REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

128
REPORT 2/2004 LITERATUR- UND FORSCHUNGSREPORT WEITERBILDUNG 27. Jahrgang Management und Organisationsentwicklung

Transcript of REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

Page 1: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

REPORT 2/2004LITERATUR-UND FORSCHUNGSREPORTWEITERBILDUNG27. Jahrgang

Management undOrganisationsentwicklung

Page 2: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

Impressum

REPORTLiteratur- und Forschungsreport WeiterbildungWissenschaftliche Zeitschrift mit Dokumentation der Jahrestagungen der Sektion Erwachsenenbildung der DGfEwww.die-bonn.de/report

ISSN 0177-4166

27. Jahrgang 2004 – Heft 2/2004

Herausgebende Institution: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung e. V.

Verantwortlich Herausgebende:Ekkehard Nuissl, DuisburgChristiane Schiersmann, HeidelbergHorst Siebert, Hannover

Heftherausgeberin 2/2004: Christiane Schiersmann, Heidelberg

Recherche: Die Zeitschrift REPORT wird seit 1989 regelmäßig für die Online-Literaturdatenbank des DIE aus-gewertet; kostenfreie Recherche unter http://mail.die-bonn.de/webopac/index.asp.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Redaktion im DIE (Manuskriptannahme, Rezensionen): Kornelia Vogt-Fömpe, Deutsches Institut fürErwachsenenbildung, Friedrich-Ebert-Allee 38, 53113 Bonn, Tel. 0228 3294-103, Fax 0228 3294-398,E-Mail [email protected]: Christiane Barth

Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen.

Satz: Grafisches Büro Horst Engels, Bad Vilbel

Herstellung, Verlag und Vertrieb:W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KGAuf dem Esch 4, 33619 BielefeldTel. 0521-91101-11, Fax 0521-91101-19E-Mail [email protected] www.wbv.de

Erscheinungsweise: Vierteljährlich, jeweils im April, Juli, Oktober und Dezember.

Bezugsbedingungen: Preis der Einzelhefte 9,90 EUR (15,90 EUR Ausgabe Dokumentation der Jahrestagung derSektion Erwachsenenbildung) zzgl. Versandkosten. Ein Jahresabonnement (4 Ausgaben) kostet 24,– EUR, fürStudierende mit Nachweis 20,– EUR jeweils zzgl. Versandkosten. Das Abonnement läuft bis auf Widerruf,zumindest jedoch für ein Kalenderjahr. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Jahresende.

ISBN 3-7639-1890-6Best.-Nr. 23/2702

© 2004 DIEAlle Rechte, auch der Übersetzung, vorbehalten. Nachdruck und Reproduktion nur mit Genehmigung derherausgebenden Institutionen.

Page 3: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

REPORT 2/2004, 27. Jahrgang

Thema: Management und Organisationsentwicklung

INHALT

Editorial ...................................................................................................................5

Beiträge zum Schwerpunktthema

Rolf Arnold/Markus LermenDie Systemik des Bedarfs: „Es geht eigentlich um etwas ganz anderes“ .................. 9

Carola Iller/Annika SixtWeiterbildungsanbieter als „feste Ansprechpartner“ für die Weiterbildungin kleinen und mittleren Unternehmen .................................................................17

Stephan Dietrich/Monika HerrOrganisationsentwicklung und neue Lernkulturen ................................................24

Wiltrud Gieseke/Steffi RobakProgrammplanung und Management aus der BildungsforschungsperspektiveEmpirische Befunde und konzeptionelle Wendungen ...........................................33

Anke Hanft/Tim ZentnerQualifizierung und Personalentwicklung – eine Kompetenzlückein Bildungseinrichtungen?Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Qualifizierungder Beschäftigten in Bildungseinrichtungen...........................................................42

Ortfried SchäffterErwachsenenpädagogische InnovationsberatungZur Institutionalisierung von Innovation in Einrichtungen beruflicherWeiterbildung ........................................................................................................53

Felicitas von KüchlerErprobung von Innovation und Entwicklung der pädagogischenProfessionalität des Beratersystems ........................................................................64

Christiane Ehses/Rainer ZechGute Organisation – ein Beitrag zum Selbstverständnis der Weiterbildungs-profession ..............................................................................................................75

Page 4: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

4 REPORT (27) 2/2004

.

Forum

Günther HolzapfelMehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!Eine Replik zum Schwerpunktheft „Gehirn und Lernen“ des Literatur-und Forschungsreports 3/2003 ..............................................................................87

Rezensionen ..........................................................................................................99

Autorinnen und Autoren .....................................................................................127

Heft Nr. REPORT – Themenvorschau 2004

3/04 Beteiligung und MotivationVerantwortlicher Heftherausgeber: Horst Siebert• Nutzung• Inklusion/Exklusion• Anreize• Blick ins Ausland

4/04 PISA für ErwachseneVerantwortlicher Heftherausgeber: Ekkehard Nuissl• Basic Schools• Kompetenzdiskussion

Page 5: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

5REPORT (27) 2/2004

Editorial

Diese Ausgabe der Zeitschrift REPORT widmet sich der institutionellen Seite der Wei-terbildung und thematisiert Management, Entwicklung und Veränderung von Organi-sationen. Das Heft greift damit einen Aspekt auf, der noch immer in der Weiterbil-dungsforschung vernachlässigt ist. Eine im Zuge der Vorbereitung dieses Heftes durch-geführte gezielte Recherche nach aktuellen empirischen Projekten und neuerenempirisch fundierten Publikationen ergab – zumindest unter quantitativen Gesichts-punkten – recht dürftige Resultate. Angesichts der aktuellen Veränderungsprozesse desWeiterbildungssystems und seiner Institutionen erscheint dies bedauerlich. Die Wis-senschaft von der Weiterbildung könnte einen intensiveren Part bei der Analyse derVeränderung von Strukturen, Abläufen und Kulturen der Organisationen spielen undaufgrund ihrer Ergebnisse Anregungen und Empfehlungen für die Praxis geben. Aberimmerhin: Es gibt doch einiges – sonst wäre das vorliegende anspruchsvolle Heft nichtzu Stande gekommen.

In zwei Beiträgen wird die Diskussion um den Bedarf an Weiterbildung aufgegriffen.Arnold/Lermen reflektieren die Konsequenzen der Tatsache, dass es sich beim Bedarfs-begriff um ein soziales Konstrukt handelt, und heben hervor, dass die daraus entste-henden Konsequenzen noch viel zu wenig bedacht worden sind. Sie plädieren dafür,sich von einem gegenwartsbezogenen Bedarfsbegriff tendenziell zu verabschieden undangesichts der sowieso mit der Bedarfsermittlung verbundenen Unsicherheiten dieZukunft als Maßstab für die Bedarfsdefinition heranzuziehen. In gewisser Weise knüpftder Beitrag von Iller/Sixt hier an: Die beiden Autorinnen gehen nicht weiter auf dieMethoden und den Prozess der Bedarfsermittlung ein, sondern reflektieren geeigneteUnterstützungsangebote. Sie arbeiten heraus, dass es für Klein- und Mittelbetriebe auf-grund der engen Verquickung der Problemlagen vorteilhaft ist, wenn sie einen „festenAnsprechpartner“ für Veränderungsprozesse haben, der sie mit einem breiten Angebotvon Unternehmensberatung bis zur Durchführung von Weiterbildung versorgt.

Dietrich/Herr machen deutlich, dass sich die Veränderungen, die sich durch die Verbrei-tung neuer Lernkulturen – insbesondere selbstgesteuerten Lernens – ergeben, nicht aufFragen der Didaktik und der Lernorganisation reduzieren lassen. Sie tangieren vielmehrdie Organisation als Ganzes. Dies betrifft z. B. die Art der Kommunikation unter denMitarbeiter/inne/n, das Leitbild, die Angebotspalette, Begleitungen der Lernprozesse,z. B. durch kollektive Lernberatung oder den gestiegenen Stellenwert von Projektma-nagement. Der Beitrag von Gieseke/Robak reflektiert ebenfalls den Zusammenhang vonneuen Lernkulturen und organisationalem Rahmen und fordert neue, den Veränderun-gen angemessene Institutionalkonzepte. Dabei plädieren die beiden Autorinnen nach-haltig dafür, den Bildungsbegriff zur Grundlage dieser Überlegungen zu machen.

Hanft/Zentner kommen auf der Basis einer empirischen Untersuchung von Weiterbil-dungseinrichtungen und Hochschulen zu dem Ergebnis, dass gerade diese Fortbildungs-

Page 6: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

6 REPORT (27) 2/2004

anbieter selbst kaum eine systematische Fortbildung ihrer Mitarbeiter/innen betreiben,die sich an den Ansprüchen differenzierter Personalentwicklungskonzepte messen las-sen könnte, und das Personal dementsprechend auch nur unzureichend auf erforderli-che institutionelle Veränderungsprozesse vorbereitet wird. Dieser Befund sollte unsunter Professionsgesichtpunkten sehr zu denken geben.

Schäffter beschäftigt sich mit der Institutionalisierung von Innovationsfähigkeit alsGrundlage für eine Theorie pädagogischer Organisationsberatung und arbeitet dabeidie Unterscheidung zwischen einem personen-/produktgebundenen und einem sozial-kulturellen/prozessualen Innovationskonzept heraus. Die eng mit dem Beitrag vonSchäffter verknüpften Ausführungen von von Küchler reflektieren empirische Erfahrun-gen mit Innovationsberatung.

Last but not least runden die Überlegungen von Ehses/Zech, die sich – auf der Basis dersystematischen Analyse von Beratungsprozessen – trauen, Dimensionen einer „gutenOrganisation“ für den Bereich der Weiterbildung zu explizieren, das Spektrum ab.

Schließlich machen wir auf die Rubrik „Forum“ aufmerksam, in der nicht auf die The-matik des Heftes bezogene Beiträge veröffentlicht werden. Diesmal wird von Holzap-fel die Diskussion um den Stellenwert neurobiologischer Forschungen für das LernenErwachsener (aus dem vorletzten Heft) fortgesetzt.

Ekkehard NuisslChristiane SchiersmannHorst Siebert Bonn, im April 2004

Editorial

Page 7: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

7REPORT (27) 2/2004

BEITRÄGE ZUM SCHWERPUNKTTHEMA

Page 8: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

8 REPORT (27) 2/2004

..

Page 9: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

9REPORT (27) 2/2004

Rolf Arnold/Markus Lermen

Die Systemik des Bedarfs: „Es geht eigentlich um etwas ganzanderes“

Für Professionals in Weiterbildungsabteilungen spielt die Frage nach den verschie-denen Ansatzpunkten, Strategien und Methoden der Bedarfsermittlung bzw. derBedarfserschließung auf dem Weg in die marktorientierte Weiterbildung eine großeRolle. Der Bedarfsfrage wächst dabei bisweilen eine überdimensionierte Bedeutungzu, was den Eindruck erweckt, dieser Betonung läge etwas anderes – etwas vonsymbolischer Bedeutung – zu Grunde. Es spricht u. E. viel dafür, dass „Bedarf“ bzw.„Bedarfsorientierung“ nicht deshalb grundlegende Kategorien sind, weil mandarüber wirklich etwas mit zahlenmäßiger Exaktheit und „zwingender“ Deduktionauszusagen in der Lage wäre, sondern weil man durch die Verbreitung und Nährungder Illusion, dieses sei möglich, seine Bildungspraxis sowie Bildungsbudgets legiti-matorisch im Konzert der anderen Akteure im hierarchischen Organisationsgefügebesser absichern kann – zumindest vorübergehend. Der vorliegende Artikel spürtdieser Systemik des Bedarfs nach, indem er die Frage diskutiert, welche Instanzen inwelcher Art und Weise bei der Bedarfskonstruktion mitwirken bzw. zu Rate gezogenwerden (können). Zugleich sind die Funktionen sowie die institutionelle Durch-schlagskraft einer systematischen Bedarfsermittlung zu diskutieren.

1. Bildungsbedarfsanalyse als Ausgangspunkt der Weiterbildung?

Die Bedarfsermittlung bzw. -erschließung wird in zahlreichen Veröffentlichungen alserster Schritt des erwachsenenpädagogischen Funktionszyklus angesehen. Ihr Ziel sei es,möglichst konkret und authentisch festzustellen, „was eine bestimmte Lerngruppe biszur Erfüllung bestimmter Qualifikationsanforderungen noch zu lernen hat“ (Müller/Stürzl 1992, S. 193). Auf der Basis dessen, was dabei – als Konstrukt – entsteht, folgen dieZielsetzung, die Planung und Durchführung und schließlich die Erfolgskontrolle undQualitätssicherung des Angebotes. Bei diesem als klassisch-traditionell zu kategorisie-renden Vorgehen wird der Bildungs- oder Qualifikationsbedarf letztlich als Differenzzwischen Ist-Qualifikation und Soll-Qualifikation definiert (vgl. Domsch/Harms/Stick-sel 1998). Die Aufgabe einer entsprechenden Bedarfsanalyse ist die „Ermittlung derje-nigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, über die das Personal in der Zu-kunft bis zu einem festzulegenden Planungshorizont verfügen muss, wenn das beabsich-tigte Leistungsprogramm einschließlich aller Vor- und Nebenleistungen mit Erfolghervorgebracht werden soll“ (Drumm 1995, S. 185) – ganz so als ob, läge alles poten-ziell offen zu tage, nur mittels neuester Verfahren „aufgedeckt“, mitgeteilt, konsensua-lisiert und entschlossen verfolgt werden müsse, ohne dass die implizite Konstruktivitätder dabei verwendeten Begriffe, Erwartungen und fachspezifischen Mentalitäten dieseProzesse auch nur in irgendeiner irgendwie bemerkenswerten Weise verzerren könnten.

Page 10: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

10 REPORT (27) 2/2004

Diese Hinweise zeigen, dass die Bedarfsdebatten letztlich eine Begrifflichkeit stärkensowie eine implizite Sicht der Dinge transportieren, die mehr verspricht als sie haltenkann – ein Habitus, der irgendwie – so seltsam es anmutet – die Voraussetzung dafürzu sein scheint, dass die Pädagogik bzw. die Erwachsenenpädagogik an Bedeutunggewinnt bzw. gesellschaftlich respektiert wird1 – für ihre Versprechen, nicht für ihretatsächlichen Möglichkeiten, hat man doch für eine Wissenschaft der Rekonstruktionund der Nachdenklichkeit nicht wirkliche „Verwendung“. Adorno spricht in diesemZusammenhang von einer „rechthaberische(n) Erkenntnistheorie“, welche auch für dengeschilderten Mechanismus in Anspruch genommen werden kann. Eine solche Erkennt-nistheorie behauptet mehr als sie kann, und „dringt“ für ihn auch „dort auf Exaktheit..., wo die Unmöglichkeit des Eindeutigen zur Sache selbst gehört“ (Adorno 1980,S. 29) und gerade auf diesem Weg „die Einsicht (sabotiert) und der Erhaltung desSchlechten (dient)“ (ebd.).

Wie sich diese rechthaberische Praxis auswirkt, kann man u. a. daran ersehen, dasseine entschiedene und überbetonte Bedarfsorientierung mehr Fragen unberücksichtigtlässt, als sie klärt. Es wird dabei nämlich ziemlich umstandslos vorausgesetzt, dass dieSoll-Qualifikation eines Mitarbeiters in Stellenbeschreibungen, Anforderungsprofilenund Organisationshandbüchern klar beschrieben ist und konkrete Kenntnisse über dieZielrichtung sowie Inhaltlichkeit zukünftiger Entwicklungen verfügbar sind, waskeineswegs immer – bzw. eher selten – der Fall ist. Die zukunftsbezogenen Kenntnisse

Abbildung 1: Bildungsbedarfsanalyse als Ist-/Soll-Abgleich

Ist-Qualifikation Soll-QualifikationAbgleich

• Beurteilungsunterlagen

• Befragung

• Beobachtung

• Moderationsmethode

• Assessment-Center

• Einstellungs- undKlimaanalyse

• Führungsstilanalyse

• Selbstmanagement Bildungsbedarf

• Stellenbeschreibungen

• Arbeitsplatzanalysen

• Befragung

• Moderationsmethode

• Prognoseteams

(vgl. Müller/Stürzl 1992, S. 107)

1 Dieser Sachverhalt wird insbesondere im Kontext der Nach-Pisa-Debatte überdeutlich. In dieser gewinnen dietestpädagogischen Ansätze der 1970er Jahre wieder Oberwasser, welche bis heute den Nachweis ihrer tat-sächlichen Nachhaltigkeit schuldig geblieben sind – worum es diesen aber auch überhaupt nicht geht (sondernum das Legitimations- und Versprechungs-Beiträge für eine symbolische Politik, die nicht zu halten braucht,was sie verspricht).

Beiträge

Page 11: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

11REPORT (27) 2/2004

über die Qualifikationsstrukturentwicklung in den einzelnen Branchen sowie an denkonkreten Arbeitsplätzen sind nicht nur vage, es gibt auch begründete Zweifel daran,ob diese überhaupt mit einem ausreichenden zeitlichen Vorlauf prognostizierbar sind.Mehr und mehr hat sich deshalb in der berufspädagogischen Debatte bereits seit län-gerem die Einsicht durchgesetzt, dass es nicht nur darum gehen kann, die Qualifikati-onen an zukünftige inhaltliche Anforderungen anzupassen; sondern vielmehr auchund in wachsendem Maße die Frage an Bedeutung gewinnt, über welche Kompeten-zen Menschen verfügen müssen, um die anstehenden Wandlungen dann produktivgestalten zu können, wenn sie mit diesen konkret konfrontiert sind.

Solche Überlegungen liefern einen zusätzlichen Baustein für ein Konzept von Bedarfs-orientierung im Kontext unsicherer und ungesicherter Entwicklungen (vgl. Helsper u. a.2003). Hat uns schon die Bildungsökonomie der 1970er Jahre des vergangenen Jahr-hunderts u. a. die Einsicht hinterlassen, dass Aus- und Weiterbildungs-Nachfragen nichtnur etwas mit tatsächlichen Bedarfen, sondern auch mit dem Qualifizierungsangebotzu tun haben (Stichwort „angebotsinduzierte Nachfrage“), so zeigte uns insbesonderedie vergleichende Bildungsforschung, dass auch die Gestaltung von Arbeitsplätzen –also die „Anforderungen“ vor Ort – nicht nur Bezugsgröße, sondern auch Ergebnis vonQualifizierung und Kompetenzentwicklung sind (vgl. Arnold 1997, S. 61 ff.). Mit an-deren Worten: Arbeitsplatzbezogene Anforderungen werden sich künftig sowohl anden Kompetenzen der potenziellen Arbeitnehmer orientieren müssen als auch an denAnsprüchen, die sie selbst an diesen Plätzen realisieren möchten und wofür sie überdie gewerkschaftlichen Interessenvertretungen – mit voller Berechtigung2 – kämpfen.

Vielleicht ist die Bedarfsdiskussion in der Berufs- und Erwachsenenpädagogik auchgenau deshalb seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verstummt, weil siekeine Antworten zu geben vermag, die den erwähnten Aspekten von Unsicherheit undUngesichertheit sowie auch der sozialen Konstruktivität des Bedarfs, welche viel mitder soziokulturell prägenden Kategorie des Berufs und des „Berufenseins“ zu tun hat,Rechnung zu tragen vermag. Diese Sprachlosigkeit der Wissenschaft steht in einemimmer stärkeren Gegensatz zu den Exaktheits- und Professionalitätserwartungen vielerPraktiker gegenüber der Bedarfsfrage.

2. Das Prognosedefizit

Geht man davon aus, dass das Konstrukt „Bedarf“ keine eindeutige und abfragbare Grö-ße darstellt, sondern von Unsicherheit und Ungewissheit geprägt ist, so muss manzunächst eingestehen, dass seine Ermittlung zu den schwierigsten Aufgaben der betrieb-

2 Dass diese berechtigten Anliegen im Kontext der neoliberalen Globalisierung zwar artikuliert werden können,aber keinerlei Schutzwirkung mehr haben, kann man in vielen der Gesellschaften der südlichen Halbkugel beo-bachten, wo Menschen nicht allein deshalb keine Arbeitsplätze finden, weil sie zu wenig qualifiziert sind, son-dern auch deshalb, weil sie zu hoch qualifiziert sind und über keinerlei Definitionsmacht in Fragen der Industrie-und Arbeitsmarktpolitik verfügen.

Arnold/Lermen: Die Systemik des Bedarfs

Page 12: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

12 REPORT (27) 2/2004

lichen Personalwirtschaft (vgl. Schlutz 1999) zählt. Dies bestätigen auch viele Unterneh-men selbst bei ihren Bemühungen, ihre Personalentwicklung bedarfs- und kompetenz-orientiert darzustellen (vgl. BMBF 2003). Gleichzeitig entwickelt sich die Einsicht, dassdurch einen Soll-Ist-Vergleich lediglich der Abbau von Defiziten in den Blick gerücktwird, während die strategische, chancen- oder potenzialorientierte Kompetenzentwick-lung demgegenüber in den Hintergrund tritt. Vereinzelt lassen sich deshalb Bemühun-gen beobachten, den Weiterbildungsbedarf von den heutigen und zukünftigen Unter-nehmenszielen abzuleiten (vgl. Arnold/Krämer-Stürzl/Siebert 1999), ihn also alskonstruktiven Bestandteil einer antizipierten – strategisch geplanten – Unternehmens-entwicklung zu konzeptualisieren. „Bedarf“ büßt dabei viel von der Konnotation „Pra-xisorientierung“ ein und wird – in einem durchaus auch curriculumtheoretisch zu den-kenden Sinne – als die Personalentwicklungskonsequenz zukünftiger Verwendungssitu-ationen verstanden. Dieser Perspektivenwechsel ist grundlegend: „Bedarf“ entwickeltsich dadurch mehr und mehr von einer Gegenwarts- zu einer Zukunftskategorie.

3. „Bedarf ist auch nicht mehr, was er einmal war!“

Damit näheren wir uns dem eigentlichen Kern unseres Versuchs, die Erwachsenenbil-dungsplanung neu zu justieren: Ist die Bedarfsermittlung wirklich die erste Station imFunktionszyklus der Weiterbildung? Geht ihr nichts voraus? Liegt das, was die Zuständi-gen „ermitteln“ völlig in ihrem Belieben und ist es nur der Logik des Zu-Entdeckendenverpflichtet? Ist ihre „Ermittlung“ nicht bereits immer schon eine Fortschreibung desBewährten oder eine Imitation von „Best-Practices“ andernorts? Ist die Überzeugungs-wirkung dessen, was Weiterbildner/innen und Personalentwickler/innen als Bedarf ge-genüber ihren Vorgesetzten oder Geldgebern darlegen, ausschließlich oder dochzumindest in starkem Maße von der Präzision des eingesetzten Instrumentariums undder Nachvollziehbarkeit der Datengewinnung abhängig, wie einen die oftmals artiku-lierten technokratisch-rezeptologischen Erwartungshaltungen glauben machen? Oder ist„Bedarf“ ein Verlegenheitskonstrukt, dem lediglich eine legitimatorische Relevanz zu-kommt, bei dessen Definition, Ausgestaltung und Umsetzung alle denkbaren Interessen,Lesarten und mehr oder weniger expliziten Vorgaben, Sachzwänge und organisationa-len Rahmenbedingungen einfließen, welche nicht selten in der Form eines vorauseilen-den Gehorsams bereits vieles ausschließen, was prinzipiell denkbar, begründbar undrelevant wäre? Versorgt die Bedarfsermittlung somit letztlich eine organisationale Logikmit Legitimation, die nach anderen als weiterbildungsbezogenen Maßgaben „funktio-niert“ und sich stattdessen im Sinne einer self fulfilling prophecy immer wieder reprodu-ziert? Solche Überlegungen stärken den Eindruck, dass „es sich mithin als durchaus frag-lich dar(stellt), ob der Bildungsbedarf eines Unternehmens oder einer Region überhaupt„objektiv“ analytisch fassbar und für Planungsentscheidungen der Weiterbildungsver-antwortlichen wirklich instrumentell nutzbar ist“ (Arnold 1996, S. 202 f.).

Mit den hier skizzierten Fragestellungen wird ein strukturelles Defizit der bisherigenBedarfsdiskussion, welche – wie gesagt – seit Jahren verstummt ist, deutlich. Deshalb

Beiträge

Page 13: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

13REPORT (27) 2/2004

sind auch die aus der Betriebspädagogik bekannten Einsichten erwachsenenpädago-gisch noch nicht wirklich aufgegriffen und ausgedeutet worden: „Bildungsbedarf isteben nicht ‚offen Zutageliegendes’, was fertig und abrufbereit in irgendwelchen Daten-banken bereitliegt und sich einfach ‚abfragen’ läßt. Die Tatsache, daß dabei die subjek-tiven Potentiale der Lerner genauso eine Rolle spielen, wie die Latenz und Plastizitätdessen, was als Bedarf erfaßt und formuliert werden soll, macht Bildungsbedarf zu einereher qualitativen potential- und gestaltungsorientierten Größe“ (Müller/Stürzl 1992,S. 116).

Diese Komplexität, Perspektivität und Konstruktivität konfrontiert die Erforschung derBedarfsfrage mit dem Phänomen der unhintergehbaren Intransparenz, da – wie gesagt– Bedarf nicht einfach eine originäre Größe ist, die es lediglich mit Hilfe besondererTechniken zu entdecken und für die Programmplanung wirksam umzusetzen gilt –selbst wenn der Begriffsgebrauch selbst diese Machbarkeitsillusion eher stärkt als über-windet. Deutlich wird dies u. a. am Prognosedefizit der bisherigen Bedarfsforschung:„Das Problem bei Bedarfen liegt darin, dass sie immer nur mit höchster Unsicherheitperspektivisch erkennbar sind“ (Nuissl 2003, S. 177). Dies wirft schier unlösbare Fra-gen für eine Bedarfsorientierung auf, welche sich antizipativ an den zukünftigen Ent-wicklungen der Qualifikationsanforderungen zu orientieren bemüht (vgl. Müller/Stürzl1992) und wirklich darum bemüht ist, deutlich über den lediglich „nachgefragten“Bedarf hinauszugehen und an die Stelle einer „defizitorientierten“ eine „vorausschau-ende“ und potenzialorientierte Ermittlung des Weiterbildungsbedarfs treten zu lassen(vgl. Pawlowsky/Bäumer 1996, S. 99 ff.).

4. Bildungsbedarf im organisationalen Kontext

Wer mit Menschen aus Weiterbildungsabteilungen redet, erhält oft den Eindruck, dassdie Bedarfsargumentation von vielen Erwartungen überlagert und durchwirkt ist, dieetwas damit zu tun haben, dass die Position sowie die argumentative Relevanz desWeiterbildungshandelns in vielen organisationalen Kontexten ungeklärt ist. Eine sol-che organisationale Uneindeutigkeit der Weiterbildung ergibt sich insbesondere in sogenannten „Überschneidungsbereichen“, in welchen – um es systemtheoretisch aus-zudrücken „... der Erziehungsprozeß an die Erfüllung, ja den Primat einer anderenFunktion gebunden (bleibt)“ (Luhmann/Schorr 1979, S. 54). Solche Institutionen „die-nen“ – anders als z. B. öffentliche Weiterbildungsanbieter – einem übergeordnetenorganisationalen Anliegen (z. B. Produktentwicklung, Marktsicherung, Seelsorge), wel-ches mehr oder weniger explizit ist. Die für die Weiterbildungsplanung und -gestal-tung Zuständigen sind deshalb funktionssymbiotisch in den organisationalen Kontexteingebunden und mit einer Art Zweisprachigkeit3 konfrontiert, die Missverständnisse

3 Diese Zweisprachigkeit hat z. B. für die betriebliche Weiterbildung zur Folge, daß „… die sogenannten „einhei-mischen Begriffe“ des erwachsenen- und betriebspädagogischen Diskurses überformt und infiltriert (werden)durch eine Aufblähung des wirtschaftlichen Diskurses, der in den Denk- und Reflexionsapparat der Pädagogikhineinwirkt und die dortigen Vorstellungen vom Gegenstand zu verändern beginnt“ (Arnold 1997, S. 53).

Arnold/Lermen: Die Systemik des Bedarfs

Page 14: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

14 REPORT (27) 2/2004

und professionelle Verstrickungen mit sich bringen können, die gesehen und geklärtwerden müssen, bevor überhaupt irgendwelche „Tools“ eine vermeintlich größere Strin-genz und Exaktheit der Bedarfsbestimmung ermöglichen können. Solche Tools bein-halten beispielsweise eine ausgeklügelte Benchmarking-Systematik, mit der sich derspezifische Weiterbildungsbedarf eines Einzelnen mit Hilfe aufwändiger Testverfahreneindeutig bestimmen lassen soll.

Doch zumeist geht es um etwas ganz anderes. Im Kontakt mit der funktionssymbioti-schen Praxis gewinnt man den Eindruck, dass, indem sich Weiterbildungs- oder Perso-nalentwicklungs (PE)-Professionals auf die Perfektionierung ihrer Bedarfsermittlungs-strategien konzentrieren, sie eine Antwort in der einen Sprache („ihrer“ Professions-sprache“) auf eine Frage in der anderen Sprache (der organisationskonstitutiven Frage)zu geben versuchen, wodurch die Missverständnisse sich vergrößern und die Unsi-cherheiten zunehmen. Dies erschwert eine Festlegung von Weiterbildungsbedarf inallgemeinen und leicht formalisierbaren Größen (systembedingtes Prognosedefizit).Die Frage, die im Raum steht, aber nicht immer deutlich ausgesprochen wird, ist näm-lich die nach der eigentlichen Relevanz von Bildungszielen im Kontext der Organisa-tionsentwicklung und damit die Frage nach dem Stellenwert und der institutionellenWertschätzung der eigenen Arbeit.

Dass eine Notwenigkeit zu einer bedarfsgerechten Weiterbildung durchaus besteht,wird auch dadurch deutlich, dass die Betriebe meist ad hoc und relativ kurzfristig ihrenWeiterbildungsbedarf erfassen (vgl. Arnold 1996) und kaum um die Konstruktivität desBedarfszugriffs und somit dessen „auslösende“ Wirkungsketten weiß. Die Ergebnisseder ersten und zweiten europäischen Weiterbildungserhebung (CVTS I & II) belegenzudem, dass die Anzahl der Unternehmen, die eine regelmäßige systematische Be-darfsermittlung durchführen, sogar rückläufig ist: „Führten 1993 noch 33 % der Unter-nehmen Qualifikationsbedarfsanalysen und 46 % Bildungsbedarfsanalysen für einzel-ne Mitarbeiter durch, so waren dies 1999 nur noch 24 % bzw. 42 %“ (Grünewald/Moraal 2003, S. 11). Damit liegen die deutschen Werte im europäischen Vergleich nurim Mittelmaß.

5. Bildungsbedarfsanalyse als Teil einer systematischen Personalentwicklung

Das Ziel einer Personalentwicklung muss in einer systematischen Qualifizierung allerMitarbeiter liegen (vgl. Meyer-Dohm 1990, S. 6). Mit dem Ziel, diesem Mitarbeiterpo-tenzial bessere Wirkungsbedingungen zu schaffen, haben viele Unternehmen ihre ge-samte Unternehmenskultur durch Organisationsentwicklungsmaßnahmen nachhaltigverändert (vgl. Müller/Stürzl 1992, S. 129). Damit verbunden ist eine fortschreitendeProfessionalisierung und eine steigende Bedeutung der Programm- und Angebotspla-nung, d. h. die Ermittlung des Bildungsbedarfs rückt in den Mittelpunkt einer strate-gisch orientierten Personalarbeit.

Beiträge

Page 15: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

15REPORT (27) 2/2004

Besonders ausgeprägt sind organisationale Uneindeutigkeit und Zweisprachigkeit derWeiterbildung insbesondere in so genannten Tendenzbetrieben (z. B. Kirchen, Gewerk-schaften), zu denen aber auch Teile der betrieblichen Weiterbildung gezählt werdenkönnen. Hier trifft man bisweilen eine Fokussierung auf das Bedarfsproblem und des-sen rezeptologische Handhabung an, welcher in einer erwachsenenpädagogisch seri-ösen Weise überhaupt nicht entsprochen werden kann. Denn Bedarf ist ein Konstruktund keineswegs eine irgendwie verborgene Größe, die nur auf ihre Aufdeckung mittelsbesonders raffinierter Techniken wartet. Weiterführender als die Frage nach den ver-schiedenen Ansatzpunkten, Strategien und Methoden der Bedarfsermittlung oder -er-schließung (vgl. Schlutz 1991; 1996; 2001) ist deshalb die Frage, welche Instanzen inwelcher Art und Weise bei der Bedarfskonstruktion mitwirken bzw. zu Rate gezogenwerden (können). Zugleich sind die Funktion sowie die institutionelle Durchschlags-kraft einer systematischen Bedarfsermittlung zu diskutieren. Letztere ist nämlichkeineswegs bereits dadurch gewährleistet, dass die Bedarfsklärung selbst mit elaborier-ten und nachvollziehbar eingesetzten Methoden erfolgt, wie auch umgekehrt eskeineswegs die diesbezüglich fehlende Performance ist, die die institutionelle Zweit-rangigkeit so mancher Bildungs- und Personalentwicklungskonzepte begründet. Einevon der Aufwertungssehnsucht genährte Bemühung um eine Professionalisierung derBedarfsermittlung erweist sich somit als untauglicher Versuch, die durch die Funkti-onssymbiose grundgelegte Zweitrangigkeit zu überwinden, statt – was weiterführen-der wäre – in einer anderen Weise damit umzugehen.

6. Fazit

Aus unserer Perspektive lassen sich drei mögliche Ansatzpunkte identifizieren:

Zum einen ist es notwendig, dass sich die mit Weiterbildung befassten Personen darüberbewusst werden, welche Instanzen mit welchen Einflüssen bei der Bildungsbedarfser-mittlung mitwirken. Bereits dadurch können systembedingte Defizite bei der Analyseentschärft werden. Zum zweiten darf eine Bildungsbedarfsanalyse ihren Fokus nichtauf eine lediglich defizitorientierte im Sinne einer nachholenden Weiterbildung, aberauch nicht auf eine lediglich potenzialorientierte Ausrichtung legen, sondern solltevielmehr auf Wandlungstendenzen ausgerichtet sein und den flexiblen, dynamischenCharakter des Bildungsbedarfs mit einbeziehen. Und schließlich müssen drittens dieWeiterbildungsabteilungen sich von Bildungscontrollingerwartungen lösen und auchvon der Notwendigkeit kurzfristiger Rechtfertigungen durch Bedarfsnachweise befreitwerden. Nur dann kann eine effiziente, bedarfsorientierte Weiterbildung auch erfolg-reich sein und mit den prognostischen Unsicherheiten angemessen im Rahmen poten-zialorientierter Entwicklungskonzepte umgehen.

Arnold/Lermen: Die Systemik des Bedarfs

Page 16: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

16 REPORT (27) 2/2004

Literatur

Adorno, T. W. (1980): Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a.M.Arnold, R. (1996): Weiterbildung: ermöglichungsdidaktische Grundlagen. MünchenArnold, R. (1997): Qualität durch Professionalität. Zur Durchmischung von Utilität und Zweck-

freiheit in der Qualität betrieblicher Weiterbildung. In: ders. (Hrsg.): Qualitätssicherung inder Erwachsenenbildung. Opladen, S. 51–61

Arnold, R./Krämer-Stürzl, A./Siebert, H. (1999): Dozentenleitfaden: Planung und Unterrichts-vorbereitung in Fortbildung und Erwachsenenbildung. Berlin

BMBF (Hrsg.) (2003): Berichtssystem Weiterbildung 2000. Integrierter Gesamtbericht zur Wei-terbildungssituation in Deutschland. Bonn

Domsch, M. E./Harms, M./Sticksel, P. (2000): Methoden II – Bildungsbedarfsanalyse. Studien-brief Personalentwicklung. 2., überarb. und erw. Aufl. (ZFUW, Universität Kaiserslautern)

Drumm, H. J. (1995): Personalwirtschaftslehre. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin/HeidelbergGrünewald, U./Moraal, D. (2003): Betriebliche Weiterbildung in Deutschland – fit für Europa?

Ergebnisse der zweiten europäischen Weiterbildungserhebung. URL: www.bibb.de/de/7190.htm

Helsper, W./Hörster, R./Kade, J. (Hrsg.) (2003): Ungewissheit. Pädagogische Felder im Moder-nisierungsprozess. Weilerswist

Huppertz, J./Frank, U./Lampe, D. (1995): Instrumente zur Ermittlung des Bildungsbedarfs – Aufdem Weg zu einem ganzheitlichen Ansatz. In: Personalführung, H. 3, S. 186–191

Luhmann, N./Schorr, K.-E. (1979): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. StuttgartMeyer-Dohm, P. (1990): Die Bedeutung der Human-Ressourcen im internationalen Wettbewerb.

In: GdWZ, H. 1, S. 6–7Müller, H.-J./Stürzl. W. (1992): Dialogische Bildungsbedarfsanalyse – Eine zentrale Aufgabe

des Weiterbildners. In: Geißler, H. (Hrsg.): Neue Qualitäten betrieblichen Lernens (Betrieb-liche Bildung – Erfahrungen und Visionen, Band 3). Frankfurt a.M. u.a., S. 103–146

Nuissl, E. (2003): Kundschaft von Weiterbildung erzeugen. In: GdWZ, H. 4, S. 176–178Pawlowsky, P./Bäumer, J. (1996): Betriebliche Weiterbildung: Management von Qualifikation

und Wissen (Innovatives Personalmanagement, Band 6). MünchenSchlutz, E. (1991): Erschließen von Bildungsbedarf. BonnSchlutz, E. (1996): Weiterbildungsmarketing I. Teil 2: Bedarfsermittlung. Studienbrief Fernstu-

dium Erwachsenenbildung. KaiserslauternSchlutz, E. (1999): Bedarfserschließung. In GdWZ – Praxishilfen (4.30.10). NeuwiedSchlutz, E. (2001): Bildungsbedarf. In: Arnold, R. u.a. (Hrsg.): Wörterbuch Erwachsenenpäda-

gogik. Bad Heilbrunn/Obb., S. 51–52

Beiträge

Page 17: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

17REPORT (27) 2/2004

Carola Iller/Annika Sixt

Weiterbildungsanbieter als „feste Ansprechpartner“ für dieWeiterbildung in kleinen und mittleren Unternehmen

Ergebnisse von Betriebsfallstudien zur Weiterbildungsbedarfsermittlung in kleinenund mittleren Unternehmen (KMU) zeigen, dass sich die Serviceangebote zurWeiterbildung für KMU nicht auf die Analyse des Bildungsbedarfs beschränkendürfen. Zusätzlich sollten die Unternehmen bei der unternehmensstrategischenStandortbestimmung und der Planung und Umsetzung von Reorganisationsprozes-sen unterstützt werden. Interessant sind für KMU deshalb umfassende Beratungs-und Weiterbildungsangebote aus „einer Hand“. Ergibt sich daraus für Weiter-bildungsanbieter eine Chance zur Erweiterung ihres Angebots?

1. Einleitung

Angesichts zunehmender Konkurrenz unter den Weiterbildungsanbietern um (wenigerwerdende) öffentliche Fördermittel erwägen Weiterbildungsanbieter vielfach, sich neueMarktsegmente zu erschließen (vgl. Stahl/Stölzl 1994). Als potenzielle Auftraggeberfür Weiterbildungsangebote kommen vor allem kleine und mittlere Unternehmen(KMU) in Betracht. Das Potenzial ist nicht unerheblich, denn immerhin sind etwa53,4 % der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik in Unternehmen mit bis zu 100 Be-schäftigten tätig (vgl. IfM 2002)1. Und nach wie vor ist die Weiterbildungsbeteiligungin KMU unterdurchschnittlich (vgl. Weiß 2000; Egner 2002), was weniger auf man-gelnden Bedarf als vielmehr auf eine fehlende Weiterbildungs-Infrastruktur in diesenUnternehmen zurückzuführen ist (vgl. Iller 2000). Wegen der geringeren Anzahl anBeschäftigten pro Unternehmen und der geringeren Ressourcen ist die Weiterbildungs-organisation in KMU aufwendiger, zumal KMU deutlich seltener über ein eigenständi-ges Weiterbildungsmanagement verfügen, das Weiterbildungsaktivitäten planvoll indie Unternehmensentwicklung integriert (vgl. Egner 2002). Insofern ist es naheliegend,dass Weiterbildungsanbieter anstreben, durch entsprechende Serviceleistungen dieseLücke zu schließen. Zusätzlich zum eigentlichen Seminarangebot werden deshalbhäufig im Vorfeld der Weiterbildung Bedarfsanalysen und im Anschluss an die durch-geführten Veranstaltungen Transferunterstützung angeboten.

Untersuchungen zum Weiterbildungsmanagement haben jedoch gezeigt, dass die ho-hen Anforderungen an die betrieblichen Ressourcen (Baethge/Schiersmann 1998; Büch-

1 Die Angaben basieren auf der Statistik der Bundesanstalt für Arbeit, der einzigen amtlichen Statistik, die einenaktuellen Gesamtüberblick über die Beschäftigten nach Betriebsgrößenklassen gibt. Allerdings sind in dieserStatistik nur Betriebe mit sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erfasst; Selbstständige und Ein-Personen-Unternehmen, für die Betrachtung von KMU eine wichtige Unternehmensform, sind hier also nicht berücksich-tigt (vgl. IfM 2002).

Page 18: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

18 REPORT (27) 2/2004

ter 1999) nur begrenzt durch externe Dienstleistungen ersetzt werden können, da ins-besondere die Bedarfsdefinition nur gemeinsam mit den verschiedenen betrieblichenAkteur/innen sinnvoll ist (vgl. Ufholz u. a. 1997). Eine bedarfsgerechte Gestaltung derWeiterbildung in KMU erfordert deshalb einen Mix aus (einfach zu handhabenden)internen Verfahren und externen Unterstützungsangeboten.

Im Rahmen eines Projekts2 haben wir gemeinsam mit Unternehmen und Weiterbil-dungsanbietern geeignete Unterstützungsformen erprobt und weiterentwickelt. Dasentwickelte Instrumentarium wird in Form eines Unternehmerhandbuchs den Unter-nehmen zur Verfügung gestellt, darüber hinaus werden die methodischen Ergebnissedidaktisch für ein Seminarkonzept mit Multiplikator/inn/en aufbereitet.

Im vorliegenden Beitrag wollen wir einige Ergebnisse aus den Betriebsfallstudien vor-stellen, wobei wir nicht weiter auf die Verfahren der Bedarfsermittlung eingehen.3 Statt-dessen wollen wir auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen, den Weiterbil-dungsanbieter u. E. zu berücksichtigen hätten, wenn sie Bildungsdienstleistungen fürKMU offerieren wollen. Wie wir nachfolgend verdeutlichen werden, ist der Beratungs-und Unterstützungsbedarf von KMU sehr viel komplexer als es das herkömmliche Ver-ständnis von Weiterbildungsbedarfsermittlung nahe legt. Und wie wir zeigen werden,sind vor allem solche Angebote gefragt, die Beratung, Unterstützung und Weiterbil-dung „aus einer Hand“ liefern können.

Die Ergebnisse basieren auf Auswertungen von Betriebsfallstudien, die zwischen Märzund September 2003 in KMU in der Region Rhein-Neckar durchgeführt wurden.Insgesamt wurden in neun verschiedenen Betrieben exemplarisch Fallstudien zur Er-mittlung des betrieblichen Bildungsbedarfs durchgeführt. Fünf der untersuchten Unter-nehmen sind eingetragene Handwerksunternehmen, die verbleibenden vier Betriebesind dem Einzelhandel zuzuordnen. Bis auf zwei Unternehmen verfügen alle Hand-werksbetriebe über einen angeschlossenen Verkaufsbereich. Die befragten Unterneh-men beschäftigen zwischen ein bis sechs Mitarbeiter/inne/n und liegen damit schonleicht über dem Betriebsgrößendurchschnitt der Kleinbetriebe in der Bundesrepublik;lediglich ein Fallunternehmen hat über hundert Beschäftigte und ist somit ein mittleresUnternehmen.

In allen untersuchten Unternehmen fanden Analysegespräche mit dem/der Inhaber/inzur Situation des Unternehmens und geplanten betrieblichen Veränderungen statt. DesWeiteren wurden Einzel- oder Gruppengespräche mit Beschäftigten und in einigenFällen Arbeitsplatzbeobachtungen durchgeführt. Ziel war es, auf dieser Grundlage In-formationen über bisherige und geplante Reorganisationsprozesse in den Unterneh-

2 Das Vorhaben wurde als Teilprojekt der Lernenden Region „LEARN-LErnen und Arbeiten Rhein-Neckar“ im Auf-trag der Arbeitsgruppe 5 „Erhöhung der Weiterbildungsbeteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen in derRhein-Neckar Region“ am Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg durchgeführt.

3 Diese Ergebnisse (Handbuch, Seminarkonzept) können ab Mai 2004 über die Autorinnen bezogen werden.

Beiträge

Page 19: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

19REPORT (27) 2/2004

Iller/Sixt: Weiterbildungsanbieter in kleinen und mittleren Unternehmen

men, explizite und implizite Weiterbildungsbedarfe, die Lernorientierung sowie Ent-wicklungs- und Rekrutierungsmuster zu erhalten.

2. Die Selbsteinschätzung zur betrieblichen Situation – ein „blinder Fleck“

Im Rahmen der Fallstudien wurde deutlich, dass sowohl die Unternehmer/innen alsauch die Mitarbeiter/innen an Weiterbildung interessiert sind und den positiven Wertfür ihre Weiterentwicklung erkennen. Leider gelingt die Umsetzung einer systemati-schen Bildungsarbeit in den einzelnen Betrieben mit unterschiedlichem Erfolg. DieUnternehmer/innen, die versuchen, Weiterbildung in einen größeren betrieblichenKontext zu stellen und in unternehmensstrategische Überlegungen einzuordnen, schei-nen erfolgreicher zu sein. Auffällig war, dass die Unternehmer/innen große Schwierig-keiten bei einer objektiven Analyse ihrer betrieblichen Situation haben und der „blin-de Fleck“ als relativ groß beschrieben werden muss.

Es zeigte sich, dass die Arbeitsabläufe und Entscheidungswege in den Unternehmen –wie in KMU häufig anzutreffen – informell geregelt sind. Inwieweit versucht wird,Abläufe formell zu strukturieren liegt meist im Gusto des Unternehmers. Veränderun-gen in den Abläufen, der Produktpalette oder Absatzstrategie werden deshalb auchselten systematisch geplant, sie ergeben sich vielmehr zufällig und spontan. In einigenFallunternehmen haben die Unternehmer/innen beispielsweise in wirtschaftlichenEngpässen versucht, durch Ad-hoc-Umstrukturierungen die Lage zu verbessern. So hatein Unternehmen im Zuge schlechter Absatzzahlen das Sortiment nach und nach aufein niedrigeres Preissegment umgestellt. Diese Umstellung wurde jedoch nach Aussa-ge des Inhabers nicht bewusst vollzogen:

„Es ist einfach so gekommen und im Nachherein muss ich sagen, Gott sei Dank“ (E1, IH).

Dies deckt sich mit den Erfahrungen eines anderen Unternehmens, auch hier wurdemehr unbewusst das Sortiment umgestellt, was in der Retrospektive als überlebensnot-wendig angesehen wird. Mittlerweile wird oft ganz bewusst das Sortiment und Dienst-leistungsangebot auf Individuallösungen umgestellt. Wegen der gestiegenen Beratungs-intensität ergibt sich aus Sicht der Geschäftsleitung der Bedarf an Weiterbildung zumThema Kundenberatung. Aufgrund der Reflektion über die vollzogenen Veränderun-gen im Unternehmen wird darüber hinaus eine Qualifizierung für die Entwicklungzukünftiger Absatzstrategien gewünscht.

Gezielte und umfassende Reorganisationsprozesse haben insbesondere bei Geschäfts-übernahmen stattgefunden. Dies kann an zwei Beispielen gut verdeutlicht werden. Beidem ersten Beispiel handelt es sich um ein Handwerksunternehmen, dass von demSohn übernommen wurde. Neben dem Einstieg ins Multimedia- Geschäft hat der neueInhaber versucht, eine neue Arbeitsorganisation zu schaffen. Die Kernpunkte seinerReorganisation waren eine neue Aufgabenteilung bei der Vertragsannahme (bis zuBeträgen von 150 “ können die Mitarbeiter/innen nun selbst den Auftrag annehmen)

Page 20: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

20 REPORT (27) 2/2004

und der Abrechnung (bis zu einem bestimmten Betrag sollen die Mitarbeiter/innengleich vor Ort kassieren). Des Weiteren wurden zur besseren Wiedererkennung undim Sinne einer Corporate Identity einheitliche Firmenautos und Dienstkleidung ange-schafft. Der Widerstand im Unternehmen gegen diese veränderten Abläufe ist groß,zudem beklagt der Meister das schlechte Betriebsklima unter den Mitarbeiter/inne/n.Dennoch will er an den Veränderungen festhalten, da die Resonanz der Kunden sehrgut ist. Stattdessen ist geplant, mit gezielten Schulungen die Mitarbeiter/innen „aufKurs zu bringen.“ Insbesondere die älteren Arbeitnehmer/innen, die schon bis zu drei-ßig Jahre im Betrieb arbeiten, „wollen keine neuen Sachen mehr annehmen“. Es istschwierig, anhand der geführten Gespräche abzuschätzen, wie erfolgreich der Reor-ganisationsprozess auf Dauer in diesem Unternehmen gelingen wird. Der Unmut derjüngeren Mitarbeiter/innen gegenüber ihren älteren, eher weiterbildungsabstinentenKolleg/inn/en, war deutlich zu spüren. Sie befürchten, dass die Kluft in der fachlichenQualifikation zunehmen und für sie zu Mehrarbeit und größeren Belastungen führenwird, da durch den Einstieg ins Multimedia-Geschäft zukünftig auch noch Speicher-und Programmierkenntnisse erforderlich sind.

Bei dem zweiten Unternehmen, einem Meisterbetrieb für Inneneinrichtung, handelt essich ebenfalls um einen Handwerksbetrieb. Der jetzige Inhaber war als Mitarbeiter derersten Stunde dabei und hat nach einer Teilhaberschaft und nach Verrentung des frü-heren Inhabers den Betrieb übernommen. Gleich nach seiner Übernahme hat der In-haber den Laden räumlich umgebaut:

„Wir haben alles auf ein anderes Level gebracht wie früher. Früher war das mehr die Großhan-delsschiene, jetzt habe ich es mehr geöffnet, nach draußen. Hab schöne Fenster mit eingestellt,das macht jetzt einen besseren Eindruck“ (H3, IH).

Die Umstrukturierung vom Großhandel- zum Einzelhandelsunternehmen wurde da-mit untermauert, dass das Sortiment um (Wohn-)Accessoires erweitert wurde und derInhaber eine Kauffrau im Einzelhandel ausgebildet hat, anstatt eine Innenausstatterin.Aufgrund dieser Reorganisationsprozesse konnte das Unternehmen neue Kundenseg-mente dazugewinnen und die alte Kundschaft beibehalten, ein Faktor, der nach Ein-schätzung des Unternehmers das Bestehen des Unternehmens auch in Krisenzeitenermöglicht hat. Die gestiegenen Beratungsleistungen und der häufigere Kundenkon-takt machen es jedoch nun erforderlich, dass insbesondere die angelernten Mitarbei-ter/innen für den Verkauf und ein Reklamations- und Beschwerdemanagement qualifi-ziert werden.

Auffällig bei beiden Beispielen ist die Tatsache, dass beide Inhaber vor ihrer Geschäfts-übernahme schon im Betrieb beschäftigt waren, aber erst bei der Übernahme dieseumfassenden Reorganisationsprozesse angestoßen haben. Es liegt die Vermutung nahe,dass Veränderungsprozesse, gleich welchen Ausmaßes, immer eines starken Auslösersbedürfen, seien es finanzielle Probleme oder der Wechsel des (Führungs-)Personals.Ohne einen derartigen Anlass ist eine vorausschauende, strategisch geplante Neuaus-richtung offenbar kaum zu realisieren.

Beiträge

Page 21: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

21REPORT (27) 2/2004

Ein wichtiger Grund dafür könnte darin liegen, dass, wie anhand der Darstellung derUnternehmer/innen deutlich wurde, die Reorganisationsprozesse in jeder Hinsichtsehr ressourcenintensiv sind. Hier könnte der Schlüssel für die geringe Bereitschaft für(Re-)Organisationsprozesse kleiner Unternehmen liegen: Während in großen Unter-nehmen derartige Veränderungsprozesse von eigens dafür eingestelltem Personal ini-tiiert und begleitet werden, versuchen die Unternehmer/innen in kleinen Unterneh-men dies neben ihren anderen Aufgaben zu realisieren. Es ist anzunehmen, dass des-halb im Tagesgeschäft der Unternehmer/innen andere, drängendere Aufgaben imVordergrund stehen und das Innovationspotenzial für Organisationsentwicklungspro-zesse überdecken. Zudem steht zu vermuten, dass den Inhaber/inne/n das nötigeKnow-how für die Initiierung von systematischen Reorganisationsprozessen fehlt.

Für die Weiterbildungsplanung in den Unternehmen wirft dies ein zentrales Problemauf: Da die Veränderungen in den Unternehmen eher zufällig und ungeplant stattfin-den, bleibt deren Bedeutung für Weiterbildungserfordernisse vermutlich eher unbe-merkt. Reorganisationsprozesse als Auslöser für Weiterbildungsbedarf sichtbar zumachen, so unsere Erkenntnis aus den Fallstudien, erfordert also zunächst, die Perso-nalverantwortlichen in den Unternehmensleitungen darin zu unterstützen, sich Klar-heit über die Situation des Unternehmens und eine eventuell erforderliche Neuaus-richtung zu verschaffen.

3. Serviceleistung: feste Ansprechpartner für Weiterbildung

Während die betriebliche Weiterbildung in Großunternehmen mittlerweile konzepti-onell und organisatorisch in komplexe Wertschöpfungsprozesse eingebunden ist (vgl.auch Baethge/Schiersmann 1998), klafft in KMU hier eine strategische Lücke, die durchisolierte Weiterbildungs- oder Beratungsangebote kaum zu schließen ist. Erfolgver-sprechender sind stattdessen Kooperationen zu festen Partnern, die den KMU übereine größere thematische Bandbreite Beratung und Weiterbildung anbieten können.

