

c) Das Urteil beruht auch auf diesem Verstoß, § 337 StPO. Hätte das Gericht dieAussage des Vernehmungsbeamten Huber nicht verwertet, hätte es mögli-cherweise nicht die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewonnenund der Angeklagte wäre freigesprochen worden.

Allgemeines zu Verwertungsverboten

Grundsätzlich gilt – auch im Strafverfahren -, dass jedes Beweismittel(sofern Strengbeweisverfahren vorgeschrieben, aber nur der „numerusclausus“ der Strengbeweismittel) verwertet werden darf, sofern nichteine Verbotsnorm gefunden wird, die dies verbietet. Dabei haben Sie(Reihenfolge bei Klausuren unbedingt einhalten!) zunächst die aus-drücklich im speziellen Verfahrensrecht normierten Verbote (z.B. §136 a StPO) zu prüfen, anschließend Normen, die zwar nicht aus-drücklich ein Verbot beinhalten, bei denen aber die Rechtsprechungein solches annimmt (z.B. § 136 StPO), sodann ist zu prüfen, ob evtl.die analoge Anwendung der vorstehenden Normen die Verwertungverbietet (Bsp.: „vernehmungsähnliche Situation“ § 136 a StPO ana-log), erst wenn dies alles nicht weiterhilft, greifen Sie auf allgemeinePrinzipien („nemo tenetur“, „fair trial“ o.ä.) und erst ganz am Ende aufGrundrechtsverletzungen (z.B. allgemeines Persönlichkeitsrecht oderinformationelles Selbstbestimmungsrecht bei Verwertung von Tage-buchaufzeichnungen o.ä.) zurück.

43 M/G Einl./76

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Verwertungsverbote können sich auso Beweisthemenverboten (z.B. getilgte Vorstrafen, § 51 BZRG)o Beweismethodenverboten (z.B. § 136 a StPO) odero Beweismittelverboten (z.B. § 252 StPO)

Ergeben.

Die wichtigsten Verwertungsverbote sind (nicht abschließend!):

o § 100 b V StPOo § 100 c V StPOo § 100 d VI StPOo § 110 e StPOo § 136 a StPOo § 252 StPOo § 136 StPOo § 250 StPOo § 102 StPOo § 51 BZRGo § 97 StPOo Nemo teneturo Fair trialo Informationelles Selbstbestimmungsrechto Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 1, 2 GG

Beispielsfall zu § 136 a StPO:

Der Angeklagte war verdächtig, ein Kind entführt und in seine Gewalt gebracht zuhaben, um dessen Eltern zu erpressen. Ein Polizeibeamter, der den späteren Ange-klagten als Verdächtigen festgenommen hatte, befürchtete, dass das Kind noch lebenkönnte, jedoch wegen der Verhaftung des Angeklagten nicht mehr mit Nahrung undWasser versorgt werden würde. Da der Angeklagte weder zur Tat geständig war, nochüber den Zustand des Kindes oder dessen Aufenthalt Angaben machte, drohte derPolizeibeamte dem Angeklagten „starke Schmerzen“ (Folter!?) an, woraufhin dieservollumfänglich gestand. In der Hauptverhandlung selbst belehrte der Vorsitzendegemäß § 243 IV StPO. Der Angeklagte legte in der Hauptverhandlung das Geständniserneut ab und wurde unter Verwertung (nur) dieses Geständnisses verurteilt.

Verstoß gegen § 136 a StPO! Zwar wurde nicht das – zweifellos unverwertbare Ges-tändnis vor dem Polizeibeamten verwertet, aber auch das Gericht selbst hat eine ver-botene Vernehmungsmethode i.S.d. § 136 a StPO angewande, nämlich Täuschung.Der Angeklagte musste bei Vernehmung vor dem Gericht davon ausgehen, dass einSchweigen keinen Sinn mehr habe, denn es könnte das frühere Geständnis verwertetwerden. Für ihn musste sich die Lage so darstellen, als sei er ohnehin überführt undkönne nur noch durch ein reuiges Geständnis im Strafmaß etwas Günstiges errei-chen. Diesen Irrtum hat das Gericht ausgenutzt (Täuschung durch Unterlassen, wo-bei Aufklärungspflicht über wahre Tatsachen- und Rechtslage wegen Zurechnungdes Verhaltens der Polizei bestand). Verwertbar wäre das Geständnis nur dann ge-wesen, wenn der Richter den Angeklagten über die Normalanforderungen des § 243IV StPO hinaus auch dazu belehrt hätte, dass das frühere Geständnis des Angeklag-ten im Termin tatsächlich erheblichen Einfluss auf die Beweislage habe.

10. Fehlender rechtlicher Hinweis, § 265 StPO

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(Kommt in Klausuren sehr häufig vor. Ich empfehle, stets einen Ab-gleich zwischen Anklage/Eröffnungsbeschluss und Urteil vorzuneh-men.)

Will das Gericht in seiner Entscheidung von der rechtlichen Beurtei-lung der Tat in der zugelassenen Anklage abweichen, muss es den An-geklagten davon in Kenntnis setzen. Nur dann kann dieser seine Ver-teidigung entsprechend umstellen (Einzelheiten bei M/G § 265/8 ff).

Notwendiges Revisionsvorbringen (vgl. M/G § 265/47):

Anklage und Eröffnungsbeschluss Urteil Kein rechtlicher Hinweis

Beispiel siehe oben!

Beachte:Wegen § 339 StPO kann die Staatsanwaltschaft die Verletzung des§ 265 StPO nicht zu Lasten des Angeklagten rügen.

