REPORT DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG FÜR...

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REPORT DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG FÜR POLITISCHE BILDUNG POLIS 2012 Zeitung Wirtschaft in der Schule. Stellungnahme der Gesellschaft für Politikdidaktik Dirk Lange 12. Bundeskongress für Politische Bildung. Eröffnungsrede Fachbeiträge Colin Crouch Neue Formen der Partizipation als Markenzeichen der Postdemokratie? Wolfgang Sander Partizipation – ein Konzept für politische Bildung? Reinhold Hedtke Partizipation ist das Problem, nicht die Lösung Werner Friedrichs Partizipation als Artikulation und Unterbrechung Didaktische Werkstatt Oskar Brilling Partizipation durch Klassenrat Verbandspolitische Rundschau Schwerpunkt Partizipation – Nachlese zum Bundeskongress 3 6,00 (D)/6,20 (A)/11,20 CHF Wochen Schau Verlag cover_POLIS_3-12.indd 1 03.09.2012 10:52:55

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REPORT DER DEUTSCHEN VEREINIGUNGFÜR POLITISCHE BILDUNG

POLIS 2012

ZeitungWirtschaft in der Schule. Stellungnahme der Gesellschaft für Politikdidaktik

Dirk Lange12. Bundeskongress für Politische Bildung. Eröffnungsrede

FachbeiträgeColin Crouch Neue Formen der Partizipation als Markenzeichen der Postdemokratie?

Wolfgang SanderPartizipation – ein Konzept für politische Bildung?

Reinhold HedtkePartizipation ist das Problem, nicht die Lösung

Werner FriedrichsPartizipation als Artikulation und Unterbrechung

Didaktische WerkstattOskar Brilling Partizipation durch Klassenrat

Verbandspolitische Rundschau

SchwerpunktPartizipation – Nachlese zum

Bundeskongress

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Zeitung Wirtschaft in der Schule. Stellungnahme der Gesellschaft für Politikdidaktik .................................. 4

Schwerpunkt: Partizipation – Nachlese zum Bundeskongress

Dirk Lange12. Bundeskongress für Politische Bildung in Berlin.Eröffnungsrede ............................................................ 7

Fachbeiträge Colin CrouchNeue Formen der Partizipation als Marken zeichen der Postdemokratie? ........................ 9

Wolfgang SanderPartizipation – ein Konzept für politische Bildung?.. 13

Reinhold HedtkePartizipation ist das Problem, nicht die Lösung ........ 16

Werner FriedrichsPartizipation als Artikulation und Unterbrechung.... 19

Didaktische Oskar BrillingWerkstatt Partizipation durch Klassenrat .................................. 22

Verbandspolitische Informationen, Planungen, Aktionen und Berichte:Rundschau Bayern: ........................................................................ 28

Schleswig-Holstein: Tagungen in Kiel ........................ 28

Hessen: Bericht aus dem hessischen Landesverband ............................................................ 29

Niedersachsen: Didaktikforum .................................. 29

–: 20. Tag der Politischen Bildung .............................. 29

–: Fachtagung zur politisch-historischen Bildung .... 29

Thüringen: Prof. Michael May – neu in Jena ............ 30

–: Abiturpreis für Hendrik Bachmann ........................ 30

–: Neue Lehrpläne in Thüringen ................................ 30

Mecklenburg-Vorpommern: Programm für den Herbst 2012 .................................................................. 31

Magazin Rezensionen ................................................................ 32Vorschau/Impressum .................................................. 34

POLISReport der Deutschen Vereinigungfür Politische Bildung

Editorial

Das vorliegende POLIS-Heft „Partizipa tion“

widmet sich einer ersten Nachlese des Bun-

deskongresses Politische Bildung. Die be-

reits bewährte Kooperation zwischen der

Bundeszentrale für politische Bildung und

der Deutschen Vereinigung für Politische

Bildung wurde erstmalig um den Bundes-

ausschuss Politische Bildung erweitert.

Mit seinen vielfältigen Angeboten und

über 900 Teilnehmenden wurde der Berli-

ner Bundeskongress von vielen als ein High -

light empfunden. Und das zu Recht. Es war

ein Ort anspruchsvoller Information, Refle-

xion, Fortbildung und Vernetzung auf dem

Feld der Politischen Bildung. Schon jetzt be-

ginnen die Gespräche für den Bundeskon-

gress 2015 – dann wieder zum traditionel-

len Termin im März.

Die folgenden Fachbeiträge setzen sich

aus mehreren Perspektiven mit dem The-

menfeld „Partizipation und Politische Bil-

dung“ auseinander. Es eröffnet Colin Crouch

mit seinem Hauptvortrag über neue Partizi-

pationsformen als Kennzeichen der Postde-

mokratie. Mit seinen Thesen hat er die po-

litikwissenschaftliche Debatte der vergan-

genen Jahre erheblich mitbestimmt.

Wolfgang Sander, Reinhold Hedtke und

Werner Friedrich fragen jeweils kritisch an,

ob „Partizipation“ nicht zu leichtfertig, qua-

si als ein Synonym für Demokratie und Po-

litische Bildung verwendet wird. Mit ver-

schiedenen didaktischen Argumentationen

erörtern sie bestehende Probleme und mög-

liche Perspektiven (in Zeiten der Postde-

mokratie). Oskar Brilling dokumentiert in

der Didaktischen Werkstatt einen Bun-

deskongress-Workshop zur Bedeutung des

Klassenrates.

Insgesamt soll dieses POLIS-Heft auch

einen Vorgeschmack auf eine umfassende

Dokumentation des Bundeskongresses ge-

ben, die im Wochenschau-Verlag erscheinen

wird. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Le-

sen!

Dirk Lange

Heft 3/2012

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Potsdam. Am 12. April 2012 hat Prof.Dr. Jngo Juchler von der Universität Pots-dam im Namen des Sprecherkreises derGPJE ein Positionspapier zur Frage derVerankerung ökonomischer Inhalte undKompetenzen in Lehrplänen und Stun-dentafeln veröffentlicht: „In jüngs ter Zeitwird in der Öffentlichkeit von verschie-denen Interessengruppen zunehmend dieForderung erhoben, wirtschaftsbezoge-ne Themen aus dem schulischen Unter-richtsfach der politischen Bildung aus-zugliedern und ein eigenständiges Schul-fach „Wirtschaft“ an allgemeinbildendenSchulen mit einer eigenen Lehrerbildungaufzubauen. Zuletzt wurde dies unter an-derem im Gutachten „Ökonomische Bil-dung an allgemeinbildenden Schulen“des Gemeinschaftsausschusses der deut-schen gewerblichen Wirtschaft (2010) ge-fordert. Die GPJE erinnert daran, dassökonomische Themen seit jeher zum Ge-genstandsbereich des schulischen Unter-richtsfaches der politischen Bildunggehören, das in den Ländern unter ver-schiedenen Fachbezeichnungen wie So-zialkunde, Gemeinschaftskunde oder Po-litik und Wirtschaft existiert. Die GPJEbekräftigt in diesem Zusammenhang ih-re in einem Entwurf für nationale Bil-dungsstandards für dieses Fach 2004 ge-troffene Feststellung, dass das Gegen-standsfeld dieses Faches „Politik imengeren Sinne“, „wirtschaftliche Fragenund Probleme“, „Fragen und Problemedes gesellschaftlichen Zusammenlebens“sowie „rechtliche Fragen und Probleme“umfasst. Alle diese Aspekte stehen in derPraxis des sozialen Lebens in vielfältigenWechselbeziehungen miteinander undsollten in den allgemeinbildenden Schu-len jungen Menschen in eben diesenWechselbeziehungen vermittelt werden.Ein eigenes Fach „Wirtschaft“ hätte zurlogischen Konsequenz, dass es auch fürdie anderen genannten Teilgebiete eige-ne Fächer geben müsste. Das wäre jedochangesichts der jetzt schon großen Zahl anSchulfächern nicht praktikabel und we-

gen der erwähnten inhaltlichen Wechsel-beziehungen auch nicht wünschenswert.

Insbesondere wendet sich die GPJEin diesem Zusammenhang gegen jedenVersuch, ökonomische Bildung an Schu-len auf nur eine wissenschaftliche Denk-schule zu gründen. Diese Tendenz ist indem Gutachten des Gemeinschaftsaus-schusses der deutschen gewerblichenWirtschaft deutlich zu erkennen, indemeine starke und einseitige Orientierungan der neoklassischen Schule der Wirt-schaftstheorie erfolgt. WirtschaftlicheFragen und Probleme müssen in derSchule multiperspektivisch erschlossenwerden. Dazu gehören die Berücksich-tigung unterschiedlicher Richtungen desökonomischen Denkens, aber auch dieEinbeziehung politikwissenschaftlicherund soziologischer Perspektiven. DieGPJE teilt insoweit die bereits von derDeutschen Vereinigung für politischeBildung (DVPB) vorgetragene Kritik andem genannten Gutachten.