Unsere Fallstudien zeigen, dass eine externe Unterstützung bei der Planung undDurchführung von Weiterbildung durchaus erwünscht ist. Die Formen der Inanspruch-nahme von externer Unterstützung sind vielfältig, wichtig scheint jedoch zu sein, dasses sich um „feste Ansprechpartner“ handelt. Zwei der untersuchten Fallunternehmenverfügen über einen solchen festen Ansprechpartner für Weiterbildung. In einem Fallist der Ansprechpartner nicht nur für die Weiterbildung zuständig, sondern berät dieFirmenleitung auch in anderen Fragen (bspw. neue Produkte, Ergebnisse von wissen-schaftlichen Studien, neue Richtlinien und Gesetzesvorgaben). Das heißt das Unter-nehmen bezieht alle benötigten Informationen über die Branche und entsprechendeWeiterbildungsangebote über eine zentrale Stelle. Die Inhaberin fühlt sich von dieserStelle in allen Fragen „... sehr gut beraten“ und war bisher immer sehr zufrieden mitden Schulungen, die sie regelmäßig dort besucht. Aufgrund dieses festen Ansprech-partners und der damit verbundenen festen Kontaktperson hat sich nach Einschätzung

Iller/Sixt: Weiterbildungsanbieter in kleinen und mittleren Unternehmen

Page 22: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

22 REPORT (27) 2/2004

der Inhaberin sowohl die Quantität als auch die Qualität der Weiterbildung in ihremUnternehmen erheblich erhöht.

Ähnliche Erfahrungen aus dem anderen Unternehmen untermauern die These, dassein fester Ansprechpartner die Weiterbildungsbeteiligung erhöht. Ein Unternehmer ausdem Handwerk hat ebenfalls einen festen Weiterbildungspartner. Dabei handelt essich um einen privatwirtschaftlichen Träger, der insbesondere Weiterbildung zu The-men der Unternehmensführung anbietet. Insbesondere in der Phase, in der der Unter-nehmer das Geschäft komplett selbst übernahm, war dieser Weiterbildungsanbietervon großer Wichtigkeit:

„Die bieten Weiterbildungsveranstaltungen über Führung von Mitarbeitern, Zeitrationalisierung,Kundenförderung, Vermarktung etc. an. Diese Kurse besuche ich regelmäßig. Da bin ich immergut beraten und kann die Sachen in meiner Firma anwenden, ... es hat gefruchtet, ich würde heutenicht dastehen, wo ich jetzt bin“ (H3, IH).

Gerade in Kleinstunternehmen ist die Inanspruchnahme von externer Unterstützungalso vor allem eine Vertrauensfrage, was sowohl durch feste Kooperationen wie aucheine thematisch vielfältige Zusammenarbeit begünstigt wird. Dabei könnten Bildungs-einrichtungen insbesondere bei der Bewusstmachung von betrieblichen Abläufen undStrukturen die Unternehmen mit ihrem Know-how unterstützen und so den Weg fürnötige Reorganisations- und Qualifizierungsprozesse ebnen. Der Wille ist bei denUnternehmen durchaus vorhanden, es ist aber eine allgemeine „Hilflosigkeit“ erkenn-bar, wie man systematisch Weiterbildung im Betrieb etabliert. Im Rahmen der Gesprä-che konnte festgestellt werden, dass feste Kooperationspartner eine wichtige Unter-stützung bei der regelmäßigen Gestaltung von Weiterbildung sind und auch von denanderen Unternehmer/inne/n durchaus als sinnvoll erachtet werden.

Wie oben dargelegt, reicht es dabei allerdings nicht aus, sich auf das traditionelle Feldder Weiterbildungsberatung zu beschränken, da die Unternehmen zunächst Unter-stützung bei der Standortbestimmung und Entwicklung einer Unternehmensstrategiebenötigen. Um diese Bandbreite an Serviceleistungen „aus einer Hand“ liefern zu kön-nen, dürfte es auch für Weiterbildungsanbieter zweckmäßig sein, Kooperationen ein-zugehen und sich zu vernetzen (vgl. Ufholz u. a. 1997). Wie Ufholz u. a. (1997) imHinblick auf Bildungsberatung deutlich machen, sind dabei verschiedene Kooperati-ons-Modelle denkbar: der gleichberechtigte Zusammenschluss spezialisierter Anbie-ter von Weiterbildung und/oder Beratung, die nach außen gemeinsam als Verbundoder Netzwerk auftreten. Die Unternehmen richten dabei ihre Anfragen an einen derNetzwerkpartner, der je nach Art und Umfang der Anfrage den Auftrag selbst bearbei-tet oder an seine Kooperationspartner weiterleitet. Denkbar wäre auch die Einrichtungeiner gemeinsamen Anlaufstelle (z. B. eine gemeinsame Agentur oder ein Servicebü-ro), die je nach Bedarf die Anfragen von Unternehmen an einzelne oder mehrere derzusammengeschlossenen Kooperationspartner weiterleitet. Eine weitere Möglichkeitwäre die Zusammenarbeit eines Anbieters mit festen Vertragspartnern, die einzelneAufgaben in enger Abstimmung mit dem Hauptauftragnehmer bearbeiten.

Beiträge

Page 23: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

23REPORT (27) 2/2004

Hier sind sicherlich je nach örtlichen Bedingungen und vorhandenen Kooperations-strukturen verschiedene Varianten möglich. Entscheidend aus unserer Sicht ist dabei,dass das Angebot inhaltlich und organisatorisch den oben genannten Besonderheitender KMU gerecht wird. Inhaltlich müsste – über das bisher übliche Themenspektrumvon Personal- und Organisationsentwicklung hinaus – dem vielschichtigen Beratungs-und Unterstützungsbedarf von der unternehmenspolitischen Standortbestimmung biszum Weiterbildungsmanagement Rechnung getragen werden. Gleichzeitig sollte die-se Serviceleistung in einer Organisationsform erbracht werden, die den KMU eineZusammenarbeit mit einem „festen Ansprechpartner“ ermöglicht. Weiterbildungsan-bieter müssten den Unternehmen also – allein oder im Verbund mit anderen – erstenslängerfristig und zweitens in vielfältigen, auch in unternehmenspolitisch sensiblen Fra-gen, je nach Bedarf als Partner und Dienstleister zur Verfügung stehen. Die vielerortsbeschriebenen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit KMU (vgl. Alten/Weiß2000) könnten deshalb auch darin begründet liegen, dass der schmale Grat zwischenDienstleistungs- und Kooperationsangebot recht unwegsam ist.

Literatur

Alten, W./Weiß, R. (Hrsg.) (2000): Service-Leistungen für KMU – Innovative Modelle für Bera-tung und Qualifizierung. Köln

Baethge, M./Schiersmann, C. (1998): Prozeßorientierte Weiterbildung – Perspektiven eines neuenParadigmas der Kompetenzentwicklung für die Arbeitswelt der Zukunft. In: Arbeitsgemein-schaft Qualifikations-Entwicklungs-Management (Hrsg.): Kompetenzentwicklung 98: For-schungsstand und Forschungsperspektiven. Münster u.a., S. 15–87

Büchter, K. (1999): Zehn Regeln zur Ermittlung des Qualifikationsbedarfs. In: Gewerkschaftli-che Bildungspolitik, H. 3–4, S. 12–15

Egner, U. (2002): Berufliche Weiterbildung in Unternehmen. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.):(CVTS2) Erhebungen nach § 7 BstatG. Wiesbaden

Grünewald, U./Moraal, D. (1996): Betriebliche Weiterbildung in Deutschland: Gesamtbericht.In: BIBB (Hrsg.): Ergebnisse aus drei empirischen Erhebungsstufen einer Unternehmensbe-fragung im Rahmen des EG-Aktionsprogrammes FORCE. Bielefeld

Institut für Mittelstandsforschung (IfM) (Hrsg.) (2003): Unternehmensgrößenstatistik 2001/2002– Daten und Fakten. Bonn

Iller, C. (1997): Gestaltung der betrieblichen Weiterbildung in Klein- und Mittelbetrieben. In:Görs, D./Iller, C. (Hrsg.): Organisationsentwicklung und Qualifizierung in Klein- und Mit-telbetrieben. Beiträge eines Workshops. Bremen. S. 11–39

Iller, C. (2000): Gestaltung der Weiterbildung und Weiterbildungsinteressen der Beschäftigten.Eine empirische Untersuchung in kleinen und mittleren Unternehmen. München/Mering

Stahl, T./Stölzl, M. (Hrsg.) (1994): Bildungsmarketing im Spannungsfeld von Organisationsent-wicklung und Personalentwicklung. Modellversuche zur beruflichen Bildung, H. 33

Ufholz, B. u.a. (Hrsg.) (2003): Handbuch für Bildungsträger und Bildungsberater zur Erschlie-ßung des Marktsegments der kleinen und mittleren Unternehmen.URL: http://bildungsforschung.bfz.de (20.01.2003)

Weiß, R. (2000): Wettbewerbsfaktor Weiterbildung. Ergebnisse der Weiterbildungserhebung derWirtschaft. Köln

Iller/Sixt: Weiterbildungsanbieter in kleinen und mittleren Unternehmen

Page 24: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

24 REPORT (27) 2/2004

Stephan Dietrich/Monika Herr

Organisationsentwicklung und neue Lernkulturen1

Das Thema „neue Lehr- und Lernkulturen“ bildet bereits seit einigen Jahren einenthematischen Schwerpunkt im Fachdiskurs der Erwachsenenbildung. Eine Folge dererhöhten Aufmerksamkeit ist ein zunehmend differenzierteres Verständnis dessen,was unter „neuen Lehr- und Lernkulturen“ begriffen werden kann. Dabei zeichnetsich ab, dass sich die Behandlung des Themas kaum auf Fragen von Didaktik undLernorganisation beschränken lässt. Die heute bereits beobachtbaren Bestrebungender Praxis, Lehr- und Lernbedingungen zu schaffen, die das selbstgesteuerte LernenErwachsener unterstützen und fördern, weisen eindeutig auf die Notwendigkeit hin,die Erwachsenenbildungsorganisation gestalterisch mit einzubeziehen. Dervorliegende Beitrag beleuchtet die Frage, welche Organisationsentwicklungs-erfordernisse bei der Veränderung von Lernkulturen auftreten können. Ferner wirdgezeigt, wie ein Organisationsentwicklungsprozess zur Entwicklung neuer Lern-kulturen angelegt sein kann.

1. „Neue Lehr- und Lernkultur“ – was ist wirklich neu?

Das Thema „neue Lehr- und Lernkulturen“ ist in der wissenschaftlichen Erwachsenen-bildungsdiskussion mittlerweile breit etabliert. Bereits 1990 hat Faulstich aufgrund dergesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungsimpulse (Bevölkerungsent-wicklung, Organisation und Qualifikation in der Arbeit, Wertewandel usw.) auf dieErfordernisse eines solchen Lernkulturwandels hingewiesen. Die Lernfähigkeit desMenschen müsse zunehmend im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen: „Das Überle-ben im nächsten Jahrtausend wird nur dann möglich sein, wenn sich Individuum undGesellschaft in einem Maße als lernfähig erweisen, welches eingefahrene Verhaltens-muster durchbricht“ (Faulstich 1990b, S. 38). In den vergangenen Jahren hat das The-ma auch bildungspolitisch hohen Stellenwert gewonnen. Ferner liegen bereits ersteAuswertungen vor, wie das Thema von der Praxis aufgegriffen und umgesetzt wird(vgl. im Folgenden: Gieseke/Käpplinger 2001; Dietrich 2001). Dabei zeigt sich, dassder Begriff als Chiffre für hoch differenzierte Konzepte verstanden werden kann, diedarauf abzielen, den Lernenden in möglichst vielfältiger Form Lernanregungen, Lern-zugänge und Lernunterstützung in Form von Lernberatung zu bieten. Als charakteris-tisch werden in diesem Zusammenhang die folgenden Gestaltungsmerkmale hervor-gehoben:

1 Dieser Beitrag entstand im Kontext des DIE-Projekts SELBER. Das vom Bundesministerium für Bildung und For-schung geförderte DIE-Projekt SELBER „Service: Institutionenberatung zur Öffnung für neue Lernkulturen undBeratung bei neuen Angebotsformen“ wird am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung in Kooperation mitden Universitäten Hamburg, Gießen und Leipzig mit einer Laufzeit von drei Jahren bis September 2004 durchge-führt.

Page 25: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

25REPORT (27) 2/2004

• Die Flexibilisierung der Lernorte – Lernen findet im Seminarraum, in Selbstlern-zentren, zu Hause, in Bibliotheken oder bei Exkursionen statt. Das Internet er-möglicht, jederzeit von jedem Ort aus mit anderen Lernenden, Tutor/innen, Lern-beratenden oder Expert/inn/en Kontakt aufzunehmen.

• Eine zunehmende zeitliche Flexibilisierung von Lehr- und Lernprozessen erfor-dert es, die Kompetenzen der Teilnehmenden hinsichtlich ihres Zeitmanagementszu erhöhen. Die Lernberatung hat hier eine wichtige Bedeutung für die Unterstüt-zung und Gestaltung von individualisierten Lernzeiten.

• Offene Prozesse, gruppendynamische Aspekte und das situative Lerngeschehengewinnen deutlich an Stellenwert. Als charakteristisch wird die Offenheit für Ent-wicklungen genannt. So gewinnen handlungs- und erfahrungsorientierte Formendes Lernens wie z. B. beim Lernen in Projekten oder in Planspielen an Gewicht.Die Bedeutung der Lerngruppe, die für die Lernkontrolle besonders effektiv ist,nimmt dabei eher zu. Für die Lernbegleitung bedeutet dies einen erhöhten Vorbe-reitungsaufwand. Sie ist gefordert, die Gruppenprozesse angemessen zu beglei-ten. Als besonders anspruchsvoll erweist sich, eine Balance zwischen Über- undUnterstrukturierung zu finden.

• Der Stellenwert der Rahmenbedingungen verändert sich. So gewinnt etwa dieGestaltung der Räumlichkeiten oder die Organisation des Zugriffs auf Materialeine höhere Bedeutung als in traditionellen Angeboten. Ein insgesamt erhöhterPlanungs- und Nachbereitungsaufwand ist die Folge.

• Die professionellen Aufgaben für das Lehrpersonal nehmen zu. Insbesondere be-ratende und animierende Anforderungen gewinnen an Bedeutung. Das Personalbenötigt zusätzliche Fähigkeiten wie Beratungskompetenz, Moderations- und Ani-mationskompetenz, erweiterte Methodenkompetenz und Kompetenz beim Ein-satz digitaler Medien.

• Die Grenzen zwischen Bildung und Unterhaltung werden durchlässiger. „DasEdutainment wird als flankierendes Element in dem Gesamtarrangement verortet,das kein Selbstzweck oder Erzeuger bloßer Behaglichkeit ist, sondern letztlichden didaktischen Zielen als ein Hilfsmittel dient“ (Gieseke/Käpplinger 2001, S. 248).

• Die Lerninhalte und -gegenstände stehen weiterhin im Mittelpunkt, den Lernen-den soll jedoch stärker ermöglicht werden, ihre individuellen Interessen, Bedürf-nisse und Kompetenzen hinreichend zu berücksichtigen und individuelle Lern-wege zu finden. Dabei darf sich das Lernen nicht im Zufälligen verlieren. AufWissensvermittlung oder auf lehrende Aufgaben wird nicht verzichtet, bedeutsamist vielmehr die Transparenz des Lerngeschehens für die Lernenden sowie ein an-gemessener Wechsel von Struktur und Dynamik.

Die hier beschriebenen Gestaltungsmerkmale sind – jeweils für sich genommen –keineswegs neu. Neu ist allenfalls das Anliegen, möglichst viele dieser Elemente in derErwachsenenbildungspraxis breit umzusetzen und eine stärkere Verzahnung informel-len und formellen Lernens anzustreben. Der institutionellen Erwachsenenbildungkommt dabei die Aufgabe zu, Lernberatungs- und Lernbegleitungsangebote zu entwi-ckeln, die der Förderung von individuellen Kompetenzen zu Selbststeuerung, Selbst-

Dietrich/Herr: Organisationsentwicklung und neue Lernkulturen

Page 26: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

26 REPORT (27) 2/2004

management und Selbstorganisation dienen. Dies erfordert veränderte Formen der pro-fessionellen Steuerung und Strukturierung (vgl. Forneck 2001, S. 240). Eine direkteFolge dieser Entwicklung ist, dass die Anforderungen an das Personal in der Erwachse-nenbildung steigen.2

Von einer Notwendigkeit zur Veränderung der Lern-Kultur ist in diesem Zusammen-hang zu sprechen, weil Veränderungen im Selbst-, Rollen- und Aufgabenverständnis,in Normen und Wertvorstellungen aller beteiligten Akteure erforderlich sind – von denLernenden bis zu den Zuwendungsgebern. Die Umsetzung betrifft mikro- und makro-didaktische Fragen von der Ebene des Kursgeschehens über die Ebene der Weiterbil-dungsorganisation und der Betriebe mit ihren Konventionen und Gepflogenheiten biszur Ebene des Weiterbildungssystems und den politischen Rahmenbedingungen mitden Vorgaben über Ausbildungsordnungen sowie den Förderbedingungen und Finan-zierungsgrundlagen der Weiterbildung.

Neu sind außerdem die Rahmenbedingungen, unter denen sich neue Lehr- und Lern-kulturen entwickeln und etablieren sollen. Das Spannungsverhältnis zwischen sinken-den finanziellen Ressourcen einerseits und steigenden Anforderungen an die Gewähr-leistung von nachhaltigen Lernerfolgen und individualisierten Lernunterstützungsan-geboten andererseits verschärft sich zunehmend. Hinzu kommt die Problematik, dassauch die Erwerbsperspektiven im Erwachsenenbildungsbereich weiterhin unsichererwerden. Es ist zu beobachten, dass die „freien“ Beschäftigungsverhältnisse zunehmen,dass eine quasi in die Selbstständigkeit übergegangene Kursleiterszene entstanden istund die Bindung von Kursleitenden an Erwachsenenbildungseinrichtungen signifikantnachlässt (vgl. Schrader 1998). Umgekehrt wird der Einfluss der Einrichtungen auf vor-handene oder nicht vorhandene Professionalisierungsabsichten der pädagogisch Täti-gen immer geringer, was insgesamt die Vermutung einer Deprofessionalisierungsten-denz in der Erwachsenenbildung nahe legt (vgl. Faulstich 2001).

Den genannten Herausforderungen ist nach unserer Auffassung nur durch entsprechen-de Personal- und Organisationsentwicklungsmaßnahmen zu begegnen. Die Personal-entwicklungserfordernisse beziehen sich auf die Entwicklung der notwendigen Kompe-tenzen für die Lernbegleitung und die Gestaltung und Umsetzung geeigneter Lernarchi-tekturen. Hoch differenzierte Lernkonzepte setzen jedoch parallel eine entsprechendeOrganisation der Abläufe, Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse voraus. Wennden Teilnehmenden mehr Verantwortung für ihren Lernprozess übertragen werden soll,benötigen auch die Mitarbeitenden der Weiterbildungseinrichtung die erforderlichenEntscheidungsspielräume, die selbstverantwortliches Agieren ermöglichen.

„Lernkultur“ bezieht sich deshalb auf die Lernfähigkeit der Organisation als Ganzesund ist Teil der Organisationskultur, die sich auf die Lern- und Entwicklungsmöglich-keiten auswirkt. Entscheidend dafür, ob sich Innovationen in Organisationen durchset-

2 Zu den Professionalisierungserfordernissen für Weiterbildner im Zusammenhang mit der Förderung von Lernenvgl. weiterführend z. B. Knoll 2002.

Beiträge

Page 27: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

27REPORT (27) 2/2004

zen, ist die Kooperations- bzw. Lernbereitschaft der Kolleg/inn/en und der Leitung (vgl.Fuchs-Brüninghoff 2001). Insofern kommt es darauf an, dass sich die Personal- undOrganisationsentwicklungsmaßnahmen so ergänzen, dass die Institution zu einer ler-nenden Organisation wird.

2. Lernkulturentwicklung als Lernprozess (in) der Organisation – Stellenwert derLernkultur für die Organisationsentwicklung

In der Diskussion um die „lernende Organisation“ werden Veränderungen in Organi-sationen – sofern sie bewusst vollzogen werden – als Lernprozesse verstanden. Dabeibegreift die Mehrheit der derzeit bestehenden Theorien und Ansätze das Lernen derOrganisation als sozialen Prozess, in dem Informationen, Ideen und Erfahrungen ge-meinsam verarbeitet und interpretiert werden (vgl. Dierkes/Berthoin Antal 1999). Durchdiese soziale Interaktion und Aushandlung entstehen in der Organisation kollektiveKenntnisse und Kompetenzen, die in unterschiedlichen Formen gespeichert werden:in der Kultur, in den Strukturen, in den Abläufen und Routinen. Damit also eine Orga-nisation als System lernen kann, braucht es einen Prozess,• in dem vorhandenes individuelles Wissen und Können ausgetauscht wird,• in dem neue Kenntnisse, Kompetenzen und Wissen aufgenommen und explizit

gemacht werden und• in dem eine gemeinsame Verankerung oder Speicherung dessen stattfindet.

Mehrere Mitglieder einer Organisation müssen Informationen und Wissen austauschenund gemeinsame Erfahrungen machen, damit ein von den Akteuren geteiltes, neueskollektives Wissen entstehen kann. Systeme lernen und verändern ihr Verhalten letztlichnur durch direkte Kommunikation (vgl. Wahren 1996, S. 183), der Dialog ist deshalbdas Zentrum einer lernenden Organisation und der Ort, an dem die Mitglieder imMiteinander neues Wissen generieren können (vgl. Isaac 1997). Der Sinn eines Dialo-ges ist dabei „... nicht, etwas zu analysieren oder zu verändern, sondern das Denkenins Fließen zu bringen, sich der individuellen und kollektiven Annahmen und ihrer(Aus-)Wirkungen bewusst zu werden und deren inhärente Zusammenhänge sehen zulernen. ... Im Dialog sind die Argumente aufeinander bezogen, es wird miteinandergedacht“ (Beucke-Galm 2001, S. 22–24).

Projekte erscheinen besonders geeignet, Dialog zu initiieren und damit organisationa-les Lernen zu unterstützen. Ihr Entwickeln, Planen und Steuern wird vielfach als dasKernstück innovativer Veränderungsvorhaben betrachtet. „Die spezifische Projektor-ganisation, die problemlöseorientierte Prozessgestaltung, die Beziehungsklärung undKonfliktbewältigung in Projektteams sowie die Reflexionskultur als Kern organisati-onsbewussten Lernens ...“ (Schiersmann/Thiel 1999, S. 89) sind spezifische Merkmalevon Projekten, die Lernprozesse bzw. Kompetenzen fördern, die sich als organisatio-nales Lernen bezeichnen lassen.

Dietrich/Herr: Organisationsentwicklung und neue Lernkulturen

Page 28: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

28 REPORT (27) 2/2004

Im Zusammenhang mit Lernkulturveränderung wird der Organisationslernprozess vonuns als ein Lernprozess verstanden, in dem die Selbststeuerung ein konstitutives Elementist. Angenommen wird, dass dort, wo eine Lernkultur selbstgesteuerten oder selbstorga-nisierten Lernens angestrebt wird, sich dies nicht nur auf den Lernprozess der Lernendenbeschränken kann. Vielmehr erfordert ein solcher Entwicklungsprozess wie oben bereitsangedeutet auch für die Mitarbeitenden die Möglichkeit selbstgesteuerter Lern- undEntwicklungsmöglichkeiten. Deshalb beziehen wir nachfolgend Überlegungen, die imZusammenhang mit selbstgesteuerten Lernprozessen von Individuen angestellt werden,auf den selbstgesteuerten Organisationslernprozess. Um den Grad an Selbststeuerungeinschätzen zu können, wird in der Diskussion um selbstgesteuertes Lernen als zentralangesehen, dass die Lernenden wesentliche Entscheidungen – ob, wozu, was, wann undwie gelernt werden soll – selbst treffen können (vgl. Weinert 1982, S. 102 ff.).

Auf den Organisationslernprozess übertragen, bedeutet dies:• Um neue Angebotsformen einführen und Lernkulturen entwickeln zu können, brau-

chen Mitarbeitende der Weiterbildungsinstitution Spielräume für die selbstständi-ge Festlegung von Zielen, Zeiten und Methoden.

• Die Mitarbeitenden müssen diese Spielräume auch tatsächlich wahrnehmen undfolgenreiche Entscheidungen über das eigene Lernen und damit den Entwicklungs-prozess treffen und diese konkret umsetzen (d. h. in Lernhandeln realisieren).

• Die Lernenden – hier die beteiligten Mitarbeitenden – übernehmen dabei zugleichdie Rolle der sich selbst Lehrenden. Selbstinstruktion kann hier verstanden wer-den als das Veränderungsvorhaben planen, notwendige Informationen beschaf-fen, geeignete Methoden auswählen, den Fortschritt der Veränderung kritisch über-prüfen usw.

So wie sich das Lernen beim individuellen selbstgesteuerten Lernprozess meist nichtvon selbst versteht, sondern oft erst gelernt und/oder unterstützt werden muss, gilt diesauch für den selbstgesteuerten organisationalen Lernprozess. Deshalb wurden im Pro-jekt SELBER3 Instrumente entwickelt, die es den beteiligten Personen und Projektgrup-pen ermöglichen, die für den Organisationslernprozess notwendigen Schritte des Ler-nens als System zu vollziehen.

Die Organisationen benötigen eine Projektgruppe, die offiziell mit dem Projekt „SGL/Neue Lernkultur“ betraut wird. Diese definiert im ersten Schritt, welche Veränderungs-vorhaben geeignet sind, die Lernkultur in der eigenen Weiterbildungseinrichtung zuentwickeln. Es werden von den Projektgruppenmitgliedern in Abstimmung mit der Lei-

3 Im Rahmen des Projekts SELBER wird exemplarisch eine Auswahl von 17 Einrichtungen durch ein umfangrei-ches Supportsystem intensiv im Prozess der Veränderung unterstützt und begleitet. Die Supportstruktur bestehtaus drei Fortbildungsreihen zu den Themen ‚Beratung’, ‚Begleitung von Selbstgesteuerten Lerngruppen’ und‚Medieneinbindung’, einer Organisationsberatung, wissenschaftlichem Support und einer internetbasiertenSupportstruktur. Die beteiligten Einrichtungen nehmen nach Möglichkeit an allen drei Fortbildungsreihen mitjeweils einem Mitarbeitenden teil. Diese drei Mitarbeitenden stehen dann in der Organisation als Expert/inn/enfür die jeweilige Teilfragestellung zur Verfügung und bilden gemeinsam als „change agents“ eine Projektgrup-pe, die über die Organisationsberatung in der konkreten Umsetzung begleitet wird.

Beiträge

Page 29: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

29REPORT (27) 2/2004

tungsebene im Rahmen des Projektmanagements Ziele festgelegt und Teilschritte defi-niert. Die dabei notwendigen Austauschprozesse in der Gruppe und das Zusammentra-gen der unterschiedlichen Kenntnisse und Fertigkeiten führen dazu, dass neues Wissengeneriert und damit die kollektive Wissensbasis erweitert wird (vgl. Probst/Büchel 1994,S. 64). Durch Fortbildungen eignen sich die Projektgruppenmitglieder neues Wissen anund reflektieren ihre Rolle als Lehrende oder pädagogisch Planende. Das dabei neuentstandene individuelle Wissen muss im Verlauf des Projekts von den Einzelnen in dieProjektgruppe eingespeist werden, um über die gemeinsame Arbeit in kollektives Wis-sen verwandelt zu werden – der Basis organisationalen Lernens. Die kollektiven Lern-prozesse der Projektgruppe und die Vermittlung in die Gesamtinstitution werden durcheine Organisationsberatung unterstützt, die als „kollektive Lernberatung“ angelegt ist.

Dabei werden im Rahmen von eintägigen Workshops kollektive Lernschwierigkeiten(Blockaden, Widerstände, hemmende Rahmenbedingungen etc.) und kollektive Lern-strategien (förderliche Faktoren, Projektkonzeptentwicklung, Erarbeitung eines Hand-lungsplanes etc.) bearbeitet.

In der Beratungsarbeit beziehen wir uns auf ein Organisationsmodell, das im Zusam-menhang mit lernenden Organisationen häufig herangezogen wird. Danach wird dieOrganisation als aus drei Subsystemen (technisch-instrumentelles, soziales und kultu-relles Subsystem) bestehend begriffen, die eng miteinander verzahnt sind (vgl. Glasl/Lievegoed 1996). Die drei Subsysteme lassen sich wie folgt beschreiben:1. Das technisch-instrumentelle Subsystem umfasst:

• die physischen Mittel, z. B. eingesetzte Materialien und Medien, die techni-sche Ausstattung, die Nutzung von Räumen und Materialien,

• die Prozesse und Abläufe, z. B. Abrechnungssysteme, Entscheidungsfreiräumefür Lehrende, Planungs- und Steuerungsprozesse.

2. Das soziale Subsystem setzt sich zusammen aus:• den Einzelfunktionen, wie z. B. Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortun-

gen der einzelnen Mitarbeitenden (Lehrenden, Verwaltenden, Leitung),• Aufgabeninhalten der einzelnen Funktionen, Gremien und Kommissionen,• den Menschen, Gruppen und dem Klima, z. B. das Wissen und Können der

Mitarbeitenden, die Haltungen und Einstellungen, die Beziehungen unterein-ander, die Führungsstile, Macht und Konflikte,

• den Strukturen, z. B. den Statuten, den Aufbauprinzipien der Organisation, denFührungshierarchien.

3. Zum kulturellen Subsystem gehören:• die Ziele und Strategien, wie z. B. die langfristigen Programme der Organisati-

on, die Leitsätze für die pädagogische Arbeit, die Strategien der Einrichtung,sich am Bildungsmarkt zu platzieren und zu halten,

• die Identität, die sich z. B. beschreiben lässt mit der gesellschaftlichen Aufgabeder Organisation, den Werten, Philosophien, Leitbildern, der Klarheit über einengemeinsamen pädagogischen Ansatz, dem Image der Einrichtung in der Öffent-lichkeit.

Dietrich/Herr: Organisationsentwicklung und neue Lernkulturen

Page 30: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

30 REPORT (27) 2/2004

Angelehnt an Ausführungen von Fuchs-Brüninghoff (1987) zu Lernschwierigkeiten vonIndividuen und vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Organisationsmodellslassen sich die kollektiven Lernschwierigkeiten in drei Gruppen einteilen:• die, die in der physischen Ausstattung, den alltäglichen Prozessen und Abläufen

begründet liegen (technisch-instrumentelles Subsystem),• die, die sich aus der Struktur und den Interaktionen der Teilsysteme (Abteilungen,

Fachbereichen, Einzelfunktionen etc.) ergeben (soziales Subsystem) und• die, die sich aus dem geltenden Lebensstil in der Organisation ergeben (kulturel-

les Subsystem).

Beratung soll in diesem Zusammenhang darauf abzielen, das Vorhaben zu unterstüt-zen und erfolgreiches kollektives Lernen zu ermöglichen. Das bedeutet, dass sich dieBeratung an den Erfordernissen der Praxis orientiert und dabei nach Lösungen für Be-hinderungen und Stillstände im Lernprozess sucht. Während der Beratung werdenPunkte aufgespürt, die die Umsetzung beeinträchtigen oder die fördernd wirken kön-nen. Konkret heißt dies:• Anregungen zum Veränderungsprozess: Wie lässt sich der Prozess sinnvoll gestal-

ten und in Teilschritte einteilen? Welche Strategien sind angemessen und welcheMethoden führen zum Ziel? Wie lassen sich die eigenen Bedürfnisse mit den vor-handenen Möglichkeiten in Einklang bringen?

• Hilfestellung zur Einordnung in den historischen Kontext der Organisation: Wel-che Schwierigkeiten und Widerstände treten auf und wie lassen sich diese u. a.aus den gewachsenen Bedingungen der Organisation verstehen? Welche(Lern-)Strategien werden bevorzugt und welche eher abgelehnt?

• Orientierung bei der Arbeit in der Gruppe über die Beziehungen der Beteiligten:Wie lässt sich das Potenzial der Gruppe optimal nutzen? Welche Gruppen- bzw.Teamprozesse werden als förderlich und welche als hinderlich erlebt? Wie ver-halte ich mich in der Gruppe und was bewirkt dies für den Veränderungs- undLernprozess (meinen eigenen und den der Gruppe)?

Die Organisationsberatung geht hier von Fragestellungen aus, die sich aus dem kon-kreten Projektvorhaben, d. h. dem Lernprozess der „Lernkulturentwicklung“ ergeben.Sie macht nicht die Organisation als solches zum Thema, sondern die Einführung einerneuen Lernkultur. Sie dient somit einer zweckgebundenen Organisationsentwicklungund kann als Implementierungsberatung verstanden werden.

3. Zusammenfassung und Ausblick

Aus den bisherigen Ausführungen lassen sich folgende Erfordernisse für die Organisa-tionsentwicklung im Zusammenhang mit neuer Lehr- und Lernkultur festhalten:• Ausgangspunkt ist eine Kompetenzerweiterung auf individueller Ebene, die zusätz-

lich einen sozialen Prozess erfordert, in dem die Kommunikation zwischen mehre-ren Mitarbeitenden einer Weiterbildungseinrichtung eine zentrale Rolle spielt.

Beiträge

Page 31: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

31REPORT (27) 2/2004

• Lernkulturentwicklung kann nicht von einzelnen Mitarbeitenden vollzogen wer-den. Hierfür bedarf es eine Gruppe von Mitarbeitenden, die sich idealerweise imRahmen eines Projekts dieser Herausforderung stellt.

• Die Entwicklung neuer Lehr- und Lernkulturen gleicht einem Suchprozess, in demzu Beginn ein Zielkorridor zu definieren ist. Die jeweiligen Teilschritte müssendann den Entwicklungen entsprechend prozessual angepasst werden. Dafür be-darf es Kompetenzen in Projektmanagement.

• Die Übertragung auf den konkreten Kontext der eigenen Institution benötigt inaller Regel eine Begleitung von außen im Sinne einer kollektiven Lernberatung.

• Für die Entwicklung neuer Lehr- und Lernkulturen gibt es verschiedene Anknüp-fungspunkte in einer Organisation (z. B. die Entwicklung eines Konzepts für einenselbstgesteuerten Kurs, die Gründung eines Qualifizierungszirkels, eine Leitbild-diskussion, beispielsweise eingebettet in einen Qualitätsentwicklungsprozess). Ent-scheidend ist, dass eine Kommunikationsstrategie in die Gesamtorganisation auf-gebaut wird, die organisationales Lernen zulässt.

• Ohne die aktive Unterstützung der Leitung ist eine Lernkulturentwicklung nichtmöglich. Leitung prägt die Organisationskultur – die Lernkultur inbegriffen – inentscheidendem Maße. So muss Leitung an zentralen Punkten des Entwicklungs-prozesses eine klare Stellung beziehen, wenn sich neue Lehr- und Lernkulturennachhaltig verankern sollen.

Die Erwachsenenbildungseinrichtungen stehen somit vor großen Anforderungen. Aus-gehend von den bisherigen Ergebnissen des Projekts SELBER, deren breite Gültigkeit inder weiteren Forschungsarbeit noch zu prüfen ist, kann angenommen werden, dassbezogen auf Lernkulturentwicklung das Management von Weiterbildungsorganisatio-nen vor der Aufgabe steht, den Ausgangspunkt für organisationale Veränderungen nichtnur bei den ökonomischen Rahmenbedingungen zu suchen. Es gilt vielmehr auch, andie organisationalen Erfordernisse hoch differenzierter pädagogischer Konzepte unddie vorhandenen erwachsenenpädagogischen Kompetenzen anzuknüpfen (Selbstan-wendung pädagogischer Konzepte). Ob und in welcher Weise sich diese zweckge-bundene Organisationsentwicklung im Rahmen von SGL und neuer Lernkultur vonOrganisationsentwicklungsprozessen mit anderem Fokus (z. B. im Rahmen von Quali-tätsentwicklungsprozessen oder ausgehend von Fragen der Wirtschaftlichkeit) unter-scheidet, wäre weiter zu untersuchen.

Schließlich bedarf es der weiteren Arbeit an speziell ausgerichteten Organisationsbe-ratungsmodellen. Eine pädagogische Organisationsforschung, die den Bedingungenund Möglichkeiten eines reflexiven Organisationslernens genauer nachspürt, müsstehierzu die praxis-unterstützenden Erkenntnisse erarbeiten, indem sie den Formen,Möglichkeiten und Grenzen der Wissensgenerierung und des Wissenstransfers überLernen innerhalb der Einrichtungen nachgeht.

Dietrich/Herr: Organisationsentwicklung und neue Lernkulturen

Page 32: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

32 REPORT (27) 2/2004

Literatur

Beucke-Galm, M. (2001): Über die Bedeutung von Dialog in einer „lernenden Organisation“.In: OE, H. 1, S. 20–31

Dierkes, M./Berthoin Antal, A. (1999): Lernen als sozialer Prozess. In: Info der Gottlieb Daim-ler- und Karl Benz-Stiftung, 10.01.1999, S. 1–4

Dietrich, S. (Hrsg.) (2001): Selbstgesteuertes Lernen in der Weiterbildungspraxis. Bielefeld

Dietrich, S./Fuchs-Brüninghoff, E. u.a. (1999): Selbstgesteuertes Lernen – auf dem Weg zu ei-ner neuen Lernkultur. Frankfurt a.M.

Faulstich, P. (Hrsg.) (1990): Lernkultur 2006: Erwachsenenbildung und Weiterbildung in derZukunftsgesellschaft. München

Faulstich, P. (1990b): Zukunft. In: ders. (Hrsg.): Lernkultur 2006: Erwachsenenbildung und Wei-terbildung in der Zukunftsgesellschaft. München, S. 14–42

Faulstich, P. (2001): Deprofessionalisierung des Personals in der Erwachsenenbildung und Neo-regulierung. In: Bolder, A. u.a. (Hrsg.): Deregulierung der Arbeit – Pluralisierung der Bil-dung? Opladen, S. 278–293

Forneck, H. (2001): Professionelle Strukturierung und Steuerung selbstgesteuerten Lernens –Umrisse einer Didaktik. In: Dietrich, S. (Hrsg.): Selbstgesteuertes Lernen in der Weiterbil-dungspraxis. Bielefeld, S. 239–247

Fuchs-Brüninghoff, E. (1987): Lernberatung. In: Informationen – Alphabetisierung und elemen-tare Qualifikationen, H. 4, S. 1–3

Fuchs-Brüninghoff, E. (2001): Selbstgesteuertes Lernen – eine (un-)realistische Lernkultur? In:Dietrich, S. (Hrsg.): Selbstgesteuertes Lernen in der Weiterbildungspraxis. Bielefeld, S. 35–38

Gieseke, W./Käpplinger, B. (2001): Lehren braucht Support – Empirische Studie zu neuen Lehr-und Lernkulturen. In: Heuer, U./Botzat, T./Meisel, K. (Hrsg.): Neue Lehr- und Lernkulturenin der Weiterbildung. Bielefeld, S. 233–270

Glasl, F./Lievegoed, B. (1996): Dynamische Unternehmensentwicklung. Bern/Stuttgart/Wien

Isaac, W. (1997): Der Dialog. In: Senge, P. M./Kleiner, A./Smith, B. u.a. (Hrsg.): Das Fieldbookzur Fünften Disziplin. Stuttgart, S. 407–420

Knoll, J. (2002): Professionalisierung der Weiterbildner. Irrungen und Wirrungen. In: AG QUEM(Hrsg.): Kompetenzentwicklung 2002 – auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur. Münster/New York, S. 315–350

Probst, G. J./Büchel, B. (1994): Organisationales Lernen. Wettbewerbsvorteil der Zukunft. Wies-baden

Schiersmann, C./Thiel, H. U. (1999): Projektmanagement im Bildungs- und Sozialbereich. EineKonkretion organisationsbewussten Lernens. In: Arnold, R./Gieseke, W. (Hrsg.): Die Weiter-bildungsgesellschaft, Band 1. Neuwied/Kriftel, S. 86–104

Schrader, J. (1998): Lehrende in der Weiterbildung: Bildungspolitische Positionen und empiri-sche Befunde zum lebenslangen Lernen. In: Brödel, R. (Hrsg.): Lebenslanges Lernen – le-bensbegleitende Bildung. Neuwied/Kriftel, S. 73–87

Wahren, H. K. (1996): Das lernende Unternehmen. Theorie und Praxis des organisationalenLernens. New York

Weinberg, J. (1999): Lernkultur – Begriff, Geschichte, Perspektiven. In AG QUEM (Hrsg.): As-pekte einer neuen Lernkultur: Argumente, Erfahrungen, Konsequenzen. Münster, S. 81–143

Weinert, F. E. (1982): Selbstgesteuertes Lernen als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unter-richts. In: Unterrichtswissenschaft, H. 10, S. 99–110

Beiträge

Page 33: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

33REPORT (27) 2/2004

Wiltrud Gieseke/Steffi Robak

Programmplanung und Management aus der Bildungsforschungs-perspektiveEmpirische Befunde und konzeptionelle Wendungen

Nicht die Organisation bestimmt das Programm, sondern das Programm findet die Institution.

1. Lebensbegleitende Bildung und das Nachdenken über Institutionalkonzepte

Weiterbildung beschäftigt sich, zumindest in den Entwicklungsprojekten seit den1990er Jahren, mit der Optimierung institutioneller und organisatorischer Strukturen.Stichworte dafür sind Organisationsentwicklung, Qualitätsmanagement, Marketing undControlling. All diese wichtigen Aufgaben institutionellen Handelns in der Weiterbil-dung lassen sich bündeln unter dem Begriff Bildungsmanagement. Allseitig bekanntist, dass diese Entwicklung eingeleitet worden ist durch Sparmaßnahmen für diesenBereich, aber damit einher geht auch die Suche nach optimierten institutionellen Kon-zepten für die Umsetzung des Bildungsauftrags für die Realisierung lebenslangen Ler-nens. Im Grunde liegt darin die Chance, ein System für lebensbegleitende Bildung inVerarbeitung bisheriger Institutional- und Organisationsformen neu zu konzipieren.Bisher sind die Institutionalkonzepte der klassischen Institutionen nicht theoretisch-analytisch als Institutionalkonstrukte für lebenslanges Lernen im Wandel betrachtetworden. Dies ist aber nötig, wenn sich Lernformen und Bedingungen (virtuelles Ler-nen) sowie Finanzierungen ändern. Eine nicht ausreichende Würdigung unter der Per-spektive der Erarbeitung von neuen Strukturen haben Institutionalkonstrukte wie dieVolkhochschulen in Reinkultur und in abgewandelter Form, durch Trägerinteressenbedingt, die Kirchen und die Unternehmen erfahren.

Charakteristika für den bisherigen Institutionaltypus Weiterbildung sind ein breites,differenziertes Angebotsspektrum mit hoher Offenheit für alle Bevölkerungsschichtenin der Region, flexible Zeitstrukturen, vielfältige Lernkulturen jenseits von Schule undkreative Projektarbeit, die nicht nur mangelnder Finanzierung geschuldet ist. DiesesInstitutionalkonzept erscheint auch systemtranszendierend von hoher Resistenz (Gie-seke/Opelt 2003; siehe auch Schiersmann u. a. 1998; Schäffter 1998). Besonders inte-ressant daran ist das hohe Bildungsinteresse der Bevölkerung in mittleren und späterenJahren, das sich ohne Zwang entfaltet (Tippelt u. a. 2003). Bildungspolitische Gesamt-konzepte, die im letzten Jahrzehnt ein Revival für lebenslanges Lernen ausgerufenhaben, konzentrieren sich dabei auf selbstgesteuertes Lernen, das unterschiedlich aus-gelegt wird, aber den Druck jetzt nicht im schulischen Sinne über Prüfungen und Schul-pflicht erzeugt, sondern über die individuelle Selbstverantwortung, die einen Preis hat.Dabei spielt sowohl der finanzielle als auch der soziale Bildungshintergrund eine wich-

Page 34: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

34 REPORT (27) 2/2004

tige, wenn nicht gar eine dominierende Rolle. Es fällt insgesamt auf, dass zu wenigneue institutionelle Konzepte durchdacht werden, wenn man an eine Integration vonE-Learning, Telelearning u. a. Konzepten im virtuellen Lernbereich denkt. Hier öffnensich also neue Räume und Orte für individualisiertes Lernen, die auch zu einem neuenMarktfaktor werden. Lebenslanges Lernen kann sich dem öffentlichen Diskurs nachzur Zeit überall, an allen Orten und Institutionen, zu allen Zeiten realisieren. So ope-rieren auch Kongresse der Erziehungswissenschaften und Gutachten für berufliche Bil-dung. Lebenslanges Lernen beginnt demnach in der Vorschule. Richtig ist daran sicher,dass man in der Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung und in der beruflichenSozialisation Dispositionen erwerben muss, die auf in der Tat lebenslange Anforderun-gen vorbereiten sollten. Allerdings ist dreierlei theoretisch breiter zu diskutieren undempirisch zu erforschen:a) Ist es allen Individuen möglich, im individuellen Alleingang im virtuellen Raum

zu lernen? Lernbedürfnisse (eine Hypothese, die sich auch in der Medienforschungbestätigt) verlangen für ausdifferenzierte Aneignung und Verarbeitungsprozessesoziale Beziehungssituationen. Wir werden also neue Verbindungen zwischen vir-tuellen und realen Räumen institutionell herstellen müssen, die ihre spezifischenMöglichkeiten entfalten.

b) Weiterbildung diffundiert oder entgrenzt (Kade) sich noch in einer anderen Wei-se: Inzwischen nutzen viele Kultur- und andere gesellschaftliche Institutionen ver-schiedene Formen von Bildung. In der kulturellen Bildung ist ein interessantesBeispiel eine beigeordnete Bildung in Museen, Kulturvereinen, Buchläden undBibliotheken. Bildung dient hier, eben in beigeordneter Form, zur jeweiligen At-traktionserhöhung und Unterhaltung, aber stärkt auch die Nutzungsformen derjeweiligen Institutionen. Denn z. B. ohne Kenntnis und Interesse der Teilnehmen-den verlieren die Museen ihre Breitenwirkung. Die in der beigeordneten Bildunggenutzte Institutionalform greift dabei auf den klassischen Typus zurück (Giesekeu. a. 2004). Wissen, Bildung und Sozialität werden zum Grundsubstrat der Ge-sellschaft, das nicht mehr nur allein in der Schule vorbereitend gelegt wird undinstitutionell für alle Lebensphasen zu regeln ist.

c) Dabei fällt auf, dass der entscheidende Faktor bisher im Diskurs zu kurz kommt,der aber den größten Einfluss auf die Neuentwicklung oder Ausdifferenzierungeines Weiterbildungsbildungssystems mit neuen schuldifferenten Strukturen ha-ben sollte. Gemeint ist die Entwicklung einer Bildungstheorie für lebensbegleiten-des Lernen, in der berufliche Weiterbildung, kulturelle Weiterbildung, allgemeinepolitische Weiterbildung und Alltagsbildung rückgekoppelt an wissenschaftlicheForschungsergebnisse komplex auf Lebensphasen, Lebens- und Arbeitssituationenbezogen werden.

Wir stehen also vor der Herausforderung, neue institutionelle Konzepte für die Weiter-bildung als lebensbegleitende Bildung zu finden, dabei aus verschiedenen Perspektivenempirische Forschung voranzubringen und den Bildungsbegriff in neuer Abstimmungmit schulischem und beruflichem Lernen für die nachschulischen Phasen breiter auszu-interpretieren. Dieses wird nicht ohne Auswirkung bleiben können für Institutionalkon-

Beiträge

Page 35: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

35REPORT (27) 2/2004

zepte. Bildungsmanagement muss vor diesem Hintergrund also sehr viel grundlagenthe-oretischer, bedürfnisorientierter denken, wenn Bildungsvielfalt institutionell und struk-turell abgesichert werden soll. Auf jeden Fall ist es wichtig, ortlose Konzepte von lebens-begleitender Bildung aufzugeben. Die anthropologische, phänomenologische Philoso-phie liefert hier sehr differenzierte Beobachtungen (z. B.Schmitz 1998), dass Lernenorts-, emotions- und atmosphärengebunden ist. Ebenso ist es für einen neuen Bildungs-begriff zumindest aus der Forschungsperspektive interessant, wie beiläufig im Sozialisa-tionsprozess gelernt wird. Viele bezeichnen dies auch als informelles Lernen. Damit isteine wissensgenerierte Gesellschaft aber nicht zu fördern, da die Bildungsschere so un-weigerlich erhöht wird (Friebel 2000). Die Programmforschung ist für diesen Prozess derRekonstruktion von Bildungstheorien ebenfalls noch nicht ausgewertet worden. DieErgebnisse der vielfältigen Programmforschung werden wegen der Vernachlässigungbildungstheoretischer Überlegungen nicht ausreichend rezipiert und verarbeitet, so dassauch Modernisierungsrückstände in Konzeptionsbereichen entstehen. Der Blick auforganisatorische Optimierungsbestrebungen wird dann ohne Erfolg bleiben, wenn nichtinhaltliche Neukonzeptionen und Wissensstandards mit Niveauausdifferenzierungendiesen Prozess begleiten, bzw. bestimmen. Wir plädieren also dringend für eine bil-dungstheoretische Wende, die den Bildungsbegriff zur Grundlage konzeptioneller undorganisationaler Überlegungen macht. Die Nachfragen der Praktiker gehen im Übrigenin diese Richtung (Gieseke/Reich 2004; siehe auch Hinweis in Heuer 2003, S. 8).

Bezogen auf Bildungsmanagement und Programmforschung möchten wir nur in Formvon zusammengefassten Ergebnissen diese Thesen untermauern und für weitere bil-dungstheoretische Überlegungen öffnen.

2. Forschungsbefunde

Es liegen mehrere Untersuchungen zur Programmforschung vor. „Ein Programm ist derzeitgeschichtlich materialisierte Ausdruck gesellschaftlicher Auslegung von Bildung.Es ist beeinflusst durch bildungspolitische Rahmung, nachfragende Teilnehmende undgefiltert durch professionell Handelnde. Über das Programm repräsentiert sich die In-stitution“ (Gieseke/Opelt 2003, S. 46). Das Programm ist Ausdruck immer wieder neuerarbeiteter Entscheidungen. Die bisherigen Untersuchungen zur Programmentwick-lung haben sich auf verschiedene Aspekte bezogen:• qualitative und quantitative Angebotsentwicklungen und Veränderungen in be-

stimmten Zeitabläufen (Kade 1992; Körber u. a. 1995; Tietgens 1994),• die Analyse der Angebotsankündigungen bei Bereichs- oder Zielgruppenangebo-

ten (Kade 1992; Nolda 1998),• Programmforschung in der Verbindung mit Teilnehmeranalysen und einer beglei-

tenden Interpretation der Programmauswertung durch Planer/innen (Heuer/Robak2000),

• historische Aspekte zur Programmveränderung (Gieseke/Opelt 2003),• die Analyse des Prozesses der Programmentstehung (Gieseke/Gorecki 2000).

Gieseke/Robak: Programmplanung und Management aus der Bildungsforschungsperspektive

Page 36: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

36 REPORT (27) 2/2004

Natürlich lassen sich die Befunde nicht einmal im Ansatz wiedergeben. Aus den um-fangreich angelegten Studien sollen nur sechs Ergebnisse genannt werden:1. Erwachsenenbildungsinstitutionen sind in ihrem Profil durch die Kontinuität ihrer

Programmentwicklung geprägt. Die Programme verweisen auf die Eigenständig-keit einer Institution. Sie sind innerinstitutionelle Scharnierstellen, die das ausge-handelte Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wiedergeben. Durch einehistorische Verwurzelung, natürlich mit Veränderungen in der Zeit, können sie –dem Außendruck, den Teilnehmerbedürfnissen und den neuen wissenschaftlichenErkenntnissen entsprechend – die Balance pädagogisch verantwortlich herstellen(Gieseke/Opelt 2003).

2. Programme sind vermittelt durch die gesellschaftliche Wirklichkeit, sie könnensich aber ein konzeptionelles Eigenleben leisten, d. h. bestimmte Programmteilesollten bewusst gegen den Strom, wenn sie für bestimmte Ansprüche in der Insti-tution stehen, erhalten werden. Das signalisiert Flexibilität/Offenheit, aber ebengerade auch Profil (ebd.).

3. Die Programmentwicklung zeigt für die 1990er Jahre im Unterschied zu den 1970erJahren eine Auflösung der Fachstruktur hin zu problemorientierten Bereichsbün-delungen. Die Kurstitel verweisen auf eine zunehmende Alltagsorientierung inder Erwachsenenbildung, die im ganz konkreten Sinne als lebensbegleitende Bil-dung genutzt wird. Es stellt sich die Frage: Ist dieses als Verlust von Substanz zuwerten oder differenziert und erweitert sich die Nachfrage (Körber u. a. 1995;Schrader 2003)?

4. Die Programmentwicklungen zwischen den Trägern weisen natürlich bedingtdurch die gleichen gesellschaftlichen Voraussetzungen Ähnlichkeiten auf,allerdings lässt sich ebenfalls ein genutzter oder nicht genutzter Gestaltungs-spielraum bei gleichen bildungspolitischen Bedingungen sehr wohl beobachten(Heuer/Robak 2000).

5. Eine geförderte Programmentwicklung hat bei planungsaktiven Institutionen mitexplosionsartigen Entwicklungen zu rechnen. Dies gilt aber nur, wenn Weiterbil-dung gesellschaftlich und individuell einen hohen Wert hat, institutionell plat-ziert ist und bezahlbar bleibt (Gieseke/Opelt 2003).

6. Über die Analyse von Ankündigungstexten können die impliziten Veränderungendes Wissens und der Problembearbeitung sowie das Angebotsniveau nachvollzo-gen werden (Kade 1992).

Programme sind also nicht einseitig eindeutig bestimmt; bildungspolitische Rahmen-bedingungen, gesellschaftliche Wertschätzungen, aktives Planungsverhalten, großeNachfrage, bezahlbare Preisentwicklung für die Interessierten können sich wechsel-seitig bestimmen und fördern.

Arbeitsplatzanalysen belegen, dass Management ein eigenständiges Handlungsfeld derLeiter/innen ist, das die Programmentwicklung stützt, aber nicht steuert (Robak 2004).Die Leiter/innen sichern organisational den Aktivitätsradius und Handlungsspielraumder Planenden und halten Abläufe und die Verwaltungsstruktur fungibel. Die Organi-

Beiträge

Page 37: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

37REPORT (27) 2/2004

sation steuert das professionelle Handeln nicht durch Stellen- und Ablaufpläne, son-dern die Organisation wird von den Leiter/inne/n aktiv gestaltet.

Weiterbildungsinstitutionen können neben der Abhängigkeit von der gesellschaftlichenFinanzierung nur das an Profil leisten und realisieren, was die Leiter/innen binnenor-ganisational und in Vernetzung professionell absichern, zulassen und zusammenfüh-ren können. Hauptberuflich pädagogisch Planende besitzen für Institutionalgestaltun-gen keine ausreichende Entscheidungskraft und können Entscheidungen nur mit ho-hem Abstimmungsaufwand vorbereiten (Typ 3: Punktuelles Managementhandeln imModus der Abstimmung).

