Reise zu den 24 heiligen Orten der Yoginı-s in Indien · Kamakhya-Tempels vom Guwahati, der als...

4
Reise 37 Tibet und Buddhismus 4/2010 J eder, der sich im tantrischen Bud- dhismus der Praxis von Heruka und Vajrayoginï widmet, erfährt früher oder später von den berühm- ten 24 heiligen Orten in Indien. In Legenden wird berichtet, dass diese Kraftplätze ursprünglich unter der Herrschaft Shivas und seiner An- hänger gestanden hätten. Dort habe sich der Buddha in Form der zornvol- len tantrischen Gottheit Heruka mani- festiert, diese Orte und die leidenden Wesen befreit, die Unheilstifter unter- worfen und transformiert. Die Namen der befriedeten Dämonen blieben erhalten, sie sind nun die 62 Gott- heiten des buddhistischen Heruka- Ma¶∂alas, die an diesen 24 Orten re- sidieren. Reise zu den 24 heiligen Orten der Yoginı - s in Indien Die Autorin besuchte drei der 24 heiligen Orte Indiens, zu denen in früheren Jahr- hunderten tibetische Tantra- Praktizierende pilgerten. Es sind heute wichtige Pilgerorte des Hinduismus, die etwas vom ursprüng- lichen tantrischen Geist vermitteln. Der Kamakya-Haupttempel der Hindus in Guwahati ist als identisch mit dem Ort Kamarupa aus dem Heruka-Tantra identifiziert worden. Text und Fotos von Elke Hessel

Transcript of Reise zu den 24 heiligen Orten der Yoginı-s in Indien · Kamakhya-Tempels vom Guwahati, der als...

Reise

37Tibet und Buddhismus 4/2010

Jeder, der sich im tantrischen Bud-dhismus der Praxis von Herukaund Vajrayoginï widmet, erfährt

früher oder später von den berühm-ten 24 heiligen Orten in Indien. InLegenden wird berichtet, dass dieseKraftplätze ursprünglich unter derHerrschaft Shivas und seiner An-hänger gestanden hätten. Dort habesich der Buddha in Form der zornvol-len tantrischen Gottheit Heruka mani-festiert, diese Orte und die leidendenWesen befreit, die Unheilstifter unter-worfen und transformiert. Die Namender befriedeten Dämonen bliebenerhalten, sie sind nun die 62 Gott-heiten des buddhistischen Heruka-Ma¶∂alas, die an diesen 24 Orten re-sidieren.

Reise zu den 24 heiligen Orten

der Yoginı-s in Indien

Die Autorin besuchte drei

der 24 heiligen Orte Indiens,

zu denen in früheren Jahr-

hunderten tibetische Tantra-

Praktizierende pilgerten.

Es sind heute wichtige

Pilgerorte des Hinduismus,

die etwas vom ursprüng-

lichen tantrischen Geist

vermitteln.

Der Kamakya-Haupttempel der Hindus in Guwahati ist als identisch mit dem Ort Kamarupaaus dem Heruka-Tantra identifiziert worden.

Text und Fotos von Elke Hessel

38 Tibet und Buddhismus 4/2010

Reise

Diese Überlieferung beschreibt – hierverwende ich westliche Begriffe – denarchetypischen und existenziellenKampf zwischen Gut und Böse.Zugleich geht sie aber darüber hinaus,indem sie auf die äußere und innereWelt und Erfahrungsebene hinweistund besagt, dass diese 24 Orte nichtnur äußerlich, sondern auch im Kör-per der Wesen existieren.

Seit vielen Jahren habe ich michgefragt, wie die sogenannten äußeren24 Orte wohl aussehen. Einiges dazuhabe ich im berühmten tibetischenReiseführer Gya Gar Lam Yig1 vonGendün Chöpel2 gefunden, der Endeder 30er Jahren des letzten Jahrhun-derts als moderner Pilger durch Indiengereist ist und einige dieser Kraftortebesucht hat.