Gleichwohl ist die Forderung berech-tigt, dass wirtschaftsbezogene Themenim Unterricht von fachlich dafür gut aus-gebildeten Lehrkräften unterrichtet wer-den sollten. Die GPJE unterstützt deshalbdie Forderungen der beiden politikwis-senschaftlichen Fachgesellschaften Deut-sche Vereinigung für Politische Wissen-schaft (DVPW) und Deutsche Gesell-schaft für Politikwissenschaft (DGfP),dass im Lehramtsstudium für das Unter-richtsfach der politischen Bildung vor al-lem folgende wirtschaftsbezogene Ge-genstände repräsentiert sein sollen:wesent liche ökonomische Theorien,Grund begriffe und Konzeptionen der Mi-kro- und Makro ökonomie, Einführung indie Wirtschafts- und Sozialpolitik sowienachhaltige Wirtschaftsentwicklung. DieGPJE teilt ferner mit Nachdruck die Ein-schätzung der beiden politikwissen-schaftlichen Fachgesellschaften, dass mi-kro- und makro ökonomische Themen insolchen Lehrveranstaltungen angebotenwerden müssen, die speziell auf die Lehr-

4 polis 3/2012

ZE

ITU

NG Wirtschaft in der Schule

Stellungnahme der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE)

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amtsausbildung zugeschnitten sind, dadie starke Mathematisierung und For-malisierung der entsprechenden Veran-staltungen im üblichen wirtschaftswis-senschaftlichen Studium an den Bedürf-nissen und Notwendigkeit der Leh rer- bildung vorbeigeht.“

Neue Studie belegt hohes zivil-gesellschaftliches EngagementJugendlicher

Gütersloh. Die Bertelsmann-Stiftung hatauf der Basis der Daten des Freiwilli-gensurveys der Bunderegierung aus denJahren 1999, 2004 und 2009 und eigenenweiteren Erhebungen eine Studie zurGruppe der Jugendlichen herausgegeben.Während danach das freiwillige gesell-schaftliche Engagement älterer Menschenzwischen 1999 und 2009 zum Teil er-heblich zugenommen hat, ist das Enga-gement Jugendlicher im gleichen Zeit-raum leicht rückläufig gewesen. Es sankentgegen dem Trend von 37 auf 35 Pro-zent. Zu diesem Ergebnis kommt die Au-torin Sibylle Picot. Danach wirken ins-besondere Jugendliche mit Migra tions -hintergrund vergleichsweise selten anzivilgesellschaftlichen Aktivitäten mit:2009 sind nur 22 Prozent von ihnen frei-willig engagiert. Dabei würden sich 49Prozent der Jugendlichen gern stärker ein-bringen, bei Jugendlichen mit Migrati-onshintergrund sind es sogar 54 Prozent.

Die Studie beschäftigt sich auch mitder Frage nach der Zeitkonkurrenz, inder jugendliches Engagement steht. Hierfinden sich das erste Mal empirisch be-lastbare Belege für die Befürchtung zuden negativen Auswirkungen der Ganz-

tagsschule wie auch des G8-Abiturs aufdas freiwillige Engagement junger Men-schen. Zwar hat sich die Quote enga-gierter Schülerinnen und Schüler insge-samt nicht nennenswert verändert, dochverwendet diese Gruppe heute wesent-lich weniger Zeit auf ihr Engagement alsfrüher. Unter den unterschiedlichenSchülergruppen zeigt sich nun aber auch,dass sich G8-Abiturienten wie auchGanz tagsschüler ebenfalls weniger frei-willig engagieren als ihre Altersgenos-sen in G9 und Halbtagsschule (G8 zuG9: 41% zu 51%; Halbtags- zu Ganz-tagsschule: 39% zu 31%). [Sibylle Pi-cot: Jugend in der Zivilgesellschaft. Frei-williges Engagement Jugendlicher imWandel, Gütersloh 2012]

„Trotz des leichten Rückgangs ju-gendlichen Freiwilligenengagements, derim Gegensatz zum Trend insgesamt ver-läuft, müssen junge Menschen weiterhinals hochaktive Gruppe in der Zivilge-sellschaft gelten. Sie sind überdurch-schnittlich häufig zivilgesellschaftlich ak-tiv und bekunden ebenso häufig ihre Be-reitschaft zum freiwilligen Engagement“,urteilt Hannes Jähnert im Internet-Forum„wordpress“ am 1.8.2012.

Auch die Europäische Kommissionhatte im Jahre 2010 eine Untersuchungzur „Freiwilligentätigkeit in der EU“ her-ausgegeben (http://ec.europa.eu/citi-zenship/pdf/doc1020_en.pdf), die zu auf-schlussreichen Befunden über die Häu-figkeit freiwilligen Engagements iminternationalen Vergleich gelangt war. DieAnalyse nationaler Erhebungen und Be-richte zur Freiwilligentätigkeit zeigen,dass rund 93 Millionen Erwachsene inder EU im freiwilligen Sektor aktiv sind.Dies bedeutet wiederum, dass rund 23 %

der Europäer über 15 Jahre eine ehren-amtliche Tätigkeit ausüben. Zwischenden Mitgliedstaaten bestehen deutlicheUnterschiede bezüglich der Beteiligungan Freiwilligentätigkeit. Während man-che EU-Mitgliedstaaten über eine langeTradition des freiwilligen Engagementsund einen gut entwickelten Freiwilligen-sektor verfügen, ist dieser Sektor in an-deren Mitgliedstaaten erst im Entstehenbegriffen oder kaum entwickelt. Aus dennationalen Studien gehen folgende Wer-te zur Beteiligung an Freiwilligentätig-keit hervor: Sehr hoch in den Niederlan-den, Österreich, Schweden und im Ver-einigten Königreich, wo mehr als 40 %der Erwachsenen ehrenamtlich tätig sind.Hoch in Dänemark, Deutschland, Finn-land und Luxemburg, wo 30 bis 39 % derErwachsenen ehrenamtlich tätig sind. Mit-tel in Estland, Frankreich und Lettland,wo 20 bis 29 % der Erwachsenen ehren-amtlich tätig sind. Relativ niedrig in Bel-gien, Irland, Malta, Polen, Portugal,Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Spa-nien, der Tschechischen Republik undZypern, wo 10 bis 19 % der Erwachse-nen ehrenamtlich tätig sind. Niedrig inBulgarien, Griechenland, Italien und Li-tauen, wo weniger als 10 % der Erwach-senen ehrenamtlich tätig sind.

vO

Vielfältige Initiativen für ein Wahl recht mit 16 auf Länderebene

Kiel. Bei der nächsten Landtagswahl inSchleswig-Holstein sollen auch 16- und17-Jährige mitwählen dürfen. SPD, Grü-ne, SSW, und Piraten haben Ende Au-gust im Landtag einer entsprechendenWahlgesetzänderung in erster Lesungzugestimmt. Die zweite Lesung in einerder nächsten Sitzungen gilt angesichtsder breiten Mehrheit als Formsache. An-dere Länder wie Bremen und Branden-burg haben das Wahlalter auf Landes -ebene bereits gesenkt; Hamburg will sichim Herbst damit befassen; in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz steht dasVorhaben im Koalitionsvertrag; dage-gen hat der saarländische Landtag einenentsprechenden Antrag nach der Som-merpause mit den Stimmen von CDUund SPD abgelehnt.

5polis 3/2012

Zeitung

Impression von der GPJE-Jahrestagung vom 21-23. Juni 2012 in Dresden. Foto: J. Stefan

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Im Mai vergangenen Jahres konntenin Bremen Jugendliche erstmals auf Lan-desebene wählen. Das Ergebnis wurdezum Modellfall für eine gelungene Neue-rung; so gelungen, dass der Wahlleiterdes Stadtstaats inzwischen zum Hand-lungsreisenden in Sachen Wahlrecht ge-worden ist. Der Grund für den Erfolg:Die Schüler und Auszubildenden wur-den in der Schule, durch die Landes-zentrale für politische Bildung und eineVielzahl anderer Initiativen auf die Wahlvorbereitet. „Das ist natürlich ein enor-mer Aufwand, aber es bestätigt, was Ju-gendforscher seit Langem sagen: Mit 16ist ein Mensch durchaus imstande, eineverantwortungsbewusste Wahl zu tref-fen. Anders formuliert: Wenn 70 das neue60 ist, dann sollte 16 das neue 18 sein“,kommentierte die Süddeutsche Zeitungam 22.August 2012.

Die Lübecker Nachrichten weisenaber auf eine notwenige Voraussetzunghin: „Bevor ein Wahlrecht mit 16 Sinnmacht, müsste die politische Bildung anSchulen einen klar höheren Stellenwertbekommen: Mehr Ministerpräsident Al-big statt Alexander der Große.“ (24.8.12)

vO

Positionswechsel

München. Der frühere Chef der Lan-deszentrale für politische Bildungsarbeitfür Bayern, Peter März, hat zu Beginndes Monats August den Posten eines Re-feratsleiters im bayerischen Kultusmi-nisterium übernommen. Dabei handeltes sich um eine für März neu geschaf-fene Stelle mit Zuständigkeit für Ge-schichte und Politik im Unterricht, wiedas Ministerium mitteilte. März hatteden vorherigen Posten in der Landes-zentrale nach Vorwürfen wegen Mis-swirtschaft räumen müssen (siehe PO-LIS 3/2011, S. 5/6), wurde dann aberwegen nur geringer Schuld rehabilitiert.Auf die ihm zustehende Rückkehr in dieLandeszentrale verzichtete er nach An-griffen der Opposition im bayerischenLandtag. Daher habe er nun Anspruchauf die Referatsleiter-Stelle, hieß es imMinisterium. Gegenwärtig wird die Lan-deszentrale für politische Bildung inMünchen kommissarisch von der Mini-sterialrätin Dr. Gerda Graf geleitet.

vO

polis 3/2012

Zeitung

Interview mit Thomas Krüger

Der Präsident der Bundeszentra-le für politische Bildung über dieChancen und Grenzen der Arbeitseiner Behörde.

Gerade das Wissen über die eigene Ge-

schichte lässt bei deutschen Jugendli-

chen sehr zu wünschen übrig. Nach ak-

tuellen Umfragen können 40 Prozent al-

ler Jugendlichen nicht zwischen De mo-

kratie und Diktatur unterscheiden.

KRÜGER: Ja, und das ist absolut betrüb-lich. Unser Problem ist, dass der Fö-deralismus die politische Bildung in denSchulen den Ländern überlässt. Wir kön-nen die Arbeit dort folglich nur beglei-ten. Zu beobachten ist, dass der Ge-schichtsunterricht, wie aktuell in Bay-ern, drastisch gekürzt wird. Das führtdann früher oder später zu solchen Be-funden wie in der vorliegenden Studie.

Wie ist diese Linie der Länder zu er-

klären?