Es ergeben sich für Management folgende Aufgabenschwerpunkte:• Organisationsstrukturelles Management ist die Hauptaufgabe in planungsaktiven

Weiterbildungsinstitutionen (Typ 1: Management als bündelndes Gestalten undvieldimensionales Vernetzen). Das, was als „täglicher Kleinkram“ erscheint, istdie Sicherung eines organisationalen Zuschnitts für einen Bildungsort, der für un-terschiedliche Bevölkerungsgruppen, die in unterschiedlichen Lernkulturen für un-terschiedliche Zusammenhänge lernen wollen, eine zeitweilige soziale Beheima-tung für die individuelle Entfaltung bieten soll. Dieses beginnt bei grundsätzli-chen Entscheidungen über die Institutionalisierung von Weiterbildungsberatungund Programmbereichen und endet bei den Öffnungszeiten der Cafeteria. All diessind Entscheidungen, die die autonome Ausgestaltung eines Institutionalkonzep-tes durch flexible Strukturierung kennzeichnen. Leiter/innen in öffentlichen Ein-richtungen realisieren dies durch bündelndes Gestalten, indem in wechselseiti-gen komplexen Informationsprozessen mit den Mitarbeitenden handlungsermög-lichende Entscheidungen auf komplexen Abstraktionsniveaus getroffen werden,die am Profil orientiert sind.

• Nun emergiert das Profil nicht von selbst, es wird auch nicht zielgebunden durch-transformiert. Die Leiter/innen pflegen komplexe geplante und ungeplante Kom-munikationen mit den Planer/inne/n in Planungssitzungen, Teamsitzungen undzwischen „Tür und Angel“, indem sie Ideen, Wirklichkeitsinterpretationen undBildungsvorstellungen auf unterschiedlichen Ebenen bildungspraktisch und bil-dungstheoretisch mit den eigenen Auslegungen rückkoppeln und in Reflexion zuminstitutionellen Bildungsauftrag zu einem Profil zusammenziehen. Profilbildungs-strategien sind ein wichtiger Bestandteil der Rahmenbedingungen für die Pro-grammplanung.

• Neben der Gestaltung eines Profils und der Binnenorganisation ist das überinsti-tutionelle Vernetzungsmanagement zum zweiten Schwerpunkt des Alltagshandelnserwachsen. Die Leiter/innen spinnen vieldimensionale Vernetzungsfäden, mit de-nen sie die Institution in unterschiedlichen Radien und mit unterschiedlich engenVerbindlichkeiten beim Träger und in der Region einbinden. Vernetzungsanforde-rungen steigen mit zunehmender existenzieller Unsicherheit. Gleichzeitig prüfensie die Aktualität des eigenen Profils und generieren profilschärfende Ideen alsInitialfunken für die Programmplanung.

Gieseke/Robak: Programmplanung und Management aus der Bildungsforschungsperspektive

Page 38: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

38 REPORT (27) 2/2004

Diese Schwerpunkte des Managements variieren mit den Institutionalformen und denBildungsaufträgen. Im Betrieb (Typ 2: Management als betriebliches Beratungshan-deln) dominiert aufgrund des abhängigen Qualifizierungsauftrags die Einbindung insUnternehmen. In Projekten auftragsbezogener punktueller Qualifizierung steht diekoordinierende Projektrealisierung im Zentrum (Typ 4: Projektmanagement als Koor-dination).

Die Leistung und der Erfolg von Weiterbildungsinstitutionen, ein ausdifferenziertes Profilin Vielfalt, hängen von einem flexiblen und komplexen kommunikativen Zusammen-spiel von Programmplanung und Bildungsmanagement ab, das getrennt unter den jewei-ligen Aufgabenschwerpunkten den Bildungsbegriff auslegt, und diese Bildungsinterpre-tation im institutionellen Sozialraum gemeinsam wertgebunden ausgestaltet. Beide Be-reiche gilt es in spezifischen Bildungsinstitutionalkonzepten zusammenzuführen.

3. Bildungsinstitutionalkonzepte in der Veränderung

Kern jeder öffentlichen, privaten oder betrieblichen Weiterbildungseinrichtung ist dieEntwicklung eines Bildungsinstitutionalkonzepts, das sich in einer Bildungsvorstel-lung und einer inneren pädagogischen Systematik verwurzelt. Ein Institutionalkon-zept ist nicht die Umsetzung einer formalen Vorstellung über strukturelle Abläufeoder technisierte Beziehungsgestaltung oder gar die passgenaue Transformation vonKennziffern. Ein Institutionalkonzept entsteht durch einen gesellschaftlichen und kom-munikativen Handlungszusammenhang sowie durch Abstimmungsprozesse aller ge-staltenden Kräfte. Grundlage ist ein wechselseitig abgestimmtes Profil. Der Bildungs-begriff strukturiert die Entwicklung eines Profils vor, Strukturen greifen dieses Profilauf und bilden es ab. Kern des Profils ist das Programm und die Programmentwick-lung der einzelnen Teilbereiche, die zu einem Gesamtkonzept verkoppelt werden,indem sie mit dem Bildungsbegriff und dem Bildungsauftrag in einen analytischenZusammenhang gestellt und durch entsprechende Strukturen und Finanzierungenstrukturell eingelassen und ermöglicht werden. Die Grundlage ist die Auslegung undInterpretation einer trägerspezifischen Bildungsinterpretation, die eine Bildungsviel-falt mit einer Spezifik abstimmt (vgl. Tabelle 1). Je nach Institutionalform, dem ge-setzten Bildungsauftrag und den Abhängigkeiten entstehen unterschiedlich enge oderweite Profilzuschneidungen (Robak 2004; Gieseke/Opelt 2004, Kap. 8).

Weiterbildungsprogramme entstehen nicht am Reißbrett, sie entstehen nicht aus nor-mativen oder wissenschaftlich-systematischen Setzungen. Empirische Arbeitsplatzana-lysen zum Programmplanungshandeln in Weiterbildungsinstitutionen legen nahe, dassAngebote durch Such-, Aushandlungs- und Anpassungsprozesse entstehen. Programm-planung bringt Angebote als Angleichungshandeln (Gieseke/Gorecki 2000) in einemvernetzten Beziehungsgeflecht hervor. Dieses leitet die professionell Handelnden, in-dem sie auf Nachfrageverhalten reagieren und auf der Grundlage der Verarbeitungwissenschaftlicher Befunde agieren.

Beiträge

Page 39: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

39REPORT (27) 2/2004

Die Gemeinsamkeit von Programmplanungshandeln und Managementhandeln bestehtin den kommunikativen Abstimmungen, die sich jedoch in unterschiedlichen Mecha-nismen und Aufgabenbereichen realisieren. Das Management der Leiter/innen sichertüber die Konstellierung von Handlungswaben (Robak 2004, S. 259) nach innen struk-turell die Mechanismen der Programmplanung und Programmentwicklung und sorgtfür den Erhalt eines Interpretationsspielraums. Handlungswaben sind verdichtete, kom-munikativ-wechselseitig auf das Profil abgestimmte Entscheidungen, die eine offeneStruktur formen. Diese Entscheidungen haben die Qualität flexibler fungibler Rahmen-zuschnitte für organisationale Prozesse, die den Anforderungen der Bildungsarbeitzuarbeiten, ohne diese standardisierend zu schematisieren.

Weiterbildungsinstitutionen folgen nicht den Vorstellungen eines Organisationsgehäu-ses, sondern sie sind strukturelle Sedimente des Bildungsprogramms. Sie leben vomInhalt des Bildungsauftrags. Je differenzierter die Auslegung und die Dignität des Bil-dungsauftrags, desto differenzierter kann die Organisation gestaltet und geerdet wer-den. Die besondere Anforderung besteht darin, durch wissensbezogene handlungser-weiternde Konzepte die seismographische Funktion von Weiterbildung zu erhalten.Aus unserer Sicht können Bildungsinstitutionalkonzepte, die vom Profil ausgehen, die-ser Aufgabe am ehesten gerecht werden.

Tabelle 1: Auslegung des Bildungsbegriffes für Bildungsinstitutionalkonzepteam Beispiel kultureller Bildung

Wissens-dimensionen

Beteiligungs-formen

Partizipationstore

EmotionalePositionierung

Lernform

GesellschaftlicheOrientierungBildungsauslegung

Volkshochschule

SystematischesWissen

Aneignung/Können

Systematisch-rezeptiv

Selbsttätig-kreativVerstehend-

kommunikativ

Neugier/Freude

Erweiterung derSinneseindrücke

Universalität

Akademie

Kunstgeschicht-liches und kunst-

theoretischesWissen

Reflexivität

Vorwiegendsystematisch-

rezeptiv

Geistig-ästheti-scher Genuss

Erweiterung derSinneseindrücke

Exklusivität

Kulturhaus

PunktuelleInformationenund Eindrücke

Event

Ausschließlichsystematisch-

rezeptiv

Erlebnis

Erweiterung derSinneseindrücke

Individualität

SoziokulturellesZentrum

Kunsthandwerk-liche FähigkeitenBetreuungsge-

bundenes Wissen

SelbstbestätigungEmanzipatorische

AktivitätenLebenshilfe

Selbsttätig-kreativVerstehend-

kommunikativ

Geselligkeit/Fürsorge

Erweiterung derSinneseindrücke

Sozialität

Gieseke/Robak: Programmplanung und Management aus der Bildungsforschungsperspektive

Page 40: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

40 REPORT (27) 2/2004

4. Schlussbetrachtung

Aus den empirischen Befunden, den Handlungsstrukturen des Bildungsmanagementsund der notwendigen Handlungsautonomie in der Programmplanung – wenn ein nach-frage- und komplexes wissensgeneriertes Programm entstehen soll – wird deutlich,dass aus der Perspektive von Bildungsmanagement eine kritische Auswertung betriebs-wirtschaftlicher Instrumente notwendig ist. Für die Weiterentwicklung theoretischerInstitutionalkonzepte für lebensbegleitende Bildung muss betriebswirtschaftliches Wis-sen pädagogisch handlungserweiternd genutzt, aber nicht für eine Engführung benutztwerden. Bildungstheoretische Orientierung und pädagogische Forschungsergebnissesind für Institutionalkonzepte und Programmentwicklungen stärker auszuwerten. Die-ses erfordert eine grundlegende professionelle Anstrengung in der Weiterbildung, dieihre eigene Arbeit ernst nimmt.

Es ist für die Institutionalentwicklung mit einem bestimmten Qualitätsverständnis nichtförderlich, wenn die Ideenproduktion im Kontext der Programmentwicklung nicht alsMittelpunkt der Leistung einer Weiterbildungsinstitution gesehen wird. Dazu gehörtnatürlich auch ein organisatorisches Ablaufmodell, aber besonders ein differenziertesfachliches und pädagogisches Wissen. Die systemtheoretische Vorstellung operiert mitder Unterstellung, dass Weiterbildungsinstitutionen passiv sind und die Ideen von außenzugeführt bekommen und dann im Selbstlauf, aber reguliert, über fest gefügte Hand-lungsmuster von oben nach unten wieder nach außen gegeben werden. Damit wirdein kreativer Produktionsprozess nicht gefördert, sondern unterbunden. Dann findentatsächlich Ersetzungen über Personalführungsstrategien, Qualitätssicherungssystemeund Organisationsentwicklung statt und die Inhalte können nicht kreativ entfaltet wer-den. Eher wird Bewährtes und Bekanntes durchstrukturiert. Damit wurde nicht gegendie Durchsichtigkeit von Ablaufprozessen argumentiert; jedoch verweisen die empi-risch identifizierbaren Ideenproduktionen sowohl der Programmplanenden als auchder Leiter/innen auf eine hohe institutionale Gestaltungskraft, die vom Wissen, Analy-severmögen und dem Engagement der einzelnen Individuen abhängt. Dabei darf auchnicht vergessen werden, dass Dienstleistungen als Bildungsdienstleistungen wertge-bunden sind. Auch hier sind neue theoretische Diskussionen notwendig. Sie sind inprofessionelle Ansprüche bei der Anstellung des Personals und in die Qualitätsma-nagementkonzepte einzuschleusen.

In der Profilbildung der Institutionen werden das gesamte Wissen und die gesamtenAnsprüche, die wir hier angesprochen haben, zusammengeführt. Eine empirisch fun-dierte theoretische Grundlegung von Institutionalformen und Finanzierungen von Bil-dung steht in der wissenschaftlichen Grundlegung neu an sowie eine anthropologisch-sozialwissenschaftlich und erwachsenenpädagogisch entwickelte Bildungstheorie, dieden einzelnen Menschen mit seinen Menschenrechten in der globalisierten Arbeits-und Lebenswelt in den Mittelpunkt stellt.

Beiträge

Page 41: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

41REPORT (27) 2/2004

Literatur

Friebel, H. u.a. (2000): Bildungsbeteiligung: Chancen und Risiken. Eine Längsschnittstudie überBildungs- und Weiterbildungskarrieren in der Moderne. Opladen

Gieseke, W./Gorecki, C. (2000): Programmplanung als Angleichungshandeln – Arbeitsplatz-analyse. In: Gieseke, W. (Hrsg.): Programmplanung als Bildungsmanagement? QualitativeStudie in Perspektivverschränkung. Frankfurt a.M., S. 59–114

Gieseke, W./Opelt, K. [unter Mitarb. v. U. Heuer] (2003): Erwachsenenbildung in politischenUmbrüchen. Opladen

Gieseke, W./Opelt, K. (2004): Zusammenfassung: Bildungstheoretische Ansätze für kulturelleBildung (Kap. 8). In: Gieseke, W. u.a. (Hrsg.): Kulturelle Erwachsenenbildung in Deutsch-land – Exemplarische Analyse Berlin/Brandenburg. Im Druck, Berlin

Gieseke, W./Reich, R. (2004): Fortbildungsbedarf der Professionellen in der Weiterbildung.Vormanuskript Berlin

Heuer, U./Robak, S. (2000): Programmstruktur in konfessioneller Trägerschaft – ExemplarischeProgrammanalysen. In: Gieseke, W. (Hrsg.): S. 115–209

Heuer, U. (2004): Theorien sind gefragt. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, H. 1, S. 8

Kade, S. (1992): Arbeitsplanalyse: Altersbildung. Frankfurt a.M.

Körber, K. u.a. (1995): Das Weiterbildungsangebot im Lande Bremen. Bremen

Nolda, S. (1998): Programme der Erwachsenenbildung als Gegenstand qualitativer Forschung.In: Nolda, S./Pehl, K./Tietgens, H. (Hrsg.): Programmanalysen. Frankfurt a.M., S. 139–235

Robak, S. (2004): Management in Weiterbildungsinstitutionen – Eine empirische Studie zumLeitungshandeln in differenten Konstellationen. Im Druck, Bielefeld

Schäffter, O. (1998): Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Berlin

Schiersmann, C./Thiel, H.-U./Fuchs, K. u.a. (1998): Innovationen in Einrichtungen der Famili-enbildung. Eine bundesweite empirische Institutionenanalyse. Opladen

Schmitz, H. (1998): Der Leib, der Raum und die Gefühle. Stuttgart

Schrader, J. (2003): Wissensformen in der Weiterbildung. In: Gieseke, W. (Hrsg.): Institutionel-le Innensichten der Weiterbildung. Bielefeld, S. 228–253

Tietgens, H. (1994): Psychologisches im Angebot der Volkshochschulen. Frankfurt a.M.

Tippelt, R. u.a. (2003): Weiterbildung, Lebensstil und soziale Lage in einer Metropole. Biele-feld

Gieseke/Robak: Programmplanung und Management aus der Bildungsforschungsperspektive

Page 42: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

42 REPORT (27) 2/2004

Anke Hanft/Tim Zentner

Qualifizierung und Personalentwicklung – eine Kompetenzlückein Bildungseinrichtungen?Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Qualifizierungder Beschäftigten in Bildungseinrichtungen

Der Beitrag untersucht, wie Erwachsenenbildungseinrichtungen und Hochschulenihre Mitarbeiter/innen auf veränderte Strukturanforderungen und Reformen durchFort- und Weiterbildung vorbereiten. Im Zentrum stehen dabei zwei Untersuchun-gen an bundesdeutschen staatlichen Hochschulen und öffentlichen Erwachsenen-bildungseinrichtungen in Niedersachsen. Die Ergebnisse zeigen, dass dieseQualifizierungsmaßnahmen bisher nur unzureichend auf diese verändertenRahmenbedingungen vorbereiten und insbesondere der Aspekt der Karriere- undNachwuchsförderung vernachlässigt wird.

1. Einleitung

Bildungseinrichtungen sind seit einigen Jahren mit einem erheblichen Wandel kon-frontiert, der sich vor allem in der Beschneidung finanzieller Ressourcen bei gleichzei-tig höheren Leistungserwartungen äußert. Unter diesen Bedingungen wächst der Hand-lungsdruck, administrative Aufgaben stärker an betriebswirtschaftlichen Erfolgskriteri-en auszurichten. Auf die Beschäftigten kommen neue Anforderungen zu, die von ihrenbisherigen Tätigkeitsprofilen erheblich abweichen. Wie werden sie darauf vorbereitet?Welche Möglichkeiten haben sie, ihre Qualifikationen an die veränderten beruflichenAnforderungen anzupassen? Und wie werden ihre persönlichen Interessen an berufli-cher Weiterentwicklung mit denen der Organisation in Übereinstimmung gebracht?Um diesen Fragen nachzugehen, wurden von uns die Fort- und Weiterbildungspro-gramme der Erwachsenenbildungseinrichtungen in Niedersachsen sowie der Univer-sitäten des gesamten Bundesgebiets nach inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und kon-zeptionellen Gestaltungselementen analysiert.

2. Konzeptionelle Ansätze der Mitarbeiterqualifizierung und Personalentwicklung

Grundlage jeder Planung von Qualifizierungsmaßnahmen sollte eine genaue Analysedes zukünftig zu erwartenden qualitativen Personalbedarfs sein. Auf Basis strategischerPlanungen sowie zu erwartender personeller Veränderungen sind für konkrete StellenAnforderungsprofile zu erstellen, die mit den Mitarbeiterqualifikationen abzugleichensind, um so eine optimale Stellenbesetzung, bzw. Weiterqualifizierung des Personalszu ermöglichen (vgl. Berthel 2000; Sonntag 1999). Diese in der personalwirtschaftli-chen Literatur als „Profilvergleich“ bezeichnete Methode wird zwar in der Praxis nur

Page 43: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

43REPORT (27) 2/2004

selten den wissenschaftlichen Standards entsprechend eingesetzt, dient aber als Ori-entierungsrahmen für eine an den tatsächlichen betrieblichen Bedarfen ausgerichtetePersonalentwicklung.

Abgelöst hat sie die angebotsorientierte Fort- und Weiterbildung der 1970er und 1980er-Jahre, in der Unternehmen sich auf den Auf- und Ausbau ihres Weiterbildungsangebotskonzentrierten, indem sie fachliche Schulungen durch zielgruppenspezifische und fach-übergreifende Angebote (Sprachschulungen, Verhaltenstrainings) ergänzten. Die Teil-nahme an diesen Maßnahmen erfolgte wesentlich durch die Initiative der Beschäftigten,die aus den Programmen relativ frei wählen konnten, ohne den Zusammenhang zu ih-rer Arbeitstätigkeit nachweisen zu müssen. Bedarfserhebungen waren von untergeord-neter Bedeutung und beschränkten sich weitgehend darauf, gut angenommene Maß-nahmen fortzuführen und um einige neue Angebote in einer Art „Trial-and-error“-Ver-fahren zu ergänzen. Weiterbildung hatte überwiegend Incentive-Charakter.

In Zeiten finanzieller Knappheit und sich mit großer Dynamik verändernder Arbeitsan-forderungen gerieten angebotsorientierte Formen der Weiterbildung in die Kritik. Voneiner stärkeren Bedarfsorientierung erhoffte man sich zum einen die Effizienz der Wei-terbildung gemessen an den betrieblichen Anforderungen zu erhöhen, zum anderensollte der systematischen Nachwuchs- und Karriereförderung ein höherer Stellenwertbeigemessen werden. Weiterbildung wurde somit zum Bestandteil eines ausgebautenSystems der Personalentwicklung (PE).

Mit der Einführung der bedarfsorientierten PE ging der Auf- und Ausbau eines diagnos-tischen Instrumentariums einher. Über Weiterbildungsbedarfserhebungen, Leistungs-beurteilungen, Mitarbeitergespräche, Assessment Center (ACs) oder 360-Grad-Feed-backs sollten nicht nur die Weiterbildungsbedarfe der Abteilungen und Unternehmens-bereiche, sondern auch die Qualifikationsdefizite und Potenziale der Mitarbeiter/innendifferenziert erfasst werden, um deren gezielte Förderung und Entwicklung zu ermög-lichen. Neben die Anpassungsqualifizierung (an die Erfordernisse des Arbeitsplatzes)trat somit die Aufstiegsqualifizierung in Form von speziellen Nachwuchsförderungs-programmen. Seit den 1980er Jahren wurde die betriebliche Fort- und Weiterbildungin dieser Weise professionalisiert und zunehmend auf eine bedarfsorientierte Perso-nalentwicklung umgestellt. Wie stellt sich gemessen an diesen Entwicklungen die Si-tuation der Mitarbeiterqualifizierung und -förderung in Bildungseinrichtungen dar?

3. Gegenwärtiger Stand der Fort- und Weiterbildung in Erwachsenenbildungs-einrichtungen und Hochschulen – Ergebnisse zweier empirischer Erhebungen

Im Zuge der Planung des berufsbegleitenden Master-Studiengangs „Bildungsmanage-ment“ (Schwerpunkte: Weiterbildungs- und Hochschuleinrichtungen) wurden von unszwei Untersuchungen durchgeführt, in denen wir Hochschulen (Staatliche Universitä-ten und pädagogische Hochschulen) und Erwachsenenbildungseinrichtungen zu ih-

Hanft/Zentner: Qualifizierung und Personalentwicklung

Page 44: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

44 REPORT (27) 2/2004

ren Aufgabenschwerpunkten in der innerbetrieblichen Fort- und Weiterbildung be-fragten und die von ihnen herausgegebenen Fort- und Weiterbildungsprogramme aus-werteten. Im Mittelpunkt standen Formen der Bedarfserhebung, Zielgruppen, inhaltli-che Schwerpunktsetzungen, Qualifizierungsdauer und Abschlussmöglichkeiten.1

Danach ergibt sich zum derzeitigen Stand der Mitarbeiterqualifizierung und Personal-entwicklung in Erwachsenenbildungs- und Hochschuleinrichtungen folgendes Bild:

Generell scheint die Bedeutung, die dem Thema Mitarbeiterqualifizierung und Perso-nalentwicklung beigemessen wird, in den letzten Jahren zu wachsen. Alle der von unsbefragten Hochschulen verfügen inzwischen über Angebote zur Mitarbeiterfortbildung,bei denen es sich entweder um eine Mischung von internen und externen Kursen (42Prozent) oder ausschließlich um interne Angebote (40 Prozent) handelt. In vielen Hoch-schulen werden die Programme nach Auskunft der Fachreferenten derzeit erweitertund neu gestaltet, worauf vielfach auch in den Präambeln hingewiesen wird. Allerdingsist das quantitative Kursangebot von Einrichtung zu Einrichtung stark schwankend. Fürdie Erwachsenenbildungseinrichtungen lässt sich dies nach Aussage zuständiger Mit-arbeiter/innen insbesondere mit den sehr unterschiedlichen Mitarbeiterzahlen erklä-ren. Kleinere Institutionen (gemessen an Unterrichtsstunden, festen Mitarbeiter/inne/n)können nur ein Kernangebot von Themen für ihre Mitarbeiter/innen anbieten. FürHochschulen ist ein solcher Zusammenhang nicht so eindeutig erkennbar. Große Uni-versitäten weisen teilweise ein geringeres Angebot auf als kleinere, die ihre Mitarbei-terfortbildung sehr stark von internen Dozenten durchführen lassen und auf die Weiseeine erstaunliche und noch dazu kostengünstige Angebotsvielfalt aufweisen. Geht manvon einem insgesamt steigenden Angebot aus, dann stellt sich die Frage nach deninhaltlichen Schwerpunkten. Lässt sich ähnlich wie in Wirtschaftsunternehmen eineTendenz zur bedarfsorientierten Personalentwicklung beobachten? Aufschlüsse hierzuergeben sich aus der Art der Bedarfserhebung und der Auswahl der Teilnehmenden.

Nur etwa ein Drittel der befragten Universitäten führen regelmäßige Fortbildungsbe-darfserhebungen (einmal pro Jahr oder häufiger) als Grundlage der Programmplanungdurch.2 In weiteren 25 Prozent erfolgen solche Befragungen in unregelmäßigen Ab-

1 Die nachfolgend dargestellten Ergebnisse zu den Hochschulen beziehen sich auf das Jahr 2002 und basierenauf einem telefonischen Kurzinterview mit den Verantwortlichen für die Fort- und Weiterbildung in 84 Universi-täten und pädagogischen Hochschulen (Fachhochschulen wurden nicht in die Befragung integriert). Zudemkonnten 49 überwiegend für die Zielgruppe „nicht-wissenschaftliches Personal“ angebotene Fort- und Weiter-bildungsprogramme mit etwa 2600 Kursangeboten ausgewertet werden. In die Untersuchung einbezogen wur-den alle uns zugegangene Programme, die von den Universitäten in eigener Verantwortung erstellt werden.Ausgeschlossen blieben mithin allg. Verwaltungsfortbildungen der Ministerien, Angebote externer Akademienoder privater Bildungsanbieter.Die weiteren Ergebnisse stammen aus einer Untersuchung der Fort- und Weiterbildungsangebote der öffentlichanerkannten Erwachsenenbildungseinrichtungen in Niedersachsen. Dabei wurde das innerbetriebliche Ange-bot der neun Landesverbände und untergeordneten Geschäftstellen aus dem Jahr 2002 ausgewertet. Die Pro-gramme wurden unter den Gesichtspunkten 1. Inhaltlicher Bereich, 2. Zielgruppe und 3. Dauer untersucht. Aus-gewertet wurden 624 Kursangebote. Es lagen von allen neun, nach dem NEBG anerkannten Organisationen ent-sprechende Dokumentationen vor (Programmhefte, Rundschreiben, etc.).

2 Die Auswertung dieser Frage basiert auf einer geringeren Grundgesamtheit von 65 Hochschulen, da 24 Hoch-schulen zu diesem Punkt keine Angaben machten.

Beiträge

Page 45: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

45REPORT (27) 2/2004

ständen und in immerhin 38 Prozent überhaupt nicht (vgl. Abb. 1). Die Zusammen-stellung des Programms wird in diesen Fällen auf der Grundlage von Erfahrungen vor-genommen, indem bewährte und positiv aufgenommene Maßnahmen weitergeführtwerden. Ergänzt werden sie durch neue, oft auf Vorschlag der Mitarbeiter/innen oderTeilnehmer/innen in das Programm aufgenommene Angebote, die sich dann ebenfallsin der Praxis behaupten müssen. Für die Durchführung von Bedarfserhebungen wer-den, sofern überhaupt eingesetzt, sehr unterschiedliche Formen gewählt, z. B. Frage-bogenerhebungen, Vorgesetzteninterviews, Rundschreiben oder – bislang nur in Ein-zelfällen – Online-Befragungen. Als hochschulspezifisch dürften Bedarfserhebungendurch speziell dafür eingerichtete Fort- und Weiterbildungskommissionen, Arbeitskreiseoder den Personalrat gelten.

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Planung der Fort- und Weiterbildungsangeboteder öffentlichen Erwachsenenbildung in Niedersachsen. Bis auf wenige Ausnahmenwird der Bedarf unsystematisch und mit personalwirtschaftlich zweifelhaften Metho-den erhoben. Dies geschieht z. B. durch:• Beratung von Leitung/ Vorständen in Gremien,• in Form von: „man lässt sich etwas einfallen“,• Abfrage durch Formblätter im Fortbildungsprogramm,• Teilnehmerbefragung,• einmalige Mitarbeiterbefragung durch standardisierte Fragebogenaktion.

Weitergehende Ansätze lassen sich nur vereinzelt finden. So steht z. B. ein Landesver-band kurz vor der Einführung von Mitarbeitergesprächen, während in einer anderen

Abb. 1: Häufigkeit der Durchführung von Bedarfserhebung an Hochschulen(über Befragung der Mitarbeiter, Vorgesetzte oder Teilnehmer

37 38

25

0

5

10

15

20

25

30

35

40

Proz

ent

Ja, unregelmäßig Ja, regelmäßig Nein

Hanft/Zentner: Qualifizierung und Personalentwicklung

Page 46: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

46 REPORT (27) 2/2004

Organisation die Bedarfserhebung unter anderem auch in regelmäßig stattfindendenQualitätszirkeln durchgeführt wird. Eine Verknüpfung der Bedarfserfassung mit ande-ren personalwirtschaftlichen Instrumenten (Personalbeurteilungssystemen, Mitarbei-tergesprächen, ACs etc.) konnten wir weder in Hochschulen noch in Erwachsenenbil-dungseinrichtungen feststellen, so dass wir insgesamt den Eindruck gewannen, dassdie Planung des Bildungsprogramms eher angebots- als bedarfsorientiert gestaltet ist.Diese Einschätzung fanden wir durch die Methoden zur Auswahl der Teilnehmer unddie Inhaltsanalyse der Programme bestätigt.

Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt weder in Hochschulen noch in Erwachse-nenbildungseinrichtungen anhand eines systematisch, beispielsweise durch Vorge-setzte oder Mitarbeiter/innen der Weiterbildungs-/PE-Abteilung erhobenen Qualifi-zierungsbedarfs. Interessierte melden sich an und erhalten dann den gewünschtenKurs, sofern die vorhandenen Kapazitäten es zulassen. Eine Steuerung der Nachfrageerfolgt lediglich durch eine nähere Bestimmung der angesprochenen Zielgruppen.Hochschulen differenzieren in ihren Programmen z. B. nach wissenschaftlichen undnicht-wissenschaftlichen Mitarbeitern, wobei eine deutliche Schwerpunktsetzung inRichtung des nicht-wissenschaftlichen Personals vorgenommen wird. Die Qualifizie-rung des lehrenden Personals scheint insgesamt von untergeordneter Bedeutung zusein.

In den Programmen der Erwachsenenbildungseinrichtungen fällt hingegen der hoheAnteil an Angeboten für Dozent/inn/en auf. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die-se Zielgruppe zu den meist nebenberuflich Beschäftigten zählt, die aber den Hauptteilder in der Erwachsenenbildung tätigen Personen stellt (vgl. Abb. 2). Unter dem Aspekt

Abb. 2: Zielgruppe der Bildungsangebote in den Erwachsenenbildungseinrichtungen

0

10

20

30

40

50

60

Proz

ent

Dozenten PädagogischeMitarbeiter

Verwaltungs-angestellte

Führungskräfte Sonstige

56,2

29,5

10,3 10,8

16,7

Beiträge

Page 47: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

47REPORT (27) 2/2004

der Qualitätssicherung und -entwicklung erscheint begrüßenswert, dass Erwachsenen-bildungseinrichtungen der Qualifizierung ihrer Dozent/inn/en, die ja für die eigentli-che Leistungserstellung verantwortlich sind, einen so hohen Stellenwert beimessen.Diese gegenüber den Hochschulen deutlich andere Akzentsetzung mag auch darinbegründet sein, dass Erwachsenenbildungsseinrichtungen anders als Hochschulen demWettbewerb ausgesetzt sind und daher der Qualität ihrer Bildungsleistungen größereAufmerksamkeit schenken.

Bei der inhaltlichen Gestaltung dominieren in Hochschulen mit 40 Prozent Fortbil-dungsangebote, die thematisch im weitesten Sinne den Informations- und Kommuni-kationstechnologien zuzurechnen sind (vgl. Abb. 3). Hierzu zählen vor allem Trai-nings zu Office-Anwendungen, Internettechnologien, aber auch Schulungen zu hoch-schulspezifischen Programmen. Darauf folgen mit relativ großem Abstand Trainings,die dem Bereich der sozialen und kommunikativen Kompetenzen zuzuordnen sindsowie Sprachkurse. Verwaltungsbezogene Fortbildungen, beispielsweise zum Hoch-schul-, Haushalts- und Besoldungsrecht oder zu hochschulspezifischen Rechnungsle-gungssystemen stehen erst an vierter Stelle, gefolgt von Hochschulsport- und Gesund-heitsangeboten sowie Schulungen zur Arbeitssicherheit. Unter die Kategorie „Sonsti-ges“ fallen zielgruppenbezogene Programme (z. B. für Führungskräfte, Auszubildende,neue Mitarbeiter), aber auch sehr spezifische Angebote wie Führungen durch botani-sche Gärten etc.

Abb. 3: Inhalte der Bildungsangebote an Hochschulen

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

IuK-Technologien

Proz

ent

Sprachen

Kommunik./Methoden

Arbeitssicherheit

Gesundheit/Sport

Verwaltung/Hochsch.

Sonstiges

40

101213

988

Hanft/Zentner: Qualifizierung und Personalentwicklung

Page 48: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

48 REPORT (27) 2/2004

Mit Blick auf die gegenwärtigen Reformbestrebungen an Hochschulen fällt auf, dasssich diese in der inhaltlichen Gestaltung der Weiterbildungsprogramme nicht wider-spiegeln. Nur wenige Maßnahmen sind auf Qualifikationsbedarfe bezogen, die imZuge der anstehenden Strukturveränderungen anfallen. Zwar sind Computer-Trainingssicherlich auch als Anpassungsqualifizierungen zu bezeichnen, die aber gemessen anden Anforderungsveränderungen als wenig spezifisch gelten müssen. Angesichts derhohen Anteile sehr allgemeiner Programmangebote (Sprachtrainings, Gesundheitsför-derung, Sport sowie kommunikative und soziale Kompetenzen), die nahezu ein Dritteldes Gesamtprogramms ausmachen, liegt die Vermutung nahe, dass die derzeitige Aus-richtung des Fort- und Weiterbildungsprogramms an Hochschulen eher der Befriedi-gung genereller Weiterbildungsbedürfnisse der Mitarbeiter dient als der Deckung desim Zuge der Reformen entstehenden Qualifizierungsbedarfs.

Eine ähnliche Einschätzung ergibt sich für Erwachsenenbildungseinrichtungen. Auffäl-lig sind Schwerpunktsetzungen in den Bereichen Kommunikation/Methoden, inhaltli-che/thematische Fortbildungen (z. B. für Dozenten) und Informations- und Kommuni-kationstechnologien (vgl. Abb. 4). Ein besonders geringer Angebotsumfang konnte imVergleich dazu für die Themenschwerpunkte Recht, Leitungsaufgaben und Öffentlich-keitsarbeit identifiziert werden. Kaum Fortbildungen werden im Bereich der in derLiteratur vielfach beschriebenen Veränderungen der Weiterbildungslandschaft (vgl.beispielhaft Hanft 2000; Gieseke u. a. 1997), wie beispielsweise Management vonBildung (-seinrichtungen), Bewältigung der steigenden Ökonomisierung der Erwach-senenbildung (dazu gehören auch Qualitätsmanagement, Öffentlichkeitsarbeit, Er-schließen neuer Finanzierungsmöglichkeiten etc.) und neue Formen des (computerun-terstützten) Lernens angeboten. Auch wenn in Rechnung gestellt werden muss, dassnur ein sehr kleiner Anteil der Mitarbeiter/innen mit Management- und Leitungsaufga-ben befasst ist, überrascht dennoch der geringe Stellenwert gerade dieser Qualifizie-rungsangebote.

Aus der Analyse der Fort- und Weiterbildungsprogramme kann somit sowohl fürHochschulen als auch für Erwachsenenbildungseinrichtungen die Schlussfolgerunggezogen werden, dass diese eher angebots- als bedarfsorientiert ausgerichtet sindund sich damit auf einem Entwicklungsstand befinden, der in Wirtschaftsunterneh-men für die 1970er und 1980er Jahre kennzeichnend war. Gilt diese Einschätzungauch für die Nachwuchs- und Karriereförderung? Bei einer Ausrichtung des Pro-gramms an den Qualifizierungsinteressen der Beschäftigten liegt die Vermutung nahe,dass die Angebote auch Möglichkeiten einer systematischen Karriereentwicklung be-inhalten. In Wirtschaftsunternehmen sind diese, soweit sie in den Programmen mitaufgeführt sind, durch eine längerfristige Gestaltung und Möglichkeiten zur Erlan-gung organisationsübergreifend verwertbarer Zertifikate oder Abschlusszeugnisse ge-kennzeichnet.

Ein Blick auf die Dauer der Angebote macht deutlich, dass halb- bis eintägige Semina-re mit 40 Prozent (Hochschulen) und 57 Prozent (Erwachsenenbildungseinrichtungen)

Beiträge

Page 49: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

49REPORT (27) 2/2004

eindeutig überwiegen, ein weiteres Drittel der Angebote umfasst nicht mehr als dreiTage (sowohl bei Hochschulen als auch bei Erwachsenenbildungseinrichtungen).Lediglich sechs Prozent erstrecken sich über mehrere Wochen oder sind modular auf-gebaut. Kurzfristige Anpassungsschulungen stehen somit eindeutig im Vordergrund.

Auch bei der Art der erreichbaren Abschlüsse dominieren sehr deutlich Fort- und Wei-terbildungsangebote, die lediglich mit einer Teilnahmebescheinigung (57 Prozent) oderohne jeden Qualifizierungsnachweis (41 Prozent) enden.3 Zertifikate oder gar höher-wertige Abschlüsse werden nahezu gar nicht vergeben. Aus der Analyse der Fort- undWeiterbildungsprogramme lassen sich somit keine Rückschlüsse auf längerfristig an-gelegte Nachwuchs- und Karriereförderungsprogramme ziehen.4

Die unzureichende Berücksichtigung der Nachwuchs- und Karriereförderung in denFort- und Weiterbildungsprogrammen lässt sich möglicherweise damit erklären, dassdie Verantwortung für diese Aufgabe nicht bei den Weiterbildungsverantwortlichen,sondern bei den direkten Vorgesetzten liegt. Tatsächlich stellen einige Hochschulen

Abb. 4: Bildungsangebote der Erwachsenenbildungseinrichtungen nach Inhalten

0

5

10

15

20

25

30

35

11,5

30,9

2,2 2,2

5,9

3,04,5

1,0

27,1

11,5

IuK-Technologien

Kommunikation/Methoden

Leitungsaufgaben

Öffentlichkeitsarbeit

Verwaltung/Finanzen

Evaluation

Beratung u. TeilnehmerRecht

Inhaltlich/thematische

Fortbildung

Sonstiges

Proz

ent

3 Rückschlüsse über die Art der zu erreichenden Abschlüsse haben wir den Programmen entnommen. Auf dieMöglichkeit zum Erhalt einer Teilnahmebescheinigung wird z. B. in der Präambel, in den beigelegten Dienstver-einbarungen oder in den Kursangeboten selbst hingewiesen. Auf „keine Bescheinigung, kein Abschluss“ ha-ben wir geschlossen, wenn den Programmen kein entsprechender Hinweis zu entnehmen war.

4 Diese Ergebnisse beziehen sich nur auf die untersuchten Hochschulen. Bei der Untersuchung der Erwachse-nenbildungseinrichtungen war die Datenlage zu unterschiedlich, so dass keine signifikanten Aussagen getrof-fen werden können.

Hanft/Zentner: Qualifizierung und Personalentwicklung

Page 50: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

50 REPORT (27) 2/2004

im Rahmen ihrer internen Mittelverteilung dem mittleren Management (überwiegendim Verwaltungsbereich) kleinere Budgets für die Mitarbeiterentwicklung zur Verfügung.Diese sind allerdings so knapp bemessen, dass von einer alle Mitarbeiter einbeziehen-den Personalentwicklung kaum die Rede sein kann. Während in der Administration imRahmen neuer Steuerungsmodelle die Sensibilität gegenüber solchen Versäumnissenzu wachsen scheint, erweist sich die Förderung des Personals in der wissenschaftli-chen Linienorganisation als besonderes Problem (vgl. Krell/Weiskopf 2001; Hanft2004).

Auch Erwachsenenbildungseinrichtungen verfügen nur über sehr begrenzte finanziel-le Möglichkeiten zur systematischen Personalentwicklung. Wegen fehlender Aufstiegs-chancen erweist sich die Karriere- und Nachwuchsförderung hier als zusätzlich pre-kär. Führungskräfte versuchen zwar, bestehende Defizite durch Entwicklungsmöglich-keiten, die Mitarbeitern „eine persönliche und soziale Befriedigung bedeuten“ (Robak2003, S. 134) zu kompensieren, was aber karriereambitionierte Nachwuchskräftesicherlich längerfristig nicht befriedigen kann.

Eine Ursache für die insgesamt unbefriedigende Situation mag in der gegenüber Wirt-schaftsunternehmen wenig koordinierten Verantwortung für das Thema Personalent-wicklung bestehen. In Hochschulen sind die Zuständigkeiten für diese Aufgaben sehrunterschiedlich geregelt. Gegenwärtig dominieren zwei Modelle: Personalentwicklungals Aufgabe der Einrichtungen für wissenschaftliche Weiterbildung oder Personalent-wicklung als Teilbereich des Personalreferats. Da Einrichtungen für wissenschaftlicheWeiterbildung ihre Kernaufgaben in der Planung und Durchführung von Bildungsver-anstaltungen sehen und sie zudem von den Subsystemen Administration und Wissen-schaft strukturell weitgehend entkoppelt sind, werden zentrale PE-Aufgaben, wie bei-spielsweise die Personal- und Laufbahnplanung oder die Managementdiagnostik, vonihnen vernachlässigt. Aber auch die organisatorische Verankerung der Personalent-wicklung in Personaldezernaten oder Stabsabteilungen führt kaum zu einer Verbesse-rung der Situation. Diese in Hochschulen am häufigsten vorzufindende Organisations-form bewirkt, dass Personalentwicklung sich vorrangig an die Zielgruppe der nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter richtet. Die Mehrheit der Organisationsmitglieder bleibtsomit ausgeschlossen.

Für Erwachsenenbildungseinrichtungen hat Gieseke (2000, S. 335) festgestellt, dassdie erhöhten Anforderungen an Professionalität durch Qualitätssicherung mit einernachlassenden Verberuflichung einher gehen. Die zunehmend unsichere institutionel-le Absicherung vieler Mitarbeiter erschwert ihre ohnehin schon unzureichende Förde-rung und Weiterentwicklung. Wurde schon das Fort- und Weiterbildungsangebot als„Defizitmodell“ (vgl. Merk 1998) bezeichnet, so gilt dies für die Schaffung institutiona-lisierter Verantwortlichkeiten in der Karriere- und Nachwuchsförderung im besonde-ren Maße. Daher wäre zu überlegen, wie Mitarbeiter/innen aus den Einrichtungenorganisationsübergreifend ihre Kompetenzen erwerben können (besonders wenn die-se in Leitungs- oder Managementfunktionen tätig sind). Lösungen bieten sich hier in

Beiträge

Page 51: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

51REPORT (27) 2/2004

Form interorganisationaler Zusammenarbeit oder auch wissenschaftlicher Weiterbil-dung im Bereich Bildungsmanagement an Hochschulen an.5

4. Schlussfolgerungen

Trotz des proklamierten Bedeutungszuwachses ist die Fort- und Weiterbildung in Bil-dungseinrichtungen weit von dem entfernt, was als systematische Personalentwick-lung gekennzeichnet werden kann. Erklärungen hierfür können zum Teil in der man-gelhaften Regelung der Zuständigkeiten und der unzureichenden Wahrnehmung derPersonalentwicklung als Führungsaufgabe vermutet werden. Die Anpassung an verän-derte Anforderungen erfolgt weniger über Qualifizierungsmaßnahmen als über ein, sokönnen wir nur vermuten, mehr oder weniger systematisches Training „on the job“.

Auf den ersten Blick scheinen Bildungseinrichtungen für diese Form der Wissensan-eignung durch ihren hohen Anteil akademisch ausgebildeten Personals geradezu prä-destiniert. Die für arbeitsintegriertes Lernen erforderliche Selbstlernfähigkeit haben ihreBeschäftigten im Verlauf der beruflichen Sozialisation trainiert und die Bereitschaft zurpermanenten Anpassung und Weiterentwicklung ihrer (wissenschaftlichen) Qualifika-tion entspringt daher schon ihren eigenen Karriereinteressen. Dies trifft allerdings nurfür das wissenschaftliche Personal an Hochschulen zu, dessen beruflicher Aufstieguntrennbar mit der fachwissenschaftlichen Weiterqualifizierung verbunden ist. Wel-che Motivation dagegen Beschäftigte des Verwaltungsbereichs für eine selbst gesteuer-te Anpassungsqualifizierung aufbringen sollten, wenn das öffentliche Dienst- und Ta-rifrecht eine Beförderung nach Kompetenzen und der gezeigten Leistung nicht struktu-rell unterstützt, bleibt unbeachtet. Qualifizierung und Kompetenzerweiterung kann fürBeschäftigte des Verwaltungsbereichs erst dann attraktiv sein, wenn sie den berufli-chen Aufstieg oder die berufliche Neupositionierung befördert. Dies ist bei der gegen-wärtigen Ausrichtung der Laufbahn- und Beförderungssysteme im öffentlichen Dienstnicht der Fall.

Vor dem Hintergrund dieser mit Wirtschaftsunternehmen nicht vergleichbaren institu-tionellen Besonderheiten stellt sich das derzeitige Fort- und Weiterbildungsprogrammin Bildungseinrichtungen als kleinste gemeinsame Schnittmenge der in der Gesamtor-ganisation anfallenden Qualifizierungsbedarfe dar. Soll eine stärkere Fokussierung aufdie im Zuge der Reformvorhaben erforderlichen Qualifikationsanpassungen erfolgen,bedarf es einer grundlegenden konzeptionellen Neuorientierung, bei der zum einendas derzeit vorherrschende Fortbildungsprogramm stärker an Maßnahmen oder Pro-zesse der Organisationsentwicklung zu knüpfen ist, zum anderen die Bereitschaft zur

5 Entsprechende Angebote werden zurzeit an zwei Hochschulen eingeführt. An der Universität Oldenburg befin-det sich ein weiterbildender internetgestützter Master-Studiengang „Bildungsmanagement“ mit den Schwer-punkten „Weiterbildungs-“ und „Hochschul- und Wissenschaftsmanagement“ im Aufbau (www.mba.uni-oldenburg.de). Ferner wird auch an der PH Ludwigsburg ein berufbegleitender Master-Studiengang „Bildungs-management“ eingeführt (www.bildungsmanagement.ph-ludwigsburg.de).

Hanft/Zentner: Qualifizierung und Personalentwicklung

Page 52: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

52 REPORT (27) 2/2004

eigenen Weiterqualifizierung und zu arbeitsintegriertem Lernen über verbesserte Mög-lichkeiten der Höherqualifizierung und beruflichen Neupositionierung unterstützt undgefördert werden sollte.

Strukturveränderungen erfordern eine Professionalität des Personals, die über die derzeitangebotenen Fortbildungsmaßnahmen weit hinausreicht. Die Attraktivität des Arbeits-feldes „Bildungseinrichtung“ wird auch dadurch bestimmt, dass es gelingt, Karriere-wege an professionelles und kompetentes Handeln zu binden. Solange die Erfüllungformaler oder statusrechtlicher Voraussetzungen über die Besetzung von Planstellenentscheidet, ist eine Motivation zur Professionalisierung kaum zu erwarten. Neue Kar-rierewege im Bildungsmanagement bieten der Personalentwicklung in Bildungsein-richtungen neue Perspektiven. Es geht nicht mehr lediglich um die qualifikatorischeAnpassung des Personals an veränderte Anforderungen, die überdies von der Fort- undWeiterbildung, so wie sie sich gegenwärtig darstellt, kaum geleistet wird, sondern umseine aktive Einbeziehung in Organisationsentwicklung mit neuen attraktiven Aufga-benfeldern. Wenn professionelle Tätigkeitsfelder entstehen, die eine Investitionen indie Entwicklung professioneller Kompetenzen aus Sicht der Beschäftigten lohnenswertmacht, dürfte deren Motivation an einer aktiven Beteiligung bei den derzeitigen Refor-men außer Frage stehen.

Literatur

Berthel, J. (2000): Personal-Management: Grundzüge für Konzeptionen betrieblicher Personal-arbeit . 6. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart

Gieseke, W. u.a. (1997): Aspekte des Berufsbildes Erwachsenenbildner – Erwachsenenbildne-rin. In: Meisel, K. (Hrsg.): Veränderungen in der Profession Erwachsenenbildung. Frankfurta.M., S. 21–32

Gieseke, W. (2000): Konsequenzen und Empfehlungen. In: dies. (Hrsg.): Programmplanung alsBildungsmanagement? Qualitative Studie in Perspektivverschränkung. Recklinghausen,S. 334–338

Hanft, A. (2000): Wissenschaftliche Weiterbildung der Weiterbildner: Eine Bestandsaufnahmein Rheinland-Pfalz. In: Schwarz, B./Hanft, A. (Hrsg.): Weiterbildung der Weiterbildenden inRheinland-Pfalz. Weinheim, S. 149–182

Hanft, A. (2004): Personalentwicklung als Hochschulentwicklung: Ergebnisse einer empirischenErhebung zum gegenwärtigen Stand der Personalentwicklung an Hochschulen und Anmer-kungen für ihre zukünftige Gestaltung. In: Laske, S./Meister-Scheytt, C./Scheytt, T. (Hrsg.):Personalentwicklung an Universitäten. München

Krell, G./Weiskopf, R. (2001): Mitarbeiterführung. In: Hanft, A. (Hrsg.): Grundbegriffe des Hoch-schulmanagements. Neuwied, S. 286–291

Merk, R. (1998): Weiterbildungsmanagement: Bildung erfolgreich und innovativ managen. 2.Aufl. Neuwied

Robak, S. (2003): Empirische Befunde zum Bildungsmanagement in Weiterbildungsinstitutio-nen. In: Gieseke, W. (Hrsg): Institutionelle Innensichten der Weiterbildung. Bielefeld, S. 129–138

Sonntag, K. (1999): Personalentwicklung – ein Feld psychologischer Forschung und Gestal-tung. In: Sonntag, K. (Hrsg.): Personalentwicklung in Organisationen. 2. überarb. und erw.Aufl. Göttingen, S. 15–29

Beiträge

Page 53: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

53REPORT (27) 2/2004

Ortfried Schäffter

Erwachsenenpädagogische InnovationsberatungInstitutionalisierung von Innovation in Einrichtungen beruflicher Weiterbil-dung1

Der Beitrag zeigt zuerst, inwieweit eine erwachsenenpädagogische Organisations-theorie Erklärungsmöglichkeiten für einen ständigen innovativen Strukturwandelbietet. Anschließend wird der in Konzepten pädagogischer Organisationsentwick-lung implizite Aspekt der Innovation expliziert und begrifflich differenziert, und eswird unterschieden zwischen einem personen-/produktgebundenen Innovations-konzept und einem sozial-kulturell/prozessualen Verständnis als innovativer Praktik.Für eine Beratung zur Innovationsfähigkeit heißt dies, eine Öffnung hin auf Un-bestimmtheit, auf die Erweiterung von Entwicklungsoptionen und die Organisationzielgenerierender Suchbewegungen zu fördern.

1. Veränderungsbereitschaft als implizites Strukturmerkmal von Weiterbildungs-Organisation

Ähnlich wie bei den gegenwärtigen Diskursen um „selbstorganisiertes“ Lernen oder„Kompetenzentwicklung“ ruft auch das Modischwerden des Innovationsbegriffs in derberuflichen Weiterbildung den Eindruck eines déjà vu hervor: Unversehens erlangt einThema aktuelle Aufmerksamkeit und wird aus gesellschaftspolitischer Stimmungslagean Bildungsorganisationen herangetragen, das unter heimischer, nicht-ökonomischerBegrifflichkeit seit je her zum erwachsenenpädagogischen Diskurs gehörte, nämlichdie Spannung einer Kontinuität im Wandel. Innovationsberatung in Einrichtungen be-ruflicher Weiterbildung hat diese erwachsenenpädagogischen Konstitutionsbedingun-gen nicht nur zu respektieren, sondern auch aktiv im Sinne einer „feldspezifischenExpertise“ konzeptionell und thematisierend einzubringen.

Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass sich Erwachsenenbildung im Zugeihrer Institutionalisierung mit einer spannungsreichen Balancierung zwischen den Po-len Kontinuität und Veränderung auseinander zu setzen hat. Auf einer epochalen lang-fristigen Ebene lässt sich dieses Verhältnis als Wechselspiel zwischen „Institution“ und„Organisation“ rekonstruieren (vgl. Schäffter 2001; sowie ders. in Tacke 2001; Lieck-weg 2001; Kneer 2001).

1 Dieser Beitrag war ursprünglich als erster Teil eines zweiteiligen Aufsatzes gemeinsam mit Felicitas von Küch-ler konzipiert. Beide Teile werden nun aus redaktionellen Gründen einzeln abgedruckt, beziehen sich abertheoretisch und empirisch auf die wissenschaftliche Begleitung von Gestaltungsprojekten, die Personal- undOrganisationsentwicklungskonzepte zur Förderung der Innovationsfähigkeit von beruflichen Weiterbildungsein-richtungen erproben und im Kontext des Forschungs- und Entwicklungsprogramms „Lernkultur Kompetenz-entwicklung“, Bereich „Lernen in und von Weiterbildungseinrichtungen“ angesiedelt sind.

Page 54: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

54 REPORT (27) 2/2004

• „Institution“ umfasst hierbei eine langfristig gültige gesellschaftliche Funktionsbe-stimmung von Erwachsenenlernen im Rahmen des Funktionssystems Bildung, dieeinem langfristigen Veränderungsprozess unterliegt und in den großen „Wenden“zum Ausdruck gelangt.

• Für „Organisation“ als nächsttieferer Ebene bietet „Institution“ in Gestalt von „In-stitutionalformen der Erwachsenenbildung“ den Orientierungsrahmen für eher kurz-bzw. mittelfristige, sich an aktuellen Anforderungen wandelnden Varianten von„Weiterbildungseinrichtungen“.

„Organisationsentwicklung“ als möglicher Anlass für Innovation beschreibt in diesemVerständnis die Normalität historisch bedingter Veränderungen als Aussteuerungspro-zess im gefestigten Kontext einer institutionell gesicherten Funktionsbestimmung vonErwachsenenlernen in einer Gesellschaft. Schon Francis Bacon verwies in seinem Es-say „On Innovation“ auf „die Zeit als große Erneuerin“.

1.1 Wandel als Konstitutionsbedingung

Die Dynamik organisationalen Wandels auf der Ebene von Weiterbildungseinrichtun-gen bezieht ihre Energie aus einem Spezifikum von Erwachsenenbildung, in dem siesich deutlich vom Schulwesen und dessen Organisationsformen unterscheidet. IhrBasiselement, die Weiterbildungsveranstaltung, ist nicht wie die Schulklasse hoheit-lich-administrativ als konstitutioneller Rahmen vorgegeben, sondern in seiner existen-tiellen Voraussetzung zutiefst riskant angelegt. Dies gilt selbst für Veranstaltungen derarbeitsmarktpolitischen „Maßnahmekultur“. Sie alle tragen das Risiko, auch bei besterPlanung gegebenenfalls nicht zustande zu kommen. Erwachsenenpädagogische Ver-anstaltungsplanung trifft daher nicht nur methodisch-didaktische Entscheidungen fürdas pädagogische Binnenverhältnis, sondern ist letztlich auch zur Sicherung der „Be-dingung ihrer Möglichkeit“ für ihr konstitutives Außenverhältnis verantwortlich. Auf-grund dieser „fluiden“ Struktur auf einer grundlegenden Ebene des Zustandekommensvon Weiterbildungsveranstaltungen setzen sich alle Institutionalformen mit einer prin-zipiellen Gefährdung auseinander, die sie zu einer ständigen adaptiven Auseinander-setzung mit ihrer lebensweltlichen Fundierung und zur sensiblen Aussteuerung miteiner Vielzahl leistungsrelevanter Umwelten zwingt. Analysiert man „basale Organisa-tionsentwicklung“ (vgl. Küchler, v./Schäffter 1997, S. 99 ff.) rückblickend, so ist einständiger Wandel in den organisationalen Strukturen und im Leistungsprofil beschreib-bar, der von einer Entwicklung ausgelöst wurde, die in ihrem Verlauf zumeist von demgesetzten Ausgangspunkt nicht antizipierbar gewesen wäre und insofern unverkenn-bar Neues, häufig auch strukturell Neuartiges nach sich gezogen hat.

