Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im...

8
172 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive 1 3 originalarbeit Zusammenfassung Anliegen Ziel dieser Arbeit ist es, verschiedene Dimen- sionen von Religiosität und Spiritualität bei stationären psychiatrischen PatientInnen zu untersuchen. Gibt es Unterschiede im religiös/spirituellen Befinden zwischen suchtkranken (ICD-10: F1x) und ängstlich/depressiven (ICD-10: F3x/F4x) PatientInnen? Welche Implikationen ergeben sich daraus für die Behandlung? Methode Es werden suchtkranke PatientInnen (n = 389), ängstlich/depressive PatientInnen (n = 200) und eine gesunde Vergleichsgruppe (n = 1500) mithilfe des Multidimensionalen Inventars zum Religiös/Spiri- tuellen Befinden (MI-RSB) miteinander verglichen. Des Weiteren wird RSB innerhalb der psychiatrischen Grup- pen zu Persönlichkeitsfaktoren und psychischer Erkran- kung in Beziehung gesetzt. Ergebnisse Die psychiatrischen Gruppen zeigen ein geringeres Ausmaß an RSB als gesunde Vergleichsper- sonen (p < 0,001). Des Weiteren ergeben sich negative Zusammenhänge zwischen den RSB-Dimensionen mit psychopathologischen Symptomen. Schlussfolgerungen Basierend auf diesen Ergebnissen kann auf die Relevanz religiös/spiritueller Inhalte für die psychiatrische Praxis geschlossen werden. Im Besonde- ren ist auf die mögliche therapeutische Wirksamkeit der RSB-Dimensionen „Hoffnung“ und „Vergeben“ in der Arbeit mit psychiatrischen PatientInnen zu verweisen. Schlüsselwörter Coping · Depression · Religion · Spiri- tualität · Sucht Religious/spiritual well-being in mentally ill persons: a comparison of anxious/depressives, addicts and healthy controls Summary Objective e aim of this study is to investigate differ- ent dimensions of religiosity and spirituality among psychiatric in-patients. e study examines differences between addictive (ICD 10: F1x) and anxious/depressive (ICD 10: F3x/F4x) patients and considers the main im- plications for treatment. Method Differences in dimensions of religious/spiri- tual well-being (RSWB) between addictive (n = 389) and anxious/depressive patients (n = 200) are investigated, also by comparison to a control group (n = 1,500). Fur- thermore dimensions of RSWB are related to personality factors and different psychiatric parameters within the psychiatric groups. Results e psychiatric groups show a lower amount of overall RSWB (p <  0.001) than the healthy controls. Furthermore, dimensions of RSWB turned out to be negatively correlated with several psychiatric symptoms. Conclusions Based on these results we emphasize religious/spiritual issues within psychiatric treatment. Moreover, there may be a strong potential of the RSWB dimensions such as “Hope” or “Forgiveness” as positive therapeutic factors in psychiatric treatment. Neuropsychiatr (2013) 27:172–179 DOI 10.1007/s40211-013-0075-5 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen Human-Friedrich Unterrainer · Helmut Schöggl · Andrew J. Lewis · Andreas Fink · Elisabeth Weiss · Hans Peter Kapfhammer Priv. Doz. DDr. H.-F. Unterrainer () · Prof. A. Fink · Prof. E. Weiss Institut für Psychologie, Karl-Franzens-Universität Graz, Geidorfgürtel 20/4/10, 8010 Graz, Österreich E-Mail: [email protected] Priv. Doz. DDr. H.-F. Unterrainer Zentrum für Integrative Suchtforschung (Verein Grüner Kreis), Wien, Österreich Priv. Doz. DDr. H.-F. Unterrainer · Dr. H. Schöggl · Prof. H. P.  Kapfhammer Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich Prof. A. J. Lewis School of Psychology, Faculty of Health, Deakin University, Melbourne, Australien Eingegangen: 4. Februar 2013 / Angenommen: 7. Mai 2013 / Online publiziert: 10. August 2013 © Springer-Verlag Wien 2013

Transcript of Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im...

Page 1: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

172 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive 1 3

originalarbeit

ZusammenfassungAnliegen Ziel dieser Arbeit ist es, verschiedene Dimen-sionen von Religiosität und Spiritualität bei stationären psychiatrischen PatientInnen zu untersuchen. Gibt es Unterschiede im religiös/spirituellen Befinden zwischen suchtkranken (ICD-10: F1x) und ängstlich/depressiven (ICD-10: F3x/F4x) PatientInnen? Welche Implikationen ergeben sich daraus für die Behandlung?

Methode Es werden suchtkranke PatientInnen (n = 389), ängstlich/depressive PatientInnen (n = 200) und eine gesunde Vergleichsgruppe (n = 1500) mithilfe des Multidimensionalen Inventars zum Religiös/Spiri-tuellen Befinden (MI-RSB) miteinander verglichen. Des Weiteren wird RSB innerhalb der psychiatrischen Grup-pen zu Persönlichkeitsfaktoren und psychischer Erkran-kung in Beziehung gesetzt.

Ergebnisse Die psychiatrischen Gruppen zeigen ein geringeres Ausmaß an RSB als gesunde Vergleichsper-sonen (p < 0,001). Des Weiteren ergeben sich negative Zusammenhänge zwischen den RSB-Dimensionen mit psychopathologischen Symptomen.

Schlussfolgerungen Basierend auf diesen Ergebnissen kann auf die Relevanz religiös/spiritueller Inhalte für die

psychiatrische Praxis geschlossen werden. Im Besonde-ren ist auf die mögliche therapeutische Wirksamkeit der RSB-Dimensionen „Hoffnung“ und „Vergeben“ in der Arbeit mit psychiatrischen PatientInnen zu verweisen.

Schlüsselwörter Coping · Depression · Religion · Spiri-tualität · Sucht

Religious/spiritual well-being in mentally ill persons: a comparison of anxious/depressives, addicts and healthy controls

SummaryObjective The aim of this study is to investigate differ-ent dimensions of religiosity and spirituality among psychiatric in-patients. The study examines differences between addictive (ICD 10: F1x) and anxious/depressive (ICD 10: F3x/F4x) patients and considers the main im-plications for treatment.