KRÜGER: Das hat sehr stark mit Pisa, al-so dem Vergleich schulischer Leistun-gen, zu tun. Naturwissenschaftliche undsprachliche Fächer genießen bei der Pi-sa-Bewertung eine Schlüsselrolle. Dar-aus ergeben sich, übrigens flächen-deckend und unabhängig von der Par-teizugehörigkeit der Kultusminister,Konsequenzen für die Stundentafel.Zweitens hat die Verkürzung der Schul-

zeit einen Verdrängungswettbewerb derFächer mit sich gebracht. Darunter lei-den besonders Geschichte und Politik,obwohl gerade diese Fächer substantiellfür bürgerschaftliches Selbstverständnissind. Drittens schließlich sind die didak-tischen Instrumente im Politik- und Ge-schichtsunterricht überschaubar, deshalbversuchen wir beispielsweise, bei der Ver-mittlung jüngerer Geschichte Zeitzeugenan die Schulen zu bringen. Wir dürfennicht vergessen, dass ein Schüler, der heu-te in der 10. Klasse ist, nach der deut-schen Einheit geboren wurde. Für den istdie DDR häufig genauso jenseits seinerVorstellungskraft wie das Mittelalter. Dasmacht die Arbeit nicht leichter.

Brauchen wir vielleicht ein ganz neues

Instrumentarium für die Wissensver-

mittlung, um junge Menschen zu errei-

chen?

KRÜGER: Die Tatsache, dass junge Men-schen weniger Bücher lesen, heißt janicht, dass sie sich nicht für Politik in-teressieren. Aber es ist schon so: Das In-ternet spielt zur Information eine immergrößer werdende Rolle. Die Leser wech-seln zunehmend vom Buch ins Netz.Trotzdem vertreibt die Bundeszentralenoch über eine Million gedruckte Bücherim Jahr. Online registrieren wir im glei-chen Zeitraum zwei Millionen Besuchemit 20 Millionen Seitenabrufen, und dieTendenz steigt. Dem tragen wir Rech-nung: Unser Fachbereich Multimedia hatdie klassische Domäne der Bundeszen-trale, den Printbereich, inhaltlich und per-sonell überholt. Wir wissen, dass beson-ders in bildungsbenachteiligten MilieusSchriftenreihen nicht weiterhelfen, dabrauchen wir strategisch ganz andere An-sätze. Besonders wichtig ist hier der Ein-satz von Bildern, das Medium Fernsehenspielt also eine starke Rolle. Unsere Stra-tegie ist die Verzahnung von politischerBildung mit Sozialarbeit und Sport. EinBeispiel: Sido geht wählen. Das war einProjekt in Zusammenarbeit mit einemFernsehsender vor der Bundestagswahl.Der Rapper Sido ist zu Wahlkandidatengegangen, aber auch in Altersheime undKindergärten und hat Politik in seinerSprache reflektiert, herausgefordert undletztlich aktiviert. Und Sido hat gesagt:Ich bin jetzt 27 Jahre und gehe zum er-sten Mal wählen. Sowas hat Effekte.

Quelle: Das Parlament v. 27.08.2012

Thomas Krüger (53), seit 2000 Präsidentder Bundeszentrale für politische Bildung. Foto: bpb

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Im Namen der Deutschen Vereinigungfür Politische Bildung begrüße ich Sieganz herzlich zu unserem 12. Bun-deskongress für Politische Bildung inBerlin. Er steht dieses Jahr unter demMotto „Partizipation“.

Eine demokratische Gesellschaft istauf die Partizipation engagierte Bürge-rinnen und Bürger angewiesen. Das Ein-treten für demokratische Werte, die Be-reitschaft, zu umstrittenen Fragen Stel-lung zu beziehen und die Übernahmevon gesellschaftspolitischer Verantwor-tung, sind nicht naturgegeben. Jede Ge-neration politisiert sich aufs Neue. Po-litische Bildung begleitet diesen Prozess.

Sie qualifiziert zur politischen Partizi-pation in Staat und Zivilgesellschaft.

Im Kongressprogramm spiegeln sichvielfältige – konventionelle und unkon-ventionelle – Formen politischer Betei-ligung und gesellschaftlicher Gestaltung.Wahlen und Abstimmungen haben auchin den Debatten der nächsten Tage ei-nen hohen Stellenwert. Aber politischePartizipation ist mehr. Sie umfasst einweites Spektrum, das von der Partei-mitgliedschaft und dem Engagement inInteressenverbänden über Bürgerinitia-tiven und neuen Beteiligungsverfahrenbis zu Demonstrationen und punktuel-len Aktivitäten reicht.

In vielen Sektionen und Workshopswird insbesondere der Frage nachge-gangen, welchen Einfluss die medialeEntwicklung auf das Partizipationsver-halten der jüngeren Generation hat. Aberhinter den neuen Formen dürfen die In-halte nicht verloren gehen. Gesell-schaftspolitisch sollten wir als PolitischeBildnerinnen und Bildner darauf hin-wirken, dass die etablierten Wege derBeteiligung nicht zur formalen Hülleveröden. Es geht um politische Selbst-wirksamkeit. Partizipation muss deshalbsubstanzielle Fragen behandeln, auch imModus des Konflikts praktiziert werden

und auf gesellschaftliche Wirksamkeitabzielen.

Die Deutsche Vereinigung für Politi-sche Bildung begreift es als zentrale Bil-dungsaufgabe, das rationale Urteil, die re-flektierte Kritik und die politische Parti-zipation von Bürgerinnen und Bürgern zufördern. Eine zentrale Forderung unseresVerbandes lautet, dass hierfür in jederSchulform und in jeder Jahrgangs stufePolitische Bildung als eigenes Fach mitzwei Stunden unterrichtet werden muss.Für dieses Ziel und für die Qualität desFaches engagieren sich unsere Mitgliederin den Landesverbänden der DVPB.

Erfolgreich waren die DVPB-Akti-vitäten für eine sozioökonomische Bil-dung. Die Herauslösung eines marktaffi-nen Unterrichtsfaches Wirtschaft aus derPolitischen Bildung konnte verhindertwerden. Nicht zuletzt im Kontext der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise verloren ent-sprechende Initiativen an Argumentati-onskraft. Für die DVPB steht fest: DasModell des egoistischen Nutzenmaxi-mierers darf nicht zum Leitbild des Ler-nens über Wirtschaft werden. Urteilsbil-dung, Kontroversität und Partizipation –dafür setzt sich die DVPB ein – müssenauch für die sozioökonomische Bildungdie zentralen Prinzipien sein.

7polis 3/2012

12. Bundeskongress für Politische Bildung in BerlinEröffnungsrede

von Dirk Lange

Prof. Dr. Dirk Lange ist Direktor derAgentur für Erwachsenen- und Weiter -bildung. Er ist DVPB-Bundesvorsitzenderund lehrt an der Leibniz Universität Hannover.

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8 polis 3/2012

Fachbeitrag

mas Krüger, im Namen der DVPB gra-tuliere ich Ihnen ganz herzliche zumsechzigsten Jubiläumstag der bpb!

Die Tradition des BundeskongressesPolitische Bildung konnte nur in der Ko-operation so erfolgreich entwickelt wer-den. Dass in diesem Jahr erstmalig derBundesausschuss Politische Bildung(bap) zu den Mitveranstaltern zählt, be-grüße ich außerordentlich. Sehr geehr-ter Herr Vorsitzender Lothar Harles, sowerden wir unserer Zusammenkunft im

Das Ausmaß rechtsextremen Terrors,welches im letzten Herbst deutlich wur-de, stellt auch die Politische Bildung – alsDidaktik der Demokratie – vor neue Her-ausforderungen. Das Lernen von Demo-kratie bezieht sich einerseits auf die par-tizipativen Verfahren und die demokrati-schen Institutionen des Konfliktaustragsin pluralen Gesellschaften. Das Lernenvon Demokratie muss sich aber anderer-seits auch auf demokratische Werte be-ziehen, die – bei aller Pluraltität – einenKonsens der Gesellschaft darstellen.

Die Existenz des Rechtsextremismusmacht deutlich, dass die demokratischeOrientierung an der Aufklärung ein po-litisches Projekt darstellt, dass erkämpftwurde und zu gestalten ist. Die Politi-sche Bildung steht in der Tradition die-ses Demokratisierungsprozesses. DieOrientierung an der Menschenwürde so-wie den Menschen- und Bürgerrechten,die Prinzipien der Gleichheit, der Soli-darität, der Anerkennung und der Tole-ranz sind für uns unhintergehbar. Des-halb ist Demokratiebildung immer auchBildung gegen rechtsextreme Weltbil-der.

Gerade dieses Feld der Demokratie-bildung macht sichtbar, wie wichtig dieVerzahnung der Politischen Bildung vonSchule, Jugend- und Erwachsenenbil-dung ist. Die Bundeszentrale für politi-sche Bildung leistet auf diesem Gebietseit Jahrzehnten eine ausgezeichnete Ar-beit. Sehr geehrter Herr Präsident Tho-

Interesse Politischer Bildung eine gutePerspektive auch für die nächsten Jah-restage geben können.

Ich hoffe, Sie finden in den nächstenTagen theoretische und praktische An-regungen, wie Sie das Thema Partizi-pation in Ihr Arbeitsgebiet integrierenkönnen. Ich wünsche Ihnen eine ange-nehme Zeit auf unserem 12. Bun-deskongress Politische Bildung in Ber-lin! w

Der erste DVPB-Bundesvorsitzende aus dem Jahr 1965, Herr Adolf Brunner, berichtetder Delegiertenversammlung

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Wenn ich heute noch einmal meine zweiBüchlein Postdemokratie und Das be-fremdliche Überleben des Neoliberalis-mus schreiben könnte, würde ich gewissmit den kürzlich erfolgten Worten derBundeskanzlerin Angela Merkel begin-nen:

„Wir leben ja in einer Demokratie undsind auch froh darüber. Das ist eine parla-mentarische Demokratie. Deshalb ist dasBudgetrecht ein Kernrecht des Parlaments.Insofern werden wir Wege finden, die par-lamentarische Mitbestimmung so zu ge-stalten, dass sie trotzdem auch marktkon-form ist, also dass sich auf den Märktendie entsprechenden Signale ergeben.“

Man muss anmerken, dass sie zwar nicht,marktkonforme Demokratie‘ gesagt hat,

dies jedoch das ,Unwort‘ ist, das manihr zuschreiben wird. Ich erinnere michdaran, als Margaret Thatcher gesagt hat-te: „There is no such thing as society“.Das ist ein berüchtigtes Unwort im Ver-einten Königreich geworden. Sie hat die-sen Satz zwar selbst so gesagt, aber esgab einen besonderen Zusammenhang.Während eines Radiointerviews disku-tierte sie die Frage, ob Menschen beiihren Problemen Hilfe von der Gesell-schaft erwarten sollten. Frau Thatcherhatte hierauf geantwortet:

„There is no such thing as society. Thereis living tapestry of men and women andpeople and the beauty of that tapestryand the quality of our lives will dependupon how much each of us is prepared totake responsibility for ourselves and eachof us prepared to turn round and help byour own efforts those who are unfortun-ate.”