11. Nichtgewährung des letzten Wortes, § 258 II StPO

(Kommt in Klausuren sehr häufig vor!)

Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. Das bedeutet, dass nachdem letzten Wort des Angeklagten keine weiteren Prozesshandlungenmehr vorgenommen werden dürfen (außer natürlich der Urteilsver-kündung). Tritt das Gericht nach dem letzten Wort des Angeklagtenerneut in die Beweisaufnahme ein, so ist dem Angeklagten erneut dasletzte Wort zu gewähren (M/G § 258/27).

Das Urteil beruht grundsätzlich auf einem Verstoß gegen § 258 IIStPO, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagtenoch etwas vorgebracht hätte, was bei der Urteilsfindung zu seinenGunsten zu berücksichtigen gewesen wäre (vgl. M/G § 258/34). Dasgilt stets, auch wenn der Angeklagte niemals etwas zur Sache sagteund auch, wenn er vollumfänglich geständig war!

Verfahrensfehler im Ermittlungsverfahren

Gesetzesverletzungen im Ermittlungsverfahren können nur dann eine Revi-sion begründen, wenn der Verstoß in die Hauptverhandlung hineinwirkt.Dies ist nur dann der Fall, wenn der Fehler im Ermittlungsverfahren

zu einem Verwertungsverbot geführt hat

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das Gericht das (unverwertbare) Beweismittel gleichwohl in dieHauptverhandlung eingeführt hat

und das Beweismittel im Urteil verwertet wurde.

Auf diese Weise wird der Fehler der Ermittlungsbehörde zu einem Fehler desGerichts. Nur solche können mit der Revision beanstandet werden, da dasUrteil nur auf Fehlern des Gerichts, nicht der Ermittlungsbehörde beruhenkann (vgl. § 261 StPO).

Der in Revisionsklausuren am häufigsten auftretende Fehler ist ein Verstoßgegen § 136 StPO (evtl. auch § 136 a StPO).

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Zum notwendigen Revisionsvorbringen gehört (vgl. auch M/G § 136/27):

Ermittlungsverfahren

o Angabe, wann, wo und von wem der Angeklagte im Ermittlungs-verfahren als Beschuldigter vernommen wurde

o Belehrung unterbliebeno Inhalt der Aussage des Beschuldigten

Hauptverhandlung

o Einführung der Aussage des Beschuldigten in den Prozess (z.B.durch Vernehmung des Vernehmungsbeamten; Verlesung despolizeilichen Protokolls)

o Zeitpunkt des Widerspruchs des Verteidigers (Widerspruchslö-sung)

Urteil

o Verwertung des unverwertbaren Beweismittels im Urteil

Bei der rechtlichen Würdigung empfehle ich folgende Punkte zu behandeln:

Liegt ein Verstoß gegen § 136 StPO vor? (Diese Frage kann durchausproblematisch sein! Z.B. Angeklagter wird bei nächtlicher Vernehmungnicht darüber aufgeklärt, dass ein Verteidigernotdienst existiert. Um-fasst § 136 StPO auch solche Informationen? Folgt aus dem Prinzipdes „fair trial“ etwa solches? Hier müssen Sie argumentieren!)

Führt der Verstoß zu einem Verwertungsverbot? (Argumentation!!) Evtl.: Keine Kenntnis des Beschuldigten vom Inhalt der unterlassenen

Belehrung Rechtzeitiger Widerspruch (§ 257 StPO) des Verteidigers Folge: Gericht darf unverwertbares Beweismittel nicht in die Haupt-

verhandlung einführen und dem Urteil zugrunde legen.

Beispiel:

Ich rüge die Verletzung des § 261 StPO i.V.m. §§ 136 I 2, 163 a IV 2 StPO

a) Im Ermittlungsverfahren wurde der Angeklagte am 12.04.2006 bei der Polizeidi-rektion Nürnberg durch den Polizeibeamten Singer als Beschuldigter zum Vor-wurf der schweren Körperverletzung vernommen. Dabei wurde der Angeklagtenicht über sein Schweigerecht belehrt. In dieser ersten Beschuldigtenverneh-mung räumte der Angeklagte den ihm zur Last gelegten Sachverhalt umfänglichein.

Beweis: Polizeiliches Vernehmungsprotokoll vom …

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In der Hauptverhandlung machte der Angeklagte keine Angaben zur Sache. Dar-aufhin vernahm das Gericht den Vernehmungsbeamten Singer zum Inhalt derAussage des Angeklagten bei seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom12.04.2006. Der Beamte berichtete von dem Geständnis des Angeklagten. DerBerücksichtigung dieser Aussage zum Nachteil des Angeklagten hat der Verteidi-ger des Angeklagten unmittelbar nach der Vernehmung des Polizeibeamten Sin-ger widersprochen.

Beweis: Urteilsgründe, S. …Protokoll der Hauptverhandlung

Das Gericht verurteilte den Angeklagten, wobei es sein Urteil auf die Aussage desVernehmungsbeamten Singer über den Inhalt der polizeilichen Vernehmungstützte.

Beweis: Urteilsgründe, S. …

b) Damit hat das Gericht § 261 StPO i.V.m. §§ 136 I 2, 163 IV 2 StPO verletzt.

Der Vernehmungsbeamte Singer hätte den Angeklagten bei der ersten Beschul-digtenvernehmung gemäß § 136 I 2 StPO über sein Schweigerecht belehren müs-sen. Dies ist aber nicht geschehen.