Method Differences in dimensions of religious/spiri-tual well-being (RSWB) between addictive (n = 389) and anxious/depressive patients (n = 200) are investigated, also by comparison to a control group (n = 1,500). Fur-thermore dimensions of RSWB are related to personality factors and different psychiatric parameters within the psychiatric groups.

Results The psychiatric groups show a lower amount of overall RSWB (p < 0.001) than the healthy controls. Furthermore, dimensions of RSWB turned out to be negatively correlated with several psychiatric symptoms.

Conclusions Based on these results we emphasize religious/spiritual issues within psychiatric treatment. Moreover, there may be a strong potential of the RSWB dimensions such as “Hope” or “Forgiveness” as positive therapeutic factors in psychiatric treatment.

Neuropsychiatr (2013) 27:172–179DOI 10.1007/s40211-013-0075-5

Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen

Human-Friedrich Unterrainer · Helmut Schöggl · Andrew J. Lewis · Andreas Fink · Elisabeth Weiss · Hans Peter Kapfhammer

Priv. Doz. DDr. H.-F. Unterrainer () · Prof. A. Fink · Prof. E. WeissInstitut für Psychologie, Karl-Franzens-Universität Graz, Geidorfgürtel 20/4/10, 8010 Graz, ÖsterreichE-Mail: [email protected]

Priv. Doz. DDr. H.-F. UnterrainerZentrum für Integrative Suchtforschung (Verein Grüner Kreis), Wien, Österreich

Priv. Doz. DDr. H.-F. Unterrainer · Dr. H. Schöggl · Prof. H. P.  KapfhammerUniversitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich

Prof. A. J. LewisSchool of Psychology, Faculty of Health, Deakin University, Melbourne, Australien

Eingegangen: 4. Februar 2013 / Angenommen: 7. Mai 2013 / Online publiziert: 10. August 2013© Springer-Verlag Wien 2013

Page 2: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive 173

originalarbeit

Keywords Coping · Depression · Religion · Spirituality · Addiction

Einleitung

Religiosität und Spiritualität als Themen der Psychiatrie als auch der Psychologie und Psychotherapie konnten in den letzten Jahren ein steigendes Interesse erfahren. Dies lässt sich vor allem an der vermehrten Anzahl ein-schlägiger Publikationen festmachen [3]. Demnach stellen Seyringer et al. [15; S.  239] in einer Überblicks-arbeit die Faust’sche Gretchenfrage („Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“) und kommen zum Schluss, dass das Spannungsfeld zwischen spirituellen Kon-zepten von PatientInnen und behandelnden Psychia-terInnen in Zukunft vermehrt fokussiert werden sollte. Diese Wertung soll für die vorliegende Arbeit aufgegrif-fen und anhand empirischer Daten unterfüttert werden – die Relevanz von Religiosität und Spiritualität für das klinisch-psychiatrische Feld kann dabei eine weiter-führende Reflexion erfahren. Eine einleitende Begriffs-bestimmung, was nun unter Religion, Religiosität bzw. Spiritualität genau zu verstehen ist, soll in Anlehnung an die aktuelle Ausgabe des Wörterbuchs der APA: Ame-rican Psychological Association [1] wie folgt passieren: Religion meint ein System spiritueller Glaubenshal-tungen oder Glaubenspraktiken oder beides, welche typischerweise um die Verehrung einer allmächtigen Gottheit (oder Gottheiten) angelegt sind. Das inkludiert u.  a. Verhaltensweisen wie Gebet, Meditation und die Teilnahme an öffentlichen Ritualen. Andere allgemeine Merkmale einer organisierten Religion sind der Glaube, dass bestimmte moralische Lehren eine göttliche Auto-rität besitzen bzw. werden bestimmte Personen, Plätze, Texte oder Objekte als „heilig“ oder „göttlich“ benannt und verehrt. Religiosität haftet der Religion als Merkmal an und bezeichnet das Ausmaß, in dem sich ein Indivi-duum einem bestimmten Glaubenssystem verbunden fühlt. Was nun die Spiritualität betrifft, so kann darunter eine Form der Glaubenshaltung verstanden werden, die über den Glauben im Sinne einer bestimmten religiö-sen Gemeinschaft hinausgeht – Spiritualität kann, muss aber nicht an ein religiöses Glaubenssystem gekoppelt sein und beschreibt mehr eine non-traditionelle nicht an Konfessionen gebundene Form der Glaubenshaltung. Wichtig ist dabei, zu ergänzen, dass Religiosität und Spiritualität sich oft inhaltlich überlappen und deshalb auch einerseits als zueinander in Beziehung stehend bzw. andererseits als eigenständige Konzepte beforscht werden sollten [12]. Des Weiteren kann die schon bei William James [8] nachzulesende Forderung nach einer multidimensionalen Erfassung von Religiosität/Spiritu-alität noch immer als zeitgemäß erachtet werden. Was nun die Zusammenhangsstruktur von Religiosität und Spiritualität mit psychischer Erkrankung bzw. auch die Krankheitsverarbeitung von psychiatrischen Patient-Innen betrifft, so bleibt eine abschließende Bewertung schwierig. Einerseits sind besonders in den letzten Jah-

ren zahlreiche Publikationen erschienen, welche auf eine salutogene Wirkung von Religiosität und Spiritua-lität im Kontext von psychischer Erkrankung verweisen [9]. Andererseits wird von den betreffenden AutorInnen selbst immer wieder auf Einschränkungen des eigenen Zugangs verwiesen. Nicht zuletzt deshalb fordern Dein et al. [3] in einer rezenten Arbeit die explizite Berück-sichtigung verschiedener Zugänge zur Erforschung reli-giöser Phänomene im Sinne eines interdisziplinären Miteinanders. Des Weiteren erfährt die mögliche Inte-gration religiös/spiritueller Inhalte in die Behandlung psychisch kranker Personen eine besonders kritische Wertung durch einen Zweifel an der grundsätzlichen Relevanz [16]. So zeigte sich zum Beispiel in einer meta-analytischen Betrachtung der Zusammenhangsstruktur von Religiosität und Depression praktisch keine signi-fikante Korrelation (r = − 0,096) [17]. Darüber hinaus wird auf die notwendige Berücksichtigung von mögli-chen pathogenen Formen von Religiosität verwiesen [9]. Andererseits konnte in eigenen Arbeiten der negative Zusammenhang zwischen Religiosität/Spiritualität und verschiedenen Indikatoren psychischer Erkrankung bei unterschiedlichen psychiatrischen PatientInnengrup-pen immer wieder bestätigt werden [20]. Was nun spe-ziell das Gebiet der Suchterkrankungen betrifft, so mag den Bereichen Religion und Spiritualität eine besondere Bedeutung zukommen. Immer wieder weisen Studien Religiosität und Spiritualität als wichtige Dimensionen in der Behandlung von Suchterkrankungen aus [10].