Der tibetische Forscher LobsangShastri3 spricht davon, dass es insbe-sondere im 13. Jahrhundert eine vontantrischen Praktizierenden vielbe-gangene Pilgerroute aus Tibet zu denindischen Heruka/Yoginï Orten gege-ben habe. Damals lokalisierten dietibetischen Gelehrten – insbesondereButön Rinchen Drub – die 24 Orte

und listeten sie auf: Pullirmaya, Jalan-dhara, Odiyana, Arbuda, Godavari,Rameshvari, Devikoti, Malava, Kama-rupa, Odra, Trishku, Koshala, Kalinga,Lampaka, Kanci, Himalaya, Pretapuri,Grihaddevata, Saurastra, Suvarnadvi-pa, Nagara, Sindhu, Maru, Kuluta.

Als meine Neugierde, möglichstviele dieser 24 Orte in Indien zu be-suchen, kaum noch im Zaum zu hal-ten war, habe ich gemeinsam mit derReligionswissenschaftlerin AdelheidHerrmann-Pfandt4, die seit Jahrzehn-ten über dieses Thema forscht, eineReise konzipiert.

Im Winter 2008 sind wir zusam-men mit anderen Reisenden nachIndien aufgebrochen zu einer erleb-nisreichen, anstrengenden und bilder-reichen Reise, die uns zu Schnee-bergen geführt hat, in trockene zen-tralindische Landschaften, in dichtbesiedelte Städte, aber auch ansMeer. Wir haben drei der wichtigsten24 Orte besucht, zwei davon inNordindien in der Nähe von Dharam-sala und einen im entfernten Assam.

Auch haben wir es uns nicht neh-men lassen, die verlassenen, im Ver-

borgenen liegenden, uralten – manch-mal rund angelegten – Tempelan-lagen, die dem Hindugott Bhairavaund den Yoginïs gewidmet sind, zubesuchen. Diese liegen oft am Randevon kleinen Dörfern, und ihre ur-sprüngliche Funktion als tantrischeRitualstätten ist manchmal nur nochzu erahnen.

Die Bandbreite

menschlicher Gefühle

Zunächst war ich erstaunt über dieTatsache, dass keiner der identifizier-baren 24 Orte ein buddhistischerbzw. „rein buddhistischer“ Ort ist. ImGegensatz zu dem, was die tibetisch-buddhistische Überlieferung besagt,sind es alles Orte, die hauptsächlichvon Anhängern des Shaktismus unddes Shivaismus verehrt werden.

Diese heute noch aktiven Pilger-orte, die zum Teil zu den indischenHauptpilgerstätten gehören, sind allesandere als romantisch. Oft ist es buntschillernd, laut, eng und heiß. Es wer-

Der Yoginı--Tempel von Hirapur, Orissa, mit Skulpturen der 64 Yoginı-s.

den Tieropfer dargebracht, und derintensive Geruch von Räucherwerk,Blumen, Parfüm und geronnenemBlut hängt in der Luft. Manchmalhatte ich den Eindruck, als seien hieralle menschlichen Gefühle, die mög-lich sind, in der größtmöglichen Dichtepräsent: Hingabe, Aggression, An-dacht, Verehrung, Dumpfheit, Gier,Entsagung und vieles mehr.

Der erste der 24 heiligen Orte,den wir besuchten, war der Tempel-komplex von Jwalamukhi („Flammen-maul“) in der Nähe von Dharamsala.Dort wird eine natürliche, aus einerErdspalte kommende Gasflamme alsAktivität oder Abbild der Göttin ver-ehrt.

Zu dem auf einem Hügel liegen-den Hauptheiligtum führt ein steiler,von Devotionalienständen gesäumterWeg. Hier können die Pilger Abbilderder Göttin und Opfergaben kaufen.Zusätzlich rot glitzernde Tücher undBänder, die insbesondere von Mäd-chen getragen werden, um so dieIdentifikation mit der Göttin am eige-nen Leibe zu erfahren. Wie selbstver-ständlich wurden wir Frauen aus dem

Westen mit aufgenommen in diesesRitual und mit roter Farbe und Stoffenbeglückt.