In beiden Fällen könnte man die Thesenauf eine ganz bedenkenlose Weise ver-stehen. Möglicherweise wollte Frau That-cher nur sagen, dass man ,society‘ (dieGesellschaft) als kein einzelnes Indivi-duum begreifen sollte, und dass ‚society‘kein einzelnes Subjekt sein könne. Ge-sellschaft sei immer eine ,rich tapestry‘(reiche Gobelinstickerei), deren ver-schiedene Teile zu verschiedenen Zeit-punkten tätig werden. Diese Teile sindstets zu spezifizieren. Hieran gibt es nichts,was ein Soziologe kritisieren könnte.

Ähnlich könnte man anmerken, dassdie Bundeskanzlerin Merkel lediglich sa-gen wollte, dass ein Parlament keineHaushaltspläne machen sollte, die es nurmit kontinuierlichen Schulden finanzie-ren könne. Es ist gewiss nicht demokra-tisch, die Wähler glauben zu lassen, dasssie öffentliche Dienste und soziale Un-

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Neue Formen der Partizipation als Marken -zeichen der Postdemokratie?

Rede zum Bundeskongress politische Bildung

von Colin Crouch

Colin Crouch ist Professor emeritus, Uni-versity of Warwick, UK, und AuswärtigesWissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor-schung, Köln. F

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10 polis 3/2012

Fachbeitrag

Institutionen neben dem Staat gäbe, undsie hat Bereiche genannt, die eindeutigkeinen Teil des Marktes ausmachen. Siehat die ,zivile Gesellschaft‘ genannt. Ih-re Regierung aber hatte sich oft den po-litischen Fragen auf der folgenden ste-reotypischen Weise angenähert: Auf dereinen Seite stehe der Staat, auf der an-deren Seite stünden gemeinsam derMarkt und alle andere Institutionen. Da-bei gebe es keine Spannung zwischendem Markt und den anderen Institutio-nen (z.B. die Familie). Auch kam es oft

vor, dass sie vorgab, dass es normaler-weise ein Null-Summen-Verhältnis zwi-schen dem Staat und allen anderen In-stitutionen gebe, aber fast nie zwischendem Markt und den anderen Institutio-nen. Diese Mentalität hat die Politik die-ser Regierung – und auch der ,New La-bour‘ Regierung, der sie gefolgt ist –sehr beeinflusst. Ein Beispiel ist die Pri-vatisierung der Leistungen des Öffent-lichen Dienstes. Die Leistungen wurdenvon privaten Firmen und auch wohl-tätigen Einrichtungen angeboten, als obdiese sich auf eine Weise ähneln wür-den. Stattdessen aber können die Fir-men leicht mit den Einrichtungen kon-kurrieren. Deshalb assoziiert man mitdem ,Thatcherismus‘ eine Verschiebungder öffentlichen Dienstleistungen vomStaat an den Markt. Mit der Ausnahmeeiniger religiöser Organisationen (wohl-tätige Einrichtungen) wurde die zivileGesellschaft letztlich ignoriert.

Wenn wir aber über den Markt im Zu-sammenhang der Privatisierung sprechen,sollten wir eher ,Unternehmen‘ anstatt,Markt‘ sagen. Normalerweise beinhal-tet Privatisierung ein Verhältnis unter ei-ner Abteilung einer nationalen oder lo-

terstützungen in Anspruch nehmen könn-ten ohne dass der Staat Steuern beziehe.Die Institutionen der Demokratie benöti-gen Mechanismen, die ihre Integrität ge-währleisten, auch gegen die Vertreter derDemokratie selbst. Dieses Konzept ist ei-ne Erweiterung der Idee des Rechtstaats.Man kann es auch zugunsten der Unab-hängigkeit von zentralen Banken, desSchutzes des öffentlichen Funks undFernsehen vor politischer Einmischungund der Autonomie der staatlichen stati-stischen Ämter übertragen. Solche Me-chanismen, die die größeren öf-fentlichen Interessen vor der Ma-nipulation der politischen Klassenschützen, stärken die Demokratie;sie schwächen sie nicht. Aus die-sen Gründen widerstehe ich derVersuchung zu behaupten, dass dereuropäische fiskale Pakt meineTheorie der Postdemokratie stüt-ze. Es mag sein, dass solche Maß-nahmen die Demokratie vor sichselbst schützen. (Ich spreche hierüber das allgemeine Konzept deslangfristigen fiskalen Gleichge-wicht, nicht über die spezifischenBedingungen, die auf Regierungenübertragen werden, die oft mehr Scha-den verursachen, als nützlich zu sein.)

Jedoch kann es auch sein, dass diezitierten Bemerkungen von Merkel undThatcher deshalb eine starke öffentlicheResonanz erzielt haben, weil sie einegrundlegende Mentalität enthüllen, diejenseits der Wörter selbst steht. Und dieMentalität ist in beiden Fällen dieselbe:dass nur die Märkte wichtig seien, unddass die übrigen Lebensbereiche alsMärkte gesehen werden sollten.

Es ist unglücklich, dass die politi-schen Debatten unseres Zeitalters diegesellschaftlichen Institutionen in zweiPole trennen: den Markt einerseits undden Staat andererseits. Es ist ferner un-glücklich, dass diese zwei normaler-weise in einem ,Null-Summen‘-Ver-hältnis zueinander stehen: d.h. wenn man‚mehr Markt‘ habe, dann müsse man,weniger Staat‘ haben und vice versa.Beide Postulate sind aber falsch. Es gibtsehr viel mehr Institutionen als Marktund Staat, darüber hinaus stellen Marktund Staat oft eine gegenseitige Stützefüreinander dar.

Es ist klar, dass Margaret Thatchersagen wollte, dass es zahlreiche andere

kalen Regierung (der Kunde) und einerkleinen Gruppe von bevorzugten Firmen.Die Nutzer der Dienste sind nur Nutzer,keine Kunden. Dies entspricht nicht demMarkt der Wirtschaftstheorien, der eineMenge Kunden und Firmen benötigt.

Man kann die Worte der Bundes-kanzlerin Merkel ähnlich interpretieren.Sie hat nicht nur gesagt, dass man an-nehmen müsse, dass die öffentlichen Fi-nanzen in einem marktkonformenGleichgewicht stehen müssten, und dassman bezahlen müsse, für das, was man

erhalte. Sie sprach über die,Märkte‘ im Plural, gemeint sindin der Regel die Finanzmärkte.Sie räumt den Finanzmärktendas Recht ein, die Haushalts-pläne zusammen mit den demo-kratischen Einrichtungen mit-zubestimmen.

Doch geht sie vom Recht derMärkte oder von deren Machtaus? Oder muss man sagen, dassMacht Recht erzeugt? Gewiss,zumindest muss man die fait ac-compli annehmen, dass MachtMacht ist. Oder meint dies an-stelle einer nicht marktkonfor-

men Demokratie dann eine machtkon-forme Demokratie? Hier muss man zweiBeobachtungen über diese Art vonMacht machen.

Erstens, die Märkte des heutigen ang-lo-amerikanischen global dereguliertenFinanzsystems haben extrem kurzfristi-ge Zeithorizonte. Sie sind auch sehrspeku lativ; die Kapitalanleger weichenihren Wetten aus, damit ihre eigenen Ri-siken be schränkt bleiben, auch wenn ih-re Tä tig keiten große Instabilität unterden Firmen und den Ländern erzeugen,mit welchen sie spielen. Es ist eine Artder Chaos theorie, wo kleine Bewegun-gen au ßerordentliche Folgen haben kön-nen. Hier aber sind die Ursachen desChaos keine sinnlosen Phänomene wieein Schmetterling im australischen Ur-wald wie im berühmten Beispiel derChaostheorie, sondern sinnvolle, wennauch ver antwortungslose, Tätigkeitenmensch licher Akteure.

Viele Firmen in anderen Sektoren derWirtschaft beklagen bitterlich die Kurz-fristigkeit der Finanzmärkte, weil sie ih-nen das Leben bei langfristigen Projek-ten sehr erschwert, dies gilt genauso fürdie Regierungen. Die Schaffung einer

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neuen fiskalen Architektur für die Eu-ropäische Union ist ein großes Projekt,das Zeit und ruhige, mühsame Planungbenötigt. Die spekulativen Märkte for-dern aber Tätigkeit in Panik. Man kannhier nicht behaupten, dass der Markt end-lich für das Gemeinwohl agiere, weil inPaniksituationen nie gute Ergebnisse er-zielt werden können. Die einzige Recht-fertigung der Macht der Märkte, der ein-zige Grund, wofür man immer ,markt-konform‘ sein muss, ist, dass langfristigder Markt die gemeine Wohltätigkeit ge-währleistet. Wenn die Struktur einesMarktes Panik verursacht und Chaos her-stellt ohne dass jemand oder etwas dasChaos erzeugt hat und nun negative Fol-genverursacht, dann weist das Marktsy-stem einen großen Fehler auf. Wenn die-se Folgen Firmen in anderen Sektorenverwunden, entsteht eine wirtschaftli-che Krise. Und wenn sie die Regie-rungskapazität der Staaten verwunden,bedeutet dies eine Krise der Demokra-tie. Wenn die Demokratie marktkonformsein muss, dann ist es auch notwen dig,dass die Finanzmärkte demo kratie kon -form – oder wenigstens mit gutem Re-gieren konform – sind. Heute mangelndiese Umstände völlig.