Die multidimensionale Erfassung des religiös/spirituellen Befindens

Das Konzept des religiös/spirituellen Befindens (RSB) wurde im Rahmen eines interdisziplinären Arbeitskrei-ses an der Medizinischen Universität Graz erarbeitet. Im Sinne eines bio-psycho-sozio-spirituellen Verständ-nisses von Gesundheit und Krankheit wurde das Augen-merk auf eine explizite Berücksichtigung einer religiös/spirituellen Dimension gelegt. Zentraler Bestandteil die-ses Vorhabens war die Entwicklung eines multidimen-sionalen Inventars zum religiös-spirituellen Befinden (MI-RSB), basierend auf den Daten von klinischen als auch non-klinischen Gruppen [20]. Ursprünglich waren auf theoretischer Ebene fünf Dimensionen des religiös/spirituellen Befindens formuliert worden: „Hoffnung“, „Vergebung“, „Rituale und Symbole“, „Erfahrungen von Bedeutung und Sinn“ bzw. die „Akzeptanz der Endlich-keit des Lebens“. Diese Annahme konnte auf der Basis empirischer Daten letztlich nach teilweiser Revision bestätigt werden. Als Ergebnis dieses Entwicklungs-prozesses wurde für eine Endversion eine sechsdimen-sionale Lösung angenommen: „Hoffnung immanent“, „Vergebung“, „Erfahrung von Bedeutung und Sinn“, „All-gemeine Religiosität“, „Allverbundenheit“ und „Hoff-nung Transzendent“ können einzeln betrachtet werden oder ergeben aufsummiert das Ausmaß an „Religiös/Spi-rituellem (Wohl)Befinden“ (RSB). Wichtig zu ergänzen

Page 3: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3174 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive

ist dabei, dass sich die ersteren drei Dimensionen eher auf den immanenten Raum der Wahrnehmung bezie-hen, letztere drei Dimensionen zielen eher auf einen transzendenten Raum der Wahrnehmung ab. Diese Auf-teilung wurde schon auf theoretischer Ebene postuliert und konnte über die Phasen der Operationalisierung hinweg beibehalten werden. In diesem Sinne darf unter immanentem Raum der bio-psycho-soziale Bereich der Wahrnehmung verstanden werden – daraus ergibt sich schlüssig die Erfahrung von Transzendenz, welche dadurch charakterisiert ist, dass sie den immanenten Raum übersteigt, hin zu einem spirituellen Bereich der Wahrnehmung [18]. Davon ausgehend kann RSB als die Fähigkeit beschrieben werden, Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz durch ein Gefühl der Verbundenheit mit sich selbst, mit anderen Menschen und einer (wie auch immer gearteten) höheren Macht zu erfahren [19]. Des Weiteren werden die einzelnen Subskalen durch die zutreffenden Marker-Items weiter inhaltlich erläu-tert: Somit steht für „Hoffnung immanent“: „Ich blicke mit Optimismus in die Zukunft“, für „Vergeben“: „Es gibt Dinge, die ich nicht verzeihen kann“ (invers codiert), für „Erfahrungen von Bedeutung und Sinn“: „Ich habe die Erfahrung der Echtheit von Gefühlen gemacht“, für „Hoffnung Transzendent“: „Ich denke oft daran, dass ich die von mir geliebten Menschen zurücklassen muss“ (invers codiert), für „Allgemeine Religiosität“: „Mein Glaube gibt mir ein Gefühl von Sicherheit“ und für „All-verbundenheit“: „Ich habe eine Erfahrung gemacht, in der meine Person in etwas Größerem aufzugehen schien“ [19]. Die Dimensionen des religiös/spirituellen Befindens wurden im Kontext von Persönlichkeit und psychischem Befinden eingehend beforscht, wobei sich der Eindruck eines allgemein positiven Zusammenhangs mit seelischer Gesundheit ergibt [20].

Im Sinne einer synoptischen Zusammenschau sollen in dieser Arbeit nach verschiedenen soziodemographi-schen Parametern adjustierte Gruppen von ängstlich/depressiven PatientInnen, suchtkranken PatientInnen und Normalpersonen hinsichtlich möglicher Unter-schiede im Religiös/Spirituellen Befinden untersucht werden. Darauf aufbauend wird auf die Zusammen-hangsstruktur des religiös/spirituellen Befindens mit verschiedenen Indikatoren von psychischer Erkrankung innerhalb der psychiatrischen Gruppen eingegangen. Durch die Diskussion klinisch-therapeutischer Implika-tionen soll ein Beitrag zur Reflexion von Möglichkeiten und Grenzen der Integration religiös/spiritueller Inhalte in die Behandlung psychiatrischer PatientInnen geliefert werden.