Dieser Verstoß führt dazu, dass die Äußerungen des Angeklagten, die er bei die-ser Vernehmung gemacht hat, nicht verwertet werden dürfen. Ein Verwertungs-verbot tritt hier ein, da die verletzte Verfahrensvorschrift dazu bestimmt ist, dieGrundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten zu sichern.Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagenbraucht, gehört zu den anerkannten Prinzipien des Strafprozesses. Die Anerken-nung des Schweigerechts schützt das Persönlichkeitsrechts des Beschuldigtenund ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Der Angeklagte hatteauch keine Kenntnis von seinem Schweigerecht.

Der Verteidiger des Angeklagten hat der Verwertung der Aussage in der Haupt-verhandlung rechtzeitig (§ 257 StPO) widersprochen.

Damit war es dem Gericht verwehrt, in der Hauptverhandlung den Verneh-mungsbeamten Singer über die Aussage des Angeklagten im Ermittlungsverfah-ren als Zeugen anzuhören und dessen Aussage dem Urteil zugrundezulegen.

c) Das Urteil beruht auch auf dem Verstoß, § 337 StPO. Hätte das Gericht die Aus-sage des Vernehmungsbeamten Singer nicht verwertet, hätte es möglicherweisenicht die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewonnen und der Ange-klagte wäre freigesprochen worden.

IV. Beruhen, § 337 StPO

Ein Gesetzesverstoß begründet die Revision nur, wenn das Urteil beirichtiger Anwendung des Gesetzes anders ausgefallen wäre. Die blo-ße Möglichkeit, dass das Urteil auf dem Fehler beruht, reicht aus(M/G § 337/37).

Also:

Wäre dem Angeklagten das letzte Wort gewährt worden, … Hätte das Gericht einen rechtlichen Hinweis erteilt, hätte sich

der Angeklagte anders verteidigen können

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Wäre der Zeuge über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrtworden, …

Wäre das Vernehmungsprotokoll nicht verlesen, sondern derZeuge persönlich gehört worden, …

Hätte das Gericht die Aussage des Vernehmungsbeamtennicht verwertet, …

(Hilfreich für die Beruhensfrage ist es, sich jeweils den Zweck einerNorm vor Augen zu halten).

Ich empfehle, für die Frage des Beruhens stets den Kommentar heran-zuziehen.

Typischer Referendarsfehler:

Bearbeiter kommt zutreffend zu dem Ergebnis, dass z.B. das Verneh-mungsprotokoll des Belastungszeugen A nicht hätte verlesen werdendürfen. Gleichwohl verneint er das Beruhen mit der Begründung, dassder Angeklagte auf jeden Fall überführt worden wäre.

Diese Argumentation ist falsch. Denn es kann nicht ausgeschlossenwerden, dass für die Überzeugungsbildung des Gerichts gerade dieAussage des Zeugen A entscheidend war und es ohne dessen Aussagenicht die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewonnen hät-te.

Bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes genügt der Hinweisauf § 338 StPO (Beispiele siehe oben).

C. Stellungnahme zur Sachrüge

Mit der Erhebung der Sachrüge („Ich rüge die Verletzung materiellenRechts“) ist das Revisionsgericht verpflichtet, das Urteil in vollem Um-fang auf materiell-rechtliche Fehler zu überprüfen. Das gilt auch,wenn lediglich spezielle Sachrügen erhoben wurden.

In der Klausur sollten Sie natürlich alle materiell-rechtlichen Fehlerausdrücklich benennen.

Beachten Sie, dass für die Sachrüge die Anforderungen des § 344 II 2StPO nicht gelten, d.h. Sie müssen hier keinen Tatsachenvortrag vor-nehmen. Darüber hinaus erfolgt weder die Angabe von Beweismittelnnoch eine Stellungnahme zum Beruhen, denn in aller Regel beruht je-des Urteil auf einem unterlaufenen Rechtsfehler.

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Materiell-rechtliche Fehler können in drei Bereichen auftreten:

Fehler bei der rechtlichen Würdigung (Subsumtionsfehler) Fehler bei der Beweiswürdigung Fehler bei der Bildung der Strafe/Rechtsfolge

I. Fehler bei der rechtlichen Würdigung (Subsumtions-fehler)

Falsche Anwendung einer Norm

Das Revisionsgericht prüft, ob der im Urteil festgestellte Sach-verhalt die Anwendung der vom Tatrichter herangezogenen ma-teriell-rechtlichen Vorschriften rechtfertigt.

Beispiel:

„Das Gericht hat den Angeklagten rechtsfehlerhaft wegen schwerer Körperver-letzung gemäß § 226 StGB verurteilt. Entgegen der Auffassung des Tatge-richts stellt die bei dem Opfer verbleibende Narbe keine „erhebliche Entstel-lung“ im Sinne des § 226 I Nr. 3 StGB dar. Unter Berücksichtigung der hohenStrafandrohung des § 226 StGB, sowie im Vergleich mit den in § 226 StGBbezeichneten sonstigen schweren Folgen kann das Zurückbleiben einer nurdrei Zentimeter langen Narbe auf der Stirn nicht als erhebliche Entstellungangesehen werden. Eine gut abgeheilte Narbe ist nur bei näherem Hinsehenerkennbar.“

(Greifen Sie also nur das problematische Tatbestandsmerkmalheraus und erörtern Sie dieses. Vermeiden Sie den „Zwar-aber-Stil“: „Zwar hat der Angeklagte sein Opfer körperlich misshan-delt und an der Gesundheit beschädigt, weil … . Aber es liegtkeine erhebliche Entstellung vor … .“ . Denn in der Revision istnicht darzustellen, was das Gericht richtig, sondern nur, was esfalsch gemacht hat!)

Nichtanwendung von Vorschriften auf den festgestellten Sach-verhalt

Hier ist zu prüfen, ob außer den vom Tatrichter bejahten nochweitere Tatbestände oder Rechtsnormen in Betracht kommen.