1.2 Interne Integration als vernetzte Strukturierung

Weiterbildungsorganisation reagiert auf diese Konstitutionsbedingungen in ihrer ideal-typischen „Normalform“ durch eine mehrstufige Vernetzung und durch eine hohe Tem-

Beiträge

Page 55: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

55REPORT (27) 2/2004

poralisierung ihrer Leistungsangebote, mit der sie der dynamischen Komplexität inihren „turbulenten Umweltbereichen“ produktiv zu begegnen vermag.• Die Netzwerkstruktur, wie sie organisationstheoretisch von Karl Weick mit dem

Konzept der „losen Koppelung“ für Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser re-konstruiert wurde (vgl. Weick 1976), bietet eine schrittweise Erhöhung der Bin-nenkomplexität im Sinne eines wachstumsorientierten internen Veränderungspro-zesses parallel zur externen Ausdifferenzierung pädagogisch relevanter Umwelt-beziehungen und Leistungsentwicklungen, ohne dass das Risiko des Scheiternsbei innovativen Teilentwicklungen die Organisation in ihrer Gesamtheit gefährdet(zur Übertragung auf Weiterbildungsorganisation vgl. Schäffter 1987, zur Netz-werkstruktur von Weiterbildungsorganisation vgl. Schäffter 1994 und 2004). Ne-ben einer horizontalen Ausdifferenzierung der Binnenstruktur von WB-Einrich-tungen in Aufgabenfelder, bildet Weiterbildungsorganisation im Zuge von quali-tativem Wachstum bei Bedarf auch Formen von vertikaler Differenzierung in Ge-stalt von didaktischen Handlungs- und Entscheidungsebenen aus.

• Die im Vergleich zur schulischen Organisation geradezu seismographische Fä-higkeit zu pädagogisch relevanter Umweltwahrnehmung erklärt sich strukturell inerster Linie aus der vertikalen Schnittstelle zwischen hauptberuflich-pädagogischenMitarbeitenden als Kerngruppe und dem wechselnden Kreis der freien und ehren-amtlichen Lehrkräfte, die als intermediäres Zwischenfeld zwischen den lebens-weltlichen Strukturierungen möglicher Bildungsadressaten und ihren wechseln-den Lernanlässen relevante Vermittlungsprozesse auslösen und abzuarbeiten ver-mögen.

1.3 Wandelndes Leistungsprofil als Reaktion auf Umweltveränderung

Weiterbildungsorganisation ist idealtypisch auch auf ihrer Leistungsseite durch mittel-fristig wechselnde Angebotsformen charakterisiert. In Verbindung mit der konstituti-ven Gefährdung des Zustandekommens von Weiterbildungsveranstaltungen führt diesim Zuge einer „basalen Organisationsentwicklung“ zu ständigen Veränderungsprozes-sen auf der Leistungsseite, die in ihrer Entwicklung allerdings nicht organisational ge-steuert werden können, sondern die als Entwicklungsprozesse einer strukturellen Ko-Evolution zwischen einem sich als relevante Umwelt strukturierenden „Publikum“ undeinem relational hervorgetriebenen Leistungsprofil auf der Ebene von Einzelangebotensowie auf der Ebene des Gesamtprofils gedeutet werden können.

2. Veränderung als innovative Entwicklung

Stellt man Innovation in den Kontext von Organisationsberatung, so werden begriffli-che Differenzierungen erforderlich. „Veränderung“ ist nicht bereits „Entwicklung“ und„Entwicklung“ läuft nicht notwendigerweise auf Neues oder gar „Neuartiges“ hinaus.Bezogen auf das hohe Maß an umweltresonanter Veränderungsbereitschaft von Wei-

Schäffter: Erwachsenenpädagogische Innovationsberatung

Page 56: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

56 REPORT (27) 2/2004

terbildungsorganisation lässt sich daher feststellen, dass sich im Blick zurück immereine Vielzahl „inkrementeller“ Einzelveränderungen (d. h. ein in kleinen Teilen an-wachsender Veränderungsprozess) feststellbar ist, deren Bedeutung für die Gesamtor-ganisation sich jedoch erst dann in einem Prozess des „sense-making“ (vgl. Weick1995) erschließt, wenn all die unscheinbar wirkenden („inkrementellen“) Teilverände-rungen in den Zusammenhang eines gerichteten Entwicklungsverlaufs gestellt werdenkönnen.

Jede (Selbst-)Beschreibung von Veränderung als „Entwicklung“ einer Organisation be-ruht daher auf einer Deutung über Zusammenhänge zwischen vergangenen Zustän-den, gegenwärtigen Ereignissen und zukünftigen Optionen (vgl. Schäffter 1993). Be-trachtet man dabei, welche Entwicklungslogik derartigen Beschreibungen unterlegtwerden kann, so stehen grosso modo folgende drei zur Auswahl:• Entfaltung als Bewegung des Werdens, die auf ein im funktionalen Kern angeleg-

tes Ziel, bzw. auf einen im „Wesen“ enthaltenen, teleologisch angelegten End-punkt hinausläuft,

• Vergehen als Bewegung eines Niedergangs, der strukturellen Auflösung und desFunktionsverlusts,

• Innovation als transformative Erneuerung (vgl. Mezirow 1997) und strukturelle„Verjüngung“, d. h. als Zugewinn an neuartigen Entwicklungsoptionen. Innovati-on ist somit ein normativer Begriff, der solche Veränderungen bezeichnet, die eineSteigerung der Funktionsfähigkeit eines Systems nach sich ziehen.

Innovation als Kategorie von Organisationsentwicklung erhält somit eine spezifischeBedeutung innerhalb des weiten semantischen Hofs eines historisch entstandenen In-novationsbegriffs (vgl. Ritter/Gründer 1976).

Versucht man nun, den organisationalen Innovationsbegriff anderen Konzepten vonInnovation zuzuordnen bzw. von ihnen abzugrenzen, so kann dies an drei Gesichts-punkten geschehen, an der sich differente Auffassungen von Innovation in ihren spezi-fischen Merkmalen charakterisieren lassen. Es stellt sich die Frage,• welcher „Kategorie des Neuen“ sie folgen,• welche Ausgangslage zur Erklärung der zugrunde liegenden Veränderungsdyna-

mik zugeschrieben wird,• welcher Gegenstandsbereich der Neuerung in den Blick genommen wird.

2.1 Die Kategorie des Neuen

Das jeweilige Verständnis von Innovation hängt weitgehend von der Antwort auf dieFrage ab, wie wohl „das Neue“ in die Welt kommt. Man stößt auf eine geschichtsphi-losophische Problematik, die sich moderat oder radikal beantworten lässt. Exempla-risch hierfür ist Hegels Unterscheidung zwischen „partieller“ und „totaler Negation“(vgl. Günther 1980, S. 183–210).

Beiträge

Page 57: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

57REPORT (27) 2/2004

• Das Neue als „partielle Negation“ meint graduelle Formen von Neuheit, d. h.bislang noch nicht bekannte Varianten im Kontext eines fungierenden Horizontsvon Bekanntheit und somit Kombinationen bekannter Teilelemente, die in ihrerproduktiven Verknüpfung in einem bestimmten Kontext als neu erfahren und ge-nutzt werden. Inkrementelle Veränderungen können in diesem Verständnis für ei-nen ausgewählten Kontext Neues hervorbringen, wobei in derartigen Prozessender Neuerung ein „qualitativer Umschlag“ als ein entscheidender Punkt für dasEintreten von Innovation betrachtet wird.

• Das Neue als „totale Negation“ hingegen beruht auf einem „Sprung“ von einer „Kon-textur“ in eine andere, d. h. ein sprunghafter Wechsel in ein von der Ausgangslageunvergleichbares Wahrnehmungs- und Deutungssystem. Es geht nicht mehr alleinum das erwartbar „Neue“, sondern um prinzipiell „Neuartiges“. In der radikalenSicht totaler Negation ist das Neuartige aus der Perspektive der Ausgangslage we-der antizipierbar noch sinnvoll verstehbar, im krassen Fall nicht einmal „denkbar“.Totale Innovation unterläuft daher alle Versuche einer intentional gesteuerten Pla-nung, sie beruht auf einer sprunghaften Transformation. Diese Formen des Kontext-wechsels (vgl. Schäffter 1997) sind in der interkulturellen Pädagogik als Problem desKulturschocks bekannt, bisher aber noch nicht hinreichend lerntheoretisch geklärt.

Innovation auf der Grundlage totaler Negation führt aufgrund ihrer paradigmatischenDifferenz häufig zu Problemen des Nicht-Verstehens, ohne dass dies wiederum ver-standen oder als Verstehensproblem kommuniziert werden kann. Es geht wohl umeben dies radikale Verständnis, wenn Francis Bacon in dem erwähnten Essay feststellt,dass Innovationen wie Fremde seien; sie würden gefürchtet, bestenfalls bewundert,selten aber geliebt.

2.2 Ausgangslage als Ursprung der Innovationsdynamik

Der Innovationsbegriff bezieht einen wesentlichen Anteil seiner Bedeutungen aus derje besonderen Ausgangslage, aus der sich eine Veränderungsdynamik speist. Gegen-wärtig hat das Innovationskonzept von Joseph Schumpeter Aktualität erlangt, wohlweil er es als Prinzip wirtschaftlicher Entwicklung im Kapitalismus formulierte (vgl.Schumpeter 1993) und den Begriff an zwei wichtige Bedingungen band, die von allge-meiner Bedeutung sind:• die ökonomische und damit gesellschaftliche Ausgangslage möglicher (innovati-

ver) Neukombinationen der für eine (wirtschaftliche) Leistung notwendigen Fak-toren

• und die personale Ausgangslage eines sich auf Wettbewerb und Marktprinzip be-ziehenden Unternehmertypus, dessen gesellschaftliche Funktion es ist, produkti-ve Neukombinationen zu „erfinden“ (entdecken) und praktisch umzusetzen.

Innovation, von ihrer Ausgangslage her definiert, lässt sich daher einerseits als perso-nale Kreativität, Produktivität und Durchsetzungsfähigkeit akzentuieren, auf der ande-

Schäffter: Erwachsenenpädagogische Innovationsberatung

Page 58: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

58 REPORT (27) 2/2004

ren Seite aber auch aus sozialen Rahmenbedingungen ableiten, die sich in Form vonorganisierten, planvoll strukturierenden Prozessen systematisieren lassen. Zur Kenn-zeichnung der spezifischen Ausgangslage ist daher zwischen personengebundener undsozial-kulturell verursachter Innovation zu unterscheiden.• Personengebundene Innovation hebt auf Kompetenzen und kreative Eigenschaf-

ten sowie auf risikobereites Durchsetzungsvermögen ab und erklärt hieraus dasAuftreten und Gelingen von Neuerungen.

• Sozial-kulturelle Innovation betont strukturelle Ausgangsbedingungen wie z. B.gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte (Marx), soziale Marginalität der Neu-erer-Rolle (Simmel; Grünfeld), Akkulturation und Interkulturalität (Vierkandt) so-wie Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung (Weber).

2.3 Der Gegenstandsbereich von Neuerungen

Konzepte der Innovation differieren entsprechend der Bereiche, in denen Neuerungenbeabsichtigt sind oder festgestellt werden. Entsprechend lässt sich Innovation definie-ren:• als neues Gut oder Dienstleistung im Sinne eines neuen Produkts,• als technologische Veränderung der Produktionsverfahren,• als Verfügbarkeit über neue Produktionsmittel,• als Zugänglichkeit zu neuen Umweltbereichen als Absatzmarkt,• in jeglichen Formen interner Neuorganisation.

Verallgemeinernd lässt sich somit in Bezug auf den Gegenstandsbereich von einerDifferenz zwischen produktorientierten und prozessorientierten Innovationskonzep-ten sprechen.

Prozessorientierte Konzepte unterscheiden sich allerdings noch einmal danach, ob sieallein neuartige technologische Verläufe bezeichnen, oder ob sie darüber hinaus auchkognitive Wandlungsprozesse bei der Aufgaben- und Problembeschreibung in ihr In-novationskonzept einbeziehen. Hier geht es u. a. um Veränderungen eines „reframing“von bisher Bekanntem unter einem neuartigen Blickwinkel, also um Veränderungenvon Deutungsmustern, durch die „schlagartig“ innovative Problemlösungen im Sinnevon „totaler Innovation“ möglich werden.

3. Innovation als Zieldimension pädagogischer Organisationsberatung

Aus Platzgründen lassen sich an dieser Stelle noch keine differenzierten Ausführungenzu Stellenwert möglicher Innovationskonzepte im Rahmen von Organisationsentwick-lung und pädagogischer Organisationsberatung machen. Als erste grobe Orientierungsoll jedoch die These gewagt werden, dass sich ein epochaler Trend (vgl. Weber 2003,S. 422–436) von einer

Beiträge

Page 59: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

59REPORT (27) 2/2004

• „frühmodernen Konstellation“: inkrementeller Neuerungstyp auf der Grundlagepersonengebundener Dynamik und produktgebundener Innovation hin zu einer

• „spätmodernen Konstellation“: paradigmatischer Neuerungstyp auf der Grundla-ge sozial-kultureller Dynamik und prozessorientierte Innovation

beobachten lässt. Das meint konkret, dass Innovationen nicht mehr wie früher voncharismatischen Persönlichkeiten abhängen, die über kreative Kombination von be-kannten Teilelementen neuartige Produkte und Dienstleistungen entwickeln und invon ihnen dafür geschaffenen Organisationen realisieren. Innovation tendiert hinge-gen dazu, ein sozial-kulturelles Projekt zu werden, das prozessual in der Organisati-onsstruktur verankert und damit „institutionalisiert“ worden ist. Innovation richtet sichnicht mehr allein auf neue Einzelprodukte, sondern auf die permanente Fortentwick-lung neuartiger Produktketten und auf die sozialkulturelle Gewährleistung von Pro-duktentwicklung. In Bezug auf Weiterbildungsorganisation muss Innovation in diesemVerständnis als strukturell intendierte Daueraufgabe verstanden werden. Kurz gesagt:Organisationsentwicklung in der Weiterbildung und pädagogische Organisationsbera-tung stehen in einem Verständnis von prozessualer Innovation vor der Aufgabe, Inno-vation dauerhaft strukturell zu verankern, d. h. zu institutionalisieren und damit zuveralltäglichen. Prozessuale Innovation ruft somit gleichzeitig strukturell verankerteInnovationsfähigkeit hervor.

Bei dem epochalen Wandel, wie er als Übergang von der frühmodernen zur spätmo-dernen Konstellation des Innovationskonzepts als These formuliert wird, ist allerdingseine „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit“ (Pinder) in Rechnung zu stellen. Manbekommt es mit einem temporalen Nebeneinander unterschiedlicher Innovationspro-file bei der Förderung von Organisationsentwicklung zu tun. Auf diese Differenz zwi-schen dem „Idealtypus einer Normalform“ und dem „Realtypus“ der je empirisch vor-findbaren Weiterbildungseinrichtungen im Beratungsprozess ist zu achten. Hinzu kom-men Entwicklungsunterschiede zwischen verschiedenen Teilsektoren der Gesellschaft.Innovation in großen Wirtschaftsunternehmen mit ihren Forschungs- und Entwicklungs-abteilungen, sowie ihren Verfahren der „Innovations- und Qualitätszirkel“ auf der Pro-duktionsebene entspricht bereits der „spätmodernen Konstellation“, während dies beiWeiterbildungseinrichtungen erst in frühen Ansätzen zu beobachten ist. Insofern trifftdie These von einer „nachholenden Modernisierung“ bei der Bildungsorganisation inBezug auf strukturelle Innovationsfähigkeit sicherlich zu. Organisationsberatung vonWB-Einrichtungen unter der Zielsetzung einer nachholenden Modernisierung wird sichdaher konzeptionell mit den nachfolgend aufgezeigten Aspekten von Innovationsfä-higkeit auseinander zu setzen haben.

3.1 Übergang von produktgebundener zu prozessualer Innovation

Innovation meint hier nicht mehr allein die Entwicklung neuer Angebote im Zuge einesAnpassungsprozesses an eine sich wandelnde Umwelt, sondern auch die Entwicklung

Schäffter: Erwachsenenpädagogische Innovationsberatung

Page 60: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

60 REPORT (27) 2/2004

neuartiger Dienstleistungsbeziehungen zu relevanten Adressatenbereichen, durch dieneuartige Verfahren einer gemeinsamen Angebotsentwicklung als ko-produktiver Pro-zess möglich gemacht, auf Dauer gestellt und in ständiger Resonanz mit den Adressatenproduktiv weiterentwickelt werden (prozessuale Innovation). Produktgebundene Inno-vation erfährt hierdurch eine Transformation zu struktureller Innovationsfähigkeit.

3.2 Übergang von personengebundener zu sozial-kultureller Veränderungsdynamik

Personengebundene Innovation setzt neben Konfliktbereitschaft und Marginalität ei-nen Personentyp voraus, wie er für hoch komplexe Sozialsysteme eher dysfunktionalwirken würde. Dies erklärt die Limitationen dieses Innovationsmodells im Fortgangder Moderne. Größere Aufmerksamkeit als die Förderung eines „genialischen Unter-nehmerbildes“ im Rahmen von Personalentwicklung verlangen daher lernförderlichesozial-kulturelle und organisationsstrukturelle Voraussetzungen für innovative Entwick-lung. Organisationstheoretisch geht es hierbei um die Wahrnehmung und produktiveBerücksichtigung interner („subkultureller“) Differenzen innerhalb der Weiterbildungs-einrichtung als einem in sich spannungsvollen sozialen System. Konkret gefasst, wirdsich die Aufmerksamkeit von pädagogischer Organisationsberatung auf eine kommu-nikationsförderliche „Inszenierung“ relevanter Schnittstellen im oben skizzierten Netz-werk pädagogischer Organisation sowie auf die Beziehung zu ihren relevanten Um-weltbereichen verlagern. Dabei geht es um ein methodisches Wahrnehmen und Nut-zen „institutioneller Schlüsselsituationen“. Auf sozial-kultureller Grundlage entstehthier eine Dynamik innovativer Prozesse durch die produktive Verknüpfung bislanggetrennter sozialer Wirklichkeiten über „Perspektivverschränkung“. Die sozial-struk-turelle Grundlage einer derartig auf Innovation gerichteten Organisationsentwicklungist eine gemeinsame „Organisationskultur als Lernkultur“. Dies bedeutet, dass sichOrganisationsentwicklung nicht allein auf Veränderungen der Funktionalstruktur des„sozio-technischen Systems“ zu beschränken hat, sondern auch auf Organisation als„soziales System“ und als „Organisationskultur“ gerichtet sein sollte.

3.3 Übergang von „inkrementeller Neuheit“ zur Bearbeitung von zukünftigerUnbestimmtheit

Fraglos ist es im Kontext beruflicher Alltagssituationen zunächst sinnvoll, pädagogi-sche Innovation als einen Veränderungszuwachs zu organisieren und daran pädagogi-sche Organisationsberatung zu orientieren. Organisationstheoretisch ist bei der dabeizugrunde gelegten Beratungskonzeption allerdings zu berücksichtigen, welchem Ty-pus von Transformation (vgl. Schäffter 2001, S. 17–29) man dabei folgt. Prozesse einerstrukturellen Transformation im Sinne „zielgenerierender Suchbewegungen“ bekom-men es mit dem auch management-theoretisch zentralen Phänomenen von „Unbe-stimmtheit“ zu tun, also einer Zukunftskonzeption, die nicht hinreichend mit dem Ty-pus „inkrementeller Neuheit“, sondern erst mit dem des „paradigmatisch Neuartigen“

Beiträge

Page 61: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

61REPORT (27) 2/2004

als Leitbild von Organisationsberatung bearbeitbar wird. Dies hat weit reichende Kon-sequenzen für das Beratungsverständnis sowie für Konzepte und Verfahren: Für dieUnterstützung und Begleitung von Entwicklungsverläufen ist nun ihre prinzipielleUnabgeschlossenheit zu berücksichtigen. Innovation kann nicht mehr technologischals einmaliger produktgebundener Vorgang aufgefasst werden, sondern als Gewähr-leistung einer Kette von anschlussfähigen Veränderungen mit zunächst offenem Ende,also als ein sich erst im Prozess bestimmendes Ergebnis, das von den beteiligten Akteu-ren am Ausgangspunkt des Entwicklungsverlaufs noch nicht antizipierbar ist. Die Be-ratungsstrategie im Rahmen „reflexiver Transformation“ läuft daher auf eine metho-disch gerichtete „Positivierung des Unbestimmten“ hinaus. Sie hat „überschüssige Ent-wicklungsoptionen“ im Zuge des Beratungsprozesses nicht vorschnell zu verwerfen,sondern als Potenziale wertzuschätzen und für spätere Entwicklungsphasen offen zuhalten. Innovation im Rahmen von Organisationsentwicklung nutzt somit den struktu-rellen Leistungsvorteil systemisch gesteuerter Entwicklungsverläufe. Sie folgt dabei alsPrinzip einem evolutionstheoretischen Verständnis: Sobald Innovation nicht mehr alsein von persönlicher Kreativität abhängiger Vorgang verstanden wird, sondern eineproduktive Prozessstruktur bietet, ist sie nicht mehr allein an die subjektive Intentiona-lität individueller „Innovatoren“ gebunden. Sie beruht vielmehr auf einer organisatio-nalen Verfahrenslogik, die hier als „prozessuale Innovation“ bezeichnet wurde. Inso-weit derartige Innovationsverfahren innerhalb struktureller Suchbewegungen strategi-scher Bestandteil einer zielgenerierenden Organisationsentwicklung sind, bekommtman es mit „Veränderungen höherer Ordnung“ zu tun.2 Innovationsprozesse beschrän-ken sich nicht mehr auf abschließbare Entwicklungsaufgaben, sondern erhalten übervielgliedrige Entwicklungsketten eine Reichweite, die über den Horizont des zunächstAntizipierbaren hinausgeht. Sie bieten somit eine prozesstheoretische Antwort auf diezentrale Problematik spätmoderner Organisation, nämlich auf den planvoll bestimm-baren Umgang mit Unbestimmtheit. Innovation wird in diesem radikalen Verständniszum Bestandteil einer organisationalen Entwicklungslogik, die lineare Steuerungskon-zepte und Managementmodelle kontrollierender „Zukunftsbewältigung“ überschrei-tet. Theoretisch wird dabei Anschluss gesucht an eine im Entstehen begriffene Evoluti-onstheorie sozialer Strukturbildung, wie sie bisher u. a. von Donald T. Campbell undKarl Weick ansatzweise als Modell der „soziokulturellen Evolution“ ausgearbeitetwurde (vgl. Heyes/Hull 2001; Weick 1985, S. 174 ff.; Carle 2000, S. 327 f.). Es be-schreibt das Zusammenspiel der drei Prozesse „Variation“ – „Selektion“ – „Retention“.

3.4 Fazit

Strukturelle Innovationsfähigkeit von Weiterbildungsentwicklungen als Richtziel päd-agogischer Organisationsberatung kann somit als methodisch initiierter und begleite-ter Übergang von

2 Lerntheoretisch ließe sich hier an G. Bateson und sein Konzept logischer Kategorien des Lernens und der Kom-munikation im Rahmen einer Theorie logischer Typen anschließen (vgl. Bateson 1981).

Schäffter: Erwachsenenpädagogische Innovationsberatung

Page 62: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

62 REPORT (27) 2/2004

• produktgebundener zu prozessualer Innovation,• personenabhängiger zu sozialkultureller Veränderungsdynamik,• inkrementaler Neuheit zur Bearbeitung zukünftiger Unbestimmtheit

verstanden werden. Jede der drei Übergangsdimensionen bietet für sich bereits einenanspruchsvollen Kontext für die Ausarbeitung von Beratungskonzepten. In ihrer Ge-samtheit lassen sich die Dimensionen, sowie die in ihren polar entgegen gesetztenEinzelpositionen als Analyseraster für epochalen Strukturwandel der Innovationsfähig-keit in Organisationen verwenden. Sie erfüllen hierdurch eine analytische Orientie-rungsfunktion und bieten Möglichkeiten einer praktischen Verortung ausgewählterAnsätze von Innovation. Man kann allerdings davon ausgehen, dass empirisch vor-findbare Ansätze der Organisationsberatung nicht gleichzeitig allen drei Dimensionendes Übergangs gerecht werden können. Dies verbietet ihre überfordernde Komplexitätund auch die Langfristigkeit der notwendigen Entwicklungsverläufe. Dennoch ist dasRaster geeignet, die gegenseitige Abhängigkeit der Entwicklungen als Wechselseitig-keit zumindest konzeptionell in Rechnung zu stellen und im Beratungsverlauf zu be-rücksichtigen.

Literatur

Bateson, G. (1981): Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation. In: ders. (Hrsg.):Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M., S. 362–399

Carle, U. (2000): Was bewegt die Schule? Baltmannsweiler, S. 312 ff., 327, 328

Günther, G. (1980): Die historische Kategorie des Neuen. In: ders. (Hrsg.): Beiträge zur Grund-legung einer optionsfähigen Dialektik. 3. Band. Hamburg, S. 183–210

Heyes, L./Hull, D. L. (Hrsg.) (2001): Selection Theory and Social Construction. Albany

Kneer, G. (2001): Organisation und Gesellschaft. Zum ungeklärten Verhältnis von Organisati-ons- und Funktionssystemen in Luhmanns Theorie sozialer Systeme. In: Zeitschrift für Sozi-ologie, H. 6, S. 407–428

Krüggeler, M./Gabriel, K./Gebhard, W. (Hrsg.) (1999): Institution, Organisation, Bewegung.Sozialformen der Religion im Wandel. Opladen

Küchler, F.v./Schäffter, O. (1997): Organisationsentwicklung in Weiterbildungseinrichtungen.Frankfurt a.M.

Lieckweg, T. (2001): Strukturelle Koppelung von Funktionssystemen „über“ Organisation. In:Soziale Systeme, H. 2, S. 267–289

Mezirow, J. (1997): Transformative Erwachsenenbildung. Baltmannsweiler

Ritter, J./Gründer, K. (Hrsg.) (1976): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4. Stich-wort Innovation. Basel, S. 391–391

Schäffter, O. (1987): Organisationstheorie und institutioneller Alltag der Erwachsenbildung. In:Tietgens, H. (Hrsg.): Wissenschaft und Berufserfahrung. Bad Heilbrunn, S. 147–171

Schäffter, O. (1993): Die Temporalität der Erwachsenenbildung. Überlegungen zu einer zeit-theoretischen Rekonstruktion des Weiterbildungssystems. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 3,S. 443–462

Beiträge

Page 63: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

63REPORT (27) 2/2004

Schäffter, O. (1994): Zwischen Einheit und Vollständigkeit. Weiterbildungsorganisation – einlocker verkoppeltes Netzwerk. In: Hagedorn, F. u.a. (Hrsg.): Anders arbeiten in Bildung undKultur. Kooperation und Vernetzung als soziales Kapital. Weinheim/Basel, S. 77–92

Schäffter, O. (1997): Lob der Grenze. Grenzüberschreitendes Lernen im Kontextwechsel. In:ders. (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Berlin (Humboldt Universität)

Schäffter, O. (2001): Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Zur Grundlage einerTheorie der Institutionalisierung. Baltmannsweiler

Schäffter, O. (2004): Auf dem Weg zum Lernen in Netzwerken. Institutionelle Voraussetzungenfür lebensbegleitendes Lernen. In: Brödel, R. (Hrsg.): Weiterbildung als Netzwerk des Ler-nens. Bielefeld

Scherf, M. (2002): Beratung als System. Zur Soziologie von Organisationsberatung. Wiesbaden

Schumpeter, J. A. (1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen

Tacke, V. (Hrsg.) (2001): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Wiesbaden

Vogel, N. (Hrsg.) (1998): Organisation und Entwicklung der Weiterbildung. Bad Heilbrunn

Weber, K. (2003): Innovation und Evaluation in der beruflichen Weiterbildung. Anmerkungenzu einem schwierigen Verhältnis zwischen zwei Praktiken. In: Gogolin, I./Tippelt, R. (Hrsg.):Innovation durch Bildung. Beiträge zum 18. Kongress der DGfE. Opladen, S. 422–436

Weick, K. E. (1976): Educational Organizations as Loosely Coupled Systems. In: AdministrativeScience Quaterly, S. 1–19

Weick, K. E. (1985): Der Prozess des Organisierens. Frankfurt a.M., S. 174 ff.

Weick, K. E. (1995): Sensemaking in Organizations. Thousand Oaks

Schäffter: Erwachsenenpädagogische Innovationsberatung

Page 64: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

64 REPORT (27) 2/2004

Felicitas von Küchler

Erprobung von Innovation und Entwicklung der pädagogischenProfessionalität des Beratersystems1

Die zentralen Begriffe des rahmengebenden bildungspolitischen Programms werdendargestellt und die impliziten Ansprüche an Innovationsberatung sowie die imKonzept der wissenschaftlichen Begleitung entwickelten Arbeitsprinzipien für dieUnterstützung der Innovationsberatung skizziert. Vor dem Hintergrund des aktuellensozialwissenschaftlichen Beratungsdiskurses erfolgt eine erste Verortung desBeratungskonzepts, danach werden die empirischen Konzepte und Erfahrungen von„Innovationsberatung“ beschrieben und es wird eine erste zusammenfassende„Deutung“ vorfindlicher Profile von Beratung vorgenommen.

1. „Lernen in Weiterbildungseinrichtungen“ als Teil des Forschungs- undEntwicklungsprojekts „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ – zentrale Begriffe

Im Rahmen der Projektlinie „Lernen in und von Weiterbildungseinrichtungen des Pro-jekts „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ bestand zum ersten Mal die Gelegenheit,ein Beratungskonzept für die Organisationsentwicklung von (beruflichen) Weiterbil-dungseinrichtungen zu entwickeln und zu erproben, das sich von anderen Organisati-onsberatungskonzepten in der spezifischen Weise unterscheidet, dass es weder aufdem Prinzip der Verallgemeinerung „guter Praxis“ beruht, noch sich (allein) einer be-stimmten „Beratungsschule“ verpflichtet fühlt, sondern erwachsenenpädagogisch fun-diert ist.

„Lernkultur Kompetenzentwicklung“ stellt den Kompetenzbegriff in den Mittelpunkt,der den dispositiven Charakter vorhandenen Wissens betont, das von Subjekten inder jeweiligen Situation eingesetzt werden kann, und mit dem sie zielbezogen selbstorganisiert Neues hervorbringen können (vgl. Erpenbeck/Heyse 1999, S. 162). Ler-nen wird als Erweiterung und Vertiefung dieses Wissens begriffen (vgl. Erpenbeck/Sauer 2000, S. 314). Eine neue Funktion beruflicher Weiterbildungseinrichtungen be-steht in der professionellen Unterstützung und Förderung von selbstorganisiertemLernen. Dies bezieht sich sowohl auf den Bereich ihrer Angebote als auch auf die

1 Dieser Beitrag war ursprünglich als zweiter Teil eines gemeinsamen Aufsatzes mit Ortfried Schäffter konzipiert.Beide Teile werden nun einzeln abgedruckt, beziehen sich aber theoretisch und empirisch auf die wissenschaft-liche Begleitung von Gestaltungsprojekten, die Personal- und Organisationsentwicklungskonzepte zur Förde-rung der Innovationsfähigkeit von beruflichen Weiterbildungseinrichtungen erproben und im Kontext des For-schungs- und Entwicklungsprogramms „Lernkultur Kompetenzentwicklung“, Bereich „Lernen in und von Wei-terbildungseinrichtungen“ angesiedelt sind. In diesem Aufsatz steht die Darstellung der empirischenErfahrungen im Vordergrund, unter Rückgriff auf die theoretischen Unterscheidungen von O. Schäffter in „Päd-agogische Innovationsberatung“.

Page 65: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

65REPORT (27) 2/2004

internen, strukturellen Veränderungen von Weiterbildungseinrichtungen als Teil ei-ner Lerninfrastruktur für selbstorganisiertes Lernen und Kompetenzentwicklung. Die-se neue Lerninfrastruktur wird als Geflecht unterschiedlicher Lernmöglichkeiten, Lern-orte, und Lerninstitutionen2 gesehen, wobei der Prozess ihrer Herausbildung als In-frastruktur als offener Prozess aufgefasst wird, der nicht zentral verordnet und gesteuertwerden kann, sondern die Eigenanstrengungen und -entwicklungen der beteiligtenAkteure verlangt.

Die geförderten Projekte, die Gestaltungsprojekte, zielen darauf, die eigenverant-wortlichen Aktivitäten von Weiterbildnern und Weiterbildungsorganisationen bei derVeränderung ihres Leistungsspektrums zu unterstützen, wobei die Art und Richtungdieses Prozesses als entwicklungsoffener Suchprozess aufgefasst wird. Eine weiterezentrale Annahme ist die „Diffusionskraft“ der angestrebten neuen Lernkultur, „dieüber das Agieren ihres Personals in den Betrieben, Kommunen und Regionen“ Brei-tenwirkung bekommt (Aulerich 2003, S. 200). Wesentlich für die Grundstruktur derProjektlinie ist es, eine kompetenzorientierte Organisationsentwicklung beruflicherWeiterbildungseinrichtungen zu unterstützen, die in eine neue Lernkultur selbstorga-nisierten Lernens eingebettet ist. Der Kompetenzansatz bleibt trotz aller berechtigtenKritik jedoch bezogen auf den Gegenstand „berufliche Weiterbildungseinrichtungen“,die sich, als System und als personale Akteure, selbst entwickeln, um ihre Funktionfür ihre Adressaten besser wahrnehmen zu können, von unbestreitbarer Attraktivität.Der Kompetenzansatz hat sich in der Weiterbildung im Hinblick auf bestimmte Ziel-gruppen als erfolgreiche Strategie etabliert, indem er „die Entwicklung eines subjek-tiven Potenzials zum selbstständigen Handeln in unterschiedlichen Gesellschaftsbe-reichen“ (Arnold 2001, S. 176) anzielte und sich dadurch von einer Qualifikations-vermittlung abgrenzte, die selbstgesteuerte Problemlösungskompetenz eher zufälligin den Blick nahm.

2. Programmatischer und konzeptioneller Rahmen für Organisationsentwicklung undOrganisationsberatung

Die zentrale Entscheidung der Projektlinie „Personal- und Organisationsentwicklung“bestand darin, Organisationsveränderungen als offene Such- und Entwicklungsprozes-se aufzufassen und als weitere Rahmenbedingung lediglich die strukturelle Vielfaltberuflicher Weiterbildungseinrichtungen zu berücksichtigen3.

2 Im Rahmen der konzeptionellen Anlage und des Entstehungshintergrunds des Projekts kommt beruflicher Wei-terbildung „naturgemäß“ eine besondere Funktion zu.

3 Aufgefordert zur Teilnahme waren Einrichtungen beruflicher Weiterbildung, die ihre Organisationsentwicklungin Form selbstdefinierter Veränderungsvorhaben konkretisieren konnten und zur Kooperation untereinander ineinem Verbund der Projekte sowie mit der wissenschaftlichen Begleitung bereit waren. Diejenigen Projekte,die zum Projekt zugelassen wurden, erhielten Personalkostenzuschüsse für so genannte „Innovationsberater“,die die Einrichtung über eine maximale Dauer von vier Jahren begleiten. Sowohl die Einrichtungen als auch dieInnovationsberater konnten ihr jeweiliges Pendant im Rahmen des Bewerbungsverfahrens mit vorschlagen.

von Küchler: Pädagogische Professionalität des Beratersystems

Page 66: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

66 REPORT (27) 2/2004

2.1 Prozessuales Entwicklungs- und Beratungsverständnis

Es wurden weder bestimmte Konzepte der Organisationsveränderung verlangt nochgab es Einschränkungen bei den Orientierungen von Organisationsberatung und de-ren Umsetzung. Innovationsberatung definierte sich von Seiten des Projekts also auchnicht in Anlehnung an bestimmte Praxen bzw. Schulen von Organisationsberatung,sondern lediglich durch die Zielperspektive einer Organisations- und Lernkulturverän-derung, die jeweils im Hinblick auf konkrete Organisationen im Sinne eines selbstdefinierten Projekts beschrieben wurde. Es wurde lediglich von einem prozessualenEntwicklungs- und Beratungsverständnis mit explorativer Grundintention ausgegan-gen. Innovationsberatung hatte die „unbequeme“ Freiheit, Ziele und Verfahren derangestrebten Organisationsveränderung selbst zu definieren, zu organisieren und imProzessverlauf zu re-definieren. Dabei gaben die zentralen Begriffe des Projekts wieKompetenzentwicklung, Lernkultur und selbstgesteuertes Lernen einen, zudem nochweit gefassten, Korridor vor.

2.2 Zielgenerierende Organsiationsentwicklung

„Offene Entwicklungsprozesse“ und nicht inhaltlich vorstrukturierte Zielvorgaben ent-sprechen den Bedingungen einer „reflexiven Moderne“ (Beck/Giddens/Lash 1996) bzw.den Unbestimmtheiten einer Transformationsgesellschaft (Schäffter 1998). Die Kon-zeption der Projektlinie „Organisationsentwicklung“ orientierte sich an einer „offe-nen“ Konzeption spätmoderner gesellschaftlicher Entwicklung und entsprach ihr miteinem offenen Zuschnitt. Sie entspricht dem modernen Typus bildungspolitischer Pro-jekte, die nicht mehr die Umsetzung eines vorgegebenen politischen Ziels in konkreteHandlungsfelder fordern, sondern Modellversuche initiieren, die als Mitakteure (Su-pervisionsstaat) die Programmatik in einem „Aussteuerungsprozess“ den Bedingungeneines Handlungskontextes anpassen und sie im Sinne einer lebensweltlichen Zielge-nerierung, d. h. einer Zielfindung und Zielentwicklung, konkretisieren4.

3. Konzept und „Setting“ der wissenschaftlichen Begleitung: „Ermöglichung“von Innovationsberatung

Dieser offene Kontext verlangte nach einem spezifischen „Setting“ der wissenschaftli-chen Begleitung. Die aktuellen, in innovativen und auf Suchbewegungen ausgerichte-ten Projekten angesiedelten Begleitforschungskonzeptionen sind eng mit dem jeweili-gen Forschungsgegenstand und den Projekt- bzw. Forschungszielen verknüpft. Pro-zessbezogene wissenschaftliche Begleitung soll dabei die für Innovationen erforderliche

4 Das gilt in jeweils abgewandelter Form auch für die Projekte „Lernende Regionen“ und „Lebenslanges Lernen“.Diese Zielgenerierung als Suchbewegung im Sinne Weicks „meint daher, dass die Konstitution und Formulie-rung explizierbarer Projektziele erst das Ergebnis eines tentativ angelegten Klärungsprozesses ist …“ (Schäff-ter 2003, S. 4).

Beiträge

Page 67: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

67REPORT (27) 2/2004

Wissensbasis erzeugen bzw. aufbereiten, Prozesse transparent werden lassen, den be-teiligten Akteuren einen Orientierungsrahmen vermitteln und insgesamt zum adäqua-teren gegenstandsbezogenen Handeln führen (vgl. Brödel u. a. 2003). In ihren Vorge-hensweisen lassen sie sich idealtypisch in zwei „Stränge“ bündeln. Der eine Ansatzorientiert sich an Handlungsforschung und damit an einer engen Verflochtenheit mitdem Feld, in der Absicht, Suchbewegungen und Entwicklungsprozesse mit anzusto-ßen, zu unterstützen und mit den Akteuren reflexiv zu bearbeiten. Der andere Ansatz,klassisch und stärker evaluativ orientiert, arbeitet mit einer eher Distanz wahrendenForschungshaltung, die darauf abzielt, Praxismuster zu erkennen und zu beschreiben.Eine Auswertung der unterschiedlichen Konzepte kommt zum Ergebnis, „dass in aufInnovation ausgerichteten Projekten, … ein besonderer Reflexions- und Unterstützungs-bedarf entsteht. Dieser muss, in welcher Form auch immer, angemessen berücksichtigtwerden“ (Brödel u. a. 2003, S. 207 ff.).

3.1 Integration von Reflexion und wissenschaftlicher Begleitung

Im hier beschriebenen Projektkontext ist der dem Forschungsgegenstand „Organisati-onsentwicklung in beruflichen Weiterbildungseinrichtungen“ adäquate Zugang in derIntegration der Reflexionsfunktion in das Design der wissenschaftlichen Begleitung zusehen. Nur auf diesem Wege lassen sich zureichend präzise Beschreibungen aus einer„Innenperspektive“ heraus gewinnen, die theoretisch-kategoriale Forschungsergebnis-se auf der Ebene des Anschlusses an „Organisations- und Beratungstheorien“ ermögli-chen.5

Das Konzept der wissenschaftlichen Begleitung, das den im Folgenden dargestelltenErfahrungen und Ergebnissen einen Rahmen gibt, bezieht sich inhaltlich auf eine The-orie struktureller Transformation (Schäffter 2001) und orientierte sich im Design aneinem Handlungsforschungsparadigma mit qualitativen Forschungsinteressen. ZuGrunde gelegt wurde der Strukturierungsverlauf einer zieloffenen Transformation, dersich als Übergangsbewegung charakterisieren lässt von einem nicht mehr tragfähigenAusgangspunkt A hin zu einem Zustand Bx in zahlreichen Varianten in einem Mög-lichkeitsraum im Sinne diffuser Zielgerichtetheit.

3.2 Selbstanwendung als konzeptionelles Prinzip

Die fundierenden konzeptionellen Annahmen des Designs der wissenschaftlichenBegleitung sind (vgl. Götz u. a. 2003):• die Selbstanwendung der in der Beratung vertretenen pädagogischen Prinzipien

5 Zu Beginn des Modellversuchs wurden zwei differente wissenschaftliche Begleitforschungsansätze etabliertund bestimmten Gestaltungsprojekten zugeordnet, die der oben dargestellten Unterscheidung von Handlungs-forschungs- bzw. Evaluationsansatz folgen. Nach zwei Jahren wechselte in einem Projektbereich das Team derwissenschaftlichen Begleitung.

von Küchler: Pädagogische Professionalität des Beratersystems

Page 68: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

68 REPORT (27) 2/2004

entwicklungsbegleitender Unterstützung. Dabei werden jeweils differente Hand-lungsfelder unterschieden und die je nächste Ebene als „Reflexionsinstanz“ kon-zipiert (WBE à Innovationsberater; Innovationsberater à wissenschaftlichen Be-gleitung; wissenschaftliche Begleitung à wissenschaftliche Leitung).

• Die Annahme, dass sich auf jeder Handlungsebene Prozesse reflexiver Selbststeu-erung vollziehen und exemplarisch Entwicklungen, Strukturprobleme bearbeitetund damit einer Lösung näher geführt werden. Jede dieser Handlungsebenen hatverantwortliche Akteure, die reflexiv beraten und reflexiv beraten werden. Ent-wicklungs- und Klärungsprozesse können sich in den unterschiedlichen Hand-lungsebenen zeigen, ihre Bearbeitung kann so exemplarischen Charakter gewin-nen und für die anderen Ebenen (Spiegelungsphänomen) nutzbar gemacht undausgewertet werden.

• Die Annahme, dass die Verlaufsstruktur der Projektentwicklungen auf den jewei-ligen Handlungsebenen mit ihren Akteuren sich am methodischen Prinzip des„Spiralcurriculums“ (vgl. Schäffter 1982) orientiert und eine zielgenerierende Pro-zesssteuerung ermöglicht.

4. Innovationsberatung: strukturelles Arrangement und Entwicklungsbegleitungpersonaler Kompetenz

Wir gehen davon aus, dass das strukturelle Arrangement, in dem Innovationsbera-tung in dem Projektkontext operiert, im eigentlichen Wortsinne die „Innovationsbe-ratung“ ist, nicht das, was der einzelne Berater oder das einzelne Mitglied der wis-senschaftlichen Begleitung tut. Diese These soll im Folgenden begründet werden,bevor auf die beiden konstitutiven Elemente der Innovationsberatung eingegangenwird. Vor dem Hintergrund der nicht stattgefundenen bzw. gescheiterten Professio-nalisierung der Organisationsentwicklung (vgl. Trebesch 2000; Kühl 2001) muss trotzdes zu verzeichnenden Booms von Beratungsanbietern von einer eher dilemmati-schen oder auch Übergangssituation der Organisationsberatung insgesamt ausgegan-gen werden (vgl. Pohlmann 2002; Moldaschl 2001). Die Problemfeststellungen imUnternehmensbereich beziehen sich sowohl auf die unklaren oder sogar ambivalen-ten Perspektiven nach der Erosion des organisationalen Leitbildes klassischer Moder-nisierung (vgl. Moldaschl 2001; Pohlmann 2002), dem normativ-rationalen „Maschi-nenmodell“, auf die widersprüchlichen Außen-Erwartungen an Organisationsbera-tung im Spannungsfeld „zwischen Sicherheit und Offenheit, zwischen Intention undEvolution, zwischen Selbstorganisation und Organisation“ (Pohlmann 2002, S. 342),auf die ungeklärte Orientierungsproblematik der Organisationsentwicklung zwischenpersonen- und systemstrukturorientierten Ansätzen (vgl. Kühl 2001), auf die ungelös-ten praktischen und theoretischen Probleme der dominierenden systemischen bzw.systemtheoretischen Beratungsansätze mit ihrer nicht geleisteten Integration von Sys-tem- und Subjektperspektive (vgl. Moldaschl 2001; Pongratz 2000; Schäffter 1998;Hartz 2002).

Beiträge

Page 69: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

69REPORT (27) 2/2004

4.1 Zur Professionalität von Organisationsberatung

Für die Weiterbildung gilt auch vier Jahre nach einer zuletzt vorgenommenen resümie-renden Einschätzung im REPORT und trotz einer Vielzahl von Veröffentlichungen undStudien, die sich mit der betriebsförmigen bzw. organisationalen Praxis von Weiterbil-dung auseinander setzen (vgl. Gieseke 2001; Kil 2003; Schiersmann 1998), dass sichweder eine spezifische Variante weiterbildungsspezifischer Organisationsberatungherausgebildet hat, noch dass dies zweifelsfrei als wünschenswerte Entwicklung be-trachtet wird (vgl. Meisel 2000). Zumindest als Zielperspektive skizziert Schiersmanndie Konturen eines für die Weiterbildung geeigneten Ansatzes systemischer Prozessbe-ratung, der „personen- und institutionsbezogene Elemente miteinander verknüpft undauf einem integrierten Ansatz basiert“ (Schiersmann 2000, S. 25). Bisher ist noch keinweiterbildungsspezifisches Curriculum einer beratungsbezogenen (Zusatz-)Qualifizie-rung in Sicht bzw. in der Profession Weiterbildung akzeptiert, statt dessen beherrschteine „bunte Vielfalt“ von „Beratungsfortbildungen“ die Szene.

Zurzeit kann also weder in der Weiterbildung noch in der allgemeinen Organisations-beratung von einer gesicherten Professionalität der Organisationsberatung mit einerentsprechenden Wissensbasis, einer professionellen Methodenbeherrschung und ei-genständigen Formen der Selbstevaluation und der Sicherung von Qualitätsstandardsausgegangen werden, die Grundlage wäre für eine klare Bestimmung der personalenKompetenzen von Innovationsberatern. Nimmt man diese Ausgangssituation ernst,dann kann sich der Fokus einer zu entwickelnden und zu begleitenden Innovationsbe-ratung nicht auf die personalen Kompetenzen der Berater allein beziehen, sondernmuss in dieser doppelten „Übergangssituation“ strukturelle Vorkehrungen für eineWeiterentwicklung der oben genannten Elemente treffen.

4.2 Pädagogische Professionalität des „Beratersystems“

Das strukturelle Arrangement zeichnet sich dadurch aus, dass das beraterische Han-deln durch eine interne Ausdifferenzierung hin zu einem System der Berater („Berater-system“)6 eine selbstreflexive Strukturierung und methodische Rahmensetzung erfährt.Hierdurch wird erreicht, dass die Wahrnehmung und kompetente Auswertung desBeratungshandelns über eine individuell/personale Perspektive hinausgeht und durcheine interne systemische Rückkoppelung erweitert wird. Der zu beratenden Organisa-tion („Klientensystem“) steht nun nicht mehr ein Individuum als Einzelberater, sondernebenfalls ein soziales System („Beratersystem“) gegenüber. Die Entwicklung eines feld-spezifisch qualifizierten Beratersystems beruht auf dem komplementären Zusammen-

6 Es wird in Anschluss an Scherf (2002) begrifflich unterschieden zwischen:Beratersystem als Kollegium der Einzelberater und ihrer erwachsenenpädagogischen Unterstützungsstruktur;Klientensystem ist die Weiterbildungseinrichtung als „pädagogische Organisation“ entsprechend der konzepti-onell zugrunde gelegten Organisationstheorie und Beratungssystem ist die je nach Beratungskonzeption ge-staltete Beziehungsdynamik zwischen Beratersystem und Klientensystem.

von Küchler: Pädagogische Professionalität des Beratersystems

Page 70: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

70 REPORT (27) 2/2004

spiel zwischen den Innovationsberatern als kollegialer Gruppe einerseits und der wis-senschaftlichen Begleitung als ihrer erwachsenenpädagogisch orientierten Unterstüt-zungsstruktur andererseits. Unter diesem Aspekt gehört die wissenschaftliche Beglei-tung mit zum „Beratersystem“ des Verbundprojekts. In Tabelle 1 werden die Staffelungund die Funktions- und „Verantwortungsteilung“ zwischen wissenschaftlicher Beglei-tung und Innovationsberatern verdeutlicht.

4.3 Funktionen von Innovationsberatung

Die unterschiedlichen Funktionsbereiche von Innovationsberatung umgreifen alleAufgabenfelder: von der konzeptionellen Anbindung an die Projektlinie „Organisati-onsentwicklungskonzepte“ über die Verpflichtung, in einem Verbund zusammenzuar-beiten bis zu den Ebenen von Weiterbildungseinrichtung und auswertender Forschung.Dabei haben die wissenschaftliche Begleitung und die „Innovationsberater“ unter-

Tabelle 1: Funktionen von Innovationsberatung

Ebenen derInnovationsberatung

Ebene der Projektlinie„OE-Konzepte“

Verbund der Innovations-berater (intern/extern) derProjektstandorte

Ebene der WB-Einrichtung

Ebene der Forschung/Theorieentwicklung

Wissenschaftliche Begleitung

Unterstützung der „Aussteuerungzwischen bildungspolitischen undlebensweltlichen Ansprüchen“ –Konkretisierung der Rahmen-setzungen

Strukturellen Rahmen/Vorausset-zung für Reflexivität schaffen:• theoretische Deutungen anbie-

ten,• Bezüge herstellen,• Selbstorganisation ermöglichen,• Auswertung und Selbstevaluation

ermöglichen• Implizites Wissen explizit machen

• Deutung und Reflexion von As-pekten des Beratungsprozessesmit Beratern

• Beratung der BeraterBeratungskompetenz, fachlicheSupervision

• Gemeinsame Auswertung

Organisationstheorien für Weiterbil-dungseinrichtungen• Anschlüsse und Konkretisierun-

gen• Beratungstheorien für

WB-Einrichtungen• Ausgewertete Erfahrungen

Innovationsberater

Entwicklung eines projektförmigenKonzepts von Organisations-entwicklung und Durchführung des„Zielgenerierungs-Prozesses“ in denWB-Einrichtungen

Beratungskonzepte, -erfahrungen,-methoden der kollektiven Reflexionzugänglich machen• Hintergrundannahmen explizieren• Kollegiale Beratung wahrnehmen• Weiterentwicklung der Bera-

tungsreflexion

• Organisation, Prozesssteuerungund (Selbst)Evaluation der Orga-nisationsveränderung

• Herstellen reflexiver Anteile imVeränderungsprozess

• Veränderungen der Organisationbeschreiben (z. B. Organisations-verständnis)

• In Bezug auf die Perspektive desProjekts Lernkultur, SOL, Prozes-se interpretieren/evaluieren

• Weiterentwicklung der eigenenProfessionalität beschreiben

Beiträge

Page 71: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

71REPORT (27) 2/2004

schiedliche „Rollen“ in dem oben genannten Beratersystem auf den verschiedenenEbenen und differente prioritäre Handlungszugänge: wissenschaftliche Begleitung z. B.berät nicht die Weiterbildungseinrichtungen sondern die „Innovationsberater“. Inno-vationsberater sind dann umgekehrt diejenigen, die die Dokumentation organisations-interner Prozesse der wissenschaftlichen Begleitung zur Verfügung stellen und dadurchmit ihren Perspektiven und Deutungen an der Auswertung der Prozesse beteiligt sind.

4.4 „Beratersystem“ als professionelle Unterstützungsstruktur

Die komplementäre Kooperation zwischen wissenschaftlicher Begleitung und Inno-vationsberatern findet ihren Ort in den gemeinsamen Treffen, die als Anforderung desProjekts verpflichtenden Charakter besitzen. Diese Treffen sollen die Berater im Netz-werk als Unterstützungssystem zusammenschließen, sie ermöglichen im besten Falldie Entwicklung einer gemeinsamen „community of practice“ und dort erfolgt die the-oretische, deutende und reflektierende „Kompetenzentwicklung“ der Innovationsbe-ratung. Darüber hinaus gibt es die dialogischen Treffen zwischen wissenschaftlicherBegleitung und den einzelnen Projektstandorten, die sich thematisch sowohl als Pro-zessbegleitung, als auch als Beratungs- und Auswertungsangebot verstehen.

Die Konstellation der Innovationsberatung umfasst unterschiedliche Kombinationenvon interner und externer Beratung. Ihre beraterische Kompetenz haben sich die Inno-vationsberater in unterschiedlicher Weise erworben, durch berufsbegleitende Fortbil-dungen in zusätzlich qualifizierenden Beratungsansätzen und -methoden unterschied-licher Provenienz, durch langjährige Praxis als „Berater“ und durch entsprechende(innerorganisationale) Positionen und Erfahrungen in der Personalentwicklung. Damitentsprechen sie im Querschnitt den durchschnittlichen Qualifikationen von Organisa-tionsberatern (vgl. Trebesch 2000; Kühl 2001).