Methode

Stichprobe und Ablauf der Untersuchung

Die Gesamtstichprobe bestand insgesamt aus 2089 Per-sonen: 1014 (48,5 %) Frauen und 1075 (51,5 %) Männer im Alter von 18 bis 91 Jahren (M = 44,21; SD = 16,8) wur-

den befragt. Davon waren 200 allgemein/psychiatrische stationäre PatientInnen, welche ein ängstlich/depres-sives Zustandsbild (ICD 10 Diagnosen: F3x bzw. F4x) aufwiesen [5]. Weitere 389 ProbandInnen waren wegen einer Suchterkrankung ebenfalls in stationärer Behand-lung. Davon wiesen 240 (61,7 %) Suchtkranke die Diag-nose F 10.2: Chronischer Alkoholismus bzw. 149 (38,3 %) Suchtkranke die Diagnose F 19.2: Polytoxikomanie auf. Alle Diagnosen wurden vom behandelten Psychiater nach ICD-10 Richtlinien [5] gestellt. Die Untersuchung fand im Zeitraum von 2004 bis 2009 statt, wobei die ängstlich/depressive Gruppe an der Universitätsklinik für Psychiatrie/Medizinische Universität Graz meist eine Woche nach der Aufnahme, nach einer ersten Phase der Stabilisierung, befragt wurde. Die Gruppe der Suchtkran-ken wurde in verschiedenen Einrichtungen des Vereins „Grüner Kreis – zur Rehabilitation und Integration sucht-kranker Personen“ befragt. Die PatientInnen waren zum Zeitpunkt der Untersuchung abstinent lebend und unter-zogen sich auch keiner Drogensubstitutionsbehandlung. PatientInnen mit florid psychotischem Erleben wurden nicht untersucht. Die Kontrollgruppe bestand aus Per-sonen, welche in ihrer Biographie keine psychiatrische Behandlung aufwiesen. Deutsch als Muttersprache bzw. sehr gute Deutschkenntnisse stellte in allen Gruppen ein Einschlusskriterium dar. Alle Befragungen wurden vom Erstautor dieser Studie in Einzel- oder Gruppentestun-gen durchgeführt. Der hier vorgestellte Datensatz ist auf der Basis mehrerer klinischer bzw. non-klinischer For-schungsprojekte aufgebaut und ist in seiner Gesamtheit unpubliziert. Teile davon wurden bereits in englische Sprache veröffentlicht [20] bzw. diente die non-klinische Vergleichsgruppe auch für die Herstellung von Norm-werten für das Multidimensionale Inventar zum Religiös/Spirituellen Befinden [19]. Somit liegen mehrere positive Voten der Ethikkommission der Medizinischen Universi-tät Graz (MUG) für die Anwendung des Multidimensio-nalen Inventars zum Religiös/Spirituellen Befinden in Kombination mit verschiedenen etablierten psychodia-gnostischen Instrumenten an klinisch-psychiatrischen Gruppen bzw. non-klinischen Vergleichsgruppen vor.

Testinstrumente

Das Multidimensionale Inventar zum Religiös/Spirituel-len Befinden (MI-RSB) besteht aus insgesamt 48 Items, welche zur Bildung des Gesamtscores „Religiös/Spiri-tuelles (Wohl)Befinden“ herangezogen werden können. Die sechs Subskalen (jeweils acht Items pro Skala) wie-sen in verschiedenen klinischen bzw. non-klinischen Untersuchungen immer sehr zufriedenstellende bis zufriedenstellende interne Konsistenzen auf. Für den RSB-Gesamtscore kann immer eine Reliabilität (gemes-sen mit Cronbach α) von knapp 0,9 berichtet werden. Auch alle Subskalen weisen ein Cronbach α von größer als 0,7 auf [19]. Für die gesamte Liste der Items und ein kurzes Manual zur Anwendung der Skala siehe [18].

Page 4: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive 175

Zur Messung der Persönlichkeitsfaktoren kam in dieser Untersuchung der Sechs-Faktoren-Test (SFT) zur Anwendung [14]. Dieses Instrument basiert auf dem hoch etablierten Konzept der „Big Five“ Persönlich-keitsdimensionen: „Extraversion“, „Neurotizismus“, „Offenheit für Erfahrung“, „Verträglichkeit“ und „Gewis-senhaftigkeit“. Für den SFT sind aber drei wichtige Modi-fikationen zu notieren: Erstens wurden manche der Fragestellungen im Wortlaut vereinfacht bzw. gekürzt und eignen sich so besonders für die Anwendung im klinischen Bereich; zweitens wurde die ursprüngliche Dimension „Verträglichkeit“ in diesem Instrument zu „Aggressivität“ umgepolt und drittens präsentiert sich das Instrument im Sinne einer „Big Six“ der Persönlich-keit um eine sechste Dimension „Frömmigkeit“ erweitert [13]. Der Fragebogen wies in den bisherigen Anwendun-gen zufrieden stellende interne Konsistenzen (Cronbach α: = 0,6–0,8 bei 4–12 Items je nach Subskala) auf.

Zur Erfassung der psychischen Belastung wurden das Beck Depressions Inventar (BDI) [7] bzw. das Brief Sym-ptom Inventory (BSI) [6] an einen Teil der psychiatri-schen PatientInnen vorgegeben. Mit Hilfe des BDI kann ein mögliches depressives Zustandsbild mit Hilfe von 20 Items erfasst werden. Die interne Konsistenz der Skala lag in dieser Studie bei Cronbach α = 0,85. Durch Anwen-dung des BSI können neun verschiedene Bereiche der psychiatrischen Symptomatik erhoben werden: „Psy-chotizismus“, „Somatisierung“, „Ängstlichkeit“, „Phobie“, „Paranoia“, „Depressivität“, „Interpersonale Sensitivität“, „Zwanghaftigkeit“ und „Feindseligkeit“ werden erhoben – alle Sub-Skalen aufsummiert, können zur Einschätzung eines globalen Schweregrads (Global Severity Index: GSI) herangezogen werden. Die interne Konsistenz für den in dieser Arbeit ausschließlich berichteten GSI kann mit Cronbach α = 0,9 angegeben werden.

Für die soziodemographische/anamnestische Beschrei-bung der gesamten Stichprobe (n = 2089) konnten die Parameter: Alter, Geschlecht, Bildungsstand (hoch/niedrig), Beziehungsstatus (in Beziehung lebend/alleinstehend), Erwerbstätigkeit (ja/nein) und Zuge-hörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft (ja/nein) herangezogen werden. Des Weiteren werden die zwei PatientInnengruppen anhand der ICD 10 Erstdiagnose [5] unterschieden.