Über den zweiten heiligen Ort,das sagenhafte Jalandhara – heuteKangra genannt – , haben die tibeti-schen Reisenden des 13. Jahrhundertsviel Wundersames berichtet. In einerPilgerbiographie heißt es, der Ortsehe aus wie ein Ma¶∂ala, in dessenInnerem eine weibliche Gottheit resi-diere. Hinduistische Quellen spre-chen davon, dass hier eine Brust derGöttin verehrt werde. Im zentralenHauptheiligtum wird die Göttin Braje-shari (ein Synonym für Vajravåråhï)verehrt, für die ein spektakulär voreiner schneebedeckten Bergkette ge-legener Tempel errichtet worden ist.

Über Delhi ging es dann weiter

nach Assam, ins weit im Osten In-diens gelegene Guwahati, ganz nahan der Grenze zu Bhutan und Tibet.Beeindruckend war der Besuch desKamakhya-Tempels vom Guwahati,der als identisch mit dem Ort Kama-rupa aus dem Heruka-Tantra identifi-ziert worden ist.

Wir mussten zusammen mit denhinduistischen Pilgern an diesem wohlheiligsten Göttinnenort Indiens übereine steile Steintreppe in unerträg-licher Hitze und umgeben von schwe-ren Gerüchen, dichtgedrängt tief insInnere des Hügels hinabsteigen. Dortwird die Yoni (Vulva) der Göttin inGestalt einer natürlichen Felsspalteverehrt.

Das Heiligtum besitzt eine derschönsten Architekturen, die ich je-mals gesehen habe. Der Haupttempelist ellipsenförmig, und in vielen Ni-

schen finden sich uralte, mit rotemoder orangefarbenem Farbpuder ein-geriebene Reliefs kraftvoller Frauen-gestalten, manche in „ureigensten“weiblichen Aktivitäten dargestellt: stil-lend oder menstruierend.

Über Kolkata reisten wir weiternach Orissa, dort, wo sich der tantri-sche Buddhismus vom 8. bis zum 9. Jh.zur hohen Blüte entwickelte. Be-sonders beeindruckte mich der 64-Yoginï-Tempel von Hirapur, südöstlichvon Bhubaneshvar. Der Tempel ist mit7,80 Meter Durchmesser der kleinsteseiner Art. Und er ist, wie viele andere,rund und oben offen, da man glaubte,dass die Yoginïs durch die Luft an ihrenKultort geflogen kämen.

An der Innenseite der rundenAußenmauer sind innen die Skulptu-

ren der 64 Yoginïs angebracht, die aufuns vollkommen lebendig wirkten.Hier spürten wir noch etwas vom„ursprünglichen tantrischen Geist“ undvon der innigen Verbundenheit vonPraxis, Architektur und Landschaft.

Hinduistisches und

buddhistisches Tantra

Die Reise zu diesen alten tantrischenOrten – egal ob sie hinduistisch oderbuddhistisch waren – hat mich nach-haltig beeindruckt. Ich frage mich oft,wie sich die Pilger der früheren Jahr-hunderte gefühlt haben, als sie dieseStätten besuchten. Wenn man denalten Biographien Glauben schenkt,dann haben viele tantrische Praktizie-

Reise

39Tibet und Buddhismus 4/2010

O Zauberer, an den 24 Orten

nimmst du eine unbegrenzte Zahl an Formen an,

um den Glücklichen beizustehen.

Je Pabongkha

rende tiefgehende Erfahrungen undVisionen an diesen Orten gehabt.

Auch die natürlichen geographi-schen Gegebenheiten haben die Vor-stellungskraft stimuliert. Hinzu kom-men wohl in den allermeisten Fällenuralte, naturreligiöse Vorstellungen:Die Felsspalte wird zur Yoni, die nichterklärbare Gasflamme, die aus demErdinnern züngelt, wird zur Zunge derGöttin, sanft gerundete Hügel werdenzur Brust.