Beispiel:

„Das Gericht hat den Angeklagten rechtsfehlerhaft nicht wegen räuberischerErpressung gemäß §§ 253, 255 StGB verurteilt. Indem der Angeklagte seinemOpfer drohte, es umzubringen, drohte er ihm mit gegenwärtiger Gefahr fürLeib und Leben … „ (Es folgt nun eine Subsumtion sämtlicher Tatbestands-merkmale)

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Achtung!Verlieren Sie nicht die Sichtweise des Verteidigers aus demAuge! Obige Rüge sollte nur der Staatsanwalt erheben. In derVerteidigerklausur behandeln sie solche Frage im Hilfsgut-achten.(Es gibt aber auch Möglichkeiten für den Verteidiger:„Das Gericht hat rechtsfehlerhaft die Frage des Rücktritts gemäߧ 24 StGB vom versuchten Totschlag nicht geprüft. …“)

Fehlerhafte Beurteilung der Konkurrenzen

Wichtig!!!

Es darf allein von dem im Urteil festgestellten Sachverhaltausgegangen werden. Sie dürfen den festgestellten Urteilssach-verhalt also unter keinen Umständen verändern!

An folgendem Fall soll ein typischer Referendarsfehler aufgezeigtwerden:

Fall:

Der Angeklagte ist wegen Körperverletzung an seiner Verlobten angeklagt. Inder Hauptverhandlung macht die Verlobte von ihrem Zeugnisverweigerungs-recht gemäß § 52 StPO Gebrauch. Daraufhin vernimmt das Gericht den Poli-zeibeamten P, der die Verlobte im Ermittlungsverfahren als Zeugin vernom-men hatte. Weitere Beweismittel sind nicht vorhanden. Das Gericht verurteiltden Angeklagten aufgrund der Aussage des Polizeibeamten.

Bei der Behandlung der Verfahrensfehler rügt der RRef (zu Recht), dassdas Gericht mit der Vernehmung des Polizeibeamten § 252 StPO ver-letzt hat.

Bei der Sachrüge kommt nun der typische Fehler:Der RRef beanstandet, dass der Angeklagte zu Unrecht wegen Körper-verletzung gemäß § 223 StGB verurteilt wurde, weil die Körperverlet-zung wegen der Unverwertbarkeit der Zeugenaussage des Polizeibeam-ten nicht nachgewiesen sei.

Diese Argumentation ist falsch!

Entscheidend ist allein, ob der im Urteil festgestellte Sachverhalt die Ver-urteilung wegen § 223 StGB trägt, mögen auf dem Weg zur Sachverhaltsfest-stellung noch so viele Verfahrensfehler passiert sein (Tipp: Vergessen Sie beider Behandlung der Sachrüge sämtliche Verfahrensfehler und tun Sie einfachso, als sei der Sachverhalt ordnungsgemäß festgestellt worden).

Übrigens:

Seien Sie bei der Prüfung der Frage, ob der vom Gericht geschilderteSachverhalt die Verurteilung wegen bestimmter Tatbestände rechtfer-tigt, nicht zu streng mit den Anforderungen an den subjektiven Tatbe-stand.

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z.B.:Sachverhalt im Urteil:Am … entwendete der Angeklagte im Warenhaus … eine CD im Wert von 15,- €, in-dem er sie in seine Manteltasche steckte und – ohne zu bezahlen – an der Kasse vor-beiging.

RRef prüft bei der Sachrüge, ob das Gericht zu Recht wegen § 242 StGB verurteilthat und verneint dies, weil das Gericht bei der Sachverhaltsschilderung den Vorsatzund die Zueignungsabsicht nicht dargestellt habe.

Aber: „Entwenden“ = Vorsätzliche Wegnahme + Zueignungsabsicht

II. Fehler bei der Beweiswürdigung

Grundsatz:

Die Beweiswürdigung unterliegt grundsätzlich keiner Nachprüfungdurch das Revisionsgericht. Es kann also nicht gerügt werden, dasGericht habe die Beweise nicht richtig gewürdigt oder der im Urteilfestgestellte Sachverhalt entspreche nicht den Zeugenaussagen.

Keine Beweiswürdigung durch das Revisionsgericht!

Ausnahmen:

1. Fehlen einer Beweiswürdigung

2. Widersprüchliche Beweiswürdigung

Beispiel:

Tatrichter stützte seine Überzeugung von der Schuld des Ange-klagten darauf, dass die Angaben des Opfers und des Angeklag-ten „weitgehend“ übereinstimmten. Die im Urteil wiedergegebe-ne Einlassung des Angeklagten und des Opfers zeigten jedoch,dass die Darstellungen in nahezu allen wesentlichen Punktenunterschiedlich waren.

3. Verstoß gegen Denkgesetze, Naturgesetze, Erfahrungssätze

(Für Referendarsklausuren selten von Bedeutung!)

4. Verletzung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ (M/G §261/39)

Ein Verstoß liegt nur dann vor, wenn sich aus dem Urteil ergibt,dass der Richter selbst Zweifel an der Schuld des Angeklagtenhatte und dennoch verurteilt hat. Ein Verstoß liegt dagegennicht vor, wenn nach Ansicht des Revisionsführers der Richterhätte Zweifel haben müssen.

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Typischer Referendarsfehler:

„Angesichts der vielen Verwertungsverbote hätte der Angeklagte in dubio proreo nicht verurteilt werden dürfen.“

Nein! Die Verwertungsverbote spielen bei der Sachrüge keine Rolle.