Zweitens, was bedeutet es für die po-litischen Rechte aller Anderen, wenn dieDemokratie marktkonform sein muss,nicht nur im einfachen Sinne, sondernwenn die spekulativen Finanzmärkte einVeto über die politischen Entscheidun-gen besitzen? Die politische Klasse pflegtzu sagen, dass unsere politischen Tätig-keiten sich an den Wegen orientierensollten, die zu dieser Klasse selbst führen.Wir sollen wählen und dann müssen wirdie Ergebnisse der Wahlen annehmen.Sie werden ganz unbequem, wenn wir

Proteste, Demonstrationen usw. nutzen,um die Tätigkeiten demokratisch ge-wählter Politiker herauszufordern. Sieklagen nicht nur, dass unsere Aktionenkeine demokratische Legitimität besäßen,sondern auch, dass wir die soziale Ord-nung zerstören würden. Es mangelt denspekulativen Finanz märkten aber auchan demokratischer Legitimität; auch siekönnen die soziale Ordnung zerstören,wenn sie Unordnung in das Leben derBürger – wie etwa heute in Griechen-land – bringen. Die Personen, die die Fi-nanzmärkte operieren, haben das Argu-ment, dass sie die Macht haben, zu tun,was sie für ihre eigenen Interessen fürnötig erachten. Macht erzeugt Recht. Be-deutet dies, dass wenn Proteste und De-monstrationen genug Macht finden undmit Chaos drohen, die Regierungen auchihnen zuhören werden? Möglicherwei-se ja. Dies ist jedoch ein gefährlicherWeg, den die Politiker stets vermeidenwollten. Deshalb sollten sie uns nicht soleicht sagen, dass wir die Macht derMärkte und der großen Unternehmenohne Widerstand und ohne Reformenannehmen müssen.

Wenig dramatisch und ungefährlichfinden heute immer mehr Gruppen vonBürgern neue Wege, um ihre Unzufrie-denheit mit der sichtbaren Ohnmacht derformellen Politik vor der wirtschaftlichenMacht zu äußern. Sie suchen und findenneue Formen der politischen Teilnahme.Diese Tendenz ist jedoch in der Tat nichtso neu. Man hat sie während den 1960igerJahren diskutiert; man erinnere sich andie Schlagworte von 1968 in Paris:

Nous participons

Vous participez

Ils décident.

Diese Fragen sind während der 1980erJahren nach dem Erfolg der Partei DieGrünen an die Tagesordnung zurückge-kehrt. Immer wieder spricht man über‚neue‘ Formen der Teilnahme, die dieParteien usw. nicht in Anspruch nehmen.Sie sind zwar nicht neu, aber eine fort-fahrende, dauerhafte alternative Formder Politik, die immer ein Verhältnis vonSpannung und Dialog gegenüber der Po-litik der Parteienerzeugt.

Die Kritik der ,amtlichen‘ Demokra-tie der Parteien bringt immer dieselbenArgumente, warum sich viele Menscheneher über Bürgerinitiativen engagieren:� Die internen Prozesse von Parteien sei-

en langweilig und von Leitern kon-trolliert, welche fürchten, dass tätigeMitglieder extreme Aktionen machenwürden. Deshalb wollen sie, dass ihreMitglieder ruhig und passiv bleiben.

� Die externen Beschränkungen auf Re-gierungen (z.B. durch die Finanz-märkte) seien so streng, dass viele Leu-te glauben, dass die Unterschiede un-ter den Parteien immer kleiner werden;deshalb finden sie es zwecklos für ei-ne Partei zu arbeiten.

Die Menschen interessieren sich für be-sondere Fragen und nicht für das gesamteAusmaß der politischen Fragen. Partei-en aber müssen eine Position zu fast al-lem haben. Das heißt, dass, wenn wirParteimitglieder werden, wir uns mit Po-sitionen identifizieren müssen, mit de-nen wir nicht sympathisieren oder übe-reinstimmen.

Und die Kritik aus Reihen der Par-teimitglieder ist auch wohlbekannt: � Wenn junge Menschen (und die Mehr-

heit der Anhänger der ,neuen‘ Bewe-

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gungen ist jung) die Parteien verlas-sen, wird die Demokratie schwach.

� Die so genannten ,single-issue causes‘(Kampagnen zu einzelnen Fragen)können nicht das ganze Ausmaß poli-tischer Fragen zusammenbringen, unddeshalb mangelt ihnen eine ausrei-chende Perspektive, die die Parteienjedoch haben müssen.

� Die Organisatoren dieser Kampagnenhaben wenig Ausdauer, weil sie zu in-formell sind. Deshalb sterben sie raschwieder.

� Auch weil sie so leicht organisiert sind,birgen sie die Gefahr von ,Extremi-sten‘ übernommen zu werden.

Gegen diese Klagen der formellen Par-teienpolitik können die Protagonistender so genannten ,neuen‘ Bewegungenkonstatieren: � Die formelle an die nationale Ebene

gebundene Demokratie ist unfähig,gegen übernationale private wirt-schaftliche Mächte zu kämpfen. Wiedie Probleme der Europäischen Uni-on uns zeigen, finden die Staatsna-tionen es sehr schwierig, übernatio-nale Perspektiven anzunehmen undklammern sich stattdessen an ihre na-tionalen Beschäftigungen. Den neu-en Bewegungen aber, da sie informellund flexibel organisiert sind, fällt esviel leichter, auf der internationalenEbene zu agieren. Sie ähneln para-doxerweise den großen globalen Un-ternehmen in dieser geografischenAnpassungsfähigkeit noch eher alsder formellen Politik.

� Die formelle Politik ist immer mehrvon den großen Unternehmen domi-niert ist. In vielen Ländern – beson-ders in den Vereinigten Staaten – sinddie Parteien finanziell stark abhängigvon Investitionen geworden. Auchwenn das nicht der Fall ist, müssenRegierungen und leitende Parteienimmer vorsichtig sein, dass sie dieglobale Unternehmen nicht ,verär-gern‘, sonst werden diese drohen, ih-re Investitionen in andere Länder zuverschieben. Übernationalen Bewe-gungen kann man mit diesen Argu-menten nicht drohen.

Dennoch offenbaren die Schwächen derPolitik den neuen Bewegungen eine wich-tige Kritik der Weisen der alten Politikund ihrer Unfähigkeit im Zusammenhangder globalen Finanzwirtschaft sowie derMacht des übernationalen Kapitals. Wenndie Märkte, mit welchen die Demokratie,konform‘ sein muss, selbst schlecht funk-tionieren, haben wir ein großes Problemfür die Demokratie, welches die ,alte‘ Po-litik nicht konfrontieren kann.

Es gibt eine weitere interessante Ent-wicklung. Viele Organisationen in der Zi-vilgesellschaft, die sich normalerweisegar nicht als politisch oder als Protest-gruppen sehen, finden, dass die immerkräftigeren Prozesse der Vermachtlichungund der Verkorporatisierung ihre Ker-ninteressen und Kernidentitäten heraus-fordern: Kirchen, Naturschutzgruppen,usw. Sie sind der Meinung, dass sie da-her auf ungewöhnliche Weise kämpfenmüssen. Ihr/das Problem ist, dass derMarkt und die Geschäfte in immer mehrLebensfelder eindringen, die in der Ver-gangenheit außer ihrer Reichweite zu seinschienen. Hier finden wir den Markt ge-gen die Zivilgesellschaft – was ein großerSchock ist für jene, die sich den Marktnur zusammen mit der Zivilgesellschaftgegen den Staat denken können.

Können die Bürger dort etwas errei-chen, wo sie die formelle Politik alsmachtlos empfinden? Es gibt hierfürzwei Möglichkeiten:� Wenn die neuen Bewegungen recht

ernste Proteste werden, wie wir schonin Athen, London, Madrid, New Yorkund anderswo gesehen haben, fürch-ten die politischen bzw. wirtschaftli-chen Eliten die zukünftige soziale Sta-

bilität. Wenn sie der Meinung sindeinfache Repression bei Demokrati-en sei noch unmöglich, müssen sieeinige politische Einschränkungen an-bieten: z.B. eine strengere Regulie-rung der globalen Finanzmärkte, ei-ne Ermäßigung der Strengepolitik aufGriechenland, Italien, usw. imponiert,ein Rückkehr zur Politik der Nach-haltigkeit(was während der Krisegänzlich vernachlässigt worden war).

� Ohne das man einen gefährlichenPunkt der Proteste erreicht, fürchtendie großen Parteien fürchten, dass siedie jungen Generationen verlieren undsich ihre Verhältnisse mit ,Lobbyis-mus‘ und den mächtigen wirtschaft-lichen Interessen revidieren.

Ich glaube, dass man schon bestätigenkann, dass ohne Protestbewegungen,Bürgerinitiativen, und ohne die neuenSorgen der normalerweise zurückhal-tenden Bevölkerungsgruppen (,leisen,ehrbaren‘), das politische System nichtreagiert hätte. Ihr Zusammenleben (einvollkommen/ganz marktwidriges Zu-sammenleben!) mit den großen Unter-nehmen war zu bequem. Die Tendenzennach der Postdemokratie haben parado-xerweise ein positives Ergebnis erzielt:sie haben den langen, schon existieren-den Prozess eines Zuwaches der Zivil-gesellschaft gestärkt. Die Gestalten inder ‚reichen Gobelinstickerei‘ von Mar-garet Thatcher erquicken sich – wahr-scheinlich auf eine Weise, die ihr garnicht nicht lieb ist. Die Modelle dergroßen, bürokratisch organisierten poli-tischen Parteien des letzten Jahrhundertssind den jungen Generationen unattrak-tiv – auch ohne die Entwicklungen derPostdemokratie. Sie organisieren ihr Le-ben informeller; sie fügen sich den po-litischen Leitern nicht. Das heißt abernicht, dass sie sich nicht für ernste Fra-gen interessieren. Sie finden vielmehrneue Möglichkeiten für ihr politischesGefecht, wie beispielsweise in Form vonneuen Bewegungen, social media, usw.Am Ende dieses Prozesses könnte einerneuertes frisches politisches Leben ent-stehen. Ob dies genügt der wachsendenpolitischen Rolle der wirtschaftlichenMacht gegenzusteuern, bleibt eineschwierige Frage.