5. Verständnis von Innovation

Orientiert man sich an der heuristischen Unterscheidung von Schäffter (vgl. den vor-hergehenden Beitrag) zwischen einem frühmodernen Neuerungstyp auf der Grundla-ge personengebundener Dynamik und produktgebundener Innovation sowie einerspätmodernen Konstellation mit einer sozialkulturellen Dynamik und prozessorien-tierter Innovation, erhält man zwischen diesen polaren Begriffen ein erstes Kontinuum,das sich im Hinblick auf die Einordnung konkreter Vorhaben noch beträchtlich ausdif-ferenzieren lässt. Die zu Beginn der Modellversuche von den Gestaltungsprojektendargestellten Ziele und Vorhaben bezogen sich im Wesentlichen auf Optimierungs-und Reorganisationsstrategien interner organisationaler Strukturen und Prozesse sowieauf Veränderungen des Leistungsprofils. Den konzeptionellen Vorstellungen war häu-fig eine instrumentalistisch-funktionalistisch „Alltagstheorie“ von Organisationen hin-terlegt, unter Ausblendung von Dimensionen der Organisation als soziales und kultu-

von Küchler: Pädagogische Professionalität des Beratersystems

Page 72: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

72 REPORT (27) 2/2004

relles System. Der Innovationsaspekt blieb im Kontext der jeweiligen organisationalenErwartungen: Innovativ war das, was aus der Perspektive der Weiterbildungseinrich-tung vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Entwicklungen als innovative Veränderungerschien. Legt man das begriffliche Raster von Schäffter:1. Übergang von produktgebundener zur prozessualer Innovation,2. Übergang von personengebundener zu sozial-kultureller Veränderungsdynamik

und3. Übergang von inkrementeller Neuheit zur Bearbeitung von zukünftiger Unbe-

stimmtheitzu Grunde, dann lassen sich die empirischen Prozesse – wenn auch in unterschiedli-cher Häufigkeit – allen Kategorien zuordnen. Die Mehrdeutigkeit der konkreten Pro-zesse lässt es allerdings nicht zu, sie eindeutig den Innovationsformen zuzuordnen.Dies ist, für sich genommen, bereits ein überraschendes Ergebnis der bisherigen analy-tischen Auswertung. In einem beträchtlichen Ausmaß haben sich die vermeintlich fes-ten Zielperspektiven und klar umschriebenen Ergebniserwartungen im Verlauf der Pro-jektzeit verändert – und nicht nur einmal – so dass im Rückblick auch Organisations-veränderungsprozesse mit vermeintlich klarer strategischer Ausrichtung einenmehrfachen Zielwandel durchlaufen haben. Zumindest in Ansätzen kann dies auchals ein Indiz dafür gewertet werden, dass die häufig geäußerte These einer „Moderni-sierungsblockade“ von Weiterbildungseinrichtungen sich durch unsere Erfahrungennicht bestätigen lässt.

6. Profile von Innovationsberatung

Es sollen hier zwei unterschiedliche Beratungsprofile, die sich auf die Innovationsty-pen eins und zwei beziehen, dargestellt werden.

6.1 Sozialkulturelle Innovation

In der ersten Variante entsprechen die Ausgangsbedingungen, die praktizierten Metho-den und das beraterische Selbstverständnis, das von der Organisation auch „nachge-fragt“ wurde, am ehesten dem bekannten Modell von Organisationsentwicklung (OE),mit seiner Herkunft aus Ansätzen der humanistischen Psychologie. Entwickelt wird einpartizipatives, die Mitarbeiter einbindendes und die gesamte Organisation erfassendesVeränderungsdesign, dessen Zielsetzungen nicht allein durch die Organisationsleitungdefiniert wurden sondern mehr oder weniger gemeinsam mit Mitarbeitern und Bera-tern entwickelt wurden. Die angestrebten Ziele bewegten sich im Rahmen der beste-henden Organisationskultur. In allen derartigen Veränderungsvarianten spielt das „Ab-arbeiten an einem neuen und gemeinsamen Organisationsverständnis“ eine Rolle, beidem es um neue Aspekte des Organisationsleitbildes, ein neues Verständnis der Dienst-leistungsfunktion der Weiterbildung geht und versucht wird, das normative Verständ-nis im Form eines reflexiven Kompetenzerwerbs der Mitarbeiter umzusetzen. Im Sinne

Beiträge

Page 73: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

73REPORT (27) 2/2004

der Unterscheidungsfunktion von Organisationstheorien kann man davon ausgehen,dass überhaupt ein funktional-differenziertes Organisationsverständnis erworben wer-den soll, das die zusammenschließenden Elemente stärkt und gleichzeitig dem Einzel-nen noch die Möglichkeit gibt, im Rahmen verbindlicher Orientierungen individuelleDifferenzierungen vorzunehmen, mit denen Perspektivenvielfalt gesichert wird.

Dieses „Profil“ entspricht dem Innovationstypus des Übergangs von einer personenge-bundenen zur sozialkulturellen Veränderungsdynamik. Die relative Häufung des Auf-tretens erklärt sich durch das in der Weiterbildung verbreitete Strukturmuster kleinerEinrichtungen, die über eine hohe Kommunikationsdichte verfügen und eine kreativeund durch soziale Kohäsion gekennzeichnete Organisationskultur hervorbringen.

6.2 Prozessuale Innovation

Den Gegenpol bilden alle diejenigen Ansätze der zweiten Variante, die sich als strate-gische Unterstützung der Leitungsperspektive verstehen und mit moderneren Produk-ten eine Neupositionierung der Einrichtung in einem komplexer gewordenen Umfelderreichen wollen. Sie lassen sich auf den Typus eins, den Übergang von einer produkt-gebundenen zur prozessualen Innovation beziehen und realisieren dies in differentenorganisationalen Kontexten, die, legt man die neoinstitutionalistische Organisations-theorie zugrunde, durch unterschiedliche soziale Umgebungen geprägt sind. Aus die-sem Grunde kommen jeweils Beratungskonzepte zum Einsatz, die sich u. a. an diesensozialen Leitinstitutionen ausrichten und ein Spektrum von partizipativen bis hin zustrategischen Ansätzen repräsentieren. Je „moderner“ der Organisationstypus ist, derdie Orientierung bietet, desto innovativer im definitorischen Sinne sind die entwickel-ten Prozesse, die eine Verstetigung von Innovation ermöglichen sollen. Sie reichenvon Netzwerkzusammenschlüssen bis zu Formen der Produktinnovation, die sich be-triebswirtschaftlicher Verfahren bedienen. Zwischen beiden Varianten gibt es keineprinzipiellen Bewertungsunterschiede sondern nur das Kriterium der situativen Ange-messenheit für den gegebenen Beratungsfall. Professionelle Qualitätssicherung vonInnovationsberatung hat diese Angemessenheit des jeweiligen Beratungsansatzes zureflektieren, damit sie im Beratungsprozess transparent werden kann. Gleichzeitig istdies auch ein Kriterium für wissenschaftliche Begleitung und Evaluation.

Literatur

Arnold, R. (2001): Stichwort: Kompetenz. In: Arnold, R./Nolda, S./Nuissl, E. (Hrsg.): Wörter-buch Erwachsenenpädagogik. Bad Heilbrunn/Obb., S. 176

Arnold, R. (2002): Von der Bildung zur Kompetenzentwicklung, In: REPORT. Literatur- undForschungsreport Weiterbildung, H. 49, S. 26–38

Aulerich, G. (2003): Der Projektbereich „Lernen in Weiterbildungseinrichtungen“. In: Zwei Jahre„Lernkultur Kompetenzentwicklung“: Inhalte – Ergebnisse – Perspektiven. QUEM-Report,H. 79, Berlin, S. 191–254

von Küchler: Pädagogische Professionalität des Beratersystems

Page 74: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

74 REPORT (27) 2/2004

Brödel, R./Bremer, H./Chollet, A. u.a. (2003): Zwischen-Bilanz und Perspektive. In: Brödel, R./Bremer, H./Chollet, A. u.a. (Hrsg.): Begleitforschung in Lernkulturen. Münster, S. 207–209

Erpenbeck, J./Heyse, V. (1999): Die Kompetenzbiographie. Edition Quem, Band 10. Münster/New York/München u.a.

Erpenbeck, J./Sauer, J. (2000): Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Lernkultur Kompe-tenzentwicklung“. In: Kompetenzentwicklung 2000, Lernen im Wandel – Wandel durchLernen. Münster/New York/München u.a., S. 289–335

Gieseke, W. (Hrsg.) (2003): Institutionelle Innensichten der Weiterbildung. BielefeldGötz, K./Hartmann, T./Weber, C. (2003): Unterstützungssystem für Organisationsberatung päd-

agogischer Dienstleistungsunternehmen. In: Lernen in Weiterbildungseinrichtungen. PE/OE-Konzepte. Berlin, S. 33–83

Hartz, S. (2002): Der Gewinn einer pädagogischen Perspektive im Kontext von Organisations-beratung. In: Beiheft zum REPORT. Dokumentation der Jahrestagung 2001 der Sektion Er-wachsenenbildung der DGfE, S. 220–230

Heuer, U./Botzat, T./Meisel, K. (Hrsg.) (2001): Neue Lehr- und Lernkulturen in der Weiterbil-dung. Bielefeld

Kil, M. (2003): Organisationsveränderungen in Weiterbildungseinrichtungen. BielefeldKühl, S. (2001): Professionalität ohne Profession. In: Degele, N./Münch, T./Pongratz, H. J. u.a.

(Hrsg.): Soziologische Beratungsforschung. Opladen, S. 209–237Meisel, K. (2000): Beratung von Weiterbildungsorganisationen. In: REPORT. Literatur- und For-

schungsreport Weiterbildung, H. 46, S. 61–70Moldaschl, M. (2001): Reflexive Beratung. In: Degele, N./Münch, T./Pongratz, H. J. u.a. (Hrsg.):

Soziologische Beratungsforschung. Opladen, S. 133–158Nuissl, E./Schiersmann, C./Siebert, H. (Hrsg.) (2000): REPORT. Literatur- und Forschungsreport

Weiterbildung. Beratung. H. 46Pohlmann, M. C. (2002): Organisationsentwicklung und Organisationsberatung im Zeichen

reflexiver Modernisierung. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung, H. 3, S. 339–353

Pongratz, H. J. (2000): System- und Subjektperspektive in der Organisationsberatung. In: Ar-beit, H. 1, S. 54–65

Sauer, J. (2002): Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Lernkultur Kompetenzentwicklung“.In: Dehnbostel, P./Elsholz, U./Meister, J. u.a. (Hrsg.): Vernetzte Kompetenzentwicklung. Berlin,S. 45–63

Schäffter, O. (1982): Institutionsberatung. Band 2. BaltmannsweilerSchäffter, O. (1999): Erwachsenenpädagogik – systemisch betrachtet. In: Beiheft zum REPORT.

Dokumentation der Jahrestagung 1998 der Kommission Erwachsenenbildung der DGfE,S. 103-112

Schäffter, O. (2001): Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Zur Grundlage einerTheorie der Institutionalisierung. Baltmannsweiler

Schäffter, O. (2003): Wissenschaftliche Begleitung im Spannungsfeld von Ordnungspolitik undOrganisationspolitik. Manuskript, Berlin

Scherf, M. (2002): Beratung als System. Zur Soziologie von Organisationsberatung. WiesbadenSchiersmann, C. (2000): Beratung in der Weiterbildung – neue Herausforderungen und Aufga-

ben. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 46, S. 18–32Trebesch, K. (Hrsg.) (2000): Organisationsentwicklung, Konzepte, Strategien, Fallstudien. Stutt-

gart

Beiträge

Page 75: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

75REPORT (27) 2/2004

Christiane Ehses/Rainer Zech

Gute Organisation – ein Beitrag zum Selbstverständnisder Weiterbildungsprofession

Auf der empirischen Basis der Analyse von Beratungsfällen sowie Gruppendis-kussionen mit Leitenden und Beratenden von Weiterbildungsorganisationen wurdenGütestandards für die Organisation von Weiterbildung herausgearbeitet, dieVoraussetzung sowohl für die Vergleichbarkeit von Einrichtungen als auch für derenBewertung durch interne und externe Evaluationen sowie durch Kunden seinkönnten. Der Aufsatz beginnt mit der Darstellung der Spezifik der Weiterbildungs-branche und versteht sich als ein Beitrag zum Selbstverständnis der Profession.

1. Vorbemerkung

Die Qualitätsdiskussion in der Weiterbildung tut sich schwer mit der Konsentierungvon Gütestandards, die überindividuell leitend für Organisation und Management inder Profession sein könnten. Dennoch ist eine Einigung in dieser Frage dringend not-wendig. Im Auftrag des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE) hat ArtSetBeratungsfälle analysiert, die in umfangreichem Material dokumentiert sind. Die Do-kumentensichtung führte zu dem Ergebnis, dass sich die Organisationsprobleme derWeiterbildungseinrichtungen weitgehend gleichen. Wichtiger war aber der Eindruck,dass das Handeln in den Organisationen von Modellvorstellungen geleitet wurde, dienicht in dem Material expliziert wurden, die aber für das Verstehen der Fälle unerläss-lich sind. Diese Erkenntnisse führten den Forschungsprozess zu einer erweiterten Vor-gehensweise. Mit Leitenden und Beratenden von Weiterbildungseinrichtungen wur-den Gruppendiskussionen durchgeführt und ausgewertet, denen die Frage „Was isteine gute Weiterbildungsorganisation?“ zu Grunde lag. In den Gruppendiskussionenwurde deutlich, dass die Praxis durchaus von qualitativen Modellvorstellungen, die sieauch explizieren können, geleitet wird. Die Problematik bestand hier eher darin, dassdiese Gütevorstellungen individuell vorgetragen wurden und nicht auf einem professi-onellem Konsens beruhten. Mit den Ergebnissen dieser Interviews sind wir erneut indie Analysen der Beratungsprozesse eingestiegen.

Auf der empirischen Basis dieser Gruppendiskussionen und der inhaltsanalytischenAuswertung von Organisationsentwicklungsfällen sowie angereichert durch Erfahrun-gen aus der Qualitätstestierung und durch theoretische Erkenntnisse wollen wir versu-chen, Vorschläge für Gütebestimmungen von Weiterbildungsorganisationen vorzule-gen. Beginnen wollen wir allerdings mit einigen Bemerkungen darüber, was die Bil-dungsbranche in ihrer Spezifik kennzeichnet und wie sie sich von anderen Bereichenunterscheidet.

Page 76: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

76 REPORT (27) 2/2004

2. Spezifikum von Weiterbildungsorganisation und Besonderheitender Weiterbildungsbranche

Was ist eigentlich das Spezifische von Erwachsenen- bzw. Weiterbildungsorganisati-onen? Das Besondere von Weiterbildungsorganisationen ist ihr spezifisches „Pro-dukt“, ihr „Gegenstand“, ihre „Leistung“ – eben Bildung. Diese verweist in ihrer Drei-einigkeit aus Persönlichkeitsentwicklung, Qualifizierung und demokratischer Inte-gration auf das Individuum, die Wirtschaft und das gesellschaftliche Zusammenlebeninsgesamt. Bildung zu „produzieren“ bedeutet Zukunftsfähigkeit für eine Gesellschaftzu produzieren. Dieser Zukunftsbezug erfordert allerdings ein Umdenken für dieWeiterbildungsorganisationen: weg von der Vermittlung von Bildungswissen an Indi-viduen, hin zu der Bildung von Wissen mit den Individuen. Dieses gebildete Wissenist in ein Wissen zweiter Ordnung, in reflexives Wissen der Individuen einzuordnen,welches das jeweils aktuelle, anwendungs- und nutzenbezogene Wissen in überge-ordnete Sinnstrukturen einzieht. So betrachtet sind Bildungsorganisationen Zukunfts-werkstätten der Wissensgesellschaft. Sie sind die grundlegendsten wissensbasierten„Produktionsstätten“, die eine Gesellschaft hat. Dafür müssen die Weiterbildungsor-ganisationen aber umlernen, sich von „Behörden“ zu kooperativen Netzwerken ent-wickeln, in denen in wechselnden Teams für wechselnde Bedarfe wechselndes Wis-sen generiert wird (vgl. Zech 2001). Eine Besonderheit der Branche „Bildung“ liegtin ihrem Gegenstand „Lernen“ begründet. Diese Besonderheit besteht darin, dassdas eigentliche „Produkt“, nämlich der Lernzuwachs, gar nicht vom Anbieter herge-stellt wird, sondern dass der Abnehmer – sprich der Lernende selbst – es in Eigenak-tivität herstellen muss. Der Lernende ist der eigentliche „Produzent“ von Bildung;seine Motivation und seine Aktivität entscheiden, ob der Lernprozess erfolgreich istoder nicht. Lehren ist deshalb auch nicht „Lernen-Machen“, sondern die Unterstüt-zung von Lernprozessen, welche die Subjekte selbstbestimmt und selbstgesteuert voll-ziehen. Fremdgesteuertes Lernen kann es per definitionem gar nicht geben; deshalbvollzieht sich Lernunterstützung auch nicht über die Benutzung eines „NürnbergerTrichters“, sondern nur und ausschließlich über die Gestaltung von Kontextbedin-gungen.

Schließlich liegt eine weitere Besonderheit von Weiterbildung in ihrem inhärentenVerhältnis von Normativität und Funktionalität. Normativität und Funktionalität gehö-ren bei Bildung zusammen wie zwei Seiten einer Medaille; sie berühren sich nie, abersie sind untrennbar verbunden. Bildung als gesellschaftliches Gut hat eine besondereQualität, die sich mit rein betriebswirtschaftlichen Indikatoren nicht ermessen lässt.Bildung ist ein Kollektivgut oder zumindest ein meritorisches Gut, d. h. ein Gut, dasöffentlicher Förderung bedarf, weil es sich rein marktwirtschaftlich nicht realisierenlässt, ohne seine gesellschaftlich förderliche Wirkung zu zerstören. Bildung, die aus-schließlich zu den Herstellungskosten und über Marktpreise realisiert wird, würdeunweigerlich zu einem Luxusartikel, den sich nur noch wenige leisten könnten. EineGesellschaft aber, die Bildung nicht als allgemeine Voraussetzung ihres Funktionierensverstünde, könnte wirtschaftlich kaum überleben. Die Normativität ist also in das Gut

Beiträge

Page 77: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

77REPORT (27) 2/2004

Bildung „eingebaut“, sie ist ihm inhärent. Sie muss diesem besonderen gesellschaftli-chen Gut gar nicht durch äußere politische Aufklärungsansprüche hinzugefügt werden– auch wenn dies lange Zeit verbreitet war. Wir erwähnten bereits oben, dass der Ler-nende seine eigenen Qualitätsentscheidungen fällt und dass diese Gütebewertungenletztinstanzlich sind. Darin kommt die ebenfalls inhärente Funktionalität von Bildungzum Ausdruck. Sie steckt in der Tatsache, dass Bildung eine Funktion im Leben desSich-Bildenden hat. Dieser entscheidet unhintergehbar, ob er den Eindruck hat, dassdie Mühen des Lernens sich für ihn lohnen oder nicht. Das heißt, der Lernende musseine Vorstellung haben, dass ihm das Lernen nutzt, dass es seine Handlungsfähigkeitzur Realisierung seiner Interessen, ergo seine Verfügung über individuelle relevantegesellschaftliche Lebensbedingungen, mithin seine Lebensqualität, erhöht. Diese in-härente Funktionalität von Bildung ist allerdings nicht zu verwechseln mit den Schwie-rigkeiten der Anbieterorganisationen, sich auf die Bedürfnisse ihrer Lernenden auszu-richten. So mögen Bildungsanbieter durchaus das Gefühl haben, sich durch Marktför-migkeit „verbiegen“ zu müssen. Dies allerdings spricht nicht gegen den Markt, d. h.die Abnehmer, sondern verweist auf eine nicht weit genug ausgebildete Sensibilität inder Umweltwahrnehmung der Weiterbildungsorganisationen, die ihren überkomme-nen „Kanon“ mit zeitgerechter Bildung für moderne Lerner verwechseln. Marktförmig-keit versus Aufklärungsethos ist daher die falsch verstandene Formulierung eines demGut Bildung inhärenten Widerspruchs von Normativität und Funktionalität, der nurdurch Lernerorientierung, d. h. durch das Ernstnehmen der tatsächlichen Wünsche,Interessen und Bedürfnisse der Menschen aufzulösen ist (vgl. Ehses/Zech 2001). Nor-mativität und Funktionalität sind keine äußerlichen und widersprüchlichen Zuta-ten der Organisation und Realisation von Bildung, sondern Bedingungen des Lernens.

3. Was ist eine gute Weiterbildungsorganisation?

Die folgenden Aussagen bündeln aus der erforschten Praxis extrapolierte Aspekte zueiner handlungsleitenden Idealvorstellung. Sie wollen im Sinne einer regulativen IdeeZieldimensionen und Kriterien für Entwicklungsprozesse liefern. Weiterbildung hat dieAufgabe, das durch die gesellschaftliche Dynamik notwendig gewordene lebenslangeLernen der Individuen in fachlicher, persönlicher und sozialer Hinsicht zu organisie-ren, anzuleiten und zu unterstützen. Im gesellschaftlichen Subsystem Weiterbildungarbeiten private und öffentliche Anbieter kooperierend und in wechselseitigem Wett-bewerb. Öffentliche Erwachsenenbildung bekennt sich dabei zu ihrem Auftrag, umfas-sende und vielfältige Weiterbildungsangebote für alle zugänglich zu machen. DieWeiterbildungsorganisation begreift sich hier als ein Ort des öffentlichen Diskurses,der Dialog und Auseinandersetzung ermöglicht. Sie sieht es als ihre Aufgabe, in allenThemenbereichen ein umfassendes Kooperationsnetz aufzubauen und als Kristallisati-onskern für eine Beteiligung möglichst vieler Gruppen an der Gestaltung der gesell-schaftlichen und kulturellen Entwicklung zu wirken. Sowohl programmbereichs- alsauch themen- und projektbezogen kooperiert die Organisation mit anderen Weiterbil-dungsanbietern, mit Behörden und Ämtern, mit Institutionen aus dem Kulturbereich,

Ehses/Zech: Gute Organisation

Page 78: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

78 REPORT (27) 2/2004

mit regionalen und internationalen Institutionen sowie branchenübergreifend mit Un-ternehmen. Die öffentliche Weiterbildung versteht sich als Vermittler zwischen denBelangen der politischen Verwaltung und den Belangen der Bürger. Darüber hinaushat sie eine wichtige Bedeutung als Dienstleister für die Kommune. Die Vernetzung invielfältige Bereiche und mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren und Institu-tionen wird genutzt, um aktuelle Themen, Bedarfe und Bedürfnisse aufzuspüren undin Dienstleistungen und Bildungsangebote umzusetzen. Die vielfältigen programmbe-reichsübergreifenden Kooperationsprozesse begründen intern und extern eine leben-dige Lernkultur. Die Organisation ist mit anderen Bildungsbereichen vernetzt und kanndeshalb die Lernenden in ihren Belangen auch über das eigene Angebot hinaus kom-petent begleiten. Dies entspricht der Vorstellung einer nachfrageorientierten Organisa-tion, die sich an ihrem Markt, d. h. an den Lernbedürfnissen und -interessen ihrerNutzer sowie an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsbedarfenorientiert. Die Weiterbildungsorganisation ist ein Service- und Dienstleistungsunter-nehmen für ihre Kunden. Um dieses Selbstverständnis einzulösen, betreibt sie einenaktiven Austausch mit der Umwelt. Aufgrund systematischer Bedarfsanalysen werdenKenntnisse über die jeweils aktuellen Bedarfe erworben. Bedarfs- und Trendanalysenergänzen und validieren die Marktbeobachtungen. Auf dieser Basis werden Produkteund Dienstleistungen entwickelt und gestaltet. Die Ausrichtung auf die Bedürfnisse derLernenden zeigt sich in der teilnehmerorientierten Gestaltung der Bildungsmaßnah-men. Das Selbstverständnis von Weiterbildungsorganisation reduziert sich nicht aufKurse, Seminare und Vorträge, sondern umfasst Beratung, Prävention und Kulturpro-gramme etc. Hierbei wird neben „klassischen“ Veranstaltungsangeboten Lernkonzep-ten Beachtung geschenkt, die ausdifferenziert und auf individuelle Lerninteressen zu-geschnitten sind und milieuspezifische Lernkulturen berücksichtigen. Die Organisati-on zeichnet sich durch pädagogische Innovationsfreudigkeit aus und widmet ihrebesondere Aufmerksamkeit neuen Lernformen. Außerinstitutionelle Lernarrangementsund Telelearning werden konzeptionell ausgearbeitet, erprobt und realisiert. In Verbin-dung mit einem zeitgemäßen, sich innovativ weiterentwickelnden Programm gibt sichjede Organisation ein spezifisches, unverwechselbares Profil. Die Identität einer Ein-richtung drückt sich in einem partizipativ erstellten und intern konsentierten Leitbildaus, findet sich im corporate design des Markauftritts wieder und schlägt sich im cor-porate behaviour der Mitarbeitenden nieder. Die Einrichtung lädt die Besucher durchein attraktives Erscheinungsbild ein. Korrespondierend mit dem Ambiente sind die in-ternen Prozesse kundenfreundlich organisiert. Die Lerninfrastruktur ist erwachsenbil-dungsgerecht; auf vielfältige und moderne Medien kann zurückgegriffen werden.

Weiterbildung wird generell als Bildungsdienstleistung für Nutzer verstanden; die Or-ganisation ist deshalb konsequent bürgerfreundlich und kundenorientiert ausgerichtet,was sich unter anderem darin äußert, dass sie flexibel und unbürokratisch agiert. DieseAusrichtung einer flexiblen und konsequent bürger- und kundenfreundlichen Einrich-tung hat Konsequenzen für die interne Steuerung und Gestaltung der Organisation.Deshalb ist eine gute Weiterbildungsorganisation intern gemäß des realen und virtuel-len Wegs der Nutzer durch ihre Einrichtung aufgebaut, d. h. die interne Struktur der

Beiträge

Page 79: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

79REPORT (27) 2/2004

Organisation spiegelt prozessorientiert Abnehmerinteressen wider. Das interne Infor-mationsmanagement ist differenziert und berücksichtigt die Schnittstellen zwischenden Subsystemen. Auf diese Weise generiert die Organisation effizient und ressourcen-schonend Wissen und erhält ein „gegliedertes Gedächtnis“ (Luhmann 1999, S. 179).Unterstützt wird dieses Wissens- und Informationsmanagement durch vernetzte EDV-Strukturen. Die Wirtschaftlichkeit der Gesamteinrichtung ist eine unerlässliche Vor-aussetzung guter Weiterbildungsorganisation. Für wirtschaftliches Handeln ist eineKonsolidierung des Haushaltes und eine Rücklagenbildung erforderlich. Die Organi-sation ist budgetiert und hat Finanzhoheit; sie steuert sich intern über aussagekräftigeund leistungsbezogene Kennzahlen. Auch öffentliche Einrichtungen stellen sich derveränderten Umweltsituation, indem sie unternehmerisch und marktförmig agierensowie Fähigkeiten zur Finanzmittelakquisition und zum Fundraising herausbilden. Einregelmäßiges Controlling überprüft die inhaltliche und finanzielle Zielerreichung; aufdieser Grundlage werden Steuerungsentscheidungen getroffen, die die Organisationstrategisch in Bezug auf ihre Umwelt positionieren. Die Weiterbildungsorganisationentwickelt dabei Strategien, um neue Handlungs- und Geschäftsfelder zu erschließen.Betriebswirtschaftliche Steuerung und ein effizienter Ressourceneinsatz werden alsRationalitäten in die Organisation eingezogen und erhalten in der verantwortungsvol-len Steuerung der Organisation eine erhöhte Bedeutung.

Auf der Basis regelmäßiger Bedarfserhebungen, eines intern geteilten Verständnissesgelungenen Lernens und in wechselseitiger Abstimmung der organisationalen Subsys-teme wird das Bildungsprogramm abnehmerorientiert gestaltet, in Teilbereichen aus-gebaut und in anderen verschlankt, um eine kontrollierte Diversität herzustellen. EineEvaluation der Bildungsmaßnahmen erfolgt regelmäßig und systematisiert, wird ge-meinsam ausgewertet und fließt in die Veränderung des Angebotes ein. Eine Überprü-fung der Zufriedenheit der Kunden sowie der Qualität der Lehrenden bzw. der Lehreist Teil der Evaluation der Bildungsprozesse. Verbraucherschutz in der Kundenkommu-nikation sowie Lernerorientierung in der gesamten Ausrichtung der Organisation sindkonstitutive Qualitätselemente in der Weiterbildung. Die Einstellung des pädagogi-schen und administrativen Personals erfolgt transparent und kriterienbezogen; die ent-sprechenden Prozesse sind definiert. Die Personalentwicklung umfasst – bezogen aufdie Verwirklichung des Leitbildes, die Erreichung der Entwicklungsziele der Organisa-tion und die Erfüllung der spezifischen arbeitsplatz- und funktionsbezogenen Aufga-ben – alle Maßnahmen zur beruflichen, persönlichen und sozialen Entfaltung des Per-sonals. Sie richtet sich darüber hinaus auf die Integration von hauptberuflichen Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern, die Förderung von Kooperationsfähigkeit; sie schließtPartizipation ein (vgl. Ehses/Heinen-Tenrich/Zech 2002, S. 22). Anforderungs- undKompetenzprofile der Mitarbeitenden sind an den Organisationszielen ausgerichtetund werden sowohl in der Rekrutierung von Personal als auch in dessen Entwicklungkontinuierlich justiert und abgestimmt. Fachliche Qualifikation, spezifisch anschluss-fähige Milieuverankerung, methodische sowie soziale und personale Kompetenzenwerden als Voraussetzungen für die Qualität der Lehre betrachtet und abgesichert. DieFortbildung der Mitarbeitenden wird auf allen Ebenen gezielt geplant und durchge-

Ehses/Zech: Gute Organisation

Page 80: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

80 REPORT (27) 2/2004

führt. Zur Personalentwicklung gehört ausdrücklich auch die Förderung und Fortbil-dung der freiberuflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen.

Die Organisation wird in einem ausbalancierten Spannungsfeld von Kontinuität undVeränderung gemanagt. Hierfür wird sie auf der Basis gemeinsamer Leitziele strate-gisch gesteuert. Diese Ziele werden in einem konsensorientierten Verfahren erarbeitet,festgeschrieben und regelmäßig überprüft. Im Rahmen der Leitziele erfüllen Abteilun-gen abgestimmte Spezialaufgaben. Neben den programmbereichspezifischen Zustän-digkeiten haben Querschnittsaufgaben und Projekte eine wichtige Bedeutung. Hierwerden Teams und Projektgruppen abteilungsübergreifend anlassbezogen zusammen-gestellt. Die Umstellung von Regel- auf Projektarbeit erzeugt die Notwendigkeit inter-ner synergieerzeugender Kooperationen jenseits von Funktion und Hierarchie. Es exis-tiert ein hohes Maß an Selbstorganisation und die Übernahme von Verantwortung aufallen Ebenen und in allen Bereichen. Die Leitung schafft die Strukturvoraussetzungen,um Selbstorganisation zu ermöglichen und Eigenverantwortung zu stärken. Intern wirddie Organisation über Zielvereinbarungen und entsprechende Kontrollen gesteuert.Als Voraussetzung für integrierte und aufeinander abgestimmte Prozesse implemen-tiert die Organisation gemeinsame Spielregeln, interne Selbststeuerung über Zielver-einbarungen, ein transparentes Regelsystem positiver und negativer Sanktionen, Mitar-beitergespräche und Feedback-Prozesse als Verfahren wechselseitiger Förderung undLeistungskontrolle. Außerdem existieren Anreizsysteme über die Honorierung heraus-ragender Leistungen und eine leistungsgerechte Entlohnung auf der Basis geklärter undkonsentierter Leistungsmaßstäbe und Erfolgskriterien.

Systematisches Marketing dient der Profilierung und Ausbreitung des bedarfs- und be-dürfnisgerechten Angebots. Deshalb achtet die Organisation auf ihr Erscheinungsbildund bemüht sich systematisch um die Erzeugung von Öffentlichkeitswirksamkeit. IhrAußenauftritt ist wirkungsorientiert und drückt sich unter anderem in einer kontinuier-lichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aus. Weiterbildung muss wirksam in ihremNutzen vermittelt werden. Aufgabe einer zukunftsfähigen Weiterbildungsorganisationist es daher, Bereitschaften zur Unterstützung ihrer Leistungsangebote in der Umweltzu erzeugen. Zum Selbstverständnis gehört deshalb aktiv betriebene politische Lobby-arbeit. Diese erfordert anschlussfähige Kommunikationen mit unterschiedlichen Sta-keholdern. Dieser Einsicht folgend wird das eigene institutionelle Selbstverständnismit unterschiedlichen Logiken aus Politik und Wirtschaft kompatibel gemacht. Einweiteres Referenzsystem zur Beurteilung von Qualität ist die eigene Profession; einZiel von Marketing ist deshalb die Kommunikation der eigenen Leistungen und dieImagedarstellung in der Fachöffentlichkeit. Der Ausbreitungsgrad der Organisation wirdüber die Region hinaus durch die Teilnahme an überregionalen Arbeitskreisen undAktivitäten (bundes- und europaweit) erhöht.

Zur Sicherung und Weiterentwicklung von Programmen, Produkten und der Organisa-tion selbst werden ein systematisches Qualitätsmanagement und kontinuierliche Or-ganisationsentwicklung betrieben. Dabei ist bei den Entwicklungsprozessen darauf zu

Beiträge

Page 81: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

81REPORT (27) 2/2004

achten, dass die strategischen, strukturellen und kulturellen Komponenten in einemausgewogenen Verhältnis stehen. Die Weiterbildungseinrichtung versteht sich als re-flexiv lernende Organisation. Die Fähigkeit zur Selbstkritik durch Perspektivenwechselauf die Position der relevanten Umwelt, d. h. der Lernenden, ist die Grundlage desOrganisationslernens. Qualitätsvorstellungen werden in einem gemeinsamen Prozessvon den Mitarbeitenden der unterschiedlichen Teilsysteme diskursiv entwickelt. DieWeiterbildungsorganisation verfolgt als Ziel nach außen, sich in ihrer Gesamtpositio-nierung strategisch in Bezug auf ihre Umwelt auszurichten. Innerhalb der Organisati-on sind betriebswirtschaftliche und pädagogische Rationalitäten zu integrieren. DasManagement wägt in seinen Entscheidungen wirtschaftliche und pädagogische Zieleab und findet eine produktive Balance, welche beiden Logiken gerecht wird.

Nach innen ist das Ziel der Organisationsentwicklung weiterhin, die unterschiedli-chen Subsysteme in einer koordinierten Leistungserbringung zu integrieren. Von Schäff-ter wissen wir, dass das Pädagogische sich aus der integrierten Gesamtleistung allerbeteiligten Subsysteme ergibt, die jeweils ihr Spezifisches zu einem gemeinsamen End-ergebnis hinzutun (vgl. Schäffter 1998, S. 349). Jede Mitarbeitergruppe hat ihren Anteilan einem Produkt, das schlussendlich als Ganzes an den Abnehmer abgegeben wird.In einer integrierten Organisation sind die Leistungserwartungen und die Leistungser-bringungen der Subsysteme wechselseitig komplementär. Die Autonomie der Subsys-teme wird als interne Selbststeuerung auf der Basis miteinander abgestimmter Leis-tungserwartungen/-erbringungen praktiziert (vgl. Zech 1999, S. 199). Der interne Leis-tungsabnehmer hat die Definitionsgewalt darüber, welche Leistungen er in welcherQualität und welchem Umfang zu welchem Zeitpunkt braucht, um arbeitshandelnddaran anschließen zu können. Die Autonomie des Leistungserbringers bezieht sich aufdie interne Organisation der Leistungserstellung innerhalb seines Subsystems. Dafürbedarf es Kontextbewusstseins und Relationsbewusstseins (vgl. Willke 1995, S. 60;Schäffter 1998, S. 349). Kontextbewusstsein meint, dass jede einzelne Position ihreWertigkeit nicht aus sich selbst, sondern aus dem Ensemble der Gesamttätigkeit derOrganisation erhält. Und Relationsbewusstsein meint die Wertschätzung der Leistun-gen der anderen und die Erkenntnis der eigenen Abhängigkeit von diesen. Die Autono-mie der Einzelleistungen realisiert sich als jeweilige Teilleistung in Bezug auf das Gan-ze. Jeder ist abhängig von den Vorarbeiten und den nachfolgenden Arbeiten anderer.Autonomie bedeutet hier geradezu wechselseitige Einschränkung und nicht unbegrenz-te Selbstbestimmung. „Autonomie ist nicht als Abwesenheit von Beschränkungen, son-dern als Form des Umgangs mit Beschränkungen zu verstehen ...“ (vgl. Luhmann/Schorr1988, S. 53). Autonom ist man lediglich hinsichtlich der Art und Weise seiner Leis-tungserbringungen, aber nicht hinsichtlich der inhaltlichen Definition der erwartetenLeistung. Im besten Fall hat man dies organisationsintern gemeinsam festgelegt. Dasnennt man dann Qualität der Arbeitsorganisation – workflow. Wir alle wissen, dassgerade hier die größten Belastungen und Unzufriedenheiten in Weiterbildungsorgani-sationen ihre Ursache haben. Aber jeder besteht auf seiner missverstandenen Autono-mie – wie die Autofahrer, die bei Gelb noch in die bereits verstopfte Kreuzung einfah-ren im Irrglauben, dann schneller nach Hause zu kommen. Der vermeintliche Vorteil

Ehses/Zech: Gute Organisation

Page 82: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

82 REPORT (27) 2/2004

jedes Einzelnen führt zum Nachteil von allen. Wir sind als Organisationsarbeiter wech-selseitig Kunden und Dienstleister; dies ist keine Forderung der Qualitätsentwicklung,dies ist eine Tatsache von Kooperation – und Organisation ist organisierte Kooperati-on. Es ist daher unzureichend, die Frage der kooperativen Integration von organisato-rischen Teilleistungen einzelner Subsysteme nur unter dem Aspekt der interaktivenWertschätzung personaler Arbeit zu diskutieren, sondern es geht bei diesem Themawesentlich um strukturelle Bedingungen der Organisation. Die Leitung verfolgt klareund transparent kommunizierte Betriebsziele in Bezug auf Strategie, Politik, Führung,Personalentwicklung und Finanzen. Eine zeitnahe doppelte kaufmännische Buchfüh-rung, eine aussagekräftige Kosten- und Leistungsrechnung, regelmäßige Controlling-verfahren sowie Investitionspläne sind Beispiele, die auf eine zielgerichtete finanzielleSteuerung verweisen. Die Organisation hat sich von einem unspezifischen Generalis-tentum verabschiedet und ist statt dessen in ihrer Architektur durch ein klar differen-ziertes Kompetenz- und Aufgabengefüge gekennzeichnet. Es existiert eine transparen-te und zielbewusste Entscheidungskultur auf der Basis explizierter Führungsgrundsät-ze. Lebendige interne Wertediskussionen über Aufgaben und Ziele der Organisationermöglichen ein gemeinsames Verständnis der Organisationsmitglieder bei gleichzei-tiger Anerkennung von differenten Logiken und Rationalitäten. Die Abteilungen sindmit ihren Leistungsbeiträgen am Ganzen orientiert und tragen eine hohe Gesamtver-antwortung. Verwaltung und Pädagogik sind aufgabenorientiert miteinander verzahnt.Zwischen den Subsystemen hat sich eine wechselseitige interne Serviceorientierungetabliert. Die Synchronisierung der Teilprozesse ermöglicht eine optimierte Gesamt-leistung.

Kollektiv ausgehandelte Verbindlichkeiten produzieren Sicherheit und Verlässlichkeitin der Arbeit. Sie liefern die Voraussetzung für wechselseitig-komplementär abgestimm-te Leistungsabgaben. Die Organisation basiert auf einem für alle verbindlichen Regel-werk, dessen Wirksamkeit kontinuierlich überprüft wird. Die interpersonelle Kommu-nikation orientiert sich an Sachfragen und zeichnet sich durch wechselseitige Wert-schätzung und Anerkennung aus.

4. Schluss

Diese hier beschriebenen Aspekte guter Weiterbildungsorganisation erheben nicht denAnspruch auf Vollständigkeit. Sie sollen helfen, einen in der Profession konsensfähigenOrientierungsrahmen für Organisationsmanagement sowie für Organisations- undQualitätsentwicklung zu schaffen.

Beiträge

Page 83: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

83REPORT (27) 2/2004

Literatur

Ehses, Ch./Heinen-Tenrich, J./Zech, R. (2002): Das lernerorientierte Qualitätsmodell für Wei-terbildungsorganisationen. 3. Aufl. Hannover

Ehses, Ch./Zech, R. (2001): Der Lernende als Reflexionsmedium. Qualitätsentwicklung in derWeiterbildung. In: Zech, R./Ehses, Ch. (Hrsg.): Organisation und Zukunft. Hannover, S. 13–38

Luhmann, N. (1999): Funktion und Folgen formaler Organisation. 5. Aufl. Berlin

Luhmann, N./Schorr, E. (1988): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt a.M.

Schäffter, O. (1998): Weiterbildungsorganisation als System. In: Geißler, H./Lehnhoff, A./Peter-sen, J. (Hrsg.): Organisationslernen im interdisziplinären Dialog. Weinheim, S. 345–371

Willke, H. (1995): Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Stuttgart/Jena

Zech, R. (1999): Paradoxien von Schulentwicklung oder die Crux der Veränderungsresistenzvon Schule. In: Zech, R./Ehses, Ch. (Hrsg.): Organisation und Lernen. Hannover, S. 179–203

Zech, R. (2003): Vom Bildungswissen zur Wissensbildung. Eine kleine Reflexion zur Zukunftder organisationsbezogenen Weiterbildungsforschung. In: Gary, Ch./Schlögel, P. (Hrsg.): Er-wachsenenbildung im Wandel. Theoretische Aspekte und Praxiserfahrungen zu Individua-lisierung und Selbststeuerung. Wien, S. 57–66

Ehses/Zech: Gute Organisation

Page 84: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

84 REPORT (27) 2/2004

.

Page 85: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

85REPORT (27) 2/2004

FORUM

Page 86: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

86 REPORT (27) 2/2004

.

Page 87: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

87REPORT (27) 2/2004

Günther Holzapfel

Mehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!Eine Replik zum Schwerpunktheft „Gehirn und Lernen“ des Literatur- undForschungsreports 3/2003

Ein verstärkter Dialog zwischen Neurowissenschaft und Pädagogik ist aus fachlichenund forschungspolitischen Gründen notwendig. Deshalb ist die Initiative des Heraus-geber-Gremiums des Reports und des Schwerpunktheft-Herausgebers H. Siebert zurPublikation des Heftes „Gehirn und Lernen“ sehr verdienstvoll und absolut zu begrü-ßen. Mein Motiv zu einer Replik richtete sich zunächst auf den Einleitungsbeitrag vonSiebert (2003). Die Redaktion wünschte aber eine Stellungnahme zu allen Beiträgenzum Schwerpunktthema. Diese soll hier erfolgen. Ich möchte betonen, dass eine um-fassende Würdigung aller Beiträge des Heftes aufgrund der knapp begrenzten Seiten-zahl von mir nicht zu erwarten ist. Ich konzentriere mich auf die aus meiner Sichtkritischen Punkte, die sich in vier Problemkreisen des Themas herausarbeiten lassen:1. Zur Bedeutung des menschlichen Bewusstseins für Lernen und Bildung2. Interdisziplinarität versus Hierarchisierung des Verhältnisses zwischen Neurowis-

senschaften und Pädagogik3. Sein und Sollen: Zu Geltungsfragen von Werten und Normen, Möglichkeiten der

Perspektivenverschränkung und freier Willensentscheidung4. Zum Verhältnis von Kognition und Emotion

Am intensivsten beschäftige ich mich mit Beiträgen von Siebert und Roth, weil dortexplizit auf neurowissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse zurückgegrif-fen wird. Die Aufsätze von Gropengießer, Schmidt und Arnold sind Beiträge zum schonseit längerer Zeit in der Pädagogik diskutierten Konstruktivismus. Neurowissenschaf-ten werden dort nur am Rande gestreift. Deshalb stehen sie bei mir nicht im Zentrumder Betrachtungen und werden – genauso wie die Aufsätze von Ciompi und Lemke(allerdings aus anderen Gründen) – nicht zu allen Problemkreisen gesichtet.

1. Zur Bedeutung des menschlichen Bewusstseins für Lernen und Bildung

Für den Dialog zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik ist die konzeptionelleFassung des Bewusstseinsbegriffs und der damit verbundenen Phänomene eine ent-scheidende Frage. Die Neurowissenschaften haben uns viele Einzelergebnisse im Hin-blick auf objektive physikalische, physiologische, chemische und hormonelle Aspektedes Lernens zu bieten. Aber was können Neurowissenschaften zu den subjektivenBedingungen des Lernens wie Gefühlen, Motivation, Aufmerksamkeit, Wahrnehmen,Denken, Geist und moralisches Bewusstsein sagen? Sind sie mit ihren Forschungspara-digmen bereits soweit, dass sie diese subjektiven Bedingungen alle auf neurowissen-

Page 88: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

88 REPORT (27) 2/2004

schaftliche Gegebenheiten zurückführen (reduzieren) können? Können Bewusstseins-phänomene und die damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten deshalb in die Ab-stellkammer der abendländischen Philosophie und Pädagogik gestellt werden? Zu die-sen Fragen haben sich in den vergangenen Jahren Neurowissenschaftler und Philoso-phen geäußert. Die Tendenz zur Nivellierung der Unterschiede zwischen Geist undNatur herrscht mit wenigen Ausnahmen (z. B. Popper/Eccles 1982) bei den meistenNeurowissenschaftlern vor. Aber selbst bei diesen gibt es in der letzten Konsequenzeine eher vorsichtige Positionsformulierung. Roth (vgl. 1997, S. 247) verwahrt sichdagegen, dass seine Bewusstseinshypothese als Reduktion des Phänomens des Be-wusstseins auf neuronale Prozesse verstanden wird. Er spricht von einer „nicht-reduk-tionistischen“ (ebd.) Position. Zwar will er auch Geist als letztlich physikalisches Pro-blem auffassen, weitet aber dabei den Begriff des Physikalischen soweit aus, dass auchdarunter Geist mit Autonomiemöglichkeiten gefasst werden kann (vgl. S. 302). Schweg-ler ist noch vorsichtiger. Er meint, „dass für alle absehbare Zeit eine Überprüfung derReduktionshypothese völlig ausgeschlossen ist“ (Schwegler 2001, S. 78). Er votiert füreinen „Aspektpluralismus“ statt eines „Aspektdualismus“ (S. 79). Eine äußerst interes-sante Aufschlüsselung der genannten Problematik entwickelt Pauen (2001) aus derSicht einer Philosophie des Geistes. Er meint, dass auch das vollständigste Wissen überdie neuronalen Prozesse im Gehirn uns kaum erklären würde, warum Bewusstseinentsteht (vgl. S. 94). Philosophische Überlegungen werden bei ihm aber nicht dazubenutzt, um erkenntnistheoretisch und subjektphilosophisch einen grundsätzlichenUnterschied zwischen Natur und Geist zu begründen – wie es der Neurobiologe Creutz-feld (1986) – und die Philosophen Wingert (in Singer/Wingert 2000; Schulte 2001 undBrandt 2004 tun), sondern eher dazu, die bisher bei dieser Problematik entwickeltenProblemdefinitionen und Fragestellungen auf ihre Konsistenz und Sinnhaftigkeit hinzu untersuchen (vgl. Pauen 2001, S. 95). Und diese Fragestellungen und Problemdefi-nitionen seien falsch gestellt und eingegrenzt. Es ginge nicht um die Klärung realerBeziehungen zwischen neuronalen Prozessen und Bewusstsein, sondern eher darum,wie Theorien zu den verschiedenen Aspekten sinnvoll aufeinander bezogen werdenkönnten (vgl. S. 97, S. 111). Für Pauen verschiebt sich das Problem der Unterschei-dung von unterschiedlichen Substanzen auf eine Theoriesprachenebene.

Mit einer solchen Verschiebungslösung könnte sich die materialistisch orientierte kul-turhistorische Schule der russischen Psychologie (Wygotski, Leontjew, Lurija) und ihredeutschen Vertreter (z. B. Holzkamp 1983; Jantzen 1990) aufgrund des Konzeptes vonder Einheit von Sein und Bewusstsein nicht zufrieden geben. In unserem Diskussions-kontext ist ein aktueller Aufsatz von Jantzen (2003) zu beachten, in dem er die Ver-knüpfungsmöglichkeit des Ansatzes von Lurija, dem Begründer der russischen Neuro-psychologie, mit dem des Neurowissenschaftlers und Nobelpreisträgers Gerald Edel-mann (Edelmann 1993, aktuelle Zusammenfassung der Forschungsergebnisse inTononi/Edelmann 2002) herausstellt. Er sieht dabei die Chance, die grundsätzlichenAnnahmen der materialistischen Neuropsychologie vom Gehirn als Produkt phyloge-netischer, historisch-gesellschaftlicher und ontogenetischer Entwicklungen mit denaktuellsten neurowissenschaftlichen Einzelergebnissen und theoretischen Paradigmen

Forum

Page 89: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

89REPORT (27) 2/2004

zu verbinden. Eine solche Perspektive gibt einen zusätzlichen anderen Blick auf dieGehirn-Bewusstseins-Debatte: Die neurobiologischen und neuropsychologischen Be-dingungen des menschlichen Bewusstseins sind kein geschlossenes und deterministi-sches (allenfalls sich selbst regulierendes) System, sondern offen für kulturell-geschicht-lich bedingte Veränderungen und individuelle menschliche Einzigartigkeit.

Auch emergenztheoretische Beschreibungen des Leib-Geist-Verhältnisses stellen eineinteressante Perspektive zur Strukturierung des Zusammenhanges und der Differenzvon neuropsychologischen Bedingungen und subjektiven Bewusstseinsstrukturen beimLernen dar. Hier wird Geist als Ergebnis von Emergenzprozessen aus neurophysiologi-schen Gegebenheiten heraus gesehen, deren Ergebnisse die Qualität der neurophysio-logisch zu beschreibenden Aspekte und zugleich eine neue Qualität enthalten, die ausden neurophysiologischen Grundlagen nicht abgeleitet werden können. Daraus erge-be sich, dass Bewusstseinsprozesse sich neurowissenschaftlich erfassen lassen, aberdie Bewusstseinsinhalte nicht (siehe zur Verwendung solcher emergenztheoretischerPositionen in Anlehnung an Bunge und Petzold bei Holzapfel 2002, S. 212 ff.). Emer-genztheoretische Positionen wurden von Roth (1997, S. 291 ff.) kritisch eingeschätzt,aber Stephan (2001) zeigt, dass solche Herangehensweisen interessante Weiterent-wicklungen enthalten.

Ergebnis dieses kurzen Überblicks über die derzeit diskutierten Positionen zum Hirn-Bewusstseins-Konstitutionsproblem ist, dass keine neurowissenschaftliche oder philo-sophische Position das restlose Aufgehen des Bewusstseins in neurowissenschaftlichzu erfassende Beschreibungen und Gesetzmäßigkeiten nachweisen kann. Das bedeu-tet für Pädagogik als Geistes- und Sozialwissenschaft, dass die Kategorien des subjek-tiven Erlebens und der verschiedenen Bewusstseinsqualitäten (Wahrnehmen, Denken,Motivation usw.), die alle mit Lernen und Bildung verknüpft sind, als eigene Kategori-en, und die mit diesen Kategorien formulierten Zusammenhänge und Gesetzmäßig-keiten als eigene, analytisch getrennt von neurowissenschaftlichen Kategorien undGegebenheiten, behandelt werden müssen.

In den Beiträgen im Report-Schwerpunktheft wird dieser Problemkreis bedauer-licherweise kaum angesprochen oder die hier entwickelte Unterscheidungsnotwen-digkeit nicht gesehen. Sieberts (2003, S. 9) kritisches Votum gegenüber einer Neurodi-daktik ist vollkommen zuzustimmen. Aber dieses einleitende Statement spielt in sei-nen nachfolgenden Thesen kaum eine Rolle. In Übernahme von Ausführungen vonNeurowissenschaftlern wird von Registrieren, Beobachten und Sehen von Landkartenvon menschlichen Kognitionen durch bildgebende Verfahren gesprochen (vgl. S. 10–11) und so getan, als ob man hier dem Bewusstsein durch neurowissenschaftlicheBeobachtungsverfahren bei der Arbeit zuschauen könnte; als wenn die Perspektivedes Subjekts in neurowissenschaftlich zu beobachtende Gegebenheiten und Prozesseaufgehen würde. Der verwendete Informationsbegriff (These 5, S. 11) kann sich dochnur auf neurobiologische und neuropsychologische Signale beziehen, die aber nichtdie Bedeutungen von z. B. transportierten Lerninhalten bezeichnen können. Diese

Holzapfel: Mehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!

Page 90: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

90 REPORT (27) 2/2004

Bedeutungen gehen nicht in den neurowissenschaftlich zu registrierenden Signalenauf. Die gleiche nivellierende Sprechweise ist bei Roth im Gespräch mit Siebert (Sie-bert/Roth 2003, S. 16) und auch im Einzelbeitrag von Roth (2003, S. 21–22) festzustel-len. Aus den gleichen Unterscheidungsnotwendigkeiten heraus finde ich die von Sie-bert (2003, S. 9) vorgenommene Differenzierung von Zuständigkeitsgebieten von Neu-rowissenschaft und Pädagogik problematisch. Auch Pädagogik muss sich mit dem„Wie“ des Lernens beschäftigen und nicht nur mit dem „Warum“ und „Was“. Bezüg-lich einer phylogenetischen Erklärungsebene (z. B. bei Jantzen und Holzkamp) zurEntstehung des Bewusstseins bleiben die Aussagen von Roth unklar bis widersprüch-lich. Einmal wird davon gesprochen, dass unser Gehirn „aus unbekannten Gründensehr schnell sehr groß geworden (ist)“ (Siebert/Roth 2003, S. 16), andererseits wird einZusammenhang zwischen Gesetzen der Welt und der Konstruktionsmechanismen inunserem Gehirn konstatiert (vgl. S. 19). Bei weiteren Klärungen solcher Fragen könntees zu einer interessanten Debatte zwischen kritischer Psychologie (Holzkamp), Tätig-keitstheorie (Jantzen), phänomenologisch inspirierten Leibkonzepten (Merleau-Ponty,Plessner, Petzold) und konstruktivistischen Autopoiesis-Konzepten kommen, von de-nen Roth sich allerdings zu distanzieren beginnt (vgl. Siebert/Roth, S. 19).