Ein revisibler Fehler kann aber auch darin liegen, dass das Ge-richt den Grundsatz in dubio pro reo nicht - wie richtig – alsmaterielle Rechtsnorm, sondern als Beweisregel auffasst und so– teilweise – zu falschen Tatbestandsfeststellungen kommt.

Plakatives Beispiel zu Verstoß gegen Grundsatz in dubio pro reo:

o Festgestellt werden konnte, dass der Angeklagte mit einer Pistole aufsein Opfer B schoß und zwar wurden zwei Schüsse abgegeben. EinSchuß traf B tödlich, der andere verfehlte ihn. Der Angeklagte räumteein, dass er den ersten Schuss in Tötungsabsicht (auch Heimtückewar zu bejahen, soll hier aber nicht das Problem sein!) abgegeben ha-be, der zweite Schuss habe sich versehentlich gelöst, als sich der An-geklagte von B abgewendet habe. Der Sachverständige kann nicht klä-ren, welcher der beiden Schüsse todesursächlich traf. Das Gerichtkonnte die Einlassung des Angeklagten zum subjektiven Sachverhaltnicht widerlegen, musste ihm also folgen. Es sprach unter Anwendungdes Zweifelssatzes den Angeklagten wegen versuchten Mordes und(Tatmehrheit sei gegeben!) fahrlässiger Tötung schuldig.

o Der BGH hob auf die Sachrüge hin den Schuldspruch hinsichtlich derfahrlässigen Tötung auf und sprach insoweit frei, denn es lag ein Ver-stoß gegen den Zweifelssatz vor. Das Ausgangsgericht habe diesenGrundsatz wie eine Beweisregel behandelt und den insgesamt für denAngeklagten günstigsten Sachverhalt (Tötung nicht in Mordabsicht,sondern nur fahrlässig) seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Richti-gerweise aber ist der Zweifelssatz aber eine Entscheidungsregel, einRechtssatz, der dem Sachlichen Recht angehört.44 Das bedeutet, dasser (erst) bei Subsumtion unter die jeweilige Strafrechtsnorm Anwen-dung finden darf. Somit war ungeklärt, ob der erste – in Mordabsichtabgegebene – Schuss traf. Folglich konnte hier nur wegen Mordver-suchs bestraft werden. Bei Subsumtion des Zweiten Schusses unter §222 StGB musste nun wiederum der Zweifelssatz angewandt werden,so dass auch bei diesem nicht geklärt werden kann, ob er traf odernicht. Da ein Versuch der fahrlässigen Tötung aber nicht strafbar ist,war dieser zweite Schuss nicht zu ahnden und der Angeklagte bezüg-lich dieser Tat freizusprechen.

o Daß in Konsequenz dieser Einordnung des Zweifelssatzes die festste-hende Tatsache der Todesverursachung des B durch ein Verhalten desAngeklagten im Schuldspruch nicht zum Ausdruck kommt (mit ent-sprechender Folge beim Strafausspruch), muss hingenommen werden.

o

Normalerweise enthält die Beweiswürdigung der Revisionsklausur kei-ne revisiblen Fehler. Versuchen Sie also nicht krampfhaft, hier Fehlerzu konstruieren.

44 M/G § 261/26

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Zwei typische Referendarsfehler:

„Die Beweiswürdigung des Gerichts ist fehlerhaft. Denn es hat zu Unrecht dieAussage der Zeugin Z dem Urteil zugrunde gelegt. Deren Aussage ist jedochnicht verwertbar ...“

Nein! Die Frage des Verwertungsverbots ist bei den Verfahrensfehlern zu be-handeln und darf nicht nochmals bei der Sachrüge im Rahmen der Beweis-würdigung gerügt werden.

„Die Beweiswürdigung des Gerichts ist fehlerhaft. Das Gericht hat zu Unrechtder Zeugin Z geglaubt. Deren Aussage ist aber in sich völlig widersprüchlichund daher unglaubhaft ...“

Nein! Das Revisionsgericht darf keine eigene Beweiswürdigung vornehmen.Dies ist allein Sache des Tatrichters.

III. Fehler bei der Bildung der Strafe

Die Strafhöhe als solche ist mit der Revision nicht angreifbar. Verlet-zen jedoch die Strafzumessungserwägungen des Gerichts das Gesetz(vgl. auch § 267 III StPO), so kann dies mit der Sachrüge geltend ge-macht werden (vgl. dazu M/G § 337/34 ff).

Revisibel sind folgende Bereiche:

1. Fehlende Schilderung der persönlichen und wirtschaftli-chen Verhältnisse

Fehlen im Urteil Angaben zu den persönlichen und wirt-schaftlichen Verhältnissen sowie den Vorstrafen des Ange-klagten, so ist eine Beurteilung der persönlichen Schuld desAngeklagten nicht möglich.

2. Ist der Tatrichter vom richtigen Strafrahmen ausgegan-gen?

Liegt die im Urteil erfolgte Sachverhaltsschilderung (alleindiese ist maßgeblich!) die Anwendung einer Strafrahmenver-schiebung nach dem Besonderen Teil oder dem AllgemeinenTeil des StGB nahe, so muss sich das Urteil mit der entspre-chenden Vorschrift auseinandersetzen. Fehlt eine solche Er-örterung, so kann dies mit der Revision angegriffen werden.