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Vorbemerkung

Die folgenden Ausführungen stellen ei-ne schriftliche Ausarbeitung meines Dis-kussionsbeitrags auf dem Berliner Bun-deskongress in diesem Jahr dar. Sie fol-gen in Struktur und Inhalt eng derThesenreihe, die ich dort zur Diskussi-on gestellt habe. Wie unschwer zu er-kennen ist, sind die Thesen von einer ge-wissen Skepsis gegenüber einer im Fachnach meinem Eindruck hier und da zubeobachtenden „Partizipationseuphorie“getragen. Dies soll nicht als generellesPlädoyer gegen eine Ausweitung vonPartizipationsmöglichkeiten verstandenwerden – wohl aber als Plädoyer für ei-ne differenzierende, Ambivalenzen,Chancen und Risiken von Fall zu Fallreflexiv-abwägende Position der politi-

schen Bildung gegenüber der populärenForderung nach mehr Partizipation. Fer-ner sollen die Thesen verdeutlichen, inwelchen systematischen Zusammen-hängen Partizipation ein wichtiger Ge-genstand der didaktischen Reflexion ist– und in welchen nicht.

These 1: „Partizipation“ ist kein (Basis-)Konzept für politische Bildung. Basis-konzepte beziehen sich als fundamenta-le Vorstellungsräume auf den Bereich despolitischen Wissens; Partizipation ist fürpolitische Bildung hingegen zunächst un-ter dem Aspekt der Ziele von Bedeutung.

Der Begriff des „Konzepts“ steht in derDidaktik heute für Wissenseinheiten, derder Basiskonzepte für fundamentale, dasfachliche Wissen strukturierende Vor-stellungsbereiche (vgl. Sander 2008, 95ff.;Sander 2010). Ba sis konzepte werden mithoch abstrakt en und komplexen Begrif-fen beschrieben. Das GPJE-Modell sprichtvon „konzep tuel lem Deutungswissen“ alsdem fachlich bedeutsamen Wissen undvisualisiert dies grafisch als eigenes Feldhinter den Kompetenzbereichen. Pa rti zi -pation ist dagegen ein handlungs be zo -

gener Begriff. Seinen systematischen Ortin der Didaktik und im kompetenzorien-tierten Unterricht hat er nicht im Bereichdes Wissens, sondern im Kompetenzbe-reich der politischen Handlungsfähigkeit,die der Sache nach nichts anderes meintals politische Partizipationsfähigkeit. Die-se zu fördern – als Fähigkeit, nicht jedochnotwendigerweise auch als Bereitschaft,denn diese ist in der Demokratie der Ent-scheidungsfreiheit des Einzelnen über-lassen –, ist in der Tat ein Ziel politischerBildung.

These 2: Partizipation ist ferner ein be-deutsames inhaltliches Gegenstandsfeld

politischer Bildung. Hierbei muss poli-tische Bildung allerdings unterschiedli-

che und kontroverse politische und wis-senschaftliche Positionen zum Stellen-wert von Partizipation aufzeigen.

Politische Bildung wird sich nicht nur un-ter dem Aspekt der Förderung von poli-tischer Handlungsfähigkeit, sondern beiganz unterschiedlichen Themen und ak-tuellen Anlässen auch inhaltlich mit demStellenwert von Partizipation für Politikund Demokratie befassen müssen. Die-ser Stellenwert ist in Wissenschaft undPolitik aber umstritten und muss deshalbnach dem Beutelsbacher Konsens kon-trovers behandelt werden. Es gibt keinenwissenschaftlichen oder politischen Kon-sens über „mehr Partizipation“. Ganz imGegenteil wird dieser Stellenwert in un-terschiedlichen Demokratietheorien – alsbeispielhafte Stichworte: in input- oderoutputorientierten, elitentheoretischenoder deliberativen, liberal-repräsentati-ven oder kommunitaristischen Verständ-nissen – äußerst unterschiedlich gesehen.

These 3: Partizipation ist kein didak-tisch-methodischer „Universalschlüssel“für die Vermittlung von demokratiere-levanten politischen Lernerfahrungen;sie kann allerdings aus anderen Grün-den als denen der politischen Bildungsinnvoll und wichtig sein.

Die Frage, ob Partizipationserfahrungenin sozialen Nahbereich, etwa in der Schu-le, ein solcher „Schlüssel“ für eine er-fahrungsnahe Vermittlung von politischesDemokratieverstehen sind, war ja be-kanntlich ein zentraler Streitpunkt in denkontroversen Debatten um das BLK-Pro-gramm „Demokratie leben und lernen“(2002-2007). Inzwischen liegen zahlrei-che empirische Studien vor, die diese Fra-ge verneinen oder zumindest mit großerSkepsis betrachten (vgl. den Überblickbei Reinhardt 2009). Recht ernüchterndmuss schon wirken, wenn im Abschluss -

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Partizipation – ein Konzept für die politische Bildung? Thesen zum Sektionsthema des Bundeskongresses

von Wolfgang Sander

Prof. Dr. Wolfgang Sander lehrt seit 1998Didaktik der Gesellschaftswissenschaftenan der Justus-Liebig-Universität Gießen.Von 2008 bis 2011 war er Professor fürDidaktik der politischen Bildung an derUniversität Wien.

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um das BLK-Programm aus theoreti-schen Gründen auch immer wieder po-stuliert wurde.

These 4: Partizipation und Demokratiesind in einer spannungsvollen Beziehungmiteinander verbunden: Einerseits setztDemokratie Partizipation voraus; ande-rerseits ist Partizipation nicht notwendi-gerweise an Demokratie gebunden undführt „mehr Partizipation“ keineswegszwingend zu „mehr Demokratie“.

Der Partizipationsbegriff ist oftmals nor-mativ hochgradig positiv besetzt; Bie-dermann spricht gar (kritisch) von einem„Mythos der Partizipation“ (Biedermann2006, S. 13). In manchen sozialpädago-gischen Theorien wird Partizipation so-gar als zentrale Voraussetzung für ge-sundes Aufwachsen betrachtet (vgl. Betzet al., S. 13), in anderen sozialen Felderngeradezu als Allheilmittel gegen negati-ve soziale Entwicklungen, vom Rück-gang der Wahlbeteiligung bis Konfliktenim Umfeld von Einwanderung.

Solche hypertrophen Erwartungen fin-den sich auch mit Blick auf das Verhält-nis von Demokratie und Partizipation.Wie bereits in These 2 angedeutet, ist die-ses Verhältnis aber durchaus nicht so ein-fach, wie die populäre Gleichung „mehrPartizipation = mehr Demokratie“ un-terstellt. Gewiss ist eine Demokratie oh-ne ein Mindestmaß an Partizipationsbe-reitschaft bei „Aktivbürgern“ und bei derbreiten Mehrheit der „Wahlbürger“ aufDauer nicht lebensfähig. Andererseits ist

bericht zur Evaluation des BLK-Pro-gramms konstatiert wird: „Schließlichkonnte eine allgemeine Steigerung desNiveaus demokratie relevanter Kompe-tenzen über alle Schulen hinweg nichtbeobachtet werden.“ (Abs et al. 2007, S.69) Noch klarer ist in dieser Hinsicht dasErgebnis einer großen Studie von HorstBiedermann, die unter anderem zu fol-gendem Ergebnis kommt: „Schließlichmuss ... die dieser Arbeit zu Grunde ge-legte Hauptfragestellung, ob bei jungenMenschen ... ein Zusammenhang zwi-schen dem Erfahren partizipativer For-men in alltäglichen Lebenswelten und in-dividuellen Ausgestaltungen politischenFühlens, Denkens, Handelns und Wissenbesteht, grundsätzlich verneint werden.“(Biedermann 2006, S. 388)

Dem steht nicht entgegen, dass sol-che Partizipationserfahrungen andere

positive Effekte haben, so etwa für dieEntwicklung von Selbstwertgefühl undsozialen Kompetenzen, und deswegenaus anderen Gründen als denen der po-litischen Bildung, so etwa aus schul-und allgemeinpädagogischen Erwä-gungen, als wichtiges Erfahrungsfeldfür Jugendliche betrachtet werden kön-nen. Aber solche Erfahrungen führeneben nicht zu besserem Politik- und De-mokratieverstehen, was angesichts derunterschiedlichen Handlungslogiken undsystemischen Bedingungen zwischen –beispielsweise – einem Klassenrat undeinem Parlament auch nicht verwun-derlich ist und deshalb in Beiträgen ausder Politikdidaktik in den Kontroversen

der Partizipationsbegriff ein schillernderBegriff, mit dem sich sehr verschiedeneErwartungen verbinden: „In den unter-schiedlichsten Zusammenhängen hat Par-tizipation nahezu immer einen instru-mentellen Charakter und stellt in der Pra-xis kaum einen bloßen Wert an sich dar.“(Betz et al. 2010, S. 14) Partizipationdient oft schlicht der Integration undLoyalitätsbindung, der Befriedung po-tenzieller Unruheherde und der Krisen-prävention und somit letztlich der Stabi-lisierung bestehender Strukturen. Inso-fern waren es keineswegs nur leere Worte,wenn in den deutschen Diktaturen im 20.Jahrhundert Partizipation propagandi-stisch hochgehalten werden: „Jugendführt Jugend“ war ein Slogan, den dieHitlerjugend von der Jugend- und Wan-dervogelbewegung übernahm und derheute noch ein Pfadfindermotto ist; derGrundsatz „Arbeite mit, plane mit, re-giere mit“ in der Verfassung der DDRvon 1974 führte zu zahlreichen Mit-Mach-Kampagnen. Hier zeigen sich Am-bivalenzen von Partizipation, die durch-aus nicht auf eine „demokratischere“Machtverteilung zielen muss.