2. Interdisziplinarität versus Hierarchisierung des Verhältnisses zwischenNeurowissenschaften und Pädagogik

Bei diesem Problemkreis ist zu fragen, ob sich aus dem Anspruch zur interdisziplinä-ren Arbeitsweise zwischen Neurowissenschaft und Pädagogik in der konkreten Um-setzung eine Hierarchisierung zwischen den beiden dergestalt ergibt, dass Neurowis-senschaft die wissenschaftlichen Grundlagen für pädagogische Praxis liefert, pädago-gische Theorie und Praxis sich in einem einseitigen Ableitungsverfahren aus denneurowissenschaftlichen Grundlagen heraus begründet. Zu einem interdisziplinärenund „komplementären“ (Siebert 2003, S. 9) Zuordnungsverhältnis von Pädagogik undNeurowissenschaften gehört, dass auch Fragerichtungen und Impulse aus der Pädago-gik in die Neurowissenschaften hineingegeben werden. Wie das geschehen kann, dazustehen wir bei der Problemformulierung und -lösung noch ganz am Anfang. Mussdafür eine Metasprache gefunden werden, in die geisteswissenschaftliche und natur-wissenschaftliche Sprachsysteme integriert werden (Singer in Singer/Wingert 2000,S. 44) oder beide sinnvoll aufeinander bezogen werden können (Pauen 2001, S. 97)?Kann eine Metasprache in einer übergreifenden Theorie von Information gefundenwerden, deren Bestandteile zum einen die theoretische Physik und zum anderen eineTheorie des Bewusstseins ist, wie es der Mathematiker und Philosoph Chalmers (2002,S. 19) vorschlägt? Oder bleibt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber solchen neueninterdisziplinären gemeinsamen Sprach- und Theoriehorizonten, wie sie von den obenin Abschnitt 1 zitierten Philosophen und Neurowissenschaftlern formuliert wird? Die-se Fragen sind für lange Zeit weder in der einen Richtung noch in der anderen zuentscheiden. Solange das der Fall ist, ist es nicht sinnvoll und möglich, die in derSprache der Pädagogik definierten Probleme und Zusammenhänge in neurowissen-

Forum

Page 91: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

91REPORT (27) 2/2004

schaftliche Sprach- und Gesetzessysteme umzuformulieren oder sie aus jenen sogar inwesentlichen Teilen abzuleiten. Ich behaupte, dass die pädagogischen Problembe-schreibungen von wichtigen Themen des Lernens (z. B. Erfahrungslernen, exemplari-sches Lernen, soziales Lernen, das Verhältnis von Anschauung und Begriff beim Ler-nen, Beziehungsdynamik zwischen Lehrenden und Lernenden, Stufen- und Phasenfol-gen des Lernen) wesentlich differenzierter sind als die doch sehr allgemein gehaltenenFormulierungen pädagogischer Konsequenzen auf der Grundlage neurowissenschaft-licher Begriffe und Forschungsergebnisse. Z. B. spricht Siebert (2003) von neuen neu-rowissenschaftlichen Begründungen für Erfahrungslernen (S. 11), exemplarisches Ler-nen (S. 12) und ganzheitlichem Lernen (S. 11). Diese Konzepte sind in dieser Allge-meinheit in der Pädagogik seit langem Konsens. Die eigentlichen Probleme dieserPrinzipien sind vielschichtiger. Z. B. beim Erfahrungslernen: Wie kommt es, dass Men-schen aus Erfahrungen nichts lernen, wann gelingt eine sinnvolle Integration von altenund neuen Erfahrungen und den dazugehörenden Wissensbeständen? Wie sieht dasVerhältnis zwischen Spüren, Wahrnehmen, Erfahren und Begreifen sowohl für natur-wissenschaftliche als auch für soziale und persönliche Lerninhalte aus? Welche Rollespielt das Unbewusste und die Emotionen bei der Beharrung auf alten und überholtenErfahrungen und Standpunkten? Wann darf man in pädagogischen Prozessen auf dieseFaktoren des Lernens einwirken mit welcher Zielsetzung? Was sind die Gemeinsam-keiten und Unterschiede von Projektlernen, entdeckendem Lernen, handlungsorien-tiertem Unterricht, Sinnenpädagogik und ästhetischer Bildung usw., die alle als Ant-wort auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von Erfahrungen in den Lernprozessgelten können? Welche Methoden haben sich unter welchen Bedingungen bewährt,welche nicht? Diese pädagogischen Differenzierungen der Problemstellungen würdensich für die anderen von Siebert erwähnten Prinzipien ebenfalls ausformulieren lassen.So ähnlich verhält es sich mit den von Roth (2003, S. 23 ff.) formulierten Faktoren desLernens, die er durch neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse begründet sieht.Was er in den fünf Faktorenbündeln formuliert, ist nichts anderes als das Ergebnis auseiner bereits über 100 Jahre dauernden reformpädagogischen Diskussion. Dies ist einsehr erfreuliches Resultat für die Vertreter solcher und ähnlicher Ansätze, wobei dieStimmigkeit der Rothschen Ableitungen im Einzelfall nochmals genauer überprüftwerden müsste. Aber auch bei diesem pädagogischen Themenfeld sind Grenzen undChancen dieser Ansätze, ihre Konjunkturen, Zurückdrängungen und Brüche ausführ-lichst behandelt worden und werden auch in den letzten Jahren wieder intensivst dis-kutiert (z. B. Flitner 1993; Oelkers/Rülcker 1998; Benner/Kemper 2002; Hansen-Schab-erg/Schonig 2002).

Nicht nur bessere, weil differenziertere theoretische Beschreibungen pädagogischerProblemstellungen und die damit verbundenen elaborierteren Praxiskonzepte sindAnlass genug für die Pädagogik, gegenüber der Neurowissenschaft ihr Licht nicht un-ter den Scheffel zu stellen. Auch die Ableitungsschritte, die von den neurowissen-schaftlichen Begriffen und Forschungsergebnissen zu den pädagogischen Konsequen-zen in den betreffenden Aufsätzen angeboten werden, bedürfen einer Nach- und Über-prüfung. Abgesehen von der Kürze der Beiträge und der noch wenig entwickelten

Holzapfel: Mehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!

Page 92: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

92 REPORT (27) 2/2004

gemeinsamen Diskurskultur zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik, die dieVermittlung dieser Ableitungsschritte seitens der Neurowissenschaftler an die Pädago-gen sicherlich momentan noch schwer machen, gibt es im Aufsatz von Roth Aussagen,die mein Misstrauen über die Stimmigkeit seiner Ableitungen hervorgerufen hat. Roth(2003) spricht von „hochgradig genetisch determinierten und daher wenig veränder-baren Faktoren“ (S. 24) u. a. für Mathematik, Sprachen und bildende Kunst. Und mit„Übung (ist dann, G. H.) nur wenig zu machen“ (S. 24). Der NeurowissenschaftlerSpitzer, der sich in einem Bestseller intensiv mit pädagogischen Problemen befasst hat,kommt da zu anderen Einschätzungen. Er zeigt in relativ ausführlichen Darlegungenseiner Ableitungsschritte auf, dass bei Sprachdefiziten Therapieprogramme mit neuenErfahrungen und viel Üben aufgrund der Plastizität des Gehirns deutliche Verbesse-rungen erzielen können (Spitzer 2003, S. 251–252), und bei Lernen von Mathematikneben der Begabung die Übung und die Motivierung für die Lerninhalte eine großeRolle spielen (S. 270–271, S. 274). Mit diesen unterschiedlichen Einschätzungen istdie Frage verbunden, wie weit die Plastizität des Gehirns geht, und ob und in welchemAusmaß alte und neue Erfahrungen auch Veränderungen in neuronalen Schaltungenhervorrufen können. Der Neurobiologe Hüther beschreibt den Wandel der Paradig-men der Neurowissenschaften zu dieser Frage und betont, dass dem Einfluss der Erfah-rungen auf die neuronalen Verschaltungen in allen Lebensaltern in den heutigen Neu-rowissenschaften eine wesentlich höhere Bedeutung eingeräumt wird als noch vor ca.50 Jahren (Hüther 2002, S. 10–11, S. 17–18, S. 85 ff.).

Zwischenbilanz: Es ist also Vorsicht geboten, wenn Neurowissenschaftler aus ihrenErgebnissen pädagogische Konsequenzen ableiten und zu wenig deutlich machen,dass diese Ableitungen interpretationsbedürftig und unter anderen Bedingungen ganzandere Schlussfolgerungen daraus möglich sind. Das bedeutet nicht ein Ignorieren derErgebnisse der Neurowissenschaften, sondern eine Verstärkung eines gleichberechtig-ten Dialogs zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik, in dem diese keine Unter-disziplin und kein bloßes Anhängsel der Neurowissenschaften wird. Die Pädagogikkann mit ihren im Vergleich zu den Neurowissenschaften viel komplexeren und viel-schichtigeren Theorie- und Praxismodellen in diesen Dialog mit großem Selbstbewusst-sein gehen.1

3. Sein und Sollen: Zu Geltungsfragen von Werten und Normen, Möglichkeitender Perspektivenverschränkung und freier Willensentscheidung

Einer langen philosophisch-geisteswissenschaftlichen Tradition zufolge (von Platon bisDilthey und kritischer Theorie) bewegt sich menschliches Sein immer in den Polaritä-ten von Wesen und Erscheinung, Idee und Wirklichkeit, positivistisch beschriebenerWirklichkeit und zu entwickelnden Möglichkeiten, Kausalität und Finalität und fak-

1 Die Psychologie reklamiert gegenüber den Neurowissenschaften für sich ebenfalls eine differenziertere Aus-formulierung von psychologisch zu erfassenden Praxisproblemen und wünscht sich einen gleichberechtigtenDialog mit ihnen (Münch 2002a; Münch 2002b; Mack 2002)

Forum

Page 93: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

93REPORT (27) 2/2004

tisch herrschenden Normen und Werten einerseits und dem Geltungsanspruch vonuniversalistischen Normen und Werten aus der Tradition der Aufklärung und aufge-klärter Religiösität heraus andererseits. Diese Polaritäten wollen auch Philosophen inder Geist-Hirn-Debatte gegenüber Neurowissenschaftlern wie Singer (in Singer/Win-gert 2000, S. 43; Singer 2001, S. 156) und Roth (1997, S. 310–311) offen halten, dieder Möglichkeit des Menschen zu freier und verantwortlicher Willensentscheidungskeptisch bis verneinend gegenüber stehen (Roth in Siebert/Roth 2003, S. 18) und da-mit auch die anderen beschriebenen Polaritäten einseitig auflösen. Schulte argumen-tiert gegen die Unmöglichkeit eines Ichs mit freiem Willen mit der Fähigkeit desmenschlichen Geistes, sich selbst als nichtseiend vorzustellen, mit der Fähigkeit desMenschen zum Todesbewusstsein als Nichtseinsgedanke. Gerade durch diese Fähig-keiten konstituiere sich die Ich-Vorstellung (vgl. Schulte 2001, S. 212), die die fakti-sche Realität der Neurowissenschaften transzendiere. Ähnlich spricht Brandt vom„Geist, der Nein sagen kann und mit seinem ersten Nein ins Dasein sprang“ (2004,Feuilletonseite) als einem Merkmal des menschlichen Bewusstseins, als eigenständi-ger, nicht auf Materie reduzierbarer Fähigkeit, als Voraussetzung für Urteils- und Er-kenntnisbildung. Wingert (in Singer/Wingert 2000) besteht gegenüber Singer auf demMenschen „als ein(em) urteilende(n) und wertende(n) Wesen“ (S. 44) mit der „Fähig-keit zur Metarepräsentation und zur Selbstkritik“ (S. 44). Die Gedanken der Menschenseien mehr als ihre neurowissenschaftlichen Substrate. Und Gedanken könnten gel-tende Gründe, die sich aus der Normativität von Mensch und Gesellschaft ergeben,auf ihre Legitimität hin überprüfen. „Ein Gedanke kann wahr oder falsch sein, richtigoder sinnlos. Hirnzustände können das nicht“ (S. 43). Pauen (2001) konstatiert, dassdie Debatte über den Menschen als eines Wesens mit Verantwortung zurzeit sehr kon-trovers geführt werde und ihr Ende überhaupt nicht in Sicht sei (vgl. S. 105). Er plädiertfür eine Option, die es erlaubt, an der Realität des Ichs und der Freiheit seiner Hand-lungen festzuhalten, als auch den empirisch-neurowissenschaftlichen Ergebnissen ge-recht zu werden (vgl. S. 106), wobei er auch referiert, dass die Ergebnisse der Libet-Untersuchungen, die Roth als Begründung für seine Verneinung der Möglichkeit desfreien Willens heranzieht, „umstritten“ (S. 111) sind. Schröders mehr formallogischeUntersuchung zur Frage der Kompatibilität von Willensfreiheit und Determinismuskommt zum Ergebnis, dass wir Willensfreiheit haben, wenn wir uns als Urheber vonEntscheidungen begreifen können, die mit dem autobiografischen Selbst zusammen-stimmen (vgl. Schröder 2002, S. 19). Die Aussagen des in Pädagogikfragen sehr enga-gierten Neurowissenschaftlers Spitzer zeigt, dass es auch bei der Sein-Sollens-Proble-matik keine einheitliche Position der Neurowissenschaft gibt: NeurowissenschaftlicheUntersuchungen zum moralischen Handeln sagten nichts darüber aus, „welche Hand-lungen richtig sind“ (Spitzer 2003, S. 329). Seine Thesen zu möglichen Zusammen-hängen zwischen neuropsychologischen Entwicklungsschritten und Reifegraden mo-ralischer Beurteilungspotenziale (S. 351–359) bestätigen bisherige entwicklungspsy-chologische Modelle auf einer allgemeinen Ebene. Die Frage bei solchen Thesen istähnlich wie oben im Abschnitt 2: Sind die genuin pädagogischen Modelle und Praxis-strategien nicht differenzierter? Und grundsätzlicher gefragt: Wie wirkt die Erfahrungzurück auf Plastizität der dementsprechenden Cortex-Areale?

Holzapfel: Mehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!

Page 94: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

94 REPORT (27) 2/2004

Neurowissenschaften als Naturwissenschaft gelingt es nicht und dem Konstruktivis-mus kaum, diese hier beschriebenen Polaritäten von Sein und Sollen zu thematisieren.Konstruktivistische Theorien sind stark in der Begründung dafür, dass die Individuensich ihre eigenen Deutungen von Wirklichkeit zurechtlegen, sie haben aber Schwie-rigkeiten, wenn es zu erklären gilt, wie die individuellen Konstruktionen in Richtungeiner gemeinsam auszuhandelnden praktischen Wahrheit mit anderen freien Individu-en transformiert werden können. Diese Problematik des Konstruktivismus ist vielfachfestgestellt worden (zusammenfassende Kritik bei Holzapfel 2002, S. 358–367) und istauch in den Beiträgen des Report-Heftes an verschiedenen Stellen nachweisbar. Ar-nold spricht vom Missverstehen als „Normalfall“ (2003, S. 52), was in konstruktivisti-schen Interpretationen von Kommunikation durchaus konsequent gedacht ist. Die danninnerhalb der gleichen Argumentationslinie formulierte These von einem neuen Zu-gang zur Intersubjektivität durch den Konstruktivismus ist eine Zusatzhoffnung, dieinnerhalb des Konstruktivismus nicht ableitbar ist (vgl. ebd.). Auch eine „pädagogischeEthik“ (S. 58) muss von außen an das konstruktivistische Denken herangeführt werden.Sie bleibt ohne innere Verbindung mit den konstruktivistischen Annahmen. ÄhnlicheProbleme bei der Behandlung von Geltungsfragen sind in den Beiträgen von Schmidt(2003, Suche nach „gemeinsamer Wirklichkeit“, S. 49) und Gropengießer (2003) ent-halten. Die Antworten des Letzteren zur Frage, wie sich aus seinen semantisch ge-schlossenen Systemen geteilte Bedeutungen entwickeln, bleiben ohne Aufgreifen desThemas Perspektivenverschränkung in symbolisch vermittelter Intersubjektivität unbe-friedigend (vgl. S. 49). Die Wissensperspektive bei Schmidt (2003, insbesondereS. 46 ff.) und der kognitionspsychologische Zugang bei Gropengießer (2003, S. 35)sollten allerdings unbedingt weiter verfolgt werden, um die Nahtstellen von Kogniti-onspsychologie, systemischem Denken und Neurowissenschaft noch genauer zu be-stimmen. So sinnvoll mir Sieberts Plädoyer für die Situiertheitsperspektive beim Lernenerscheint, so wichtig wäre mir dann allerdings aufgrund der Polaritätsthesen auch einedifferenzierte Unterscheidung von Viabilitäts- und Geltungsfragen, die von ihm in ei-nem Atemzug auf gleicher Ebene abgehandelt werden (Siebert 2003, These 7, S. 11).

4. Zum Verhältnis von Kognition und Emotion

Neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse und Publikationen (z. B. Damasio 1997;Goleman 2002; Ciompi 1999; Luczak 2000) unterstreichen die Bedeutung der Emoti-onen beim Lernen und geben wichtige Hinweise zur Kritik an kognivistisch verkürzterPädagogik. Ich spreche vorsichtig von Hinweisen, weil der Problemkreis 1 auch beider Bestimmung des Verhältnisses von Kognition und Emotion mithineinspielt. Aberaufgrund der genannten neurowissenschaftlichen Indizien ist deshalb die Aufnahmedes Textes von Ciompi (2003) in das Reportheft und die Betonung des engen Zusam-menhanges von Kognition und Emotion bei allen Autor/inn/en in diesem Heft (v. a.ausführlich bei Arnold 2003, S. 55 ff., S. 58) ein ganz starker Gewinn für die Kritik aneiner rationalistischen Pädagogik. An einigen Stellen des Heftes wird man aber denEindruck nicht los, dass aus der Kritik am Rationalismus tendenziell eine Vorrangstel-

Forum

Page 95: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

95REPORT (27) 2/2004

lung für die Emotionen als Lernfaktor abgeleitet wird (Roth in Siebert/Roth 2003, S. 16–17; Roth 2003, S. 22–23; Roth 2001, S. 318 ff.). Das wäre dann eigentlich nur dieKehrseite der gleichen Medaille, genannt Dualismus von Emotion und Kognition. Nurdass bei der umgekehrten Prioritätensetzung den Emotionen die entscheidende Be-deutung beim Handeln und Lernen eingeräumt würde, und eine Annäherung an eindialogisches Verhältnis von Kognition und Emotion (Holzapfel 2002, 2004) auf andereWeise erschwert wird. Gibt es bei diesem Problemkreis unterschiedliche Positionen inder Neurowissenschaft und/oder unterschiedliche Interpretationen gleicher neurowis-senschaftlicher Zusammenhänge? Goleman spricht unter Berufung auf Forschungser-gebnisse von LeDoux von einer direkten Verbindung von Augen und Ohren über denThalamus zum Mandelkern ohne Kontrolle des Neocortex bei Gefahrensituationenund traumatisierten Menschen (Goleman 2002, S. 34, S. 42). In weniger krisenhaftenemotionalen Situationen gäbe es die Kontrolle und Bewertung der Emotionen durchNeuronenpopulationen der Präfontallappen (S. 44–49). Die gleiche Position vertrittDamasio bei der Unterscheidung in primäre und sekundäre Gefühle. Er spricht voneiner absolut engen Wechselwirkung zwischen Neocortex und dem limbischen Sys-tem bei den sekundären Gefühlen (1997, S. 15–16, S. 192–193) und bei den Empfin-dungen (S. 218, S. 225). Ciompis (1999, 2003) Untersuchungen zur Affektlogik wei-sen nicht nur auf eine Wechselwirkung von Kognition und Affekten hin, sondern unter-streichen durch eine integrative Fassung die ständige Zusammengehörigkeit der Aspektein „Fühl-Denk-Verhaltensprogrammen“ (2003, S. 62). Seine emotionspsychologischenund evolutionären Begründungen dieser Programme betonen überdies die lebenser-haltenden, sinngebenden und rationalen Aspekte von Affekten (vgl. S. 64, S. 66), wasgegen eine dualistische Auffassung des Verhältnisses von Kognition und Emotionspricht. Affektive Tönungen und Färbungen spielen nach Ciompi auch in alle Lernin-halte und pädagogischen Beziehungen hinein (vgl. S. 68–69). „Fundamentalbotschaf-ten“ (S. 68), verstanden als durch affektive Tönungen transportierte Grundbotschaften,werden zu zentral steuernden Elementen des Lernprozesses. Diese werden von denLernenden intuitiv erfasst. Hier ist ein absoluter Anknüpfungspunkt zum sehr informa-tiven Beitrag von Lemke (2003, mit manchmal schwer verständlich beschriebenenForschungsbeispielen, z. B. S. 76) über nichtbewusste Informationsverarbeitungspro-zesse.

Die neurowissenschaftlichen Positionen von Goleman und Damasio, die fraktale Af-fektlogik von Ciompi und die von Lemke zusammengestellten kognitionspsychologi-schen und neurowissenschaftlichen Untersuchungen unterstützen die hohe Bedeu-tung von Wahrnehmen, Ausdrücken (nicht nur mit verbalen Mitteln, sondern auchdurch künstlerische Symbolsprachen, durch das „poetische Sagen“ (H. Petzold)), Ver-gegenwärtigung, Gestaltung und Verwendung von nichtbewusstem Wissen und Füh-len in Lernprozessen, wie es in der Reformpädagogik, humanistischen Psychologieund Pädagogik schon länger theoretisch begründet und praktisch gehandhabt wird(z. B. Bürmann 1992; Dauber 1997 und weitere neun Bände in der Schriftenreihe zurHumanistischen Pädagogik und Psychologie im Klinkhardt-Verlag). An diesen Praxenkann man auch aufzeigen, dass diese verschiedenen Prozesse des Umgangs mit Ge-

Holzapfel: Mehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!

Page 96: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

96 REPORT (27) 2/2004

fühlen auch immer von kognitiv-sinnhaften Strukturen durchzogen sind, wenn dieseauch oft nur von präreflexiver Natur sind. Deshalb ist einem Interdependenzmodelldes Verhältnisses von Kognition und Emotion vor einem Prioritätensetzungsmodell à laRoth der Vorzug einzuräumen. Dazu kommt, dass empirisch-neurowissenschaftlicheKorrelationen von Emotion und Kognition der Interpretation durch theoretische Erklä-rungsmodelle bedürfen. Das fraktale und integrative Modell von Ciompi (1999,S. 163 ff., S. 263, S. 330) und der „Geist-im-Körper-Ansatz“ von Damasio (1997, S. 332)mit der Hypothese der „somatischen Marker“ (S. 227 ff.) und seinen Verweisen aufEdelmans dynamische Systemauffassung (S. 311, S. 313, S. 323) legen dialogischeAuffassungen des Verhältnisses von Kognition und Emotion näher als dualistische, waswiederum unterschiedliche praktisch-pädagogische Konsequenzen hat.

Resümee: Eine Absage an den Aufklärungsbeitrag von Pädagogik kann aus neurowis-senschaftlichen Forschungsergebnissen aufgrund unserer vier Problemkreissichtungennicht abgeleitet werden. Neue Hirnforschungsergebnisse unterstützen allerdings alteund gute Prinzipien der Pädagogik vom dialogischen, humanen und emotionalenLernen. Die Neurowissenschaften werden damit zu wichtigen Bündnispartnern ge-gen überholte Konzepte von Lernen und Bildung als Wissensakkumulation ohne(Selbst-)Reflexion. Im Zuge eines neu aufkommenden naturalistischen und biologisti-schen Zeitgeistes darf die Pädagogik sich aber nicht an eine neurowissenschaftlicheZugmaschine ankoppeln lassen (so verlockend das für Bildungs- und Forschungspoli-tik erscheinen mag), sondern muss ihren eigenständigen Weg selbstbewusst weiterge-hen (natürlich auch im Dialog mit den Neurowissenschaften) und wieder verstärkteFinanzierungen ihrer genuin pädagogischen Forschungs- und Entwicklungsprogram-me bekommen.

Literatur

Arnold, R. (2003): Konstruktivismus und Erwachsenenbildung. In: REPORT. Literatur- und For-schungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 51–61

Benner, D./Kemper, H. (2002): Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. 2 Bände. Stutt-gart

Brandt, R. (2004): Der unsichtbare Vierte. Der Geist residiert nicht in den Hirnzellen. In: Süd-deutsche Zeitung, 14.01.2004

Bürmann, J. (1992): Gestaltpädagogik und Persönlichkeitsentwicklung. Bad Heilbrunn

Chalmers, D. J. (2002): Das Rätsel des bewussten Erlebens. In: Spektrum der Wissenschaften,H. 3, S. 12–19

Ciompi, L. (1999): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlo-gik. 2. durchgesehene Aufl. Göttingen

Ciompi, L. (2003): Affektlogik, affektive Kommunikation und Pädagogik. Eine wissenschaftli-che Neuorientierung. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 62–70

Creutzfeld, O. (1986): Gehirn und Geist. Bursfelder Universitätsreden, H. 5

Forum

Page 97: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

97REPORT (27) 2/2004

Damasio, A. R. (1997): Descartes´ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 3.Aufl. München

Dauber, H. (1997): Grundlagen Humanistischer Pädagogik. Bad Heilbrunn

Edelman, G. (1993): Unser Gehirn – Ein dynamisches System. München

Flitner, A. (1993): Reform der Erziehung. 2. Aufl. München

Goleman, D. (2002): Emotionale Intelligenz. 15. Aufl. München

Gropengießer, H. (2003): Lernen und Lehren – Thesen und Empfehlungen zu einem professio-nellen Verständnis. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 29–39

Hansen-Schaberg, I./Schonig, B. (2002): Reformpädagogik: Geschichte und Rezeption. Balt-mannsweiler

Holzapfel, G. (2002): Leib, Einbildungskraft, Bildung. Nordwestpassagen zwischen Leib, Emo-tion und Kognition in der Pädagogik. Bad Heilbrunn

Holzapfel, G. (2004): Nordwestpassagen zwischen Leib, Emotion und Kognition in der Päda-gogik. Zur Einheit und Differenz von Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Einbildungskräf-ten in Lern- und Bildungsprozessen. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Weiterbil-dung, H. 1, S. 157–163

Holzkamp, K. (1983): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt a.M.

Hüther, G. (2002): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen

Jantzen, W. (1990): Allgemeine Behindertenpädagogik. Band 2. Neurowissenschaftliche Grund-lagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim

Jantzen, W. (2003): Neuronaler Darwinismus. Zur inneren Struktur der neurowissenschaftli-chen Theorie von Gerald Edelman. In: Mitteilungen der Luria-Gesellschaft, H. 1, S. 21–41

Lemke, B. (2003): Nichtbewusste Informationsverarbeitungsprozesse und deren Bedeutung fürdas Lernen Erwachsener. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 3,S. 71–83

Luczak, H. (2000): Das zweite Gehirn. In: GEO, H. 11, S. 136–162

Mack, W. (2002): Kommentar zum Aufsatz von Münch zur Einheit der Psychologie. In: Journalfür Psychologie, H. 1, S. 88–95

Münch, D. (2002a): Die Einheit der Psychologie und ihre anthropologischen Grundlagen. In:Journal für Psychologie, H. 1, S. 40–62

Münch, D. (2002b): Gegenstandsangemessenheit und die Reflektion auf Neurowissenschaften.Eine Replik auf W. Macks Kommentar. In: Journal für Psychologie, H. 1, S. 96–100

Oelkers, J./Rülcker, T. (Hrsg.) (1998): Politische Reformpädagogik. Bern/Berlin

Pauen, M. (2001): Grundprobleme der Philosophie des Geistes und die Neurowissenschaften.In: Pauen, M./Roth, G. (Hrsg.): Neurowissenschaften und Philosophie. München, S. 83–122

Pauen, M./Roth, G. (Hrsg.) (2001): Neurowissenschaften und Philosophie. München

Popper, K. R./Eccles, J. C. (1982): Das Ich und sein Gehirn. München

Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt a.M.

Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt a.M.

Roth, G. (2003): Warum sind Lehren und Lernen so schwierig? In: REPORT. Literatur- und For-schungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 20–28

Holzapfel: Mehr Selbstbewusstsein für Pädagogik!

Page 98: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

98 REPORT (27) 2/2004

Schmidt, S. J. (2003): Was wir vom Lernen zu wissen glauben. In: REPORT. Literatur- und For-schungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 40–50

Schröder, J. (2002): Willensfreiheit und Urheberschaft. Manuskript, Bremen

Schulte, G. (2001): Neuromythen. Frankfurt a.M.

Schwegler, H. (2001): Reduktionismen und Physikalismen. In: Pauen, M./Roth, G. (Hrsg.): Neu-rowissenschaften und Philosophie. München, S. 59–82

Siebert, H. (2003): Das Anregungspotenzial der Neurowissenschaften. In: REPORT. Literatur-und Forschungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 9–13

Siebert, H./Roth, G. (2003): Gespräch über Forschungskonzepte und Forschungsergebnisse derGehirnforschung und Anregungen für die Bildungsarbeit. In: REPORT. Literatur- und For-schungsreport Weiterbildung, H. 3, S. 14–19

Singer, W. (2001): Das falsche Rot der Rose. In: DER SPIEGEL, H. 1, S. 154–160

Singer, W./Wingert, L. (2000): Wer deutet die Welt? Ein Streitgespräch zwischen dem Philoso-phen L. Wingert und dem Hirnforscher W. Singer über den freien Willen, das moderne Men-schenbild und das gestörte Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. In: DIEZEIT, 7.12.2000, S. 43–44

Spitzer, M. (2003): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg

Stephan, A. (2001): Emergenz in kognitionsfähigen Systemen. In: Pauen, M./Roth, G. (Hrsg.):Neurowissenschaften und Philosophie. München, S. 123–154

Tononi, G./Edelman, G. (2002): Gehirn und Geist. München

Forum

Page 99: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

99REPORT (27) 2/2004

REZENSIONEN

Page 100: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

100 REPORT (27) 2/2004

..

Page 101: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

101REPORT (27) 2/2004

Anne-Christel Recknagel„Weib, hilf Dir selber!“ Leben und Werk derCarola Rosenberg-Blume(Hohenheim Verlag) Stuttgart 2002, 300 Sei-ten, 25,00 Euro, ISBN: 3-89850-970-2

Bettina Irina ReimersDie neue Richtung der Erwachsenenbildungin Thüringen 1919-1933(Klartext-Verlag) Essen 2003, 792 Seiten,39,90 Euro, ISBN: 3-89861-237-6

Mark RosemanIn einem unbewachten AugenblickEine Frau überlebt im Untergrund(Aufbau-Verlag) Berlin 2002, 583 Seiten,25,00 Euro, ISBN: 3-351-02531-9

Hans TietgensIdeen und Wirklichkeiten der Erwachsenen-bildung in der Weimarer RepublikEin anderer Blick(Klartext-Verlag) Essen 2001, 240 Seiten,14,90 Euro, ISBN: 3-88474-962-5

Eine kürzlich erschienene, kleine empirischeStudie von Peter Faulstich zu den Studiengän-gen Erwachsenenbildung/Weiterbildung anden deutschen Universitäten brachte unteranderem hervor, dass die Geschichte der Er-wachsenenbildung in der Liste der Lehrveran-staltungen quantitativ an zweiter Stelle zu fin-den ist. Was zunächst überraschen mag, istbei näherer Betrachtung gar nicht so verwun-derlich, denn eine Wissenschaft, die wie dieErwachsenenbildung in ihrer kurzen Ge-schichte und besonders in der jüngeren Ge-genwart derartig vielfältigen Wissenschaftsbe-zügen, massiven Konjunkturen, Einflüssenvon außen, politischen und wirtschaftlichenZwecksetzungen und Instrumentalisierungenausgesetzt war und ist, hat permanente Ver-gewisserungsbedarfe, die offenbar der Blickin die eigene Geschichte bedienen soll undkann. Insbesondere die Weimarer Zeit übtnach wie vor eine Faszination auf die Vermes-ser/innen der historischen Tiefendimensionenaus, davon zeugt auch eine Reihe von jünge-ren Veröffentlichungen, die im Folgenden vor-gestellt werden:Da ist eine schon länger erwartete Biografie,verfasst von Anne-Christel Recknagel, über

Sammelrezension Carola Rosenberg-Blume, die in den 1920erJahren äußerst erfolgreich die Frauenabteilungder Volkshochschule Stuttgart gründete undleitete und als Jüdin 1933 zunächst zum be-ruflichen Rückzug aus der Volkshochschuleund 1936 zur Emigration in die USA gezwun-gen wurde.Thüringen war in den Zwischenkriegsjahreneine der entwickeltsten und dichtesten Regi-onen der Volksbildung, hier waren Protago-nisten wie Weitsch, Angermann, Flitner,Buchwald, Reichwein, Lotze und Steinmetztätig, die nicht nur als Praktiker sondern auchals Theoretiker von sich reden machten. Bet-tina Irina Reimers hat nun in einer umfassen-den, überaus quellengesättigten Studie diesereiche Erwachsenenbildungslandschaft histo-riographisch erschlossen.Mark Roseman erzählt das Leben der Marian-ne Ellenbogen, geborene Strauß, die als Jüdinim Dritten Reich an verschiedenen Orten ver-steckt überlebte und dies vor allem dem Bund,einem Essener Volkshochschulkreis, verdank-te.Der in der ersten Hälfte der Weimarer Zeitvielleicht einflussreichste Vordenker, Fördererund Verwalter der Volksbildung war Robertvon Erdberg; er gilt zugleich als zentraler Ak-teur der so genannten Neuen Richtung.Hans Tietgens hat vor einiger Zeit eine Streit-schrift, einen „Anti-Erdberg“, veröffentlicht, inder er den vor allem programmatischen An-sprüchen der Neuen Richtung verschiedensteempirische Befunde und zeitgenössische Kri-tiken gegenüberstellt.Anne-Christel Recknagel, Fachbereichsleite-rin an der Volkshochschule Stuttgart, hat eineganz auf die Person Carola Rosenberg-Blumekonzentrierte Lebensbeschreibung verfasst.Auf der Suche nach der Geschichte der Stutt-garter VHS wie der Geschichte der Frauenbil-dung fand Recknagel Mitte der 1980er Jahreunerwartet die Spuren der von Carola Rosen-berg-Blume Mitte der 1920er Jahre initiiertenFrauenabteilung. Allmählich enthüllte sichdas beträchtliche Ausmaß und der überausbedeutsame Charakter dieser Frauenbildungs-arbeit, die von Rosenberg-Blume zu Anfangehrenamtlich und gegen die unverhohleneSkepsis ihrer Umwelt aufgebaut wurde, bis dieAbteilung für Frauen in ihrem quantitativenUmfang (1931/32 21000 Belegungen) wie inihrer Innovationsfreude den Rest der Stuttgar-ter Volkshochschule übertraf.

Rezensionen

Page 102: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

102 REPORT (27) 2/2004

Carola Rosenberg, 1899 geboren, verkörper-te den typischen Werdegang ihrer Generation,insofern als dass sie sich in der Jugendbewe-gung engagierte und der Bildung einen ho-hen Wert zuschrieb; schon weniger üblichwar – für eine Frau – eine Dissertationsschriftbei dem Münchener Pädagogen Alois Fischermit dem Thema „Über die Berufseinstellun-gen und -interessen der weiblichen Jugend.Eine empirische Untersuchung“. In der Mäd-chenbildung, Frauenbildung und Erwachse-nenbildung wollte sie sich engagieren, nach-dem ihr eine Stelle an der Schule verweigertwurde. Als Theodor Bäuerle ihr nach der drit-ten Bewerbung endlich die Erlaubnis gab,baute Carola Rosenberg die Frauenabteilungzunächst ehrenamtlich und gegen Vorbehalteihrer Umgebung auf. Das Kursangebot derFrauenabteilung umspannte die ganze Le-bensbreite weiblicher Existenz, eine wichtigeZielgruppe stellten natürlich die Arbeiterinnendar. Um diese zu gewinnen ging Rosenbergz. B. in die Betriebe und warb dort persönlichfür ihre Veranstaltungen. Recknagels Schilde-rungen ihrer vielfältigen, modernen undoftmals erstaunlichen institutionellen und pro-grammatischen Initiativen bilden das Mittel-stück des Buches.Carola Rosenberg wurde zu einem Jahrestref-fen des Hohenrodter Bundes und damit in denKreis der erlauchtesten Erwachsenenbildnerder Weimarer Republik eingeladen, um ihreArbeit vorzustellen, ihr Beitrag wurdeallerdings nicht – wie sonst üblich – veröffent-licht. 1933 als Jüdin in Stuttgart entlassen –im Gegensatz zu dem Fall ihres ebenfalls alsJuden von seiner Arbeitsstelle entfernten Kol-legen Adler unterließ man Bittschriften undInterventionen –, arbeitete sie 1934/35 in derMittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung/Frankfurt am Main und emigrierte Ende 1935mit ihrer Familie in die USA. Dort verzichtetesie auf eine größere Karriere zugunsten ihresals Schriftsteller bekannten und als Germanis-ten schließlich in Harvard tätigen MannesBernhard Blume. Vorsichtig geäußerte Rück-kehrambitionen nach 1945 fanden in Stuttgartkeine Resonanz, obwohl Theodor Bäuerle, ihrfrüherer Vorgesetzter, in die Position des ba-den-württembergischen Kultusministers auf-gerückt war.Die Biografie bietet eine intensive, strecken-weise die Emotionen der Autorin nicht aus-klammernde und in Teilen identifikatorische

Darstellungsweise – die Autorin rückt sehrnah an die porträtierte Frau heran. Die in den1920er Jahren geleistete Aufbauarbeit recht-fertigt aber, in Carola Rosenberg-Blume eineausgesprochene Leitfigur der Geschichte derdeutschen Erwachsenenbildung zu sehen.Der englische Historiker Mark Roseman ist fürseine Darstellung der Lebensgeschichte vonMarianne Ellenbogen, geborene Strauß, imenglisch-sprachigen Raum mit bedeutendenPreisen und hier in Deutschland erst kürzlichmit dem Geschwister-Scholl-Preis ausge-zeichnet worden. Seine für die hiesigen Re-zeptionsgewohnheiten atypische, aber gleich-wohl äußerst anregende Darstellung lässt denLeser und die Leserin an den Recherchen,Umwegen, Irrtümern, Zweifeln und Vieldeu-tigkeiten der historischen Arbeit teilhaben:Das Buch ist nicht nur die Darstellung einerergreifenden Lebensgeschichte, sondern zu-gleich ein verblüffendes Lehrbuch der Quel-lensuche und -kritik. Im nachgezeichnetenGeschehen, Aufwachsen der Marianne Straußin einer bürgerlichen, jüdischen Essener Fa-milie, Untertauchen um der Deportation zuentgehen, Kampf um das Überleben undschließlich Emigration nach England Ende1946, ist die Erwachsenenbildung eher einStatist am Rande und dennoch: Hier verwe-ben sich Bildungsverständnis und Zeitge-schichte.Denn gerettet wurde Marianne Strauß von denMitgliedern des Bundes, einer sozialistischenBildungsgemeinschaft; diese nahmen siejeweils für einige Wochen auf unter Verwen-dung von Decklegenden und Tarngeschich-ten. Der Bund war in der Weimarer Zeit Teildes Essener Gruppensystems in der Volks-hochschule, unter Leitung von Artur und DoreJacobs organisierte er das Bildungsangebotder sozialistischen Gruppe, zugleich aberauch eine Art kantianisch inspirierter, ethisch-sozialistisch orientierter Lebensgemeinschaft,vergleichbar dem ISK (Internationaler sozia-listischer Kampfbund) und firmierte in seinerGeschichte von 1924 bis in die jüngere Ge-genwart unter etwas wechselnden Zusätzenwie Freier Proletarischer Bund für Erziehung,Volkshochschulkreis, Gemeinschaft für sozi-alistisches Leben oder auch Internationalersozialistischer Orden. Streng, elitär, bildungs-religiös, binnenorientiert und gemeinschafts-selig war diese Gruppierung in vielen Hin-sichten, vertrat aber auch ein an universellen

Rezensionen

Page 103: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

103REPORT (27) 2/2004

Idealen orientiertes Gleichheitsverständnis,das man nicht nur propagierte, sondern ebenauch lebte. So verstand es diese Gruppe, ne-ben Marianne Strauß, mindestens das Lebenzweier weiterer bedrohter Jüdinnen zu schüt-zen. Während in der Gegenwart der normati-ve Kern von (Erwachsenen-)Bildung unauf-haltsam zugunsten omnipräsenter ökonomi-scher und sozialer Funktionen und einesnüchternen Skeptizismus abzuschmelzenscheint, erinnert Roseman mit dieser Lebens-geschichte an umfassendere Ansprüche, diebei dem heutigen Leser ein gewisses melan-cholisches Verlustgefühl evozieren.In der Kultur der Weimarer Zeit war geradedie Volksbildung bzw. Erwachsenenbildungein Durchlauferhitzer für die vielfältigstenIdeen und Projekte. Sie schmiegte sich –zumindest in der Ideologie, aber auch in rele-vanten Praxisbereichen – nicht nur den tradi-tionellen wie modernen Milieus der Zeit an,etwa dem katholischen oder sozialistischenKosmos, sie bildete auch ein Medium derModernisierung von Lebenswelten und Le-bensstilen, schließlich aber repräsentierte siezugleich Momente von Retardierung und Ge-genwartsverleugnung – auch in ihren vor-nehmsten Vertretungen, mit denen sich – manmuss sagen, zum wiederholten Mal – HansTietgens auseinander setzt.Tietgens’ Schrift ist eine Philippika gegen den„hohen Ton“ und die in ihren Äußerungen sodeutsch und idealistisch gestimmten Selbst-verständnisse der sich als Geisteselite – nichtnur der Erwachsenenbildung – verstehendenKreise der Neuen Richtung bzw. des Hohen-rodter Bundes und eine in verschiedenen Un-tersuchungsvektoren sich aufsummierendeGeneralabrechnung mit einigen Vertreterndieser Strömung (vor allem Robert von Erd-berg, Werner Picht und Oskar Hammelsbeck),deren Nachhut Tietgens in den 1950er und1960er Jahren als soziologisch Informierter,politisch Ernüchterter und Protagonist der re-alistischen Wende noch bekämpft haben mag.Die neue Richtung ist für Tietgens in großenTeilen die Ideologie einer intendierten Praxis,die es in der Wirklichkeit so nie gegeben hat:„Sie ist das Produkt einer Art Selbstberau-schung des Robert von Erdberg“ (S. 12), resü-miert er gleich schon zu Beginn seiner Invek-tiven.Zu Zeugen seiner Anklage macht er u. a. dieVolkshochschulleiter Theodor Geiger (Berlin),

Paul Honigsheim (Köln), Franz Mockrauer(Dresden), Alfred Mann (Breslau) und denKölner Soziologen Leopold von Wiese; dieserepräsentieren ein aufgeklärtes, pragmatischesund die Zwecke der beruflichen Bildung nichtverachtendes oder ausgrenzendes Verständnisvon Volkshochschularbeit. Die TietgensscheZentralperspektive bleibt im Wesentlichen imBanne der Volkshochschule, andere Einrich-tungen und Milieubezüge werden nicht ein-bezogen – dies ist ein wenig schade, weil erauch anderswo, z. B. bei den Heimvolkshoch-schulen und Volkshochschulheimen, hätteähnliche Kontroversen und aufschlussreichesBelegmaterial auffinden können.Wie immer schöpft Tietgens aus seiner rei-chen Kenntnis der Schriften der 1920er Jahre,oft interessante Bemerkungen und Hinweisefinden sich in den Fußnoten. Aber auch erkann in seiner Entgegensetzung von Ideologieund der anhand von Quellen und Berichtennachvollziehbar gemachten Praxis nur einenVorschein von dem geben, was eine intensiveAuswertung des vielfältig vorhandenen Da-tenmaterials noch an Erkenntnissen und Be-legen hervorbringen könnte und bleibt somitauf der Ebene der ideenbezogenen Auseinan-dersetzung. Es ist an sich ein bemerkenswer-ter Mangel in der Erwachsenenbildungsge-schichtsschreibung, dass eine umfassendeAuswertung des reichhaltig vorhandenen pri-mären statistischen Materials der Zeit von1920–1933, insbesondere aus dem Bereichder Volkshochschulen, bisher genauso weniggeleistet wurde wie eine Revision und Bewer-tung damit zusammenhängender empirischgeleiteter und theoretisch ausgebauter Deu-tungsversuche des Zusammenhangs von so-zialer Schichtung, Lebenswelt und Erwachse-nenbildungsbeteiligung. Es gibt manches(wieder) zu entdecken. Das Genre der moder-nen Milieu- und Lebensstilforschung mitsamtdem Mentalitätsbegriff ist beispielsweise eine(zum Teil verleugnete) Wiederaneignung dersoziologischen Untersuchungen und Katego-rien Theodor Geigers aus den 1920er Jahren,die wiederum ohne seine Erfahrungen alsGeschäftsführer der Berliner VHS kaum sovon ihm generiert worden wären.Solche Perspektiven und Horizonte deutetTietgens immer wieder an, kann sie allerdingsim Rahmen seiner Studie nicht intensiver un-tersuchen; er ruft jedoch zum Schluss seinerAusführungen den Leiter der Volkshochschu-

Rezensionen

Page 104: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

104 REPORT (27) 2/2004

le Breslau, Alfred Mann, mit seiner weitge-hend vergessenen, lebensweltorientierten undwissenssoziologischen Begleitforschung alsBeleg dafür herbei, dass eine adressatenbe-zogene und anthropologisch aufgeklärte Re-flexion der Volkshochschularbeit in der Wei-marer Zeit möglich war.Während Tietgens in seiner Anti-Erdberg-Schrift gewohnt wuchtig und nicht ohne Po-lemik argumentiert, beschreibt Bettina IrinaReimers in ihrer Untersuchung eher leise, un-spektakulär und sehr detailliert die Erwachse-nenbildungslandschaft Thüringens. Thüringengalt als entwickeltste Region der WeimarerVolksbildung, hier waren auch über die enge-re Erwachsenenbildungsöffentlichkeit hinausbekannte Personen wie Wilhelm Flitner, Rein-hard Buchwald, Adolf Reichwein, Pioniereeiner reflektierten Erwachsenenbildungsdi-daktik wie Eduard Weitsch, Franz Angermann,Gertrud Hermes und prägende Akteure derNachkriegszeit wie Heiner Lotze oder PaulSteinmetz tätig. Die besondere und wirklichgroße Leistung Bettina Irina Reimers bestehtin der umfassenden Erschließung der zahl-reich vorhandenen und trotz mancher schonbestehender Detailstudien noch meist unbe-rücksichtigten Quellen zur Geschichte derVolkshochschule Thüringen: Neben den Ak-ten im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Wei-mar sind dies weitere Bestände aus den de-zentralen Staatsarchiven, den Stadtarchiven,dem Zeiss-Archiv, vielen Spezialarchiven, essind dies Nachlässe, besonders der von Rein-hard Buchwald, und anderes mehr. Das Ergeb-nis ist eine voluminöse Studie von fast 800Seiten, deren erster Teil die Entstehung undOrganisation des Vereins VolkshochschuleThüringen als einen landesweit wirkendenTräger beschreibt, in deren zweiten Part diePraxis einzelner Einrichtungen und Bereichenäher vorgestellt wird, in deren Anhang sichu. a. biografische Annotationen und wichtigeDokumente finden lassen und die schließlicheine Anzahl von Bildern und dokumentari-schen Abbildungen umfasst, welche den Blickin die Geschichte kommentieren und vertie-fen. Nicht nur die Arbeit der bekannten Volks-hochschule Jena, sondern auch die Praxis derVolksbildung in den Kleinstädten und auf demLande wird beschrieben; in die Untersuchungder Heimvolkshochschulen werden nebendem üblichen Paradebeispiel Dreißigackerauch – z. T. kontrastierend – die sozialistisch

orientierte Einrichtung in Tinz/Gera und dieBauernhochschulen Neudietendorf und Ob-erellen sowie die völkische Hochschule BadBerka einbezogen. Die politische Bildungfindet Würdigung u. a. in der Darstellung ver-schiedener Wirtschaftsschulen, die Frauenbil-dung wird porträtiert und das für die Zeit ty-pische, in verschiedener Hinsicht umfassen-dere Selbstverständnis der Volksbildung amBeispiel des Vereinslebens und der Kulturar-beit dokumentiert.Reimers arbeitete empirisch und charakteri-siert selber ihr Werk als „historisch-deskripti-ve Regionalstudie“, ihre Leitfragen sind sehrkonkret und vornehmlich an der pädagogi-schen Praxis ausgerichtet. Hier, in dieser Be-schränkung, liegt aber auch, das ist nicht zuverschweigen, ein gewisser Mangel, denn esist schade, dass die Autorin angesichts diesesvon ihr erschlossenen reichhaltigen Materialssich nicht mehr analytische Schlüsse und Syn-thesen erlaubt und sich auch nicht deutlicherin die früheren und aktuell andauernden Kon-troversen um Selbstverständnisse und wissen-schaftliche Deutungskonstruktionen der His-toriker wie der Erwachsenenbildung einge-mischt hat. Man muss Tietgens und ReimersStudie nebeneinander und einander ergän-zend lesen, um ein ebenso reiches wie relati-oniertes Bild der Zeit zu erlangen. ReimersTitel „Die neue Richtung der Erwachsenenbil-dung ...“ ist wohl eher irreführend, denn ob-wohl Wilhelm Flitner zum inneren Kreis die-ser Gruppierung und einige andere Protago-nisten zum weiteren Umfeld gehört habenmögen, ist dennoch die Vielfalt der Praxis wiedie Gruppe der an führender Stelle tätigenPersonen nicht unter diesem Firmenschild zurubrifizieren.Tietgens räumt ohnhin für die 1920er JahreLernprozesse und Differenzierungen ein, sodass der Begriff der Neuen Richtung allmäh-lich an Zuordnungsschärfe und Deutungsge-wissheit verliert. Auch in Thüringen werdenvielfältige Einzelentwicklungen deutlich,Buchwald, Weitsch wie Angermann wareneher distanziert, Reichwein ließ sich in die-sen Kreisen gar nicht blicken. Tietgens dekon-struiert die Neue Richtung explizit, Reimersimplizit, aber beide bleiben letztlich in ihremDiskurs merkwürdig in den Bann der NeuenRichtung geschlagen. Das sollte weniger alsKritik, sondern als Beobachtung zur histori-schen Schwerkraft einer offenbar doch nach-

Rezensionen

Page 105: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

105REPORT (27) 2/2004

haltig die fachlichen Diskurse prägendenGruppierung gedeutet werden.Natürlich muss sich die Geschichte der Er-wachsenenbildung ihres spezifischen Gegen-standes vergewissern und das heißt zunächst,die Entwicklung der Disziplin und der Profes-sion nachvollziehen, aber sie braucht einendoppelten Blick, der nicht nur nach innengeht, sondern die Möglichkeiten der Histori-ographie auch dazu nutzt, die zweifelsohneim 20. Jahrhundert wachsende Bedeutungund Funktion des Feldes der Erwachsenenbil-dung für die gesellschaftlichen Reprodukti-onserfordernisse auch in einer Darstellung mitentsprechendem Theorierahmen einzulösen.Es ist bedauerlich, dass es der Erwachsenen-bildungsgeschichtsschreibung höchstens an-satzweise in Kleinstudien bisher gelungen ist,an die Standards der Sozialgeschichte undKulturgeschichtsschreibung anzuknüpfen; ihrthematisches Potenzial wird daher wedermethodisch noch im Hinblick auf die gesell-schaftlichen und kulturellen Bedeutungenausgeschöpft. Die Berufshistoriker können aufGrund fehlender Feldkenntnisse nicht erken-nen, dass im Bildungsbemühen Erwachsenerein fast unerschöpflicher Speicher die zeitge-nössische Öffentlichkeit und Kultur prägenderDiskurse vorliegt. Die nach innen orientierteErwachsenenbildungshistoriographie verzich-tet – vielleicht weil sie manchmal zu klein-mütig ist – darauf, den im Spiegel der Erwach-senenbildung festgehaltenen ästhetischen,politischen und gesellschaftlichen Gehalt inDiskursanalysen und sozialen Strukturbe-trachtungen zu deuten und freizusetzen undbegrenzt damit die Beachtung und Anerken-nung ihrer Wirkungen.

Paul Ciupke

(zu dem Werk von Anne-Christel Recknagelsiehe auch die Rezension von Schlutz in die-sem Heft S. 118 ff.)