Beispiele:

o Im Urteilssachverhalt wird von einem Raub mit geringer Ge-waltanwendung und geringer Beute berichtet. Bei der Strafzu-messung setzt sich das Gericht nicht mit der Frage des minderschweren Falles gemäß § 249 II StGB auseinander. Ihre Rügekönnte dann etwa wie folgt lauten:

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„Das Gericht hat bei der Strafenbildung rechtsfehlerhaft dieFrage eines minder schweren Falles des Raubes gemäß § 249 IIStGB nicht geprüft. Angesichts der geringen Gewaltanwendungund des geringen Beutewertes hätte sich die Erörterung einesminder schweren Falles aufdrängen müssen.“ (Ob wirklich einminder schwerer Fall vorliegt, ist von Ihnen nicht zu entschei-den!)

o Im Urteilssachverhalt wird ausgeführt, dass der Angeklagte zurTatzeit eine BAK von 2,7 ‰ hatte. Bei der Strafzumessungsetzt sich das Gericht nicht mit der Frage einer Strafmilderungnach §§ 21, 49 StGB auseinander.

„Das Gericht hat sich bei der Strafzumessung rechtsfehlerhaftnicht mit der Frage der Strafmilderung nach §§ 21, 49 StGBauseinandergesetzt. Da nach den Feststellungen des Gerichtsim Urteil der Angeklagte zur Tatzeit eine BAK von 2,7 ‰ auf-wies, hätte sich die Erörterung der Frage der vermindertenSchuldfähigkeit gemäß § 21 StGB aufdrängen müssen. Dennbereits ab einem BAK-Wert von 2,0 ‰ kommt eine verminderteSchuldfähigkeit in Betracht (vgl. T/F § 20/19)“.

Auch ein Verstoß gegen § 50 StGB ist mit der Revision angreif-bar.

3. Ordnungsgemäße Abwägung gemäß § 46 II StGB

Gericht muss die wesentlichen Strafzumessungserwägungen inden Urteilsgründen darstellen, insbesondere muss es sich auf-drängende Strafzumessungsgesichtspunkte behandeln

Ergibt sich beispielsweise aus der Beweiswürdigung im Urteil,dass der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat, so muss diesesim Rahmen der Abwägung des § 46 II StGB Berücksichtigungfinden.

Verstoß gegen das Verbot der Doppelverwertung gemäß § 46 IIIStGB ist ebenfalls revisibel.

„Bei der Strafzumessung hat das Gericht gegen § 46 III StGB verstoßen, in-dem es die dauernden Verletzungsfolgen, die bereits Tatbestandsmerkmal des§ 226 StGB sind, nochmals zum Nachteil des Angeklagten wertete.“

4. Ordnungsgemäße Bildung der konkreten Strafe

z.B.:

o Hat das Gericht § 47 StGB beachtet?

o Wurde die Gesamtstrafe richtig gebildet (§ 54 I, II StGB),insbesondere § 54 I 3 StGB beachtet?

„Das Gericht hat § 54 I 3 StGB nicht berücksichtigt. Es hätte bei derBildung der Gesamtstrafe die Person des Täters und die einzelnen

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Straftaten nochmals zusammenfassend würdigen müssen. Dies istfehlerhaft unterblieben.“

5. Bewährung, § 56 StGB

Wird eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als 2 Jahren verhängt,so muss das Urteil dazu Stellung nehmen, ob diese Strafe zurBewährung ausgesetzt werden kann oder nicht.

„Das Urteil enthält keine Ausführungen zu der Frage, warum die verhängteFreiheitsstrafe von 1 Jahr nicht gemäß § 56 StGB zur Bewährung ausgesetztwerden konnte. Nach § 267 III 4 StPO muss hierzu im Urteil Stellung ge-nommen werden.“ (Ob tatsächlich eine günstige Sozialprognose vorliegt, istvon Ihnen nicht zu prüfen!)

Typischer Referendarsfehler bei der Rüge einer fehlerhaften Stra-fenbildung:

Fall: Gericht verurteilt den Angeklagten wegen räuberischen Diebstahlsgemäß § 252 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr.

RRef. rügt bei der Sachrüge (zu Recht) die Anwendung des § 252 StGB undkommt zu dem Ergebnis, dass lediglich ein Diebstahl gemäß § 242 StGB inTateinheit mit Nötigung gemäß § 240 StGB vorliegt.

Bei der Prüfung der Frage, ob das Gericht vom richtigen Strafrahmen ausge-gangen ist, darf nun keinesfalls gerügt werden, dass das Gericht vom Straf-rahmen des Diebstahls gemäß § 242 StGB (statt § 252 StGB) hätte ausgehenmüssen. Maßgebend für die Frage der ordnungsgemäßen Strafenbildung sindallein die vom Gericht im Urteil bejahten Tatbestände (hier also § 252StGB). Ihre eigene rechtliche Würdigung spielt in diesem Zusammenhangkeine Rolle.

Übrigens:

Auch bei der Strafzumessung sind nur die Fehler des Gerichtsaufzuzeigen. Damit ist Ihre Aufgabe erfüllt. Lassen Sie sich nichtdazu verleiten, eine eigene Strafenbildung (wie im Urteil) vorzu-nehmen.

E. Die Revisionsanträge, § 344 I StPO

Es erfolgt keine Ankündigung („ich werde beantragen“), sondern es istunmittelbar ein Antrag zu stellen. Der Antrag soll dem Tenor der be-gehrten Entscheidung des Revisionsgerichts entsprechen. Er bestehtaus zwei Teilen:

o Dem kassatorischen Teil (§ 343 StPO): Aufhebung des Urteils

o Folgeentscheidung (§§ 354, 355 StPO)

Hält das Revisionsgericht die Revision für begründet, dann wird dasangefochtene Urteil gemäß § 353 I StPO aufgehoben.