Ein ganz anderes Beispiel: Eine erstnoch zu schreibende Geschichte der un-ter dem Motto von Demokratisierungund Partizipation durchgeführten deut-schen Hochschulreformen in den1970er-Jahren würde sicher zeigen kön-nen, wie die vorherigen hierarchischen,aber transparenten Machtstrukturendurch informelle und intransparente, dieneu gebildeten Gremien beherrschendeKlüngelrunden abgelöst wurden und wiedie negativen Effekte dieser Entwick-lung den Boden bereiteten für die der-zeit laufende, durchaus problematischeUmwandlung der Universitäten in un-ternehmensähnliche Einrichtungen.

Nicht anders wird man bei Öffnun-gen des politischen Systems der reprä-sentativen Demokratie für mehr Parti-zipation die Ambivalenzen solcher Ent-wicklungen beachten müssen: Die Be -teiligung an Volksabstimmungen undDirektwahlen von Oberbürgermeisternist auch nicht höher als die bei Parla-mentswahlen, gut gemeinte Einflusser-weiterungen für die einzelnen Wahl-bürger durch Kumulieren und Pana-schieren führen zu teilweise gänzlichunübersichtlichen Entscheidungssitua-tionen und die Erweiterung von Betei-

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ligungsräumen für Bürgerinitiativen undähnliche Gruppen führt potenziell zu ei-ner Stärkung des Einflusses jener Grup-pen und Schichten aus den mittleren undhöheren Schichten und Milieus, die übergenügend kulturelles Kapital verfügen,um ihre Interessen zur Geltung zu brin-gen. Dies führt zur letzten These:

These 5: Partizipation ermöglicht dieWahrnehmung demokratischer Rechteund die Vertretung eigener Interessen.Sie ist eine notwendige Bedingung fürpolitische Öffentlichkeit in der Demo-kratie, erweitert aber zugleich den Raumfür den Einfluss partikularer Interessenauf politische Entscheidungen.

Das Demokratieprinzip wird in Artikel20 des Grundgesetzes bündig wie folgtformuliert: „Alle Staatsgewalt geht vomVolke aus. Sie wird vom Volke in Wahl-en und Abstimmungen und durch be-sondere Organe der Gesetzgebung, dervollziehenden Gewalt und der Recht-sprechung ausgeübt.“ Die Ambivalenzvon Partizipation mit Blick auf diesesDemokratieprinzip besteht darin, dasseinerseits, wie schon erwähnt, demo-kratische Institutionen ohne ein Min-destmaß an Partizipation nicht funktio-nieren, dass aber andererseits die Er-weiterung von Partizipationsräumen auchden Einfluss dieser Institutionen und da-mit den des demokratischen Souveräns,aus dessen Wahlentscheidungen sie her-vorgehen, schwächen können. Es gibtgute Gründe für die Autonomisierungvon Schulen und Hochschulen, aber de-

mokratischer ist ein System autonomerBildungseinrichtungen keineswegs, be-deutet es doch, dass viele Entscheidun-

gen, die zuvor von demokratisch ge-wählten Parlamenten und Regierungenzu treffen waren, nunmehr nicht mehrauf Entscheidungen des Volkes, wie siein Artikel 20 definiert werden, zurück-zuführen sind. Auch wird allzu leicht einZusammenhang übersehen, den SibylleToennies kürzlich zugespitzt so formu-liert hat: „ ,Partizipation‘ und ‚Teilhabe‘sind die Maximen, die in den vergange-nen Jahrzehnten ... dominiert haben. Dassmit ihnen Lobby und Bestechung sa-lonfähig wurden, ist niemanden aufge-fallen.“ (Toennies 2012, S. 13) Man mussihrem Plädoyer für eine Rückbesinnungauf das Hegelsche Staatsverständnis nichtunbedingt folgen, um ihrer Diagnose zu-

stimmen zukön nen, dassmehr Partizi-pation dieVe r t r e t u n gpar tikularerIn teressen ge-genüber dendemokratischg e w ä h l t e nIns titutionenstärkt. Dasgilt nicht nurfür die Fi-n a n z w i r t -schaft, diedies derzeit

überzeugend vorführt und auf die Toen-nies sich auch bezieht; dies gilt auch fürInteressengruppen wie Greenpeace unddie tausende anderer NGOs, deren Zie-le man sympathischer finden mag, dieaber aus politikwissenschaftlicher Sichtauch Lobbyisten sind, die wie viele Lob-byisten die Interessen, für die sie ein-treten, als die der Allgemeinheit ausge-ben. Nur weil viele NGOs anders als diemeisten Banken Mitgliedervereinigun-gen sind, ist ihr Einfluss auf Regie-rungshandeln noch lange kein Ausdruckder Volkssouveränität.

Schlussbemerkung

Es sei abschließend nochmals betont, dassdiese skeptischen Überlegungen nicht alsein grundsätzliches Plädoyer gegen dieAusweitung von Partizipationsräumen zuverstehen sind. Aber man muss jeweilskonkret prüfen, worauf man sich bei der

Einführung neuer Partizipationsmög-lichkeiten einlässt, und mit welchen un-erwünschten Nebenwirkungen zu rech-nen ist. In inhaltlicher Hinsicht ist genaudies, die abwägende kritische Prüfungund die kontroverse Debatte über Vor-und Nachteile, die Haltung, die die poli-tische Bildung zum Problemfeld Partizi-pation auch in ihrer pädagogischen Pra-xis einnehmen sollte.

Literatur

Abs, H.J./Roczen, N./Klieme, E. 2007: Ab-schlussbericht zur Evaluation des BLK-Programms „Demokratie lernen undleben“. Frankfurt/M.

Betz, T./Gaiser, W./Pluto, L. (Hrsg.) 2010:Partizipation von Kindern und Ju-gendlichen. Forschungsergebnisse, Be-wertungen, Handlungsmöglichkeiten.Schwalbach/Ts.

Biedermann, H. 2006: Junge Menschen ander Schwelle politischer Mündigkeit.Partizipation: Patentrezept politischerIdentitätsfindung? Münster.

Reinhardt, S. 2009: Ist soziales Lernenauch politisches Lernen? Eine alteKontroverse scheint entschieden. In:Gesellschaft – Wirtschaft – Politik(GWP) 1/2009.

Sander, W. 2008: Politik entdecken – Frei-heit leben. Didaktische Grundlagenpolitischer Bildung. 3., durchgeseheneAufl., Schwalbach/Ts.

Sander, W. 2010: Wissen im kompetenzo-rientierten Unterricht – Konzepte, Ba-siskonzepte, Kontroversen in den ge-sellschaftswissenschaftlichen Fächern.In: zeitschrift für didaktik der gesell-schaftswissenschaften (zdg) 1/2010.

Toennies, S. 2012: Behemoth und Levia -than. In: Frankfurter Allgemeine Sonn-tagszeitung vom 6.5.2012.

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Wir leben nicht im Zeitalter der Partizi-pation. Nicht erst im Kontext der anhal -tenden Finanz- und Wirtschaftskrisensanken die durchschnittlichen politischenPartizipationschancen der Normalbür-gerin deutlich. Schon im Zuge der all-gemeinen Globalisierung gewannenWirtschaftsorganisationen und von Wahl-en unabhängige ökonomische und ad-ministrative Eliten an Macht. Zugleichdehnt sich einerseits die Partizipation anpolitischen Entscheidungen durch orga-nisierten Lobbyismus aus, während an-dererseits finanz- und kapitalismuskri-tische Protestbewegungen öffentlicheAufmerksamkeit erregen.

Im jungen 21. Jahrhundert werdenFor men der Bürgerpartizipation oft po-litisch instrumentalisiert. Wir erleben ei-ne Welle von Versuchen meist staatli-cher und halbstaatlicher Akteure, Bür-gerinnen zu mehr oder zu anderer

politischer und gesellschaftlicher Parti-zipation zu motivieren. Von mehr wirt-schaftlicher Partizipation, etwa durchDemokratisierung ökonomischer Orga-nisationen oder Überwindung unglei-cher Verwirklichungschancen, ist dabeimeist keine Rede. Wir beobachten, wiesich einerseits Aktivistinnen gelegent-lich von unten nach oben mehr Partizi-pation erkämpfen, während andererseitsvon oben nach unten gewährte Partizi-pationsangebote nicht selten ungenutztbleiben oder nur die Gruppen erreichen,deren Interessen politisch seit jeher über-repräsentiert sind. Wir sehen aktuellauch, wie unkonventionelle bis revolu-tionäre Partizipation zwar Regierungenstürzt, am Auswechseln der herrschen-den Eliten jedoch meistens scheitert.

Die um sich greifenden staatlichenoder staatsaffinen Politiken zur Förde-rung von Partizipation motivieren sichzuvorderst aus den Risiken, die eine sin-kende politische Beteiligung, vor allemaber eine steigende politische Unzufrie-denheit für das politisches System undHerrschaftsverhältnisse bergen. Befähi-gung zu und Motivation für Partizipati-on im Rahmen obligatorischer Schul-bildung gilt als eine Strategie, diese Ri-siken zu mildern.

Die Unzufriedenen sollen sicheinbringen

Partizipationspolitik als Bildungspolitiksetzt in der Regel nicht auf eine Umver -teilung von Macht zu Gunsten der Bür-gerinnen, sondern auf eine Verschiebungvon Verantwortung für das Funktionie-ren des demokratischen Systems auf ih-re Schultern. Statt die eher schwachenLeistungen des politischen Systems ver-bessern, zieht die Politik es vor, die da-mit potenziell Unzufriedenen zu mehrMitmachen zu motivieren. In der Schu-le betrifft dies die Jugend, die die unbe-friedigenden Verhältnisse und (Fehl-)

Leistungen erleidet, nicht aber dafür ver-antwortlich ist. So engagiert sich etwadie EU-Kommission für „education foractive citizenship“ in ihren Mitglieds-staaten, während sie selbst echte Bür-gerpartizipation nur unzureichend insti-tutionalisiert.