Statistische Analyse

Um die Hypothese zu testen, ob sich nun ängstlich/depressive PatientInnen (F3x/F4x), SuchtpatientIn-nen (F10.2/F19.2) und eine gesunde Vergleichsgruppe hinsichtlich der Dimensionen des religiös/spirituellen Befindens (RSB) unterscheiden, wird nach Überprü-fung der Voraussetzungen ein multivariates Allgemeines Lineares Modell für die Subdimensionen bzw. ein univa-riates Allgemeines Lineares Modell für den RSB-Gesamt-score gerechnet. Um möglichst vergleichbare Gruppen herzustellen, wird für die sich signifikant unterscheiden-den soziodemographischen Variablen in der finalen Ana-

lyse kontrolliert. Abschließend werden die Unterschiede zwischen den korrigierten Mittelwerten paarweise mit-einander verglichen. Des Weiteren werden in einer Teil-stichprobe innerhalb der psychiatrischen PatientInnen die Beziehung zwischen den RSB-Dimensionen und Persönlichkeitsfaktoren bzw. Parametern psychischer Erkrankung mittels partieller Korrelation (kontrolliert wird hier für ängstlich/depressive vs. suchtkranke Pati-entInnen) dargestellt.

Ergebnisse

Insgesamt erwiesen sich die Variablen für die gesamte Stichprobe und auch innerhalb der einzelnen Gruppen als größtenteils normal verteilt. Für eine genauere Ana-lyse der MI-RSB Skaleneigenschaften siehe auch [19]. In den Fällen, in denen diese zur Anwendung eines para-metrischen Verfahrens nicht gegeben war, führten aber alternative non-parametrische Berechnungen zu den-selben Ergebnissen. Auch kann bei Stichproben dieser Größe die Varianzanalyse als sehr robustes Verfahren angenommen werden [2]. Wie in Tab. 1 dargestellt, zeig-ten sich für alle soziodemographischen Parameter signi-fikante Unterschiede (p < 0,001) zwischen den Gruppen. Diese Parameter wurden deshalb als Ko-Variaten in die nachfolgenden Analysen aufgenommen.

Auch bezüglich des Alters ergaben sich signifikante Gruppenunterschiede (F = 199, p < 0,001). Die Kont-rollpersonen wiesen ein mittleres Alter von M = 47,96, SD = 16,8 auf. Die klinischen Gruppen waren jünger. So waren die ängstlich/depressiven PatientInnen M = 42,86, SD = 12,93 Jahre alt. Die SuchtpatientInnen repräsentier-ten mit einem Altersdurchschnitt von M = 30,48, SD = 9,8 die jüngste Gruppe. Bezüglich der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft gaben 1693 (81 %) der befragten Personen an, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, 396 (19 %) der ProbandInnen waren aus der Kirche aus-getreten oder hatten nie einer religiösen Glaubensge-meinschaft angehört (vgl. Tab. 1).

Wie nun aus den Tab. 2 und 3 ersichtlich, ergaben sich hoch signifikante Unterschiede hinsichtlich aller Sub-Dimensionen des religiös/spirituellen Befindens (mul-tivariat; p < 0,001) bzw. des Gesamtscores (univariat; p < 0,001) zwischen ängstlich/depressiven PatientInnen, suchtkranken PatientInnen bzw. den Normalpersonen. Im Allgemeinen zeigen die klinischen Gruppen in allen Bereichen geringere Werte mit Ausnahme der Dimen-sion „Hoffnung Transzendent“. Hier ergeben sich für die ängstlich/depressiven PatientInnen die höchsten Werte.

Durch paarweise Vergleiche der Mittelwerte lässt sich nun hinsichtlich der RSB-Subdimensionen zeigen, dass ängstlich/depressive PatientInnen im Bereich der „Hoff-nung“ besonders geringe Werte aufweisen. Sie unter-scheiden sich sogar hoch signifikant von suchtkranken PatientInnen (p < 0,001). Für die RSB-Dimension „Ver-geben“ ergibt sich ein anderes Bild: SuchtpatientInnen zeigen hier ein deutlich geringeres Ausmaß als beide anderen Gruppen (p < 0,001). Ängstlich/depressive

Page 5: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3176 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive

PatientInnen unterscheiden sich nur geringfügig von den Normalpersonen (p < 0,05). Hinsichtlich der „Erfah-rungen von Bedeutung und Sinn“ gleichen sich beide klinischen Gruppen (p > 0,05) durch ein deutlich ver-mindertes Ausmaß im Vergleich zu Normalpersonen (p < 0,001). Im Bereich „Hoffnung Transzendent“ weisen Suchtkranke das niedrigste Ausmaß (p < 0,001) im Ver-gleich zu den anderen Gruppen auf. Interessanterweise zeigen hier ängstlich/depressive PatientInnen auch ein erhöhtes Ausmaß (p < 0,01) im Vergleich zu gesunden Normalpersonen. Kaum Unterschiede (p < 0,05) ergeben sich zwischen den klinischen Gruppen hinsichtlich der „Allgemeinen Religiosität“. Beide zeigen allerdings ein stark vermindertes Ausmaß im Vergleich zu den Nor-malpersonen (p < 0,001). Im Bereich der „Allverbun-denheit“ ergeben sich nur geringfügige Unterschiede

zwischen SuchtpatientInnen und Normalpersonen (p < 0,05). Allerdings zeigen beide Gruppen um vieles höhere Werte als die ängstlich/depressiven PatientIn-nen (p < 0,001). Des Weiteren unterscheiden sich ängst-lich/depressive nicht von suchtkranken PatientInnen hinsichtlich des Gesamtscores des „Religiös/Spirituel-len Befindens“ (RSB) – beide klinische Gruppen weisen aber signifikant geringere Werte hinsichtlich des RSB auf Tab. (3; p < 0,001). Aus Tab. 4 können nun die Ergebnisse bezüglich der Zusammenhangsstruktur zwischen den RSB-Dimensionen, verschiedenen Persönlichkeitsfak-toren und Parametern von psychischer Erkrankung ent-nommen werden.