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Gleichzeitig muss das Gericht gemäß § 353 II StPO eine Entscheidunghinsichtlich der dem Urteil zugrundeliegenden Feststellungen tref-fen. Grundsätzlich werden die tatsächlichen Feststellungen aufgeho-ben. Eine Aufhebung der Feststellungen unterbleibt nur dann, wennder Rechtsfehler keinen Einfluss auf die tatsächlichen Feststellungendes Gerichts hat (vgl. M/G § 353/12).

Darüber hinaus hat das Revisionsgericht eine Entscheidung in derSache selbst zu treffen. In Betracht kommen

o Einstellungen gemäß §§ 354 I, 260 III StPOo Freispruch gemäß § 354 I StPOo Zurückverweisung gemäß § 354 II StGB (Regelfall)o Zurückverweisung gemäß § 355 StPO

Eine Kostenentscheidung trifft das Revisionsgericht nur, wenn dieRevisionsentscheidung verfahrensabschließend ist (also wenn die Sa-che nicht zurückverwiesen wird).

1. Revisionsführer erhebt Verfahrensrüge und evtl. auch die Sach-rüge (Klausurregelfall)

I. Das Urteil des Landgerichts ... wird mit den ihm zugrunde liegenden Fest-stellungen aufgehoben.

II. Die Sache wird an eine andere Strafkammer des Landgerichts ... zu erneu-ter Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

(Verfahrensfehler haben Auswirkungen auf die Gewinnung der tat-sächlichen Urteilsgrundlage; daher sind die tatsächlichen Feststel-lungen des angefochtenen Urteils aufzuheben.)

2. Revisionsführer beanstandet Prozesshindernis

Das Urteil des Landgerichts ... wird aufgehoben.

Das Verfahren wird eingestellt.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagtenträgt die Staatskasse.

(Bei Vorliegen eines Prozesshindernisses, z.B. Verjährung, betrifft derAufhebungsgrund nicht die tatsächlichen Feststellungen des angefoch-tenen Urteils.)

Oder (bei § 355 StPO):

I. Das Urteil des Amtsgerichts ... wird mit den zugrundeliegenden Feststellun-gen aufgehoben.

II. Die Sache wird an das zuständige Landgericht ... verwiesen.

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(Tatgericht hätte aufgrund seiner sachlichen Unzuständigkeit auch dietatsächlichen Feststellungen nicht treffen dürfen.)

3. Revisionsführer erhebt allein die Sachrüge

I. Das Urteil des Landgerichts ... wird aufgehoben.II. Die Sache wird an eine andere Strafkammer des Landgerichts ... zu erneuter

Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.(oder: Der Angeklagte wird freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens und dienotwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.)

(Da die tatsächlichen Feststellungen des Urteils rechtsfehlerfreizustandegekommen sind, bleiben sie unberührt.Ein Antrag auf Freispruch dürfte in Ihren Klausuren wohl kaum vor-kommen. Voraussetzung hierfür wäre, dass der vom Tatgericht festge-stellte Sachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt strafbarist.)

4. Stellung von Hilfsanträgen

Zum Beispiel bei Feststellung eines Prozesshindernisses und gleichzei-tiger Rüge von Verfahrensfehlern.

I. Das Urteil des Landgerichts ... wird aufgehoben.II. Das Verfahren wird eingestellt.

III. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagtenträgt die Staatskasse.

Hilfsweise:

I. Das Urteil des Landgerichts ... wird mit den zugrunde liegenden Feststellun-gen aufgehoben.

II. Die Sache wird an eine andere Strafkammer des Landgerichts ... zu erneuterVerhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

5. Gemischte Anträge

Beispiel:

Hausfriedensbruch in Tatmehrheit mit Betrug.

Hausfriedensbruch: Strafantrag gemäß § 123 II StGB fehlt.Betrug: Verfahrensfehler und materiell-rechtliche Fehler)

o Das Urteil des Amtsgerichts ... wird aufgehoben, soweit der An-geklagte wegen Hausfriedensbruchs verurteilt wurde.

o Das Verfahren wird insoweit eingestellt.o Soweit das Verfahren eingestellt ist, trägt die Staatskasse die

Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Ange-klagten.

o Das Urteil des Amtsgerichts ... wird mit den zugrunde liegendenFeststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen Betrugsverurteilt wurde.

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o Insoweit wird die Sache an einen anderen Strafrichter des Amts-gerichts ... zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurück-verwiesen.

F. Was gehört bei der Aufgabenstellung „Fertigen Sie die Re-visionsbegründungsschrift“ in das Hilfsgutachten?

1. Revisionsgericht

(str., aber schadet zumindest nicht)

2. Zulässigkeit der Revision

Keinesfalls sollten Sie hier sämtliche Zulässigkeitsvoraussetzungeneiner Revision erörtern. Das ist zeitaufwändig und bringt keinePunkte. Ich empfehle, nur solche Punkte herauszugreifen, die wirk-lich ein (zumindest kleines) Problem beinhalten, wie etwa der Ab-lauf der Revisionsbegründungsfrist. Ihre Darstellung zur Zulässig-keit sollte maximal ½ Seite betragen. Gibt es keine Probleme, solassen Sie Ausführungen zur Zulässigkeit einfach weg.

3. Erörterung der Verfahrensfehler bzw. Verfahrensfragen, auf diedie Revision nicht gestützt werden kann, weil

o gar kein Verfahrensfehler vorliegto das Urteil nicht auf dem Fehler beruht (z.B. bloße Ord-

nungsvorschrift wurde verletzt)o die Rügebefugnis wegen § 339 StPO oder der Rechtskreis-

theorie fehlto Heilung eingetreten ist (vgl. M/G § 337/39; § 338/3

4. Erörterung der materiell-rechtlichen Probleme, die vom Gerichtzwar falsch gesehen wurden, aber zum Vorteil des Mandanten

Ist die Revisionsbegründungsschrift des Verteidigers zu entwerfen,so müssen Sie unbedingt darauf achten, dass Sie im Rahmen derSachrüge nicht solche Fehler rügen, die für Ihren Mandanten güns-tig waren (z.B. Gericht verurteilt wegen § 223 StGB statt wegen §224 StGB). Solche Fehler sind im Hilfsgutachten zu behandeln.