Rezensionen

Peter BieriDas Handwerk der FreiheitÜber die Entdeckung des eigenen Willens(Fischer-Taschenbuch-Verlag) Frankfurt a.M.2003, 445 Seiten, 13,90 Euro,ISBN: 3-596-15647-5

Rundum – besonders auch in der Weiterbil-dungsdiskussion – wird von der Freiheit des„Selbst“ geredet. Einerseits um sie als Fahneeines individualistischen Neoliberalismushochzuhalten, andererseits um sie neurophy-siologisch wegzuerklären. Spätestens diesesskurrile Konglomerat von irrationalem Dezi-sionismus und kausalem Determinismuszwingt dazu, sich mit dem Begriff Freiheit ge-nauer auseinander zu setzen. Dies leistet Pe-ter Bieri.Er führt uns zunächst in den Irrgarten, derwächst aus dem Konflikt „zwischen zwei Ge-dankengängen, die aus unterschiedlichenProvinzen unseres Denkens schöpfen: auf dereinen Seite die Überlegung, die sich an derIdee einer verständlichen, bedingten und ge-setzmäßigen Welt orientiert; auf der anderenSeite die Erinnerung an unsere Freiheitserfah-rung, die in den Ideen der Urheberschaft, derEntscheidung zwischen verschiedenen Mög-lichkeiten und der Verantwortung ihren Aus-druck findet“ (S. 21/22). Erst wenn wir in die-ser vertrackten und tückischen gedanklichenSituation einen Schritt zurücktreten, könnenwir hoffen, unser eigenes Handeln zu begrei-fen. „Wenn man sich in einem Irrgarten ver-läuft, so bedeutet das, dass man die Übersichtverloren hat“ (S. 29). Um diese rückzugewin-nen, bedient sich Bieri einer „Verfremdungder Wörter“ (S. 30). Er spielt die sprachlichenFassungen innerer Wahrnehmungen durch,welche sich als Begriffe darstellen. „Alle Be-griffe sind etwas, das wir gemacht oder erfun-den haben, um unsere Erfahrung von der Weltund von uns selbst zu artikulieren“ (S. 153).Dabei greift er immer wieder auf Beispielezurück: Dostojewskis Raskolnikow, die Erfah-rungen eines Getriebenen, eines Mitläufers,eines Unbeherrschten, eines Zwanghaftenund anderen.Ausgangspunkt ist die Handlung. „Wenn Ras-kolnikow die Pfandleiherin mit der Axt er-schlägt, so ist das etwas, was er tut. Es ist eineHandlung“ (S. 31). Diese ist gekennzeichnet

Rezensionen

Page 106: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

106 REPORT (27) 2/2004

durch Urheberschaft, Sinn und Willen. Auseiner Vielzahl von Möglichkeiten und Wün-schen wird ein Wille geformt, der handlungs-wirksam wird. Was einen Handelnden unfreimacht, ist, dass in ihm ein Wille ist, der darangehindert wird, in eine Handlung zu münden.Es muss ein Spielraum vorhanden sein: Erkönnte auch etwas anderes tun.Unser Wille entsteht aber nicht im luftleerenRaum (S. 49). So hängt, was ich will, davonab, was mir begegnet, also von den äußerenUmständen. Unser Wille wird durch körperli-che Bedürfnisse, Gefühle, Geschichte undCharakter beeinflusst. Als Ergebnis dieser Kon-stellationen bildet sich der Wille heraus,etwas bestimmtes zu tun. „Entscheidend istWillensbildung durch Überlegen“ (S. 61).Während nun aber „instrumentelle Entschei-dungen“ dazu dienen, einem vorgegebenenübergeordneten Ziel zur Verwirklichung zuverhelfen, geht es bei „substantiellen Entschei-dungen“ darum, was ich eigentlich will undwarum. „In einer substantiellen Entscheidunggeht es stets um die Frage, welche meinerWünsche zu einem Willen werden sollen undwelche nicht“ (S. 62).Es ist die Phantasie, die uns dabei hilft. „Sieist die Fähigkeit, im Innern Möglichkeiten aus-zuprobieren“ (S. 65). Ich entwickle eine Vor-stellung davon, wie meine Empfindungen seinwerden, wenn ich meine Wünsche erfülle.„Wir müssen uns mit uns selbst gut ausken-nen, um substantielle Entscheidungen treffenzu können, die wir nicht bereuen werden“(S. 66). Hier taucht der Begriff der Identität aufund ebenso der der Reflexivität. „Zu der Fä-higkeit des Entscheidens, ... gehört die Fähig-keit, einen Schritt hinter sich zurückzutretenum sich selbst zum Thema zu machen“(S. 71).Der Sinn einer Handlung und die Strebungendes Willens sind stets in die Zukunft gerich-tet. Deshalb ist Zeiterfahrung ein Maß für Frei-heit oder Unfreiheit des Willens. Es muss eineoffene Zukunft geben, in der sich Erwartun-gen erfüllen.Soweit wurde der „freie Wille“ als ein Willebeschrieben, der sich unter dem Einfluss vonGründen, also durch Überlegen bildet. Diesliefert den Sinn von Entscheidungen undHandlungen, die durch einen Willen bedingtsein müssen, um nicht nur bloßes Geschehenzu sein. „Freiheit in diesem Sinn ist nicht nurmit Bedingtheit verträglich und braucht sie

nicht zu fürchten; sie verlangt Bedingtheit undwäre ohne sie nicht denkbar“ (S. 166). Aber,so fragt Bieri weiter: Ist das Freiheit genug? Erverfolgt die Idee des unbedingten freien Wil-lens, als Abwesenheit von Bedingtheit. Aus-gehend von dieser möglichen Grundeinstel-lung spielt Bieri verschiedenste Argumentati-onsvarianten in diese Richtung durch. Immerwieder verfängt man sich entsprechend inParadoxien. Man stößt auf Missverständnisseund es geht darum, durch die Verfremdungder Sichtweise, Unschärfen, Mehrdeutigkei-ten und Gebrauchsweisen von Begriffen undWörtern zu erkennen, die verdunkeln, statt zuerhellen (S. 369). Insofern handelt es sich „beider Rede von der unbedingten Freiheit umeine rhetorische Fata Morgana“ (S. 373).Bieri stößt nach Ausleuchten verschiedenerMissverständnisse darauf, dass die Idee vonUrheberschaft fortentwickelt und genauer ge-fasst werden muss, also von einem „Selbst“die Rede ist, welches nicht in die begrifflicheFalle eines „heimlichen Homunkulus“ gerätnoch einen „inneren Fluchtpunkt als reinesSubjekt“ deutet. Die Fähigkeit, einen innerenAbstand zu uns aufzubauen, die Reflexivitätdes eigenen Selbstbildes erlaubt erst, einenWillen als unseren eigenen zu ergreifen. In-dem wir die Freiheit der Entscheidung ausü-ben, stehen wir zu uns selbst. Das heißt auch,dass „die Freiheit des Willens etwas ist, dasman sich erarbeiten muss“ (S. 383).Dies nennt Bieri die „Aneignung des Willens“(S. 382 f.). Dabei geht es darum, den „eige-nen Willen“ zu klären, zu verstehen und zubewerten. „Es ist erstaunlich schwierig zu wis-sen, was man will“ (S. 385). Ausgangspunktist zunächst der Versuch, sich durch sprachli-che Artikulation über sich selbst Klarheit zuverschaffen. Weiter geht es um die Interpreta-tion der „inneren Landschaft“ (S. 392) derWünsche, um zunächst Unverständliches zuverstehen. Und schließlich um die Identifika-tion mit einem eigenen Willen, zu dem mansteht. Dabei ist das eigene Verstehen und Be-werten des Selbst im Sinne eines „Gravitati-onszentrums“ (S. 413) Kern der eigenen Erfah-rung und Erzählung. Durch den „angeeigne-ten Willen“ ist es überhaupt erst möglich,„Individualität“ zu entwickeln.Peter Bieri gelingt es, durch gedankliche undbegriffliche Klarheit die Voraussetzungen zulegen, von denen her sowohl die gesellschaft-liche Debatte um „Mündigkeit“ und „Selbst-

Rezensionen

Page 107: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

107REPORT (27) 2/2004

bestimmtheit“ ihre Unklarheiten und Belie-bigkeiten verliert, als auch die wissenschaftli-che Diskussion über das Verständnis vonHandlung und Entscheidung wesentlich vor-angetrieben werden kann. Nach der Lektürekann man viele Irritationen über „Selbstorga-nisation“, „Selbststeuerung“ und „Selbstbe-stimmtheit“ in der Erwachsenenbildung ge-nauer begreifen.

Peter Faulstich

Peter Faulstich/Dieter Gnahs/Sabine Seidel u. a. (Hrsg.)Praxishandbuch selbstbestimmtes LernenKonzepte, Perspektiven und Instrumente fürdie berufliche Aus- und Weiterbildung(Juventa Verlag) Weinheim und München2002, 255 Seiten, 18,50 Euro,ISBN: 3-7799-1435-2

Selbstorganisiertes, selbstgesteuertes, selbst-bestimmtes Lernen: Diese Begriffe tauchenseit einigen Jahren in der bildungspolitischenund pädagogischen Debatte zunehmend auf.Oftmals wird mit den Forderungen nach mehrSelbstlernen etwas Positives suggeriert: Dieautonome und selbstbestimmte Entscheidungüber Lernprozesse und Lerninhalte birgt ja ei-nen emanzipatorischen Kern in sich undknüpft an ebensolche Bildungstraditionen an.In dem vorliegenden Buch wird die Diskussi-on um selbstbestimmte Lernformen jedochauch kritisch hinterfragt und der aktuelle bil-dungspolitische Diskurs mit in die Analyseeinbezogen. Thematisiert werden Aspekte, obselbstbestimmtes Lernen nicht zu einer „Ent-Institutionalisierung“ des Bildungswesens undzu einem weiteren Abbau der staatlichen För-derung des Weiterbildungssystems führt, obsich damit Individualisierungstendenzen imSinne zunehmender (auch finanzieller) Eigen-verantwortung der Individuen verschärfenund dies zu weiterer sozialer Selektivität führt.Auch Fragen nach den veränderten Berufsrol-len der Lehrenden und sich daraus ergebendeVeränderungen für deren Aus- und Fortbil-dung werden gestellt. Ein besonderes Anlie-gen der Autor/inn/en ist es, einen deutlichenPraxisbezug herzustellen.Im ersten Teil des Buches wird ein Überblicküber selbstbestimmtes Lernen in der Weiter-bildung beschrieben. Dabei werden Merkma-

le selbstbestimmten bzw. selbstgesteuertenLernens herausgestellt wie beispielsweisemehr Lernerorientierung, Aktivierung des Ler-nenden, Entscheidungsfreiheit über Lernzieleund Lerninhalte, mehr Selbstkontrolle, mehrMedieneinsatz. Kritisch anzumerken ist hier,dass mit unklaren Begrifflichkeiten gearbeitetwird: So wird selbstgesteuertes und selbstbe-stimmtes Lernen weder voneinander abge-grenzt noch präzise definiert, statt von „Lern-arrangements“ spräche man auch besser von„Lehrarrangements“. Enttäuschend bleibtauch der Vergleich zwischen Lernarrange-ments mit Selbstbestimmung als Strukturprin-zip und den „eher traditionellen Lernarrange-ments“ – was unter traditionellen Lernarran-gements zu verstehen ist, wird nämlich nichtgenauer erläutert. Des Weiteren folgen Pra-xisbeispiele, in denen unterschiedliche Gra-de von selbstbestimmten Lernformen realisiertwurden bzw. werden. Dabei werden die je-weiligen Entstehungszusammenhänge, prak-tische Erfahrungen bei der Umsetzung undKosten-Nutzen-Überlegungen offen darge-stellt und diskutiert. Am Ende des Kapitelsfehlt jedoch eine abschließende Kommentie-rung und Einschätzung der Autorin.Im zweiten Teil des Buches wird selbstbe-stimmtes Lernen in einen bildungstheoreti-schen Kontext gestellt. Vorteilhaft wäre es si-cher gewesen, dieses Kapitel an den Anfangdes Buches zu stellen, da hier eine theoreti-sche Einordnung und begriffliche Klärungenvorgenommen werden. Unter Rückgriff aufHolzkamps Differenzierung zwischen defen-sivem und expansivem Lernen gelingt es Pe-ter Faulstich, eine andere Perspektive aufLehr-Lern-Prozesse einzunehmen: Nicht dieBereitstellung guter Bedingungen für Lernensteht im Mittelpunkt, sondern unterstrichenwird die aktive Aneignungsperspektive des In-dividuums. Plausibel ist sicherlich, dass dieVorstellung aufgegeben werden muss, ausge-hend von feststehenden Lehrzielen ließe sichein bestimmtes Lernverhalten erzeugen undunbestritten ist auch, dass es völlig unter-schiedlich sein kann, was Lehrende lehrenund Lernende lernen (S. 73). Etwas verwun-derlich ist dann jedoch, dass der Autor expli-zit didaktische Konsequenzen einfordert undKriterien formuliert, die expansives und –wieder ein neuer Begriff – „persönlichkeits-förderliches Lernen“ fördern sollen wie bei-spielweise Handlungsorientierung, Teilneh-

Rezensionen

Page 108: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

108 REPORT (27) 2/2004

merorientierung, Interessenbezug, Problem-bezug, Methodenoffenheit, Selbsttätigkeit undGruppenbezug. Vieles davon ist nicht neu underinnert doch sehr an die meisten konstrukti-vistischen lerntheoretischen Ansätze undGrundlagen der Motivations- und Interessens-forschung von Deci/Ryan und Krapp/Prenzel.Gelungen ist die von Dieter Gnahs im nächs-ten Kapitel vorgenommene Gegenüberstel-lung von Potenzialen und Gefahren zentralerAspekte selbstbestimmten Lernens wie Lerner-orientierung, Medieneinsatz, Aktivierung derLernenden, zeitliche und räumliche Flexibili-tät, Lernzielautonomie und Wahlfreiheit derLerninhalte. Für den Leser/die Leserin interes-sant sind auch die weiteren Kapitel, die selbst-gesteuertes Lernen in einem jeweiligen Kon-text betrachten (in der betrieblichen Erstaus-bildung, in berufsbildenden Schulen, imHochschulbereich oder im sozialen Umfeld).Dies verdeutlicht auch nochmals, dass dieRahmenbedingungen und die Gründe für dieEinführung selbstbestimmten Lernens einezentrale Rolle bei der Realisierung spielenund dies zu sehr unterschiedlichen Formenund Graden selbstbestimmten Lernens führenkann.Die Analyse der bildungspolitischen Rahmen-bedingungen aus gewerkschaftlicher Sichtvon Ursula Herdt erinnert daran, die politi-schen Implikationen von mehr Selbststeue-rung des Lernens in den aktuellen pädagogi-schen Diskussionen um selbstbestimmte Lern-formen nicht aus dem Blick zu verlieren.Das Buch bietet gute und vielfältige Informa-tionen zum Thema selbstbestimmtes Lernen.Durch die Präsentation der Praxisbeispieleund die kritische Analyse der politischen Rah-menbedingungen wird insbesondere der Blickauch auf kritische Aspekte selbstbestimmtenLernens gelenkt. Es ist sicherlich kein Hand-buch im Sinne einer Ansammlung von gutenAnleitungen zur Umsetzung selbstbestimmtenLernens in die Praxis, sondern es fordert denLeser/die Leserin immer wieder, sich mit denkritischen Aspekten selbstbestimmten Lernensauseinander zu setzen. Darin liegt der Reizund das Innovative dieses Buches.

Susanne Kraft

Stefan Görres/Regina Keuchel/Martina Roes u. a. (Hrsg.)Auf dem Weg zu einer neuen LernkulturWissenstransfer in der Pflege(Verlag Hans Huber) Bern u. a. 2002, 290 Sei-ten, 24,95 Euro, ISBN: 3-456-83672-4

Der Titel dieses Buches weckt zunächst Inter-esse, greift er doch zwei Schlüsselbegriffeaktueller didaktischer Diskussionen auf: Lern-kultur und Wissen. Tatsächlich jedoch han-delt es sich bei diesem Buch um die Ab-schlussdokumentation des Projekts „Wissens-transfer in der Pflege“, das die UniversitätBremen in Zusammenarbeit mit zwei BremerKrankenhäusern und Pflegeschulen von Ok-tober 1997 bis April 2000 durchgeführt hat.Über 30 Autorinnen und Autoren dokumen-tieren in 24 Artikeln theoretische Hintergrün-de, Erfahrungen aus der Projektdurchführungund Ergebnisse der Abschlusstagung.Im Kern geht es um das Problem, dass in derPflegeausbildung (die hier exemplarisch fürandere Berufsausbildungen stehen kann) dietheoretische und die praktische Ausbildungderart auf die beiden Lernorte Schule und Kli-nik aufgeteilt sind, dass man von einer traditi-onellen Trennung dieser Lernorte sprechenmuss: „In der Schule wird gelernt – in der Pra-xis wird gearbeitet.“ Und tatsächlich gilt: „DieErfahrungen vom Unterrichtserleben und sei-nen Inhalten kann von den Einzelnen nichtohne weiteres in die Praxis übertragen wer-den, da die Wirklichkeit der Praxis nie imUnterricht einzuholen ist und umgekehrt Un-terricht über die Wirklichkeit der Praxis hin-ausreicht. ... Es handelt sich um zwei eigeneSinnwelten“ (Görres, S. 18).Damit stellen sich folgende Fragen: Wie kön-nen in der Erstausbildung erworbenes inno-vatives Wissen und daran gebundene Schlüs-selqualifikationen auch tatsächlich in die pfle-gerische Praxis gelangen? Aber auch: Wiekann das Expertenwissen der Praktiker sinn-voll an Novizen weitergegeben werden? Wieist also der Wissenstransfer in diese beidenRichtungen sinnvollerweise zu gestalten? Gör-res konstatiert: „Eine Verbesserung des Theo-rie-Praxis-Verhältnisses und eine Förderungdes Wissenstransfers kann langfristig nur er-reicht werden, wenn die institutionelle, per-sonelle, aber auch die konzeptionelle Tren-nung von Schule und Pflegepraxis aufgeho-ben wird“ (S. 21). Dies bedeutet zunächst eine

Rezensionen

Page 109: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

109REPORT (27) 2/2004

Kooperation der Lernorte Schule und Praxis;es bedeutet ferner, dass sich Schule und Pra-xis gemeinsam als Teil einer lernenden Orga-nisation verstehen müssen und dass der Ar-beitsplatz als Lernort aufzufassen ist. Diesknüpft wiederum an generelle Entwicklungs-linien an, die sich auch außerhalb der Pflege-ausbildung abzeichnen: „Vor allem das Ver-hältnis von Lernen und Arbeiten wird sichgrundlegend verändern. Arbeiten muss lern-förderlich gestaltet werden. Prozesse des Ar-beitens und Lernens sind stärker miteinanderzu verzahnen“ (Görres, S. 14), und zwar überdie Grenzen der Erstausbildung hinaus.In dieser Perspektive ist die Fragestellung desProjekts auch für die Erwachsenenbildungnicht uninteressant, wenn es nämlich um dieFrage des Transfers gelernten (theoretischen)Wissens in die Praxis geht. Das Projekt selbstist jedoch – naturgemäß – auf die Pflegeaus-bildung bezogen, so dass die Nützlichkeit derweiteren Lektüre stark von den eigenen pfle-geausbildungs- (zumindest aber berufsausbil-dungs)bezogenen theoretischen bzw. prakti-schen Interessen abhängt.Das Projekt „Wissenstransfer in der Pflege“ hatsich drei Zielsetzungen gegeben (S. 115):Erstens: Eine Ist-Analyse vorhandener Curri-cula an ausgewählten Pflegeschulen und eineanschließende Evaluation der Pflegepraxis imHinblick auf Faktoren, die eine Umsetzunginnovativer Ausbildungsinhalte fördern bzw.behindern.Zweitens: Die Entwicklung von Strategien desWissenstransfers; damit verbunden die Kon-zeptionierung von Transfermodellen sowohlfür die Curricula der Pflegeschulen als auchfür die Pflegepraxis und eine sich daran an-schließende Implementation und Evaluationdieser Konzepte.Drittens: Erstellung eines neuen Pflegecurri-culums für das Land Bremen.Insgesamt sechs Beiträge befassen sich im ers-ten Teil des Buches mit theoretischen Überle-gungen zum Wissenstransfer in der Pflege:Anke Breitenstein und Olaf Pohl stellen Kon-zepte des arbeitsplatznahen Lernens in denKontext des berufspädagogischen Diskurses,Inge Henke geht dem Verhältnis von Theorieund Praxis nach, Regina Keuchel beschäftigtsich mit dem Konzept der Handlungsorientie-rung im Rahmen der Berufsausbildung, ImkeDienemann und Annegret Vrielink skizziereneine Theorie des dezentralen Lernens, Karin

Wittneben beschäftigt sich mit dem Erwerbvon expertengemäßem Handlungswissen undKordula Schneider wirft schließlich einenBlick auf die unterschiedlichen Akteure derPflegeausbildung.Man erfährt hier viel Interessantes, wobei dieAusführungen wohl vor allem für Berufspäd-agogen und Ausbilder relevant sein dürften,die mit der Entwicklung neuer Ausbildungs-konzepte beschäftigt sind.Im zweiten Teil des Buches kommen die Be-teiligten des Projekts zu Wort: Nach zwei ein-leitenden Artikeln der universitären Mitarbei-ter zu den wissenschaftlichen Voraussetzun-gen und Ergebnissen des Projekts schilderndie Schulleitungen der Krankenpflegeschulenund deren Stellvertretungen, Pflegelehrer, Kli-nikpflegeleitungen, Stationsleitungen, Mento-ren, Praxisanleiter/innen und Schüler derKrankenpflegeschulen in zehn weiteren Bei-trägen die Umsetzung des Projekts „Wissens-transfer in der Pflege“ jeweils aus ihrer Pers-pektive.Im dritten und letzten Teil des Buches findensich Beiträge der Abschlusstagung des Pro-jekts:Elisabeth Holoch schreibt zu Ansätzen situ-ierten Lernens, Magdalena Rösch und BrigitteSchwaiger berichten von einem Projekt einerBerliner Krankenpflegeschule, es folgt eineDokumentation von Diskussionsergebnissenzur Frage „Praktische Ausbildung – Lust oderLast?!“ und zum Schluss fasst Regina Keucheldie Diskussion im Forum „Lernen im Wandel“zusammen.Der Band wird abgerundet mit „Empfehlun-gen für die Implementation von innovativenLernmodellen“.Das Buch ist durchaus interessant zu lesen,wenngleich sich bei Projektberichten immerdie Frage nach der Zielgruppe stellt: Für denTheoretiker sind die Dokumentationen wis-senschaftlicher Projekte notwendig, weil demGedächtnis der Disziplin andernfalls Wissens-inhalte verloren gehen würden. Für Pflege-praktiker wäre als Lesehilfe ein einführendesKapitel zur Darstellung des roten Fadens undzu den Inhalten der jeweiligen Beiträge hilf-reich gewesen, um entscheiden zu können,an welchen Stellen es sich lohnen dürfte, wei-terzulesen.Aus der Perspektive der Erwachsenenbildungist der Fokus des Projekts vermutlich zu spe-ziell, um grundsätzlich interessant zu sein;

Rezensionen

Page 110: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

110 REPORT (27) 2/2004

allerdings ist es reizvoll zu beobachten, wiein anderen Disziplinen Fragen des arbeits-platznahen Lernens, der Handlungsorientie-rung, des Wissenstransfers aus der Theorie indie Praxis oder des Erwerbs von Expertisenicht nur diskutiert, sondern in innovativenProjekten auch umgesetzt werden.

Rüdiger Rhein

Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.)LesekompetenzBedingungen, Dimensionen, Funktionen(Juventa Verlag) Weinheim/München 2002,288 Seiten, 22,00 Euro,ISBN: 3-7799-1349-6

Innerhalb des DFG-Schwerpunktprogramms„Lesesozialisation in der Mediengesellschaft“ist der vorliegende Band als ein Ergebnis ei-ner interdisziplinären Kooperation entstan-den.Wie Norbert Groeben in seiner Einleitung„Zur konzeptuellen Struktur des Konstrukts‚Lesekompetenz’“ (Teil I) darlegt, hat Lesen inder Mediengesellschaft eine „mehr oder we-niger konstituierende Rolle“ (S. 11). Die Fra-gestellung hat sich „mehr vom quantitativenauf den qualitativen Aspekt verlagert, dasheißt auf die Frage, ob sich die Art bzw. Qua-lität des Lesens in Interaktion mit den ande-ren Medien verändert (hat). Dies ist die Fragenach der Lesekompetenz innerhalb der Me-diengesellschaft“ (ebd.). Zielsetzung diesesBandes ist die „Elaboration eines ... theore-tisch differenzierten und empirisch brauchba-ren Konzepts von „Lesekompetenz“ (S. 12).Relevant für die Konstruktexplikation sind so-wohl die Binnendifferenzierung mit den kog-nitiven, emotional-motivationalen und kom-munikativen Dimensionen als auch dieAußendifferenzierung im Hinblick auf Rah-menbedingungen, Einflussfaktoren und Funk-tionen im Gesamt der möglichen Medienver-bünde. Des Weiteren ist die historischeDimension bisheriger und zukünftiger Funk-tionen des Lesens zu berücksichtigen.Die einzelnen Teile sind so aufgebaut, dasszunächst in Überblicksartikeln der nationaleund internationale Forschungsstand skizziertwird, woran sich dann jeweils als Veranschau-lichung empirische Beispieluntersuchungenaus den Projekten des o. g. Schwerpunktspro-gramms anschließen.

„Die Beschreibung/Erhebung von Lesekom-petenz“ steht im Mittelpunkt von Teil II. To-bias Richter/Ursula Christmann geben in ih-rem Beitrag „Lesekompetenz: Prozessebenenund interindividuelle Unterschiede“ einenÜberblick über die kognitionspsychologischeForschung, wobei sie nach heutigem Kennt-nisstand drei Gruppen von Faktoren als be-sonders relevant herausstellen: Worterken-nungsprozesse, Arbeitsgedächtniskapazitätund Vorwissen (S. 48). Perspektivisch interes-sant sind intensivere Untersuchungen hin-sichtlich der Wechselwirkungen zwischeneinzelnen Teilfähigkeiten. Als empirischesBeispiel schließt eine Erhebung von JürgenFlender/Johannes Naumann an: „Erfassungallgemeiner Lesefähigkeiten und Rezeptionnicht-linearer Texte: ‚Print-Literacy-Lesen’ undLogfile-Analyse“. Es folgt die konzeptuelle Ex-plikation und Begründung der Anschlusskom-munikation als wichtige Teildimension der Le-sekompetenz – ein Aufriss im Rahmen einerkonstruktivistischen Theorie der Mediensozi-alisation von Tilmann Sutter. Dieser Komplexschließt mit dem Beitrag „Interpretation imLiteraturunterricht“ von Gerhard Rupp.Der Teil III, „Rahmenbedingungen und Ein-flussfaktoren“, wird eingeleitet durch einenBeitrag von Bettina Hurrelmann, in dem un-ter Rückbezug auf die sozialhistorische Ent-wicklung des Lesens sowie soziale und per-sonale Einflussfaktoren Konzeptionen undFunktionen von Lesekompetenz im Wandeldargestellt werden. Ursula Christmann undNorbert Groeben geben einen Überblick überden Forschungsstand hinsichtlich textseitigen„Anforderungen und Einflussfaktoren beiSach- und Informationstexten“. Hier beziehtsich das empirische Beispiel auf Leseprozes-se bei der Zeitungsrezeption Jugendlicher –ein Beitrag von Günther Rager, Lars Rinsdorfund Petra Werner. Hingewiesen sei noch aufden Beitrag von Peter Vorderer und ChristophKlimmt, die sich mit der Einbettung der Lese-kompetenz in die medialen Rahmenbedin-gungen und Einflussfaktoren befassen. Im An-schluss daran geht es in dem empirischenBeispiel von Marco Ennemoser/Karthrin Schif-fer und Wolfgang Schneider um die Relationvon Fernseheinfluss und LesefertigkeitAls Ausblick (Teil IV) geben zunächst MargritSchreier und Gerhard Rupp einen Forschungs-überblick über „Ziele/Funktionen der Lese-kompetenz im medialen Umbruch“. Ange-

Rezensionen

Page 111: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

111REPORT (27) 2/2004

sichts der Frage, welche Rolle die Lesekom-petenz in der Mediengesellschaft spielt bzw.spielen wird, ob das Lesen an Bedeutung ver-lieren oder aber angesichts der Medienviel-falt eine Schlüsselkompetenz bleiben wird, istihre Antwort ein „Sowohl-als-auch“ (S. 268).Nach ihren Erkenntnissen bleibt die „Lese-eine Basiskompetenz“; sie gehen davon aus,das sich die Funktionsbereiche der Lese- alsTeil einer Medienkompetenz noch ausweitenwird, was vor allem die „vermehrte Bedeu-tung des Medienwissens, die analytisch-kriti-schen Fähigkeiten sowie die zunehmende Ein-beziehung produktiv-verarbeitungsbezogenerAspekte speziell im Kontext der Nutzung di-gitaler Medien“ betrifft (ebd.). Andererseitskonstatieren sie parallel zu der Erweiterungzugleich eine Funktionsverschiebung des Le-sens: So ist das Lesen weniger an die Printme-dien gebunden, „stattdessen steigt die Rele-vanz der digitalen Verbreitung textueller In-formation“ (ebd.) Des Weiteren werdenFunktionen des Literarischen auch von ande-ren Medien übernommen.Den Abschluss bilden die Ausführungen „Pro-totypische Merkmale der Lesekompetenz“von Bettina Hurrelmann, sie fasst die im Ein-leitungskapitel begründeten Dimensionen,Rahmenbedingungen und Einflussfaktorensynoptisch zusammen. Auf Grund der Medi-enentwicklung kommt der Lesekompetenzeine neue Bedeutung zu, wobei zu untersu-chen sein wird, welche Teilkompetenzen per-spektivisch zu stärken sind.Da die Herausgeber die Bedeutung interdis-ziplinärer Kooperation betonen, sei ange-merkt, dass eine stärkere Einbeziehung derallgemeinen Erwachsenenbildung – insbeson-dere auch den Bereich Grundbildung betref-fend – von Interesse wäre.

Monika Tröster

Reza Hazemi/Stephen Hailes (Hrsg.)The Digital UniversityBuilding a Learning Community(Springer Verlag) London 2002, 252 Seiten,59,95 GBP, ISBN: 1-85233-478-9

Das vorliegende Buch erschien als 14. Bandder Reihe „Computer Supported CooperativeWork“ des Springer-Verlags und bildet dieFortsetzung des 1998 ebenfalls in dieser Rei-

he herausgegebenen Bands „The Digital Uni-versity: Reinventing the Academy“. Im thema-tischen Fokus der insgesamt 16 Kapitel stehencomputer- bzw. netzwerkgestützte Kollabora-tionsprozesse an Hochschulen. Die Betrach-tung der Organisation, der didaktischenGestaltung sowie der informationstechnologi-schen Unterstützung von kollaborativen Lehr-Lernprozessen bildet hierbei den wesentli-chen Schwerpunkt der inhaltlichen Auseinan-dersetzung. Ergänzend werden entlang denEmpfehlungen des 1997 in Großbritannien er-schienenen Dearing Reports kollaborations-orientierte Ansätze in der Nutzung von Infor-mations- und Kommunikationstechnologienin den Hochschulbereichen Forschung,Dienstleistungen und Management diskutiert.Den überwiegend theoriegeleiteten Beiträgenwerden Berichte zu Forschungsergebnissensowie Praxisreports zur Seite gestellt. Da indiesem Rahmen nicht en détail auf alle Fra-gestellungen, die in den einzelnen Kapitelnbearbeitet werden, eingegangen werdenkann, sollen hier nun exemplarisch einigeBeiträge vorgestellt werden.Lisa Kimball widmet sich in Kapitel 3 denHerausforderungen, mit denen Lehrende undLeitung eines Fachbereichs bei der Gestaltungvon Fernlernangeboten konfrontiert sind. Dadie Übertragung von Ansätzen aus der Prä-senzlehre in Bezug auf Lehrstrategien undLehr-Lernformen nicht zu den gewünschtenErfolgen geführt hat, macht Kimball Vorschlä-ge für neue Denkmuster, um sich den Dyna-miken des Fernlernens zu nähern.Jason A. Brotherton und Gregory D. Abowdpräsentieren in Kapitel 6 das Projekt eClassdes Georgia Institute of Technology. eClass isteine Sammlung von Programmen, die es Stu-dierenden ermöglichen, Teile von Vorlesun-gen für eine spätere Wiederholung medial zuspeichern. Damit sollen die Studierenden vonder Erstellung von Mitschriften entlastet unddie Aufmerksamkeit während der Vorlesungerhöht werden. Mit eClass können Präsentati-onen, Webseiten, Anschriebe auf elekroni-schen Tafeln und Audio- bzw. Videomitschnit-te gespeichert werden. Von den Studierendenwird der Einsatz von eClass positv beurteilt.Laut Umfragen sehen sie zwar immer nochdie Vorlesung selbst als wichtigste Komponen-te eines Kurses an, bevorzugen aber bei derKurswahl Kurse, die eClass nutzen.In Kapitel 9 berichtet Jaqueline Taylor For-

Rezensionen

Page 112: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

112 REPORT (27) 2/2004

schungsergebnisse zur Nutzung asynchronerLernformen in der akademischen Erstausbil-dung. Sie nennt in diesem Rahmen Untersu-chungen zu Interaktion, zum kritischen Den-ken, zu Team- und Kommunikationsfähigkei-ten und zum Zugang zu neuen Ideen,Perspektiven und Kulturen. In allen diesen Be-reichen profitierten die Studierenden vom Ein-satz asynchroner Lernformen, insbesonderedurch die Teilnahme an Diskussionsforen.Dabei ist als bedeutendes Einzelergebnis eineSteigerung der Interaktion und des Austauschsder Studierenden untereinander hervorzuhe-ben. Weiteren Forschungsbedarf sieht Taylorin den Bereichen der Motivation, der Lerner-folgskontrolle sowie hinsichtlich der Bedeu-tung der individuellen Unterschiedlichkeit derStudierenden für die Gestaltung der Lernpro-zesse.Wer von den in diesem Sammelband vertre-tenen Arbeiten eine konkrete Handlungsemp-fehlung für die Bildung einer „Learning Com-munity“ erwartet, der wird von der Lektüredieses facettenreichen, eine Fülle von Einzel-fallbeispielen liefernden Buches womöglichenttäuscht sein. Hier wird eher eine aktuelleMomentaufnahme der Hochschulen auf demWeg ins digitale Zeitalter geliefert. Zudemwerden anhand von Good-Practice-ProjektenErfolg versprechende Perspektiven und Hand-lungsfelder für die Zukunft aufgezeigt. Dabeiwird vor allem deutlich, dass eine den Kern-bereichen einer Hochschule angemesseneNutzung von Informations- und Kommunika-tionstechnologien eine zwar stetige, aber eherschrittweise Entwicklung ist, die aber langenoch nicht so rasant voranschreitet wie dieWeiterentwicklung dieser Technologienselbst.

Isabel Mueskens

Werner Helsper/Reinhard Hörster/Jochen Kade (Hrsg.)Ungewissheit. Pädagogische Felder imModernisierungsprozess(Velbrück Wissenschaft) Weilerswist 2003,394 Seiten, 29,00 Euro,ISBN: 3-934730-73-6

Pädagogische Kennzeichen der vergangenenModerne waren Aufklärung, Wissensvermitt-lung, Fortschritt. Merkmale der gegenwärtigen

reflexiven Moderne sind Ungewissheit, Nicht-wissen, Kontingenz. Die Autoren dieses Sam-melbandes interpretieren diese wissensbasier-ten Unsicherheiten keineswegs nur defensiv,sondern auch als pädagogische Ressource, alspädagogische Neuorientierung. Wenn auchdie alten Gewissheiten verloren gegangensind, so ist damit keineswegs pädagogischesHandeln obsolet geworden. Vielmehr wirdder erziehungswissenschaftliche Blick fürneue, „entgrenzte“ Felder des Lehrens undLernens geöffnet.Der Band enthält 17 Beiträge aus Schule, So-zialpädagogik und Erwachsenenbildung, aberauch grundlegende epistemologische undphilosophische Reflexionen. Unterschiedlichsind die Beiträge auch in ihrer Sprache undim theoretischen Anspruchsniveau.Die Disziplin Erwachsenenbildung ist mitmehreren Aufsätzen vertreten: Jochen Kadeund Wolfgang Seitter: „Jenseits des Goldstan-dards“, Wolfgang Seitter: „Verschränkungenauf Zeit“, Klaus Harney und Sylvia Rahn: „Le-benslanges Lernen als Kultivierung von Wis-sen und Nichtwissen“, Dieter Nittel: „Mecha-nismen der Bearbeitung berufsbiographischerUngewissheit“.Ausdrücklich hingewiesen sei auf Jochen Ka-des Text „Zugemutete Angebote, angeboteneZumutungen – (Politische) Aufklärung unterden Bedingungen von Ungewissheit“. J. Kadeanalysiert und vergleicht zwei politische Talk-shows (S. Christiansen und E. Böhme) hin-sichtlich ihrer pädagogischen Intentionen, ih-rer Konstruktionen des Zuschauers und derLernchancen. Immerhin werden die Talk-shows von Sabine Christiansen von ca. fünfMillionen Zuschauern gesehen, während dieBeteiligung an Seminaren der politischen Bil-dung weiter rückläufig ist.Die Kommunikationsform dieser Talkshows –so J. Kade – ist durch ein „Prekärwerden desWissens“ gekennzeichnet („prekär“ scheintein neuer Schlüsselbegriff der Risikogesell-schaft zu sein). Das Pädagogische dieser Fern-sehsendungen ist „flüchtig, fragil, fragmenta-risch, ambivalent, gebrochen“.J. Kade macht auf die Differenzen der beidenmedienpädagogischen Konzepte aufmerk-sam: S. Christiansen versucht, den Zuschaueraufzuklären und zu erziehen. Erich Böhmedagegen thematisiert die Themen nicht mora-lisch, sondern ironisch. „Böhme ironisiertaber nicht nur mit der Talkshow verbundene

Rezensionen

Page 113: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

113REPORT (27) 2/2004

Outputerwartungen. Er ironisiert auch die Er-wartung, man könne durch eine Analyse (par-teipolitischen) Handelns mit Gewissheit dasEintreffen einer bestimmten Zukunft prognos-tizieren. Und ironisiert wird auch die im Fern-sehen, zum Beispiel in Quizsendungeninzwischen verbreitete Praxis, dargebotenesWissen als nützlich zu etikettieren, obwohl esnur um Spaß und Unterhaltung geht“ (S. 376).Für mich hat J. Kades Beitrag die altrömischeMaxime „prodesse et delectare“ erfüllt. Diesgilt aber nicht für alle Texte; eine ironischeHaltung des Lesers erscheint angebracht.

H. S.

Franz-Josef Jelich/Heidemarie Kemnitz(Hrsg.)Die pädagogische Gestaltung des RaumsGeschichte und Modernität(Klinkhardt Verlag) Bad Heilbrunn 2003, 556Seiten, 24,80 Euro, ISBN: 3-7815-1270-3

Die Aufmerksamkeit der Erwachsenenbildungfür Lernmöglichkeiten jenseits von curricula-ren und institutionellen Rahmungen hat sichin den Begriffen der Lernkultur(en) und demder Lernorte kristallisiert: Es ist vor allem dererste dieser Begriffe – meist mit dem Adjektiv„neu“ versehen –, der die Diskussion be-stimmt. Der zweite ist damit eng verbundenund verweist auf die Bedeutung, dieneuerdings den räumlichen Bedingungen bei-gemessen wird. Diese werden immerhin soernst genommen, dass – von Christiane Hofim Band von Nittel/Seitter „Die Bildung desErwachsenen“ (2003) – der Vorschlag ge-macht wurde, den Gegensatz zwischen me-dialer und personaler Vermittlung durch einedritte Variante aufzulösen, nämliche die struk-turale, die vor allem die Gestaltung von Lern-räumen bzw. -umgebungen in den Mittel-punkt rückt.Damit wird die Möglichkeit eröffnet, andereals die üblichen Referenztheorien und Metho-den zur Klärung eines für die Erwachsenen-bildung wichtigen und vermutlich immerwichtiger werdenden Elements heranzuzie-hen. Gemeint sind hier zum einen die Archi-tektur bzw. Architekturgeschichte und dieKulturwissenschaften und zum anderen me-thodologisch reflektierte Versuche, Bildmate-rialien als Quellen historischer und gegen-

wartsbezogener Forschung heranzuziehen.„Bilder als Quellen der Erziehungsgeschich-te“ heißt ein einschlägiger Band, der im Klink-hardt Verlag 1997 erschienen ist und der(noch) keinen explizit auf die Erwachsenen-bildung bezogenen Beitrag enthält. Dies istanders bei dem jetzt im gleichen Verlag pu-blizierten Buch, das eine Tagung der SektionHistorische Bildungsforschung der DeutschenGesellschaft für Erziehungswissenschaft zurpädagogischen Gestaltung des Raums doku-mentiert.An Erwachsenenbildung Interessierte werdenvor allem die Beiträge von Bettina Irina Rei-mers zur Kultur- und Bildungsarbeit der Volks-hochschule Thüringen in der KlassikerstadtWeimar, von Klaus Harney zur „Berufsbildungals räumliche Identität“, von Paul Ciupke überdie am Meer gelegenen Volkshochschulhei-me Prerow und Klappholttal, von Franz-JosefJelich zu Häusern der Erwachsenenbildung inden 1950er und 60er Jahren, lesen. Hingewie-sen sei aber auch auf die den Begriff des Päd-agogischen erweiternden Beiträge wie denvon Horst Dräger über „Siedlung als morali-schen Raum“ am Beispiel von Dresden-Hel-lerau oder von Carola Groppe über die päda-gogische Architektur von Bürgerhaus und Vil-la am Beispiel einer Fabrikantenfamilie imBergischen Land.Es fällt auf, dass das Thema der pädagogi-schen Gestaltung des Raums sich als be-sonders fruchtbar erweist für zwei Bereiche,die – politisch entgegengesetzt – unmittelbarmiteinander verbunden sind: Gemeint sinddie pädagogischen Raumgestaltungen im Na-tionalsozialismus einerseits und die Gedenk-stättenpädagogik in den beiden deutschenNachfolgestaaten andererseits. Die für zu er-ziehende Volksgenossen gestalteten Räume inLagern der Wehrmacht, des Arbeitsdienstes,der Partei und weiterer Organisationen unter-sucht der Historiker Kiran Klaus Pantel, diepädagogische Psychologie der räumlichenAufstellung im so genannten „Fahnenkreis“und die Verwendung entsprechender Bilddo-kumente zu Propagandazwecken analysiertaus pädagogischer Sicht Gisela Miller-Kipp.Demgegenüber stehen die Beiträge zur päda-gogischen Gestaltung der KZ-GedenkstättenBuchenwald (Hasko Zimmer) sowie Sachsen-hausen und Ravensbrück (Bernd Faulenbach)als Dokumente vergangener antifaschistischerund den DDR-Staat legitimierender Erziehung

Rezensionen

Page 114: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

114 REPORT (27) 2/2004

sowie aktueller historisch-politischer Bildung.Dass die in der allgemeinen Erziehungswis-senschaft, der Schul- und der Religionspäda-gogik verfolgte Raum-Thematik auch für dieErwachsenenbildung relevant sein kann, zeigtder Band – ungeachtet der in derart umfang-reichen Tagungsdokumentationen unvermeid-lichen Niveauunterschiede – konkret anhandder angeführten Beiträge und allgemein durchdie von ihm ausgehenden Anregungen: Fürdie theoretische Diskussion dürfte sich dieRaum-Metapher mit Aspekten wie Privatheitvs. Öffentlichkeit oder Geschlossenheit vs.Offenheit weiter als fruchtbar erweisen, fürdie empirische Forschung die methodisch be-wusste und nachvollziehbare Analyse der er-wachsenenbildnerischen Intentionen und Im-plikationen von (gestalteten und ungestalte-ten) Landschaften, geplanten oder realisiertenAnlagen, Gebäuden, Räumen und Raumge-staltungen – realen, wie in dem Band behan-delten, aber auch virtuellen, wie sie in denLernumgebungen der Neuen Medien entwi-ckelt werden.

Sigrid Nolda

Arnim Kaiser (Hrsg.)SelbstlernkompetenzMetakognitive Grundlagen selbstreguliertenLernens und ihre praktische Umsetzung(Luchterhand Verlag) München 2003, 239Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 3-472-05579-0

Der Text gibt die Ergebnisse eines zweijähri-gen Forschungs- und Praxisprojekts der Katho-lischen Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenen-bildung (KBE) wieder. Das Projekt wurde vomBundesministerium für Bildung und For-schung finanziert, von der ForschungsgruppeSeLK (Kaiser u. a.) und Praktiker/inne/n aus 15Einrichtungen der Erwachsenen- und Famili-enbildung getragen. Ziel war es, praxisnahund umsetzungsorientiert Grundlagen für den„gezielten Einsatz von Metakognition“ (S. 14),der Basiskompetenz vielfältiger Einzelfertig-keiten selbstregulierter Lernprozesse, zuschaffen. Das Projekt hat auf pädagogischer,qualifikatorischer und wissenschaftlicher Ebe-ne gearbeitet. Weiterbildungsteilnehmendesollten metakognitiv ausgerichtete Technikenanwenden lernen, Kursleitende sollten ent-sprechend qualifiziert werden und förderliche

bzw. hemmende Wirkungszusammenhängevon Aneignungsprozessen sollten erforschtwerden. Entsprechend dieser vielfältigenSchwerpunktsetzung wurden unterschiedli-che Forschungssettings und -methoden einge-setzt: schriftliche Befragungen von Teilneh-menden, narrativ-fokussierte Interviews vonKursleitenden, Verfahren der Unterrichtsko-dierung und Identifizierung von Spielzügenim Rahmen von Erprobungsseminaren, Ver-gleiche mit Kontrollseminaren. Dieser Metho-den-Mix diente der Erfassung vorhandenermetakognitiver Kompetenzen von Teilneh-menden, Einstellungen und Fertigkeiten aufder Dozentenseite, Evaluation metakognitivausgerichteter Lehr- und Lernsettings. Erkennt-nisleitend war das Interesse, wie und unterwelchen Bedingungen Selbstlernkompeten-zen in normale Weiterbildungsangebote inte-griert werden können und damit Basisqualifi-kationen in der Wissensgesellschaft vermittel-bar und erwerbbar werden. „Metakognitivorientierte Techniken müssen als konstitutivesMoment in der Lernkultur in der Weiterbil-dung begriffen werden“ (S. 78).Die differenzierten Zusammenfassungen vonTeilergebnissen des Projekts u. a. zu Persön-lichkeitsvariablen, Merkmalen des Lehr-Lern-designs, Transfererfolgen, Orientierungen vonKursleitenden werden jeweils durch Hinwei-se auf bildungspraktische Konsequenzen ab-gerundet. Ein abschließendes Kapitel vermit-telt die Ergebnisse im Überblick und be-schreibt Praxisfolgen für die Weiterbildung.Zunächst wirkt ernüchternd, dass Erprobungs-seminare, in denen gezielt mit metakogniti-ven Techniken gearbeitet wurde und Kontroll-seminare, die diese nicht bewusst einsetzten,in der Gesamtorientierung keine entscheiden-den Kompetenzdifferenzen aufwiesen (vgl.S. 42). Dies hat nachvollziehbare Gründe(u. a. Kürze von Übungsmöglichkeiten undQualifikationsdefizite von Dozenten), aberangesichts dieser Trendaussage fällt es als Le-serin schwer, dem Vorher-nachher-Vergleichdetailliert zu folgen und sich mit der Fülleuntersuchter Einzelaspekte geduldig aus-einander zu setzen – zumal sie teilweisesprachlich eher sperrig gefasst sind. Metho-disch aufwändig gewonnene Ergebnisse über-raschen nicht immer. So, wenn z. B. betontwird, dass der Erwerb von Selbstlernkompe-tenzen entscheidend von den subjektivenLernvorstellungen und den mitgebrachten

Rezensionen

Page 115: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

115REPORT (27) 2/2004

Anfangsorientierungen abhängt (vgl. S. 66 f.).Gleichzeitig wird eindrücklich belegt, dassAnsprüche an selbstgesteuertes Lernen auchzu permanenten Lernzumutungen werdenkönnen, wenn Lernende nicht zur aktivitäts-orientierten und handelnd-experimentieren-den Teilgruppe gehören. Angesichts dieserBefunde wird unterstrichen, dass sich Weiter-bildung verändern muss, um Selbstlernkom-petenzen auf breiter Basis entwickeln zu kön-nen. Soll diese Veränderung nachhaltig sein,dann muss entscheidend in die Qualifizierungund Prozessbegleitung von Kursleitenden in-vestiert werden, denn noch zu viele Lehrkräf-te stehen dem Konzept abwehrend und zö-gerlich gegenüber (vgl. S. 206 ff.).Ein abschließender Hinweis: Jenseits einzel-ner Forschungsstränge lässt sich das Buchauch als Fundgrube praxisnaher Anregungenzur Umstellung von input-zentrierter, traditi-oneller Lehre hin zur Lernberatung und Stär-kung von Metakognition lesen.

Monika Schmidt

Monika KilOrganisationsveränderungen in Weiterbil-dungseinrichtungenEmpirische Analysen und Ansatzpunkte fürEntwicklung und Forschung(W. Bertelsmann Verlag) Bielefeld 2003, 160Seiten, 14,90 Euro,ISBN: 3-7639-1843-4

Monika Kil knüpft an die zunehmende Bedeu-tung der Institutionenforschung in der Erwach-senenbildungswissenschaft an. Dabei zielt ihrAnliegen darauf ab, das bereits vorhandeneempirische Wissen insbesondere aus der Or-ganisationspsychologie aufzubereiten. Außer-dem hat sie umfangreiche eigene Erhebungendurchgeführt, die in die verschiedenen Kapi-tel einfließen. Hierzu zählen Experteninter-views mit unterschiedlichen Mitarbeitergrup-pen von Volkshochschulen sowie zehn „Kom-pletterhebungen“ von Volkshochschulen inNordrhein-Westfalen. Für letztere wurdenFragebögen und 65 fokussierte Interviews mitallen Mitarbeitergruppen vor Ort ausgewertet.Außerdem wurden Telefoninterviews mit Füh-rungskräften aus Weiterbildungseinrichtungendurchgeführt.In einem ersten Teil fasst die Autorin allge-

meine organisationspsychologische Erkennt-nisse in ihrer Relevanz für Weiterbildungsor-ganisationen zusammen und begründet derenorganisationale Veränderungsnotwendigkei-ten. Im Rahmen des ersten Teils werden diegesamten Mitarbeiter der zehn untersuchtenVolkshochschulen im Hinblick auf Variablendes Job diagnostiv service analysiert, der Kri-terien wie Aufgabengeschlossenheit, Motivie-rungspotenzial, Zufriedenheitsaspekte etc. er-fasst.Im zweiten Teil der Publikation werden Erfah-rungen aus Organisationsveränderungspro-jekten zusammengestellt. Hierzu wird auf dieTelefoninterviews mit Führungskräften aus öf-fentlich geförderten Weiterbildungseinrich-tungen zurückgegriffen . Dabei bewertetendie Führungskräfte retrospektiv die durch-schnittlich fünf Jahre alten Veränderungsvor-haben. Die Auswertung des Rückblicks aufdie Veränderungsprozesse erfolgt in Bezug aufdie Zufriedenheit mit dem Beratungsprozesssowie mit transferfähigen und behinderndenElementen und organisationsstrukturellen Ver-änderungen.Der dritte Teil identifiziert die Bereiche „Füh-rung“, „Beanspruchung“ und „Verwaltung“als zentrale Barrieren bzw. Hindernisse für Or-ganisationsveränderungsprozesse.Im Teil vier setzt sich die Autorin mit Bera-tung als pädagogischer Interventionstechnikauseinander, die Veränderungsprozesse inOrganisationen unterstützen soll. Dieses sehrkurze Kapitel bleibt insofern etwas unbefrie-digend, als sehr knapp Standpunkte vertretenwerden, die nicht wirklich vertieft werden.Allerdings wäre dies wohl angesichts des Feh-lens einer für dieses Feld angemessenen Be-ratungstheorie auch zu viel verlangt.Als zukünftiges Forschungsfeld wird imSchlusskapitel vor allem die Auseinanderset-zung mit der Lernkultur der Weiterbildungs-einrichtungen vorgeschlagen.Monika Kil gelingt es, mit ihren differenzier-ten Darstellungen einen guten und anregen-den Einblick in relevante Aspekte von Orga-nisationen im Weiterbildungsbereich zu ge-ben und sie leistet damit einen wichtigenBeitrag zu der noch sehr defizitären Instituti-onenforschung in der Weiterbildung. DerBand macht Mut, weitere Forschungsprojek-te in diesem Feld in Angriff zu nehmen. Alskleiner Kritikpunkt sei angemerkt, dass esmanchmal etwas schwer fällt, den Wechsel

Rezensionen

Page 116: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

116 REPORT (27) 2/2004

zwischen sehr allgemeinen theoretischenÜberlegungen und den konkreten empiri-schen Ergebnissen mitzuvollziehen. Außer-dem wäre es hilfreich gewesen, etwas deut-licher zu machen, dass sich alle eigenen Er-gebnisse auf die empirische Analyse vonVolkshochschulen beziehen, denn von die-sen – wenn auch sehr wichtigen – Weiterbil-dungsinstitutionen lassen sich nicht um-standslos Verallgemeinerungen für alle Wei-terbildungseinrichtungen ableiten.

C. S.

Heinz-Hermann Krüger/Thomas Rauschen-bach u. a.Diplom-Pädagogen in DeutschlandSurvey 2001(Juventa Verlag) Weinheim 2003, 335 Seiten,22,50 Euro, ISBN: 3-7799-1654-1

Seit mehr als 30 Jahren gibt es die Möglichkeit,an den Hochschulen Erziehungswissenschaftim Hauptfach zu studieren. Nach der „Rah-menordnung für die Diplomprüfung in Erzie-hungswissenschaft“, die von der Kultusminis-terkonferenz am 20.3.1969 beschlossen wor-den ist, haben 42 Hochschulen in derBundesrepublik Studiengänge zum Diplom-Pädagogen eingerichtet. Dies wird nun bilan-ziert.„Als Ende der 1960er-Jahre, Anfang der1970er-Jahre die ersten pädagogischen Di-plomstudiengänge an den damaligen Pädago-gischen Hochschulen sowie zunächst nur aneinigen wenigen Universitäten eingerichtetwurden, konnte noch niemand ahnen, wiesich dieses neue Qualifikationsprofil einmalentwickeln würde“ (S. 9). Krüger u. a. unter-nehmen eine Bestandsaufnahme auf derGrundlage einer von der DFG finanziertenbundesweiten postalischen Befragung vonAbsolvent/inn/en der Examensjahrgänge 1996und 1997 des Diplomstudiengangs. Die Be-fragten wiesen zum Erhebungszeitpunkt 2001eine Nachstudienphase von mindestens 2,5und höchstens 5,5 Jahren auf. Erfasst wurden5.706 Absolvent/inn/en und im Rücklauf er-reicht 3.233 auswertbare Fragebögen, waseiner hohen Quote von 61 % der Befragtenentspricht. Hervorstechendes sozialstatisti-sches Merkmal ist: „Der Frauenanteil beträgtin der Stichprobe insgesamt 79 %“ (S. 24).