Die Landschaft wird als ein leben-diges Wesen verstanden, als „MutterErde“, als geheimnisvoll und kraftvoll.

Adelheid Hermann-Pfandt undandere Wissenschaftler haben vielZeit investiert, die 24 mythologischenOrte auf dem „realen“ indischen Sub-kontinent zu lokalisieren. Das „geo-graphische äußere Ma¶∂ala“ reicht –höchstwahrscheinlich – von Tirthapuriin Westtibet, das mit Pretapuri assozi-iert wird, bis nach Sumatra.

Interessant ist, dass ein maßgeb-licher Shiva-Sådhana-Text und dererste buddhistische Sådhana-Text zuHeruka fast identisch sind. Der eineist schlichtweg vom anderen abge-schrieben worden, sogar ein Fehler seimit übernommen worden. Auch dieNamen der 24 Orte sind identisch.

Der „Besitzerwechsel“ wird imreligiösen Kontext als „Transformie-ren“ bezeichnet. So werden die Praxisund die ursprünglich „schadenstiften-den Wesen“ neu ausgerichtet, ineinen buddhistischen Kontext vonWeisheit und Mitgefühl gestellt. Die

„Rohform“ bleibt (fast) gleich. Religi-onspolitisch gesehen ist das Verwen-den des „Altbewährten“, das aufeinen neuen Zweck ausgerichtet wird,nichts Unbekanntes. Hier geht eswahrscheinlich schlichtweg um Macht-demonstration. Macht das u.a. dieenorme Sogkraft der Praxis aus?

Für den buddhistischen Meditie-renden ergibt sich eine faszinierendeSimultanität zwischen der subtilenWahrnehmung des inneren und äu-ßeren Ma¶∂alas mit seinen 24 Ortenoder auch – grober formuliert – derinneren und äußeren Welt. In seiner

Identifikation mit dem göttlichen Kör-per Herukas (inklusive Körper-ma¶∂ala) erfährt er gleichzeitig dieWahrnehmung seiner selbst als dieganze Welt. So erklärt sich die Vor-stellung, dass die 24 Orte gleichzeitigaußen und innen sind.

Die sinnliche, „begreifbare“ Er-fahrung des Pilgerns zu den tantri-schen Orten eröffnet etwas vollkom-men anderes als die eher trockenePraxis auf dem heimischen Sitzkissen.Es liegt am Betrachter, ob er dieseKraftplätze als irdisch oder überirdischwahrnimmt.

Reise

40 Tibet und Buddhismus 4/2010

1 The Guide to India, a Tibetan Account by Amdo Gendun Chöphel, Toni Huber. Library of Tibetan Works and Archives, Dharamsala 2000.2 Einer der berühmtesten Gelehrten der Gelugpa-Tradition des 20. Jh. 3 The Pilgrimage to Jalandhara: Description and spiritual Experiences of Tibetan and Trans-Himalayan Pilgrims.

Lobsang Shastri.Library of Tibetan Works and Archives, Dharamsala 4 Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft in Marburg, Dissertation: Dakinis. Zur Stellung und Symbolik des Weiblichen

im tantrischen Buddhismus, Indica-et-Tibetica Verlag, Bonn 1990, 2., erweiterte Auflage Marburg 2001, ISBN 3-923776-20-9

Elke Hessel, vorne rechts im Bild mit Pilgerinnen in Jwala-muki, lebt und arbeitet in Frankfurt. Sie hat die inhaltlicheLeitung des Tibethauses Deutschland und ist Herausgeberindes Chökor, Tibethaus Journals. Sie studierte IntegrationKunst und Architektur und Erziehungswissenschaften, sowieKlassisches Tibetisch. Elke Hessel ist Autorin einer Biographieüber Amdo Gendün Chöpel, erschienen 2000 im TheseusVerlag. Seit vielen Jahren arbeitet sie mit modernen tibeti-schen Künstlern in Tibet zusammen und betreut dort auchkulturelle und soziale Projekte.

YoginÏ-Statue im Tempel von Hirapur.