Bei Betrachtung des RSB-Gesamtscores bestätigt sich die Annahme des positiven Zusammenhangs zwischen den RSB-Dimensionen und psychischer Gesundheit

Tab. 1 Demographische Darstellung der Stichprobe über die Gruppen (Insgesamt: n = 2089)

Insgesamt Kontrollgruppe (n = 1500) Ängst./depr. PatientInnen (n = 200)

SuchtpatientInnen (n = 389) x²

n Prozent n Prozent n Prozent

Geschlecht (männlich) 1075 750 35,9 62 3,0 263 12,6 75,4*

Ausbildung (höhere) 415 304 14,6 81 3,9 30 1,4 89,7*

Beschäftigung (ja) 1189 857 41,0 123 5,9 209 10,0 3,3*

Beziehungsstatus (ja) 1096 896 42,9 108 5,2 92 4,4 161,3*

Religionsgemeinschaft (ja) 1693 1231 58,9 174 8,3 288 13,8 18,0*

*p < 0,001

Tab. 2 Multivariate Analyse der Gruppenunterschiede für die Subdimensionen des Religiös/Spirituellen Befindens

Abhängige Variable Gruppe M SE 95 % Konfidenzintervall

Effekte für korrigiertes Modell

Post-Hoc-Vergleiche

UG OG F

Hoffnung Immanent Kontrollgruppe 35,69 0,21 35,29 36,10

Ängstlich/Depressive 29,91 0,56 28,80 31,01

Suchtkranke 33,79 0,44 32,93 34,65 26,04*** K*** > S*** > A/D

Vergeben Kontrollgruppe 34,14 0,24 33,67 34,61

Ängstlich/Depressive 34,72 0,65 33,45 36,00

Suchtkranke 30,46 0,51 29,46 31,46 45,33*** K* > A/D*** >S

Erfahrungen von Bedeutung und Sinn

Kontrollgruppe 37,63 0,18 37,27 37,99

Ängstlich/Depressive 33,73 0,50 32,75 34,72

Suchtkranke 34,14 0,39 33,38 34,91 40,17*** K*** > A/D = S

Hoffnung Transzendent Kontrollgruppe 30,39 0,22 29,96 30,81

Ängstlich/Depressive 31,85 0,60 30,68 33,02

Suchtkranke 28,56 0,46 27,65 29,47 6,03*** A/D** > K*** > S

Allgemeine Religiosität Kontrollgruppe 28,00 0,30 27,42 28,59

Ängstlich/Depressive 24,80 0,82 23,19 26,40

Suchtkranke 23,81 0,64 22,55 25,06 58,08*** K*** > A/D* > S

Allverbundenheit Kontrollgruppe 27,03 0,24 26,56 27,49

Ängstlich/Depressive 24,50 0,65 23,23 25,77

Suchtkranke 26,30 0,51 25,31 27,29 17,27*** K* > S*** >A/D

Kovariaten im Modell aufscheinend: Alter, Bildung, Beschäftigung, Beziehungsstatus, ReligionszugehörigkeitM Mittelwert, SE Standardfehler, UG Untere Grenze, OG Obere Grenze, K Kontrollgruppe, A/D Angst/Depressions-PatientInnen, S SuchtpatientInnen*p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001

Page 6: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive 177

(für alle p < 0,001). Innerhalb der RSB-Subdimensio-nen zeigen sich für „Hoffnung“ hoch signifikant posi-tive Korrelationen mit „Extraversion“ (r = 0,46, p < 0,001) und „Gewissenhaftigkeit“ (r = 0,39, p < 0,001) bzw. auch hohe negative Korrelationen mit „Depression“ (BDI; r = − 0,47, p < 0,001) und dem Gesamtausmaß der psychi-schen Belastung (GSI: Global Severity Index; r = − 0,37, p < 0,001). Auffällig für den Bereich der RSB-Dimension „Vergeben“ sind die besonders hohe negative Korrelatio-nen mit „Aggressivität“ (r = − 0,51, p < 0,001) bzw. mit den psychiatrischen Parametern „Depression“ (r = − 0,32, p < 0,001) und GSI (r = − 0,30, p < 0,001). Ebenfalls von Relevanz erscheinen der positive Zusammenhang zwi-schen „Allverbundenheit“ und der „Offenheit für Erfah-rung“ (r = 0,35, p < 0,001). Des Weiteren ergibt sich ein klar positiver Zusammenhang zwischen „Erfahrungen von Bedeutung und Sinn“ und „Extraversion“ (r = 0,34, p < 0,001). Beschließend sei noch auf die geringe negative Korrelation von „Allgemeiner Religiosität“ und „Aggres-sivität“ (r = − 0,16, p < 0,01) hingewiesen.

Diskussion

Diese Studie hatte es sich zum Ziel gesetzt, stationäre ängstlich/depressive PatientInnen, suchtkranke Pati-entInnen und gesunden Kontrollpersonen hinsichtlich verschiedener Dimensionen des religiös/spirituellen Befindens (RSB) zu vergleichen. Des Weiteren wurden die RSB-Dimensionen zu Faktoren der Persönlichkeit und psychischer Erkrankung innerhalb der psychiat-rischen Gruppen in Beziehung gesetzt. Aufbauend auf diesen Ergebnissen sollen Implikationen zur differen-zierten Betrachtung dieser psychiatrischen Gruppen herausgearbeitet werden. Allgemein lässt sich dabei wie in Tab.  2 und 3 dargestellt, auf ein geringeres Ausmaß im „Religiös/Spirituellen Befinden“ (RSB) innerhalb der psychiatrischen PatientInnengruppen schließen. Die RSB-Dimensionen „Hoffnung“ und „Vergeben“ erscheinen dabei von erhöhter klinisch-therapeutischer Relevanz. Ängstlich/depressive PatientInnen zeigen ein besonders geringes Ausmaß an „Hoffnung“. Interessan-terweise verschiebt sich in dieser PatientInnengruppe die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hin zu einer Hoff-nung auf ein besseren Leben nach dem Tod – somit also

vom immanenten Raum der Wahrnehmung hinein in den transzendenten Raum (vgl. Tab. 3). Suchtkranke im Gegenzug berichten von einem besonders geringen Aus-maß an Vergeben können (siehe ebenfalls Tab. 3). Beide psychiatrische Gruppen zeigen im Vergleich zu Normal-personen ein geringeres Ausmaß an „Erfahrungen von Bedeutung und Sinn“.