5. Evtl.: Erörterung der materiell-rechtlichen Probleme, die vomGericht korrekt behandelt wurden

G. Vorgehensweise in der Klausur

Im Gegensatz zu den Aufgaben „Abschlussverfügung, Urteil und Plä-doyer“ ist es bei Revisionsklausuren nicht erforderlich, vor der Nieder-

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schrift sämtliche Probleme zu durchdenken und ein fertiges Konzeptzu erstellten, bevor man „ins Reine“ zu schreiben beginnt. Vielmehrkönnen Sie die Probleme der Reihe nach „abarbeiten“ und Ihr Ergebnisgleich niederschreiben. Bei den Vorüberlegungen sollte folgende Rei-henfolge eingehalten werden:

1. Suche nach fehlenden Prozessvoraussetzungen/Verfahrensfehlern

Diese sind nicht immer leicht zu erkennen. Manchmal ergeben siesich auch erst im Laufe der Klausurbearbeitung.

2. Suche nach Verfahrensfehlern

Beginnen Sie hier mit den „großen“ Problemen, die Sie i.d.R. daranerkennen, dass Verteidiger, Staatsanwalt oder evtl. auch das Ge-richt hierzu eine Rechtsansicht äußern (verlassen Sie sich abernicht darauf, dass alle wichtigen Verfahrensfehler ausdrücklich an-gesprochen sind. Leicht übersehen wird z.B. ein Verstoß gegen §243 III 1, 265, 258 II StPO, evtl. auch § 244 II StPO).

Kleinstproblem (z.B. unvollständige Belehrung nach § 57 StPO =Ordnungsvorschrift) erst ganz zum Schluss behandeln; bei Zeit-mangel lieber gleich zur Sachrüge übergehen.

3. Suche nach materiell-rechtlichen Fehlern

In manchen Klausuren liegt hier ein Schwerpunkt, vor allem beider Frage ob die Tatbestände zutreffend beurteilt wurden.

Achten Sie – falls eine Verteidigerrevision verlangt ist – unbedingtdarauf, dass Sie nicht den Blickwinkel des Verteidigers verlieren.

Aufgabenstellung: Erstellung eines Gutachtens zu den Er-folgsaussichten einer eingelegten (aber noch nicht begründe-ten) Revision

Dieser Aufgabentyp war in den letzten Jahren selten Gegenstand des Ex-amens. Inwieweit er überhaupt noch Bedeutung besitzt, vermag ich nicht zubeurteilen.

Vorabprüfung: Zuständiges Revisionsgericht

I. Zulässigkeit der Revision

Soweit die Revision unproblematisch zulässig ist, sollte hierzu nurganz kurz Stellung genommen werden.

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Auf den Bearbeitervermerk achten: manchmal ist die Zulässigkeits-prüfung erlassen (z.B.: „Es ist ein Gutachten dazu zu erstellen, obRechtsverstöße vorliegen, die eine Revision begründen.“)

II. Prozessvoraussetzungen/Verfahrenshindernisse

III. Erörterung der Verfahrensfehler

Hier hat eine chronologische Erörterung sämtlicher Verfahrensfra-gen, die problematisch sind, zu erfolgen. D.h., es sind auch solcheVerfahrensfragen zu erörtern, auf die eine Revision nicht gestütztwerden kann, weil

gar kein Verfahrensfehler vorliegtdas Urteil nicht auf dem Fehler beruhtdie Rügebefugnis wegen § 339 StPO oder der Rechtskreistheorie

fehltHeilung eingetreten ist.

Soweit ein Verfahrensfehler bejaht wird, muss zur Frage des Beruhens(§ 337 StPO) Stellung genommen werden.

Achtung:Im Gegensatz zur Aufgabenstellung „Revisionsbegründungs-schrift“ ist bei der Aufgabenstellung „Gutachten“ keine Tatsa-chenschilderung gemäß § 344 II 2 StPO erforderlich. Sie könnenalso gleich mit der rechtlichen Erörterung beginnen!(Ebenso wenig ist die Benennung von Beweismitteln erforderlich.Wenn jedoch ein Fall der positiven/negativen Beweiskraft des Proto-kolls vorliegt, empfehle ich, hierauf kurz hinzuweisen. Z.B.: „Die Ge-währung des letzten Wortes gemäß § 258 II StPO ist eine wesentlicheFörmlichkeit des Verfahrens, für die die unwiderlegliche Beweiskraftdes Protokolls gemäß § 274 StPO gilt.“)

IV. Erörterung der materiell-rechtlichen Probleme

o Fehler bei der rechtlichen Würdigung (Subsumtionsfehler)o Fehler bei der Beweiswürdigungo Fehler bei der Bildung der Strafe

Ist das Gutachten für den Verteidiger zu erstellen, sollten Sie bei Feh-lern im Urteil, die sich zugunsten des Angeklagten auswirken, deutlichmachen, dass die Revision auf solche Fehler nicht gestützt wird.

V. Zusammenfassende Darstellung der Verstöße, die erfolgversprechenderscheinen

„Eine Revision des Verteidigers wäre erfolgreich, weil folgende revisibleFehler vorliegen:...“