Erfragt und in einzelnen Beiträgen aufgearbei-tet wurden: Motive, Verläufe und Zufrieden-heit für das Studium; Mehrfachqualifikatio-nen; Arbeitsmarktsituation; Teilarbeitsmärkte;Berufsverläufe; Selbstständigkeit; Berufserfolg;Tätigkeitsprofile und berufsrelevante Kennt-nisse; berufliche Selbstbilder; Leitbilder pro-fessionellen Handelns; wissenschaftlichesWissen; Ost-West-Vergleich und Geschlech-ter-Vergleich.Der vorliegende bundesweite Diplom-Päda-gogen-Survey liefert zum ersten Mal ein re-präsentatives quantitatives Material über dieErfahrungen, Einschätzungen und Erwartun-gen der Absolvent/inn/en des Hauptfachs Er-ziehungswissenschaft. Der umfangreiche Fra-gebogen hat zu den genannten Problemkom-plexen interessante Statistiken produziert.Manches allerdings wäre zwingend qualitativgenauer nachzufragen. So könnte einiges, wiez. B. die „Motive für die Wahl des Studien-fachs“ (Tab. 2.1, S. 43) durch die Methode,nämlich die anzukreuzenden Vorgaben(„Wollte mit Menschen zu tun haben“, „Ent-sprach meiner Begabung“ usw.), produzierteArtefakte bzw. Wiederholungen der Erwartun-gen der Forschenden darstellen. Wenn mandies nicht relativiert und vertiefende Nachfol-geuntersuchungen anschließt, könnte manszientifischen Illusionen unterliegen.Deutlich wird dies z. B. auch bei der Zuord-nung der Arbeitsfelder, welche in „pädagogi-sche“ und „nicht-pädagogische“ unterschie-den werden. Dabei fällt auf, dass die „Erwach-senenbildung“ im Vergleich zur „SozialenArbeit“ wenig differenziert ist – die Erhebungist insgesamt im Vergleich mit anderen Ar-beitsfeldern durch ein sozialpädagogischesBias gekennzeichnet; ebenso ist bemerkens-wert, dass „Personalwesen“ zu „Sonst. nicht-päd. Arb.-felder“ gerechnet wird (Abb. 4.1,S. 77). Für die Absolvent/inn/en aus diesemSchwerpunkt war dies in den letzten Jahreneine der wichtigsten Perspektiven.Kennzeichnend für die Einmündungsprozes-se der Diplom-Pädagogen ist gerade eine „ak-tive Professionalisierung“, indem beruflichePositionen, die vorher so nicht ausgewiesenwaren, besetzt werden. Die Einrichtung einesHauptfachstudiums in Erziehungswissen-schaft mit dem Studienschwerpunkt Erwach-senenbildung/Weiterbildung war eben des-halb – allen hochschul- und arbeitsmarktpo-litischen Irritationen zum Trotz – eine

Rezensionen

Page 117: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

117REPORT (27) 2/2004

Erfolgsgeschichte. Der Studiengang Diplom-Pädagogik mit seinen verschiedenen Schwer-punkten ist hinsichtlich der Studierendenzah-len in die Spitzengruppe der bundesdeutschenDiplomstudiengänge aufgerückt.Hintergrund ist die Expansion des Tätigkeits-feldes. Dies liegt auch am Umfangswachstumdes Teilarbeitsmarktes für personenbezogeneDienstleistungen insgesamt, zu dem die Bil-dungsberufe gehören. Gleichzeitig weistbesonders das Beschäftigungssegment der Er-ziehungs-, Bildungs- und Sozialberufe lang-fristig eine stetige Steigerung auf.Trotz der anfänglichen Skepsis und einer ers-ten Problemphase, in der der erziehungswis-senschaftliche Diplomstudiengang als Stief-kind der Bildungsreform erschien, hat diesesStudienangebot eine erstaunliche Entwick-lungsdynamik entfaltet (S. 14). Nach der ers-ten Expansion in den 1980er Jahren auf etwa25.000 stieg die Zahl der Immatrikulierten ste-tig an und betrug Ende der 1990er Jahre rund40.000.„Der vorliegende Diplom-Pädagogen-Surveyist der erste seiner Art“ (S. 21). Dies ist seinVerdienst und seine Schwäche. Es lassen sichin einer solchen Erhebung nur punktuelleDaten kompilieren. Es kann sein, dass sichz. B. alle Aussagen über Arbeitsperspektiven,die 2001 gut waren, zwei Jahre später ganzanders darstellen. Dies könnte nur eingeord-net werden, wenn der Survey auf Kontinuitätgestellt würde. Möglicherweise wird er aberauch der letzte sein. Mit der neuen Diskussi-on um Bachelor- und Master-Studiengängebricht das ganze Feld der Studiengangstruk-turen in nahezu allen Disziplinen auf. Aus-gangssituation und Entwicklungsperspektivendes Hauptfachstudiums Erziehungswissen-schaft stellen sich somit paradox dar: Eine imVergleich zur allgemeinen Akademikerar-beitslosigkeit relativ günstige Arbeitsmarktin-tegration kontrastiert mit der hochschulpoliti-schen Absicht, fast um jeden Preis flächend-eckend modularisierte BA/MA-Studiengängeeinzuführen (S. 299, S. 301). Insgesamt gerätdas deutsche Hochschulsystem im Kontextdes Bologna-Prozesses, der bis 2010 abge-schlossen sein soll, in eine dramatische Um-bruchphase. Die Hochschulpolitik der KMKist gekennzeichnet durch eine erschreckendeRigidität, eine grundlegende Transformationder Studienstrukturen an deutschen Hoch-schulen zu erzwingen. Wie dann ein Haupt-

fachstudium Erziehungswissenschaft ausse-hen kann, ist offen.

Peter Faulstich

Dieter Nittel/Wolfgang Seitter (Hrsg.)Die Bildung des ErwachsenenErziehungs- und SozialwissenschaftlicheZugänge(W. Bertelsmann Verlag) Bielefeld 2003, 316Seiten, 24,90 Euro,ISBN: 3-7639-3102-3

Diese Festschrift zum 60. Geburtstag von Jo-chen Kade ist in der neuen Reihe „Erwachse-nenbildung und lebensbegleitendes Lernen“(Hrsg. R. Brödel und D. Nittel) erschienen.Der Titel dieser Festschrift erinnert an die frü-he Publikation von J. Kade und Kh. Geißler„Die Bildung Erwachsener“ (1982), in der J.Kade sein Verständnis von Subjektivität, le-bensweltlicher Erfahrung und Aneignung er-örtert hat.D. Nittel und W. Seitter knüpfen in ihren Bei-trägen an diesen subjektorientierten Aneig-nungsbegriff an, wobei sie angesichts der„Entgrenzung der Erwachsenenbildung“ nachder „Einheit des Pädagogischen“ fragen. Die„Bildung des Erwachsenen“ ist – so Nittel undSeitter – in J. Kades Werk „ein ständig wieder-kehrender Bezugspunkt seines Denkens undForschens, ein gleichsam latenter oder mani-fester Ankerungspunkt“ (S. 8). Der Bildungs-begriff, der lange Zeit als überholt galt, scheint– auch auf Grund der „empirischen Analysensubjektiven Aneignungsverhaltens“ – wiederaktuell und ergiebig zu sein. Zwar ist ein nor-mativ überlasteter Bildungsbegriff problema-tisch geworden, „gleichwohl bleibt auch imKonzept der Bildung Erwachsener ‚Bildung’als Fluchtpunkt und normativer Einheitsbezugdes Aneignungshandelns erhalten“ (S. 15). W.Seitter versucht so, den Bildungsbegriff vonseinem idealistischen Pathos zu befreien undseine Brauchbarkeit für eine biografische Ori-entierung zu betonen. Empirisch lässt sicheine „Bildungsrationalität“ in dem Aneig-nungshandeln Erwachsener aufzeigen, dieallerdings in der „Erwachsenenbildung als Bil-dungssituation“ nur eingeschränkt erkennbarwird. Konkret: Bildungsaktivitäten findenüberwiegend außerhalb der Bildungseinrich-tungen statt.

Rezensionen

Page 118: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

118 REPORT (27) 2/2004

Sofern eine Festschrift die (freundschaftliche)Auseinandersetzung mit den Ideen des Jubi-lars widerspiegeln soll, erfüllen die Beiträgeder beiden Herausgeber diese Aufgabe ein-drucksvoll. Sie bringen den Bildungsbegriffwieder ins Gespräch, indem sie ihn mit empi-rischen Ergebnissen der Bildungsforschungund mit systemtheoretischen Überlegungen inBeziehung setzen.Auch die übrigen Beiträge sind lesenswert,sind aber an die Veröffentlichungen von J.Kade mehr oder weniger anschlussfähig. Ge-meinsam ist den meisten Aufsätzen, dass siedie institutionelle Perspektive der Erwachse-nenbildung zwar nicht aufgeben, aber docherweitern.Die Beiträge sind drei Obertiteln zugeordnet:I.Begriffliche Grundklärungen:Wolfgang Seitter (Aneignung), Christiane Hof(Vermittlung), Dirk Rustemeyer („Wer weiß?“),Jürgen Wittpoth (Systembildung);II.Der Erwachsene zwischen Lebenslauf undBiografie:Dieter Nittel (der Erwachsene), BurkhardSchäffer (Generation), Rainer Brödel (lebens-langes Lernen);III.Institutionalisierungsformen:Matthias Proske (pädagogische Kommunika-tion), Ortfried Schäffter (institutionelle Selbst-präsentation), Sylvia Kade (alternde Instituti-onen), Klaus Harney (Weiterbildungsteilnah-me), Birte Egloff (Entgrenzung), Georg Peez(ästhetische Erfahrung), Sigrid Nolda (Medi-en), Frank-Olaf Radtke (OECD).

Eine kritische Anmerkung: Einigen Beiträgenhätte eine Straffung gut getan.

H. S.

Anne-Christel Recknagel„Weib, hilf Dir selber!“ Leben und Werk derCarola Rosenberg-Blume(Hohenheim Verlag) Stuttgart 2002, 300 Sei-ten, 25,00 Euro, ISBN: 3-89850-970-2

Carola Blume, geboren 1899 als Carola Ro-senberg, ist ohne Zweifel, so zeigt dieses Er-innerungsbuch, eine der wichtigsten Persön-lichkeiten der deutschen Erwachsenenbildung

in der Zeit der Weimarer Republik: eine Vor-denkerin und höchst erfolgreiche Praktikerinder Frauenbildungsarbeit, vielleicht eine mög-liche Leitfigur für den Erwachsenenbildungs-beruf überhaupt.Bis in die späten 1980er Jahre war CarolaBlume der neueren deutschen Erwachsenen-bildung unbekannt. Erst die erneute Instituti-onalisierung der Frauenbildung Mitte der1980er Jahre an der Volkshochschule Stutt-gart und deren 70-jähriges Jubiläum führtenzur Wiederentdeckung der Leiterin der dorti-gen Frauenabteilung von 1924–1933. Anne-Christel Recknagel, mit der Aufarbeitung derVolkshochschul-Geschichte beauftragt, fandheraus, dass Carola Blume noch lebte in denUSA und hatte mit ihr einen intensiven Brief-verkehr. Als Carola Blume bald darauf 88-jährig im Jahre 1987 starb, übergaben dieSöhne der Volkshochschule Stuttgart CarolaBlumes „Archiv“, eine gewaltige Sammlungvon etwa 2000 Briefen, Tagebüchern, Doku-menten, Manuskripten und Publikationen,die auch von Blumes Tätigkeit in den USAzeugen. Neben den Dokumenten ihrer Arbeitan der Volkshochschule Stuttgart stellt dieseMaterialschenkung die wichtigste Quelle fürdieses Buch dar.Zu Beginn der 1920er Jahre ist Carola Blume,aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stam-mend, in der Jugendbewegung engagiert, setztsich im Briefwechsel mit Freunden, vor allemihrem späteren Ehemann, dem SchriftstellerBernhard Blume, mit der Gesellschaft, Kulturund Literatur ihrer Zeit auseinander, aber vorallem – auch in eindrücklichen Tagebuchnoti-zen – mit ihren Möglichkeiten, als Frau eigeneProduktivität zu entwickeln. Sie gehört zu demknappen Zehntel von Frauen innerhalb derdamaligen Studentenschaft, entscheidet sichfür die Frauenfrage als ihren Forschungs-schwerpunkt und schreibt ihre Doktorarbeit,eine empirische Untersuchung zu Berufsein-stellung und Interessen der weiblichen Jugend,die von Alois Fischer gefördert wird. Vomstaatlichen Bildungssystem, offensichtlich we-gen ihrer jüdischen Herkunft, nicht akzeptiert,bewirbt sie sich intensiv und mit Hilfe TheodorBäuerles bei der Stuttgarter Volkshochschule,die ein Frauenbildungsprogramm etablierenmöchte: „Da ich in der freien Volkshochschul-bewegung die einzige Möglichkeit für michsehe, um in dem Sinne zu wirken, wie ich esmir als Lebensaufgabe gestellt habe.“

Rezensionen

Page 119: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

119REPORT (27) 2/2004

Sie bekommt den Auftrag, einen Arbeitsplanaufzustellen, mit dem die Bedürfnisse der ar-beitenden weiblichen Bevölkerung gewecktwerden könnten. Daraus wird eines der er-folgreichsten Frauenbildungsprogramme derWeimarer Republik, das sich mit unterschied-lichen Angebotsformen an unterschiedlicheZielgruppen wendet. Immer gehen die Ange-bote von den alltäglichen Aufgaben und „Nö-ten“ aus, um dann zu mehr Eigeninitiative zuermutigen und schließlich den politischenund kulturellen Wirkungskreis zu erweitern.In der Abendvolkshochschule werden Kursewie diese angeboten: „Praktische Rechtsfra-gen aus dem täglichen Leben der Frau“, „DerAlltag und seine volkswirtschaftlichen Proble-me“, „Die Verkäuferin und ihre Waren“, „DieFrau und ihr Selbstverständnis“. „Gymnastikund Körperkultur“ schließt als Programm andie vielen neuen gymnastischen Schulen mitseiner Nähe zum expressionistischen Tanzthe-ater und bedeutet für viele Frauen auch dieBefreiung von einengenden, krankmachen-den gesellschaftlichen Konventionen, in derKleidung wie im ganzen Verhaltenskodex.Daraus ergeben sich Ferienschulen in derNähe des Bodensees, aber auch Auseinander-setzungen mit Gewerkschaftsführerinnen, diedieses Angebot als allzu individualistischempfinden. Carola Blume: „Wenn es uns ernstwar mit unserem Helfen, so mussten wir vonunserem hohen Bildungsross herabsteigen.“Hausarbeit, ein zentrales Programmthema,soll schnell und zweckmäßig durchgeführtwerden, damit Frauen auch einer Berufstätig-keit nachgehen können, die für Arbeiterinnenlebensnotwendig, im Sinne von Carola Blu-mes Selbstdefinition aber für alle Frauen wich-tig ist. Aus der Beobachtung, wie ungesundgerade die berufstätigen ärmeren Schichtenleben und sich ernähren, wird ein Aufklä-rungsprogramm mit Broschüren und einerAusstellung „Ernährung und Körperpflege“.Arbeiterinnen, zunächst mit humanistischenBildungsinhalten angesprochen, werden zu-nehmend in den Betrieben selbst erreicht, mitbedürfnisnäheren Programmen. So gibt es fürTextilarbeiterinnen eine Arbeitsgemeinschaft„Mein Arbeitstag – mein Wochenend“, in derbiografische Selbstbeschreibungen von Arbei-terinnen behandelt werden. Neben einer ge-zielten Stadtteilarbeit beginnt Carola Blumein der zweiten Hälfte ihres Wirkens den Auf-bau einer Volkshochschule für erwerbslose

Frauen. In Kooperation mit dem Wohlfahrts-amt und dem städtischen Arbeitsamt gelingtes ihr, zwei Tagheime für erwerbslose Frauenzu eröffnen und darin ein vielseitiges Betreu-ungs- und Bildungsprogramm aufzubauen.Und immerzu betreibt sie eine aufsuchendeBildungsarbeit, baut ihren Info-Tisch im Ar-beitsamt auf, ebenso wie sie die Arbeiterinnendirekt in der Fabrik aufsucht. „Ferner warteich die Vesper- und Mittagspausen der Fabri-ken ab, dringe in die Kantine ein (sehr schwie-rig!), wo mir die große Aufgabe bevorsteht,sämtlichen Misstrauenskundgebungen, dieich zuerst hingeworfen bekomme, mit einemBlick und einem Tonfall zu widerstehen.“Carola Blume ist auch überregional mit ihrenKonzepten gefragt, es kommt 1931 zu einerArbeitswoche über „Frauenfrage und Erwach-senenbildung“ auf der Homburg, bei der auchdie führenden Persönlichkeiten der Volksbil-dung anwesend waren und Gertrud Bäumer,Berta Ramsauer und eben auch Carola Blumefür die Frauenbewegung sprachen. DieseTagung wird von beiden Seiten als schwierigerlebt. In einer Protokollnotiz heißt es: „Es tratbei den Frauen immer wieder jene Empfind-samkeit zutage, die vernarbten Wundenanhaftet ... Am größten ist diese Empfindsam-keit gegen jedes nicht Ernstnehmen des Frau-enstrebens, gegen Wohlwollen und Entgegen-kommen dem schwächeren Geschlechtgegenüber, gegen jeden Versuch, die Frauwieder vom Mann aus formen zu wollen …“(S. 213).Die Nähe zur Reformpädagogik, der Pionier-geist der ersten Stunde, die Mischung ausKonzeptionslust und praktischem Engagementerscheinen als nicht untypisch für die Volks-bildung der zwanziger Jahre und bringen Ca-rola Blume mit der Neuen Richtung des Ho-henrodter Bundes in Verbindung. Hinzukommt aber dreierlei: ein bedeutend realisti-scherer Blick für die sozialen Lagen und kon-kreten Bildungsbedürfnisse, die Solidarität ei-ner intellektuellen sensiblen Frau mit Frauenaus anderen Klassen – und schließlich ihredeutsch-jüdische Herkunft. Diese scheint inihrem Leben lange Zeit keine dominante Rol-le gespielt zu haben, entsprechende Hinder-nisse waren dazu da, überwunden zu werden.Umso stärker muss sie die Kündigung ihrerStelle vom 5. Mai 1933 getroffen haben: „Wirwünschen Ihnen, dass Sie bald eine anderefür Sie geeignete Tätigkeit finden mögen“. Sie

Rezensionen

Page 120: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

120 REPORT (27) 2/2004

ist damals seit sechs Jahren verheiratet und hatzwei kleine Kinder. Ihr Mann, obwohl selbstnicht jüdischer Herkunft und als viel gespiel-ter Dramatiker eigentlich an den deutschenKulturkreis gebunden, drängt auf Emigration.Sie gehen in die USA, nachdem Carola ersteKontakte zu Gewerkschaften und zur Bil-dungsszene dort aufgenommen hat.Der letzte Teil des Buches ist dem Aufenthaltdort, eigentlich der längsten Zeit ihres Lebensgewidmet. Entsprechend der Quellenlage unddem Interesse der Autorin wird die Darstel-lung nun zur knappen Berichterstattung, istaber gleichwohl spannend zu lesen, weilAnne-Christel Recknagel sie unter zwei Fra-gen stellt: Warum stellt Carola Blume nach derEmigration ihre eigenen Arbeitsvorhaben hin-ter die ihres Mannes zurück? Und warumkehrt sie nicht nach Deutschland zurück, eineFrage, die am Schluss durch eine andere er-setzt wird: Warum hat man sie nicht zurück-geholt? Carola Blume vollführt in Amerikanoch einige bemerkenswerte Aufgaben undProjekte. Unter anderem legt sie eine Studieüber internationale Trends der Arbeiterbildung1929–1936 an, hat Lehraufträge an Universi-täten, legt ein Programm zur stärkeren Nut-zung von Büchern und Bibliotheken für dieErwachsenenbildung vor und arbeitet schließ-lich an einer jugendpsychologischen For-schungsstellung in Ohio (nach einer weiterenDoktorarbeit in klinischer Psychologie). Trotzsichtlicher Kontinuität ihrer Interessen und Be-mühungen zeigt sich in dem allen auch eineUnstetigkeit, bedingt durch viele Ortswech-sel, um die Berufssuche ihres Mannes zu un-terstützen, der schließlich Universitätsprofes-sor für Germanistik wird. Die Autorin ist of-fensichtlich nicht recht einverstanden damit,dass eine so produktive Frau wie Carola Blu-me ihre eigene Entwicklung schließlich zu-rückstellt hinter die ihres Mannes, gibt aberselbst die Begründung dafür: Um der Liebezu seiner Frau willen opferte Bernhard Blumeseine dichterische Berufung, sie wiederumdankt ihm für seinen Verzicht, indem sie sei-ne Karriere im neuen Land unterstützt undeine eigene mögliche in der amerikanischenErwachsenenbildung hintanstellt.„Pflichtlektüre!“ – Mit diesem Aufruf endetenmanche Rezensionen früher; Elke Heiden-reich würde befehlen: Lesen! Dem Rezensen-ten dieses Buches passt weder der graue All-tag der Pflicht noch der Kommandoton. Wel-

che Wertungen könnten die Leserin und vorallem auch den Leser bewegen, ein solcheshistorisches und damit „hoffnungslos altmo-disches“ Buch nach der täglichen Pflichtlek-türe noch in die Hand zu nehmen?Es handelt sich selbstverständlich um ein wis-senschaftlich gut recherchiertes Buch, wasschon an den 261 Anmerkungen erkennbarist, übrigens ihrerseits meist informativ undunterhaltsam. Attraktiver vielleicht: Es istzugleich auch ein schönes Buch, grafisch gutgestaltet mit vielen Bildern und anderen Quel-lenabzügen.Das Buch erinnert uns an einen Verlust: AmSchicksal einer einzigen Frau erfahren wirnoch einmal und sehr konkret – und damitohne erhobenen Zeigefinger –, welchen Ver-lust schon die Vertreibung von 1933 für diedeutsche Gesellschaft, Kultur und Bildungbedeutet hat.Nicht nur deshalb ist es ein wirklich wichti-ges Buch, sondern auch im Hinblick auf Bil-dungsarbeit und Profession, und zwar fernvom „Schnickschnack“, mit dem sich Wissen-schaft und Praxis der Erwachsenenbildungderzeit oft beschäftigen (müssen). Insofern dieGenese einer exemplarischen (Frauen-)Bil-dungsarbeit zugleich als ein Ringen um dieRelevanz der eigenen Tätigkeit dargestelltwird, bietet dieses Buch Gelegenheit zur pro-fessionellen Selbstreflexion.Nicht zuletzt: Es ist ein berührendes Buch,auch weil es das Biografische nicht aufspaltetin berufliches und übriges Leben und anteil-nehmend berichtet, zuweilen ein wenig über-schwänglich sogar. Aber die Autorin liebteben ihren „Gegenstand“. Und vermissen wirdas nicht gerade bei unseren Pflichtlektürenallzu häufig?

Erhard Schlutz

Carmen Stadelhofer/Christian Carls (Hrsg.)LernCafe. Online-Journal für Menschen ab50… und davor. CD-Rom.(Zentrum für Allgemeine WissenschaftlicheWeiterbildung der Universität Ulm ZAWiW)Ulm 2003, Schutzgebühr 8,00 Euro + 1,50Euro Versandkosten (Bestellungen über [email protected] oder bei ZAWiW, Uni-versität Ulm, 89069 Ulm)

Das Zentrum für Allgemeine Wissenschaftli-che Weiterbildung der Universität Ulm, ZA-

Rezensionen

Page 121: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

121REPORT (27) 2/2004

WiW, das seit 1994 besteht und seitdem mitaußergewöhnlichen und erfolgreichen Praxis-projekten wichtige innovative Beiträge zurWeiterbildung im Seniorenalter leistet – z. B.mit den seit über zehn Jahren bestehendenJahreszeitenakademien an der UniversitätUlm als einer Form des Seniorenstudiums –,legt mit dieser CD die Zusammenfassung ei-nes Projekts vor, das von Juni 2000 bis Mai2002 vom Bundesministerium für Bildung undForschung gefördert wurde.Im Mittelpunkt stand der Aufbau und dieErprobung des ersten deutschen Online-Journals für bildungsinteressierte Seniorinnenund Senioren, das in Form von 19 virtuellenHeften im Zeitraum von Dezember 2000 bisSeptember 2002 erschien (vgl. auch www.lerncafe.de). Ziel war es, älteren Menschendas Internet zu erschließen und dessen Nut-zung zu fördern. Dazu wurden alle 19 Ausga-ben von „LernCafe“ als Schwerpunktheftekonzipiert, z. B. zu den Themen Zeitzeugen-arbeit, Freiwilligenarbeit, Europa, Reisen,Medizin & Gesundheit, Kommunikation, Po-litik Online, mit Behinderungen leben etc. DieHeft-Rubriken wurden standardisiert und fin-den sich gleichsam als roter Faden in allenHeften wieder: Lernprojekte, Werbeangebo-te, CDs und Bücher, Hintergründe, Modell-projekte, Internetgruppen und Porträts, Mate-rialienbörse, Aktuelles. Durch die klare Struk-turierung, die Begrenztheit des Heftumfangsund das großzügige Layout gelingt es, Alltags-themen lebensnah und internettauglich zutransportieren. Neben den Schwerpunktthe-men ist ein wichtiger Aspekt die Vernetzungvon und die Information über Senioren-Inter-netprojekte. Die CD bietet ergänzend einemultimediale Bedienungsanleitung für PC-Anfänger/innen, eine Liste mit Internetgrup-pen für Seniorinnen und Senioren und zusätz-liche Informationen zu weiteren Projekten desZAWiWs. Das Online-Journal ist inhaltlich,journalistisch und andragogisch durchdachtund basiert auf einer langjährigen Erfahrungin der Bildungsarbeit mit Seniorinnen undSenioren. Hier bietet die CD mit den ins-gesamt 600 Beiträgen der 19 Hefte interessan-tes Anschauungsmaterial und Beispiele für dieGestaltung eines Online-Journals für Men-schen im dritten Lebensabschnitt. Wasallerdings zu kurz kommt, ist die Auswertungdes Projekts. Hier wird lediglich von CarmenStadelhofer, der Projektleiterin, in einer knap-

pen Einleitung das Projekt beschrieben sowiedie Bedeutung des Internets für Senioren undSeniorinnen angesprochen. Auch wenn mansich hier eine ausführlichere Analyse des Pro-jekts sowie Hinweise für eine Fortführung undWeiterentwicklung gewünscht hätte, ist dieCD eine gute und gelungene Dokumentationeines Projekts, das (andragogische) Zukunfthat und früher oder später eine Fortsetzungfinden wird. Eine Alternative zu den Print-Medien kann ein Online-Journal mit Sicher-heit jedoch nicht sein. Es ist, und dies wirddeutlich, vor allem ein pädagogisches Projektzur Sensibilisierung für die Neuen Medienund kein journalistisches.Die zentrale Botschaft ist die These, dass In-ternetangebote zu einem wesentlichen Motorfür eine neue Lernwelt in der Weiterbildungälterer Menschen werden können bzw. wer-den müssen. Als virtueller Ort der Informati-on und Kommunikation hat sich, so die Bi-lanz, das „LernCafe“ bewährt. In diesem Sin-ne gibt dieses Modellprojekt der UniversitätUlm viel versprechende Impulse für eine zu-künftige Lernkultur älterer Menschen.

Ulrich Klemm

Rudolf Tippelt (Hrsg.)Handbuch Bildungsforschung(Leske + Budrich Verlag) Opladen 2002,845 Seiten, 39,00 Euro,ISBN: 3-8100-3321-9

Rudolf Tippelt hat nach dem „Handbuch Er-wachsenenbildung/Weiterbildung“, 1999 inzweiter Auflage erschienen und inzwischenzum Standardwerk geworden, ein weitereseditorisches Großprojekt abgeschlossen. Dasvorliegende „Handbuch Bildungsforschung“stellt an sich bereits eine eindrucksvolle Leis-tung dar, konfrontiert den Rezensentenallerdings auch mit einigen Schwierigkeiten.Denn wie rezensiert man eine 845 Seitenumfassende und 1550-Gramm schwere Publi-kation, die über 40 Beiträge von mehr als 50Autorinnen und Autoren über eine differen-zierte und sich weiter ausdifferenzierendeForschungslandschaft zusammenfasst?Zunächst wird man Informationen und Ein-schätzungen zum Inhalt und zur Anlage desHandbuchs erwarten dürfen. Das Handbuchist in sechs Kapitel gegliedert, von denen die

Rezensionen

Page 122: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

122 REPORT (27) 2/2004

ersten fünf den Gegenstandsbereich systema-tisch erschließen. Die Kapitel stehen unterden Überschriften: Theorien und Bezugsdis-ziplinen; Regionaler und internationalerBezug; Institutionen, Professionalisierung undBildungsplanung; Methoden in der Bildungs-forschung; Lebensalter. Das erste Kapitelbehandelt grundlegende Fragen der Bildungs-forschung aus der Perspektive der Erziehungs-wissenschaft und ihrer zentralen Bezugsdis-ziplinen. Im zweiten großen Kapitel, das mit„Regionaler und internationaler Bezug“ etwasunpräzise überschrieben ist, geht es u. a. umFragen der internationalen Schulleistungsfor-schung (Wilfrid Bos und T. Neville Postle-thwaite), der Bildung in Entwicklungsländern(Rudolf Tippelt) und der interkulturellen Bil-dung (Ingrid Gogolin). Im Kapitel „Institutio-nen, Professionalisierung und Bildungspla-nung“ werden im Wesentlichen die Orte undHandlungsfelder des Bildungswesens (Fami-lie; Schule; Berufliche Bildung; Weiterbildungbzw. Erwachsenenbildung; Hochschulbil-dung; Außerschulische Jugendbildung; Medi-enbildung; Bildungsforschung aus der Sichtpädagogischer Frauen- und Geschlechterfor-schung) behandelt. Auffällig ist, dass ein Bei-trag zu den Feldern der sozialen Arbeit bzw.des sozialpädagogischen Handelns ebensofehlt wie ein Beitrag zur vorschulischen Päd-agogik. Auch dass der Begriff „Bildungspla-nung“ in der Kapitelüberschrift auftaucht,überrascht insofern, als hierzu kein eigenerBeitrag vorliegt (wohl aber wünschenswertwäre, wenn man u. a. an das Umsteuern derPolitik von der input- und strukturorientiertenFörderung auf output- und leistungsorientier-te Finanzierung denkt). Das Kapitel zu „Me-thoden in der Bildungsforschung“ enthält Bei-träge zur quantitativen und qualitativen Bil-dungsforschung sowie zur Bildungsstatistik.Dass den „Lebensaltern“ ein eigenes Kapitelgewidmet ist, mag auf den ersten Blick über-raschen. Hier folgt der Herausgeber (S. 11)ausdrücklich einer Empfehlung von NiklasLuhmann, der den Lebenslauf als „Medium“des Erziehungs- und Bildungssystems vorge-schlagen hat (Lenzen/Luhmann: Bildung undWeiterbildung im Erziehungssystem, 1997).Während die im dritten Hauptkapitel enthal-tenen Beiträge die institutionelle Seite des Bil-dungswesens betonen, überwiegen hier dieBildungsprozesse aus der Sicht der Lernendenvon der Kindheit bis zum höheren Erwachse-

nenalter. Das sechste, nach der Zahl derBeiträge größte Kapitel des Handbuchsschließlich („Aktuelle Bereiche der Bildungs-forschung“) vereint (überwiegend) Themen,die eine besondere Beachtung in der momen-tanen wissenschaftsinternen und/oder öffent-lichen Diskussion erzielen und teils thema-tisch (z. B. Lehren und Lernen mit neuen Me-dien: Frank Fischer und Heinz Mandl), teilsmethodisch (Evaluation und Qualitätssiche-rung: Hartmut Ditton) akzentuiert sind. Er-gänzt wird das Werk um eine knapp kommen-tierte Dokumentation zu wissenschaftlichenEinrichtungen der Bildungsforschung inner-halb und außerhalb von Universitäten sowiezu Institutionen der Forschungsförderung. Einknappes Sachregister sowie Informationen zuden Autorinnen und Autoren schließen denBand ab.Welcher Konzeption folgt der Herausgeber?Nicht eingehen möchte ich auf die Frage, obder Bildungsbegriff zu integrieren vermag,was in dem unübersichtlichen und schwer zubegrenzenden Feld der Bildungsforschung be-arbeitet wird. Auch Tippelt selbst vertieft die-se Frage nicht (S. 11 f.), sondern kann daraufverweisen, dass es für ein solches Vorhabenderzeit keine akzeptable begriffliche Alterna-tive zu geben scheint. Im ersten Satz dervergleichsweise knappen Einleitung schreibtTippelt, dass der „Themenkreis der empiri-schen Bildungsforschung“ auf die Verwissen-schaftlichung pädagogischer Praxis in denletzten zwei Jahrhunderten verweise, Expan-sion und Differenzierung aber erst durch denAusbau des Bildungswesens auf nationalerund internationaler Ebene seit den 1960er Jah-ren vorangetrieben wurden (S. 9). Damit sindzwei Fragen aufgeworfen: zum einen die Fra-ge nach dem Verhältnis von Bildungsfor-schung (so der Titel des Handbuchs) und em-pirischer Bildungsforschung (so die Formulie-rung der Einleitung) und zweitens die Fragenach dem Verhältnis von Bildungsforschungund Verwissenschaftlichung der pädagogi-schen Praxis. Ob der Herausgeber sich auf dieempirische Bildungsforschung konzentrierenwill (was zu vermuten ist) oder die eine mitder anderen gleichsetzt (was angesichts derNicht-Berücksichtigung phänomenologischerAnsätze zu begründen wäre), wird nicht rechtdeutlich. Auch die zweite Akzentuierung istdiskussionswürdig. „Die Aufgabe der Bil-dungsforschung besteht heute darin, wissen-

Rezensionen

Page 123: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

123REPORT (27) 2/2004

schaftliche Informationen auszuarbeiten, dieeine rationale Begründung bildungsprakti-scher und bildungspolitischer Entscheidungenermöglichen“, so Tippelt (S. 9); und weiter:„Das Handbuch bringt zum Ausdruck, dassBildungsforschung eine Voraussetzung fürwissensbasierte rationale Entscheidungen vonpädagogischen Innovationen und Reformpro-zessen ist“ (S. 15). Der Herausgeber schließtdamit ausdrücklich an Empfehlungen desDeutschen Bildungsrates zur Bildungsfor-schung an (Bd. 1, 1974, S. 16), der primär anFragen der Steuerbarkeit des Bildungswesensinteressiert war. Eine solche Funktionsbestim-mung ist zweifellos begründbar. Sie mag auchunter wissenschaftspolitischen Gesichtspunk-ten verständlich sein, da die deutsche empiri-sche Bildungsforschung zurzeit nur geringeAnerkennung findet, und zwar national wieinternational. Die aktuelle Förderinitiative derDFG zur Einrichtung von Forschergruppen inder empirischen Bildungsforschung lässt sichals eine Reaktion auf diese Einschätzung in-terpretieren. Und bereits vor einigen Mona-ten hat sich Rudolf Tippelt gemeinsam mitHans Merkens, dem Vorsitzenden der DGfE,in der Süddeutschen Zeitung gegen eineüberaus kritische Bewertung der deutschenErziehungswissenschaft durch Hans Weiler(Vereinigte Staaten) zur Wehr gesetzt: Gegenden Vorwurf, sie sei auf ideologische Debat-ten fixiert statt Politik und Praxis zu beraten,führten Merkens und Tippelt die Praxis- undPolitiktauglichkeit der Erziehungswissenschaftund der empirischen Bildungsforschung insFeld. Dieses Handbuch, so verstehe ich denHerausgeber, soll nicht nur der wissenschaft-lichen Verständigung dienen, sondern auchWirkung im Umfeld der Wissenschaft, insbe-sondere in der Politik erzielen. Blickt manaber auf die Bildungsforschung insgesamt, wiesie in diesem Handbuch präsentiert wird, soist eine solche Akzentuierung weder rückbli-ckend noch aktuell unstrittig. Daran erinnertu. a. Peter Zedler in seinem Beitrag zur erzie-hungswissenschaftlichen Bildungsforschung.Bildungsforschung, wie sie im Wissenschafts-system geleistet wird, lässt sich sicherlich(auch) aus Sicht der Praxis bewerten und dif-ferenzieren (S. 12; allerdings ist Ersteres wohleher, Letzteres kaum zu erwarten). Zugleichmuss man aber davon ausgehen, dass Praxis-relevanz und theoretisch-methodisches Ni-veau in einem Spannungsverhältnis stehen.

Diesen Befund vermittelt nicht zuletzt dasHandbuch selbst, wenn man den Forschungs-stand in den Teilbereichen der Bildungsfor-schung vergleicht. Zudem mahnt die sozial-wissenschaftliche Verwendungsforschunghier ebenso zur Zurückhaltung wie die Erfah-rungen der Politikberatung. Fraglich ist nichtzuletzt, ob eine solche Akzentsetzung strate-gisch sinnvoll ist in einem Handbuch, das fürJahre, wenn nicht Jahrzehnte einen zentralenOrientierungspunkt für die Forschung bietenwird.Das Handbuch verspricht einen „systemati-sche[n] Überblick über Perspektiven, Theori-en und Forschungsergebnisse“ (S. 10) derempirischen Bildungsforschung. Die Fragenach den hier relevanten Theorien lässt sichzunächst als eine nach dem Verhältnis vonLeit- und Bezugsdisziplinen behandeln. Tip-pelt selbst äußert sich hier sehr zurückhaltend:Er gehe davon aus, dass die Erziehungswis-senschaft bzw. die Pädagogik die zentraleBezugsdisziplin der Bildungsforschung sei(S. 10). Ob dies für die in dem Handbuch re-präsentierten Teilbereiche insgesamt gilt, wärenoch genauer zu prüfen. Der Befund würdewohl auch unterschiedlich ausfallen, je nach-dem, ob man auf die Fragestellungen, die the-oretischen Grundlagen oder auf die methodi-schen Vorgehensweisen abhebt. In der Tat istes wohl so, dass man die theoretische undmethodische Orientierung der Bildungsfor-schung an den Sozialwissenschaften als Merk-mal der (erziehungswissenschaftlichen) Bil-dungsforschung betrachten und darin wie derHerausgeber eine Herausforderung auch fürdie Allgemeine Pädagogik sehen kann (S. 11).Aber diese Herausforderung besteht zunächstinnerhalb der empirischen Bildungsforschungselbst. Dieser Forschungsbereich ist (immernoch) stärker multidisziplinär als interdiszip-linär ausgerichtet. Diesen Eindruck vermittelnjedenfalls die einleitenden Beiträge zur Bil-dungsforschung aus der Perspektive der Sozi-ologie (Jutta Allmendinger und Silke Aisen-brey), der Psychologie (Reinhard Pekrun), derÖkonomie (Dieter Timmermann), der Ge-schichtswissenschaft (Heinz-Elmar Tenorth;hier dominiert allerdings die Binnenperspek-tive), der Philosophie (Yvonne Ehrenspeck fürBildungstheorien, Jochen Gerstenmaier fürHandlungstheorien) sowie der Politik- und derRechtswissenschaft (Lutz R. Reuter). Dies wirdwohl auch noch einige Zeit so bleiben, be-

Rezensionen

Page 124: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

124 REPORT (27) 2/2004

trachtet man etwa die Verständigungsschwie-rigkeiten zwischen einer psychologisch undeiner soziologisch ausgerichteten Bildungsfor-schung. Was immer die empirische Bildungs-forschung zu einen vermag: Das in den1970er Jahren favorisierte „erkenntnisleiten-de Interesse“ an einer Verbesserung der Bil-dungspraxis (Zedler, S. 22) ist es nicht (mehr).Gegenstand der empirischen Bildungsfor-schung sind die institutionengerichtete Mak-ro- und Mesoforschung und die auf Lehr-Lern-Prozesse konzentrierte Mikroforschung, d. h.es geht sowohl um das Bildungssystem alsauch um Bildungsprozesse. Angesichts derBreite des Feldes ist es in diesem Rahmennicht möglich, allen im Handbuch vorgestell-ten Teilbereichen gerecht zu werden. Ich kon-zentriere mich daher auf jene Felder, die ausder Perspektive der Erwachsenenbildungbesonders relevant erscheinen. Die erste Aus-sage ist wenig überraschend: Der Entwick-lungsstand in den verschiedenen Teilberei-chen und die Qualität der Einzelbeiträge sindsehr unterschiedlich. Das ist zunächst Aus-druck unterschiedlicher Schwerpunkte in derGrundlagen-, Maßnahme- und Orientierungs-forschung (S. 12). So berichtet etwa DieterTimmermann in einem ausgezeichneten Bei-trag zur Bildungsökonomie über eine interna-tional geführte, theoretisch differenzierte,empirisch reiche und zumeist kontroverseDiskussion über mikro-, meso- und makro-ökonomische Fragen des Bildungssystemsund des individuellen Bildungsverhaltens.Wie dieser leistet u. a. auch der Beitrag vonHeinz-Elmar Tenorth, was Rolf Dobischat undKarl Düsseldorff als Ziel eines Handbuchesbezeichnet haben: „Nachschlagewerk unddisziplinäre Bilanz“ zugleich zu sein (S. 315):Für die historische Bildungsforschung werdensouverän und in großen Strichen die wesent-lichen „Paradigmenwechsel“ (Ideengeschich-te, Sozialgeschichte, historisch-vergleichendeForschung) markiert. In Tenorths Sicht kanndie historische Bildungsforschung auf einekonsolidierte, methodisch reflektierte For-schungstradition von der „Geschichte der Pä-dagogik“ zur „historischen Bildungsfor-schung“ verweisen, allerdings wohl um denPreis einer schwindenden orientierendenFunktion gegenüber der pädagogischen Pra-xis (S. 123, S. 125). In wieder anderen,zumeist jüngeren Bereichen geht es zunächstnoch um eine (historisch informierte) Vermes-

sung des Forschungsfelds, dessen Entwicklungeng an die oft bildungspolitisch begründetenReformen und Krisen anschließt. Dies giltetwa für die politik- und rechtswissenschaftli-che Bildungsforschung, in der sich die Kon-junkturen und Themen der staatlichen Bil-dungspolitik (Lutz R. Reuter, S. 177) spiegeln.Auch Rolf Dobischat und Karl Düsseldorffpräsentieren eine historisch und institutionell(nicht theoretisch oder thematisch) geglieder-te Darstellung der Beruflichen Bildung undder Berufsbildungsforschung. Ekkehard Nuisslcharakterisiert die Erwachsenen- und Weiter-bildung dadurch, dass die Forschung hiernoch weitgehend singulär agiere und in ihrerThemensetzung vornehmlich den Verände-rungen im Praxisfeld folge; sie werde überwie-gend als „Kleinforschung“ (S. 345) betriebenund richte sich nach den Prinzipien von Pra-xisorientierung, Handlungsorientierung undPartizipation. Der Vergleich mit anderen Be-reichen legt es nahe, dass die Erwachsenen-bildungsforschung nur schwer theoretischeund empirische Fortschritte und eine größereStringenz erzielen wird, solange sie diese Tra-dition fortführt. Schließlich enthält der Bandauch Beiträge, die nicht den Stand der For-schung vorstellen, sondern das Handlungsfeldselbst. Dies gilt etwa für den Beitrag von Ben-no Hafeneger zur Politischen Bildung, derselbst die wenigen hier realisierten empiri-schen Untersuchungen nur selektiv referiertund z. B. solche zu den Programmen oderzum Personal übergeht. (Dass es auch andersgeht, zeigt Cornelia Gräsel in einem Beitragzur Umweltbildung.) Auch Wilhelm Maderbetont eher eine bildungspraktische als eineforschungsrelevante Bedeutung des mittlerenErwachsenenalters, ebenso stehen bei Andre-as Kruse und Gabriele Maier, die sich mit demhöheren Erwachsenenalter beschäftigen, eherFragen der Bildungspraxis im Vordergrund.Unterschiedliche Entwicklungsstände der For-schung werden auch im letzten Kapitel desHandbuchs sichtbar, das aktuelle Bereiche derBildungsforschung vorstellt. Axel Bolder prä-sentiert einen fundierten Beitrag über aktuel-le Diskussionen zu den Themenfeldern Arbeit,Qualifikation und Kompetenzen als konkur-rierenden Leitbegriffen einer erwerbsorientier-ten Bildungsarbeit. Frank Fischer und HeinzMandl konzentrieren sich in ihrem Beitragzum Lehren und Lernen mit Neuen Medienvor allem auf aktuelle Anwendungsprobleme

Rezensionen

Page 125: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

125REPORT (27) 2/2004

und plädieren für eine engere Verzahnung vonanwendungs- und grundlagenorientierter For-schung, die zurzeit u. a. von der DFG unterdem Leitbegriff der nutzeninspirierten Grund-lagenforschung favorisiert wird. Demge-genüber formuliert etwa Helmut Heid dasProgramm einer „kritischen Wirtschafts- undBetriebspädagogik“ und ihrer Gegenstands-bereiche, in dem aktuelle Forschungsentwick-lungen nicht recht sichtbar werden. Hinterden ehrgeizigen Zielsetzungen des Hand-buchs bleiben auch jene Beiträge zurück, diesich nicht auf Originalliteratur stützen, son-dern vornehmlich auf Handbücher oder Ein-führungen in Teildisziplinen und Themenfel-der. Unvermeidlich ist in einem solchenHandbuch wohl auch, dass unterschiedliche„Paradigmen“ der Forschung nicht nur vorge-stellt, sondern auch protegiert werden. So plä-dieren etwa Peter Alheit und Bettina Dausienin einem ansonsten lesenswerten Beitrag über„Bildungsprozesse über die Lebensspanneund lebenslanges Lernen“ für die Biografie-forschung als einem zentralen Konzept der Le-benslaufforschung; erst eine biografietheore-tische Konzeption rechtfertige die analytischeExposition und Abgrenzung des lebenslangenLernens als Gegenstand der Bildungsfor-schung (S. 568). Diesem Votum dürften sichüberwiegend quantitativ arbeitende, Kohortenanalysierende und am Konzept des Lebens-laufs orientierte Bildungssoziologen kaum an-schließen.Welche Perspektive hat, nimmt man diesesHandbuch zum Maßstab, die empirische Bil-dungsforschung im Spannungs- und Ergän-zungsverhältnis von universitärer und außer-universitärer Bildungsforschung? Die Expan-sion der Bildungsforschung ist, darauf weistRudolf Tippelt zu Recht hin, historisch eng andie öffentliche Diskussion über Reformen imBildungswesen geknüpft. Auf diesen Sachver-halt ließe sich heute eine günstige Prognosefür die empirische Bildungsforschung stützen.Doch die inner- und außeruniversitäre For-schung wird institutionell zurzeit eher zurück-gefahren, allenfalls die Projektforschung ex-pandiert. Sie garantiert aber kaum den Auf-bau einer dauerhaften Entwicklung vonExpertise in der empirischen Forschung. Vondaher ist die Perspektive der empirischen Bil-dungsforschung ungewiss, sie wird nichtzuletzt von ihrer eigenen Leistungsfähigkeitmit beeinflusst werden.

Tippelt konstatierte in der Einleitung, dass dieHerausgabe eines Handbuchs Bildungsfor-schung insofern ein „Wagnis“ (S. 9) sei, alsbisher lediglich einige Monographien, Litera-turberichte und Sammelbände zum Themaerschienen seien. Dieses Wagnis hat sichzweifellos gelohnt. Rudolf Tippelt hat mit demHandbuch einen Maßstab gesetzt, an dem alljene sich gern orientieren werden, die in derempirischen Bildungsforschung aktiv sindoder es werden wollen, aber auch jene, diean einer „Leistungsschau“ dieses Forschungs-bereichs interessiert sind. Was bleibt im Blickauf eine wahrscheinliche Zweitauflage (überdie bereits erwähnten Anregungen hinaus) zuwünschen? Auch wenn die Mühen, die diesebereiten würde, zu ahnen sind: Eine größereKohärenz der Einzelbeiträge wäre wün-schenswert. Ein Beispiel: Norbert M. Seel be-handelt in seinem Beitrag zur quantitativenBildungsforschung vor allem methodologi-sche Fragen, während Detlef Garz und Ursu-la Blömer aus der qualitativen Forschung vorallem exemplarische Studien vorstellen.Darüber hinaus wäre den Forschungs- undFörderstrukturen ein eigener Beitrag zu wün-schen, dies ist in der vorliegenden Auflage nursehr knapp geschehen. Auch ein Beitrag zuden Perspektiven einer Allgemeinen Pädago-gik unter den Bedingungen der Ausdifferen-zierung des Forschungsfelds wie auch seinerempirischen Akzentuierung wäre lohnend.Schließlich ist der (weitgehende) Verzicht aufeuropäische forschungsfördernde Einrichtun-gen ebenso verständlich wie bedauerlich;vielleicht ließen sich in einer Neuauflagemindestens die wichtigsten europäischen In-stitutionen behandeln, gerade weil die Dis-kursentwicklung immer noch überwiegendnational geprägt ist (Zedler, S. 32), aber zu-künftig nicht mehr sein sollte. Wünschenswertwäre auch ein ausdifferenziertes Sachregister,ergänzt um ein Personenregister, um den Wertals Nachschlagewerk zu erhöhen.

Josef Schrader

Rezensionen

Page 126: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

126 REPORT (27) 2/2004

Wolfgang Wittwer/Steffen Kirchhof (Hrsg.)Informelles LernenNeue Wege zur Kompetenzentwicklung(Luchterhand Verlag) München 2003, 246Seiten, 22,50 Euro, ISBN: 3-472-05257-0

Informelles Lernen ist keineswegs mehr einbloß bildungs- oder europapolitisches Thema.Vielmehr etabliert es sich zunehmend in denErziehungs- und Sozialwissenschaften.Allerdings erscheint seine wissenschaftsinter-ne Überführung und disziplinspezifischeRezeption – in Gestalt von Begriffsbestimmun-gen, griffigen Forschungsfragen und konzep-tionellen Vernetzungen – mit einer Reihe vonSchwierigkeiten verbunden zu sein. Der Ge-genstand „informelles Lernen“ entpuppt sichals weitaus schwieriger, ja sperriger –, als eszunächst den Anschein hatte. In dieser Situa-tion gibt der Band mit insgesamt acht Beiträ-gen sowohl einen orientierenden Überblickund trägt auch zu weiterführenden Klärungenfür diesen Teil-Diskurs zum lebenslangen Ler-nen bei.Einen aspektreichen Themeneinstieg mitjeweils einem eigenen Beitrag liefern W. Witt-wer und B. Overwien. Deutlich wird u. a.,dass informelles Lernen weitgehend als„selbstorganisiertes Lernen“ (S. 17) zu veran-schlagen ist und dass „damit hohe Anforde-rungen an die Lernenden“ (ebd.) gestellt wer-den. Auch erfahren wir, dass sich informellesLernen und Kompetenzwicklung gegenseitigbedingen. Weitere lern- und bildungstheore-tische Rahmungen folgen von R. Arnold undH. Pätzold und von Kh. Geißler, wobei letzte-rer durch einen ideologiekritisch hinterfragen-den Beitrag eine signifikante Differenz setzt.Der Erlebnispädagoge D. Brinkmann markiertmit einem konzeptionell abgerundeten Auf-satz „Der Freizeitpark als Lebenswelt – infor-melles Lernen als Erlebnis“ ein kommerziellüberformtes, bedeutsamer werdendes Arbeits-feld der Erwachsenenpädagogik. In seiner Per-spektive erscheinen Erlebnisparks, wie bei-spielsweise der häufig angeführte „Zoo Han-nover“, als ein „sich entwickelnder vielfältigerinformeller Lernraum“ (S. 76).Ch. Schiersmann und H. C. Strauß gehen mitder Auswertung einer repräsentativen Bevöl-kerungsumfrage dem Forschungsbedarf nach,welcher aus der bildungspolitischen Entde-ckung des lebenslangen Lernens resultiert. Soist Ihnen noch unklar, „wie die Individuen die-

se Veränderungen wahrnehmen“ (S. 148) undwelche Auswirkungen auf das Weiterbil-dungsverhalten insgesamt bestehen. Nichtüberraschend und den Erkenntnisstand vonWeiterbildungsforschung bestätigend istzunächst der Befund, dass „arbeitsbegleiten-des Lernen“ den wichtigsten Lernkontext dar-stellt und dass darüber hinaus dem Aneig-nungs- und Erfahrungsgewinn in informellenLernsituationen eine hohe Bedeutung zu-kommt (S. 150). Als ein Schlüsselergebnis imHinblick auf die individuelle Gestaltung derWeiterbildungsbiografie und die Theorie le-bensbegleitenden Lernens kann gezählt wer-den, dass die Variable „Selbststeuerung“ einenhohen „Erklärungswert für die Einstellungenzur Weiterbildung, das faktische Weiterbil-dungsverhalten und die Weiterbildungsdispo-sitionen“ (S. 165) besitzt.Wer in einem bildungsökonomischen Duktusdas informelle Lernen in die „volkswirtschaft-liche Gesamtrechnung“ einbeziehen will,muss das außerhalb von anerkannten Bil-dungseinrichtungen stattfindende Lernenzunächst einmal einer Bewertung unterzie-hen. Diese zeitgeistige Tendenz aufnehmend,diskutiert die Berufspädagogin Irmgard Frankunter dem Thema „Erfassung und Anerken-nung informell erworbener Kompetenzen“.Die Autorin gibt einen strukturierten Über-blick, wobei europäische Entwicklungspers-pektiven einfließen.Die Nachwuchswissenschaftler Steffen Kirch-hof und Julia Kreimeyer schließen den Bandwiederum mit einer – erfrischend respektlo-sen – begrifflichen Vergewisserungsarbeit undmit einer subjektorientierten Rekonstruktioninformellen Lernens.Auf Grund der Lektüre lässt sich der Eindruckgewinnen, dass das Thema des informellenLernens erziehungswissenschaftliche Ge-meinsamkeit stiften kann. So ergibt sich in die-sem Band eine nicht geringe Schnittmengezwischen der Erwachsenenpädagogik und derBerufspädagogik. Das Thema wird weiterhinan Fahrt gewinnen, auch deshalb lohnt einBlick in dieses Buch.

Rainer Brödel

Rezensionen

Page 127: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

127REPORT (27) 2/2004

Autorinnen und Autoren der Beiträge

Prof. Dr. Rolf Arnold, Professor am Fachgebiet Pädagogik der TU Kaiserslautern,E-Mail: [email protected]

Stephan Dietrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Erwachse-nenbildung in Bonn, E-Mail: [email protected]

Dr. Christiane Ehses, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Erwach-senenbildung in Bonn, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Wiltrud Gieseke, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft der Hum-boldt-Universität zu Berlin, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Anke Hanft, Professorin am Institut für Pädagogik der Universität Oldenburg,E-Mail: [email protected]

Monika Herr, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Erwachsenen-bildung in Bonn, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Günther Holzapfel, Professor am Institut für Humanistische Pädagogik inSchule und Weiterbildung der Universität Bremen, E-Mail: [email protected]

Dr. Carola Iller, wissenschaftliche Assistentin am Erziehungswissenschaftlichen Semi-nar der Universität Heidelberg, E-Mail: [email protected]

Felicitas von Küchler, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Erwach-senenbildung in Bonn, E-Mail: [email protected]

Markus Lermen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Pädagogik der TU Kai-serslautern, E-Mail: [email protected]

Dr. des. Steffi Robak, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Erziehungswissen-schaft der Humboldt-Universität zu Berlin, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Ortfried Schäffter, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Hum-boldt-Universität zu Berlin, E-Mail: [email protected]

Annika Sixt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Erziehungswissenschaftlichen Semi-nar der Universität Heidelberg, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Rainer Zech, Geschäftsführer der ArtSet Forschung, Bildung, Beratung GmbHin Hannover, E-Mail: [email protected]

Tim Zentner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der UniversitätOldenburg, E-Mail: [email protected]

Page 128: REPORT 2/2004 - Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung

128 REPORT (27) 2/2004

Autorinnen und Autoren der Rezensionen

Prof. Dr. Rainer Brödel, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universi-tät Münster, E-Mail: [email protected]

Dr. Paul Ciupke, Mitglied im Leitungsteam des Bildungswerks der HumanistischenUnion NRW in Essen, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Peter Faulstich, Professor am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbil-dung und Freizeitpädagogik der Universität Hamburg, E-Mail: [email protected]

Dr. Ulrich Klemm, Fachbereichsleiter für Dozentenfortbildung an der Volkshochschu-le Ulm, E-mail: [email protected]

Dr. Susanne Kraft, Programmleiterin am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung inBonn, E-Mail: [email protected]

Isabel Mueskens, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik der Univer-sität Oldenburg, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Sigrid Nolda, Professorin am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbil-dung und Pädagogik der frühen Kindheit der Universität Dortmund,E-Mail: [email protected]

Dr. Rüdiger Rhein, Dozent am Institut für Erwachsenenbildung der Universität Hanno-ver, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Christiane Schiersmann, Professorin am Erziehungswissenschaftlichen Semi-nar der Universität Heidelberg, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Erhard Schlutz, Professor am Institut für Erwachsenen-Bildungsforschung derUniversität Bremen, E-Mail: [email protected]

Dr. Monika Schmidt, Hochschuldozentin am Institut für Erwachsenenbildung der Uni-versität Hannover, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Josef Schrader, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universi-tät Tübingen, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Horst Siebert, Professor am Institut für Erwachsenenbildung der UniversitätHannover, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Rudolf Tippelt, Professor am Institut für Pädagogik der Universität München,E-Mail: [email protected]

Monika Tröster, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Erwachse-nenbildung in Bonn, E-Mail: [email protected]