Bemerkenswerter Weise lässt sich besonders für „Hoff-nung“ und „Vergebung“ ein besonders starker Zusam-menhang mit positiven Aspekten der Persönlichkeit bzw. verminderter psychiatrischer Symptomatik feststel-len (vgl. Tab. 4). Dadurch ergeben sich folgende klinisch bedeutsame Implikationen: Sowohl für den Bereich der „Hoffnung“ als auch für den Bereich des „Vergebens“ ste-hen manualisierte Behandlungsformen zur Verfügung, welche in der Behandlung dieser PatientInnengruppen besonders wirksam werden können. So postuliert zum Beispiel Linden die „Verbitterungsstörung“ als mögli-che Alternative zur Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung und weist darauf aufbauend auf die therapeutische Wirksamkeit des Vergebens hin [11]. Geringfügige Effekte zeigen sich generell für den Bereich der „Allgemeinen Religiosität“, was sich mit den Erkennt-nissen früherer Forschung trifft [20]. Allerdings ist auch hier anzumerken, dass für die Dimension „Allgemeine Religiosität“ ein recht hoher Zusammenhang mit der Eigenschaft des „Vergebens“ zu finden ist (r = 0,34) [20]. Dieses Ergebnis wiederum lässt nach Dervic et al. [4] die Interpretation zu, dass sich Religiosität vermittelt über die Fähigkeit zu „Vergeben“ auf die Pufferung aggressiver Impulse auswirken könnte. Mit Nachdruck sei auf den besonders hohen negativen Zusammenhang zwischen „Vergebung“ und „Aggressivität“ verwiesen (r = − 0,51; vgl. Tab.  4) – aus klinische Perspektive ergibt sich hier vor allem für die Arbeit mit Suchtkranken, welche oft-mals eine verminderte Impulskontrolle aufweisen, eine besondere Relevanz. Auch zeigt sich die RSB-Dimen-sion „Allverbundenheit“ zum wiederholten Male für die Gruppe der Suchtkranken als relativ hoch ausgeprägt, während Ängstlich/Depressive die geringsten Werte auf-weisen. Hier mag vor allem die erlebte Einsamkeit und Isolation innerhalb der Gruppe der Ängstlich/Depressi-ven ihren Ausdruck finden. Des Weiteren findet sich „All-verbundenheit“ mit „Offenheit für Erfahrung“ als hoch korreliert (Tab. 4). Auch konnte gezeigt werden, dass ein

Tab. 3 Univariate Analyse der Gruppenunterschiede für den Gesamtscore zum Religiös/Spirituellen Befinden

Abhängige Variable Gruppe M SE 95 % Konfidenzintervall

Effekte für korri-giertes Modell

Post-Hoc-Vergleiche

UG OG F

Religiös/Spirituelles Befinden

Kontrollgruppe 192,84 0,81 191,25 194,44

Ängstlich/De-pressive

179,49 2,22 175,15 183,85

Suchtkranke 177,18 1,73 173,79 180,59 72,56*** K*** > A/D = S

Kovariaten im Modell aufscheinend: Alter, Bildung, Beschäftigung, Beziehungsstatus, ReligionszugehörigkeitM Mittelwert, SE Standardfehler, UG Untere Grenze, OG Obere Grenze, K Kontrollgruppe, A/D Angst/Depressions Patienten, S Suchtpatienten*p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001

Page 7: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3178 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive

erhöhtes Ausmaß an „Allverbundenheit“ mit der Nei-gung zu „Magischem Denken“ einhergeht. „Offenheit für Erfahrung“ als auch das „Magische Denken“ dürfen dabei als besonders charakteristisch für Suchtkranke gelten – möglicher Weise ein wichtiger Hinweis darauf, an welcher Stelle von therapeutischer Seite mit religiös/spirituellen Themen bei Suchtkranken anzuknüpfen wäre.

Es war uns für diese Studie wichtig, die Dimensio-nen des religiös/spirituellen Befindens von Suchtkran-ken und ängstlich/depressiven PatientInnen erstmals global zu beschreiben und die Unterschiede zwischen den beiden psychiatrischen Gruppen bzw. auch im Hin-blick auf gesunde Normalpersonen heraus zu arbeiten. Durch diese Schwerpunktsetzung ergeben sich natür-lich viele Einschränkungen. Dies betrifft vor allem eine differenziertere psychiatrische Diagnostik bzw. auch die Mitberücksichtigung der begleitenden psychopharma-kologischen Behandlung. Aufbauend auf den hier prä-sentierten Zusammenhängen mögen aber spezifischere Analysen folgen. Des Weiteren wäre es dann natürlich auch erfreulich, über erste Ergebnisse von therapeuti-schen Interventionen basierend auf randomisierten Ver-suchsreihen zu berichten. Zukünftige Forschung könnte in diese Richtung unternommen werden, um die Rolle von Religiosität und Spiritualität im psychiatrischen Raum differenzierter zu beschreiben – eine Beantwor-tung der eingangs aufgegriffenen Gretchenfrage muss zu diesem Zeitpunkt leider noch ausbleiben.

Ethische Erklärung

Die AutorInnen Human-Friedrich Unterrainer, Helmut Schöggl, Andrew J. Lewis, Andreas Fink, Elisabeth Weiss und Hans-Peter Kapfhammer erklären hiermit keiner-lei Interessenkonflikt. Alle Untersuchungen wurden in

Übereinstimmung mit den Ethikrichtlinien der zuständi-gen Kommission für Humanexperimente (institutionell und national) und in Übereinstimmung mit der Deklara-tion von Helsinki (1975, revidiert in 2008) durchgeführt.

Der hier vorgestellte Datensatz ist auf der Basis meh-rerer klinischer bzw. non-klinischer Forschungsprojekte aufgebaut und ist in seiner Gesamtheit unpubliziert. Teile davon wurden bereits in englische Sprache veröffentlicht bzw. diente die non-klinische Vergleichsgruppe auch für die Herstellung von Normwerten für das Multidimensio-nale Inventar zum Religiös/Spirituellen Befinden. Somit liegen mehrere positive Voten der Ethikkommission der Medizinischen Universität Graz (MUG) für die Anwen-dung des Multidimensionalen Inventars zum Religiös/Spirituellen Befinden in Kombination mit verschiede-nen etablierten psychodiagnostischen Instrumenten an klinisch-psychiatrischen Gruppen bzw. non-klinischen Vergleichsgruppen vor. Die Teilnahme an der Studie erfolgte für alle Patientinnen und Patienten freiwillig.

InteressenskonfliktEs besteht kein Interessenskonflikt.

Literatur

1. APA concise dictionary of psychology. American Psycholo-gical Association, Washington DC; 2009.

2. Bortz J. Statistik für Sozialwissenschaftler. Berlin: Springer; 2001.

3. Dein S, Cook CC, Koenig H. Religion, spirituality, and men-tal health: current controversies and future directions. J Nerv Ment Dis. 2012;10:852–5.

4. Dervic K, Oquendo MA, Grunebaum MF, Ellis S, Burke AK, Mann JJ. Religious affiliation and suicide attempt. Am J Psychiatry. 2004;161:2303–8.

Tab. 4 Zusammenhang zwischen den Dimensionen des Religiös/Spirituellen Befindens mit Persönlichkeitsfaktoren und psy-chiatrischer Symptomatik in den klinischen Gruppen (n = 220)

Allgemeine Religiosität

Vergeben Hoffnung immanent

Allverbundenheit Hoffnung Transzendent

Erfahrungen von Bedeutung und Sinn

Religiös- spirituelles Befinden

Extraversion 0,14* 04 0,46*** 0,28*** − 0,13 0,34*** 0,33***

Neurotizismus 0,01 − 0,27*** − 0,28*** − 0,05 − 0,28*** − 0,19** − 0,27***

Gewissenhaftig-keit

0,19** 0,06 0,39*** 0,19** − 0,24*** 0,21** 0,25***

Aggressivität − 0,16** − 0,51*** − 0,04 − 0,01 − 0,12 − 0,01 − 0,24***

Offenheit für Erfahrungen

0,29*** − 0,07 0,10 0,35*** − 0,12 0,22** 0,25***

Frömmigkeit 0,73*** 0,09 0,17* 0,39*** − 0,15 0,11 0,44***

Depressivität (BDI)

− 0,11 − 0,32*** − 0,47*** − 0,12 − 0,16* − 0,17* − 0,36***

Global Severity Index (BSI)

− 0,07 − 0,30*** − 0,37*** − 0,02 − 0,22** − 0,12 − 0,29***

Kontrolliert für PatientInnengruppe: 0 = ängstlich/depressive PatientInnen (N = 100), 1 = SuchtpatientInnen (N = 120)Global Severity Index: Allgemeiner Schweregrad der psychischen BelastungBDI Beck Depressionsinventar, BSI Brief Symptom Inventory*p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001

Page 8: Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive und Suchtkranke im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen; Religious/spiritual well-being in mentally ill

originalarbeit

1 3 Religiös/Spirituelles Befinden bei psychisch Kranken: Ängstlich/Depressive 179

5. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E, Herausgeber. Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD 10, Kapitel VII (F): Psychische und Verhal-tensstörungen. Bern: Huber; 1994.

6. Franke GH. Brief symptom inventory von L.R. Derogatis (Kurzversion der SCL-90-R)-Deutsche Version. Göttingen: Beltz Test GmbH; 2000.

7. Hautzinger M, Bailer M, Worall H, Keller F. Beck-Depres-sions-Inventar. Bern: Huber; 1994.

8. James W. Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Olten: Walter Verlag; 1979 (Original erschienen 1902: The varieties of reli-gious experience).

9. Kapfhammer HP. Pathogene Religiosität – Anmerkungen zur Psychopathologie religiös motivierter Gewalt. Psycho-praxis. 2008;11:28–36.

10. Kendler KS, Liu XQ, Gardner CO, McCullough ME, Larson D, Prescott CA. Dimensions of religiosity and their rela-tionship to lifetime psychiatric and substance use disor-ders. Am J Psychiatry. 2003;160:496–503.

11. Linden M. Posttraumatic embitterment disorder. Psycho-ther Psychosom. 2003;72:195–202.

12. Pargament KI. The psychology of religion and spirituality? Yes and no. Int J Psychol Relig. 1999;9:3–16.

13. Piedmont RL. Does spirituality represent the sixth factor of personality? Spiritual transcendence and the Five-Factor Model. J Pers. 1999;67:985–1013.

14. Schneider B. Persönlichkeit und Belastungs- bzw. Ressour-cenfaktoren. Konstanz: Universität Diplomarbeit; 1997.

15. Seyringer M.-E, Friedrich F, Stompe T, Frottier P, Schrank B, Frühwald S. Die „Gretchenfrage“ für die Psychiatrie Der Stellenwert von Religion und Spiritualität in der Behand-lung psychisch Kranker. Neuropsychiatrie. 2007;21:239–47.

16. Sloan RP, Bagiella E, Powell T. Religion, spirituality, and medicine. Lancet. 1999;353:664–7.

17. Smith TB, McCullough ME, Poll J. Religiousness and depression: evidence for a main effect and the mode-rating influence of stressful life events. Psychol Bull. 2003;129:614–36.

18. Unterrainer HF, Fink A. Das Multidimensionale Inventar zum religiös-spirituellen Befinden (MI-RSB): Normwerte für die österreichische Allgemeinbevölkerung. Diagno-stica. 2013;1:33–44.

19. Unterrainer HF, Huber HP, Ladenhauf KH, Wallner SJ, Liebmann PM. MI-RSB 48. Die Entwicklung eines multidi-mensionalen Inventars zum religiös-spirituellen Befinden. Diagnostica. 2010;2:82–93.

20. Unterrainer HF, Lewis AJ, Fink A. Religious/spiritual well-being, personality and mental health: a review of results and conceptual issues. J Relig Health. 2012 Sept 11. doi: 10.1007/s10943-012-9642-5.