Politische Bildung, so meine ersteThese, darf sich nicht für funktionalisti-sche Partizipationspolitiken instrumen-talisieren lassen (vgl. Busch/Gram-mes/Welniak 2012). Sie sollte vielmehrüber Geschichte, Theorie, Legitimation,Funktionen und – vor allem! – über rea-le Ergebnisse politischer Partizipationaufklären. Sie hat die Bildungssubjektedabei zu unterstützen, auf der Basis funk-tionaler und kritischer Analysen eine ei-gene Position zu den Chancen und Ri-siken politischer Partizipation unter rea-len politischen und persönlichen Be -dingungen zu entwickeln. Zu enthusias -tischen Partizipationskonzepten solltesie auf reflektierte Distanz gehen.

Nach Armin Nassehi ist „Partizipati-on mehr eine Problemformel als eine Lö-sung. Denn ein erfolgreiches politischesGemeinwesen ist auf ein Vertrauens-verhältnis zwischen Staat und Gesell-schaft angewiesen, das ohne die Zumu-tung permanenter und unmittelbarer Be-teiligung auskommt“ (SüddeutscheZeitung, 21.5.2012). Dieses Vertrauengründet sich vor allem auf Verfahren, dieeinen möglichen Regierungswechsel mit-tels fairer Wahlen garantieren, und aufErgebnisse, die das politische Systemproduziert.

Politische Partizipation als Affirmation?

Politische Partizipation, das ist meine zwei-te These, ist keineswegs ein Wert an sich.Vielmehr muss man zwischen demokra-tischer und nicht-, pseudo- oder antide-mokratischer Partizipation unterscheiden;auf die vielfältige gesellschaftliche Parti-

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Partizipation ist das Problem, nicht die Lösung

von Reinhold Hedtke

Reinhold Hedtke ist Professor für Sozial-wissenschaften und ihre Didaktik an derFakultät für Soziologie der UniversitätBielefeld.

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Fachbeitrag

pation inhaltsleer. Zu klären ist, wer wo-bei warum wie und wozu partizipierensoll. Soll der Bankenverband seinen Ein-fluss auf den politischen Entschei-dungsprozess steigern oder attac oderbeide oder keiner von beiden? Politi-sche Partizipation impliziert immer Ein-flussnahme und Machtkonflikte, mehr

politische Partizipation verlangt mehrpersönliches Engagement und bringtmehr Konflikte um Macht – und mehrOhnmachtserfahrungen für die am En-de mehr oder weniger Unterlegenen.Dies wird dadurch verstärkt, dass diestrukturellen Vorteile, die systematischorganisierte, professionelle und res-sourcenreiche Partizipateure – vulgo:Lobbyisten – genießen, asymmetrischeStrukturen politischer Partizipations-prozesse bewirken. Das gilt entspre-chend auch für Agendasetting und Ge-nerierung öffentlicher Aufmerksamkeit.

Mehr Partizipation, mehr Enttäuschung

Damit komme ich zu meiner dritten The-se: Tendenziell produziert mehr politi-sche Partizipation mehr politische Ent-täuschung, Partizipation eignet sich nicht

zipation kann ich hier nicht eingehen. Esmacht einen Unterschied, ob Regierun-gen, Behörden oder Parteien die Bürge-rinnen zur Partizipation auffordern oderob diese selbst Partizipation in Staat undPolitik fordern. Auch sind Partizipati-onspolitiken, die in sozialtechnischemGeist auf mehr oder weniger affirmative

Aktivitäten und die Ausbildung von Go-vernmentality im Foucaultschen Sinnezielen, nicht schon deshalb legitim, weilsie die gute Sache der Demokratie för-dern sollen. Demokratische Politik undPartizipation führen keineswegs automa-tisch zur Umsetzung von Menschen-rechten. Vielmehr charakterisieren asym-metrische Partizipation und systematischeExklusion die deutsche Demokratie, mandenke an die „ausländische“ Wohnbe-völkerung, die in ter nierten Asylbewer-berinnen oder die wirtschaftlich „Über-flüssigen“. Politiken der Partizipation undder Exklu sion stammen übrigens aus dem-selben Ministerium.

Nicht zuletzt bedien(t)en sich fa-schistische, autoritäre und kommunisti-sche Regimes wie auch defekte Demo-kratien politischer Partizipation, in de-ren Formen sie Kinder und Jugendlichehineinsozialisieren. Die Partizipations-politik von Regierung und Regierungs-partei der Russischen Föderation ist nurein Beispiel von vielen – mit einer atem-beraubenden historischen Kontinuität.Politische Bildung muss also nach Le-galität, Legitimität, legitimer Illegalitätvon und Widerstandsrecht gegen Parti-zipation fragen.

Deshalb bleibt eine allgemeine For-derung nach mehr politischer Partizi-

einmal als Palliativ. Historisch ist das kei-ne neue Erkenntnis. Albert O. Hirschmanhat sie vor dreißig Jahren erneut in sei-nem Buch „Engagement und Enttäu-schung“ formuliert: „Enttäuschung ent-steht aus dem Mißverhältnis zwischender Erwartung einer befriedigenden Tätig-keit und der tatsächlichen Erfahrung“,insbesondere hinsichtlich des Zeitauf-wands, der Qualität der Aktivitäten undder unvermeidlichen Ernüchterung (1988,S. 106). Skeptisch fasst Hirschman zu-sammen, dass „sich bei einer Teilnahmeam öffentlichen Leben lediglich die un-befriedigende Wahl zwischen übermäßi-ger und unzulänglicher Beteiligung bie-tet, und daß Engagement daher in jedemFalle auf Enttäuschung der einen oderanderen Art hinauslaufen wird“ (S. 131).

Politische Bil-dung hat dannnicht die vor-rangige Aufga-be, zum per-sönlichen En-gagement zumo tivieren, umso Politik-Ent-täuschung mit-tels mehr Par-tizipation zuüberwinden.Vielmehr hatsie zunächstdie Risiken

von Partizipation zu thematisieren undFormen zu entwickeln, wie man mit per-sönlicher politischer Enttäuschung durchPartizipation sinnvoll umgehen kann. Dasist im Übrigen eine genuin pädagogischeAufgabe.

Vor diesem Hintergrund sollte poli-tische Bildung viertens in der Ausein-andersetzung mit politischer Partizipa-tion systematisch herausarbeiten, dassalle Demokratiemodelle unausweich-lich mit je typischen Problemen undMängeln und daraus resultierenden Ent-täuschungen verbunden sind. Dazugehören bekanntlich beispielsweise dieTyrannei der Mehrheit, politische Pro-krastination durch Dauerwahlkampf undKommerzialisierung der Politik, Domi-nanz von Machtkämpfen und sinkendeProblemlösefähigkeit durch Lähmungs -effekte des organisierten Pluralismus (z.B. Schmidt 2008, S. 458-465). Diese in-härenten Schwächen der demokratischen

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Systeme treffen auf die von der Politikund der Politikdidaktik oft beklagtenMängel im politischen Wissen und Ur-teilen ihrer Bevölkerungen – die mangerne auch als generelle Argumente ge-gen breite politische Partizipation jen-seits von Wahlen ins Feld führt.

Dies spricht dafür, dass Lernende inder politischen Bildung prüfen, ob es aussystematischenGründen überhaupt rea-listisch ist, durch kritisches partizipati-ves Engagement erheblich bessere Sy-stemleistungen zu erreichen. Sie müs-sen diskutieren, ob womöglich nuranders enttäuschende, nicht aber nichtoder wenigstens weniger enttäuschendeSysteme erreichbar sind. Dann bliebepolitischer Partizipation im gesell-schaftlichen Normalzustand bestenfallsdie letztlich systemkonservative Funk-tion, das existierende System inkre-mentell zu verbessern, nicht aber esdurchgreifend oder gar grundlegend zuverändern. Diese Perspektive könnte al-lerdings die politische Unzufriedenheiterheblich mildern, indem sie die Erwar-tungen an die politisch möglichen Er-gebnisse anpasst. Auf Systemverände-rung hoffende politische Bildnerinnenwird das enttäuschen.

Das kritische Denken der ignoranten Bürgerin

Leitbild partizipatorischer Bildung wä-re vor diesem Hintergrund die infor-mierte, kritische, distanzierte Bürgerin,die die systematischen Gründe ihrer po-tenziellen Enttäuschung schon kennt –und gerade deshalb vernünftig damit um-gehen und von Partizipation klug Ge-brauch machen kann (Hedtke/Zimen-kova 2012). Sie sieht sich als politischesoder unpolitisches Subjekt, nicht als Ob-jekt politischer Partizipationsbildung.Sie missachtet als „ignorant citizen“ ganzbewusst die normativen Rollenvorgabenfür die Bürgerin (Biesta 2011, S. 152);dies schließt selbstverständlich ihr Rechtauf Nicht-Partizipation ein. Von den üb-lichen Kompetenzkatalogen partizipa-torischer Bildung lässt sie sich nicht ein-schüchtern, sondern entscheidet unab-hängig davon, ob und wie sie aktiv wird(vgl. Sack 2012, Tab. 2).

Sie findet durch kritisches Denken,das mit Techniken der systematischen

Infragestellung arbeitet, heraus, wofürsie selbst steht, ob und wofür sie sich en-gagieren, was sie als wertvoll beurteilenwill und was davon in der politischenWirklichkeit tatsächlich realisiert undnicht nur in normativen Diskursen be-hauptet ist (vgl. Splitter 2011, S. 19-20).Politikdidaktik und politische Bildungsollten diese Bürgerin durch eine kriti-sche Position gegenüber der Instrumen-talisierung von Partizipation durch Re-gierungen, Bildungsbehörden, Schul -leitun gen und Nicht-Regierungs organi sa -tionen stützen. Das fällt nicht immerleicht, da die staatlichen und quasi-staat-lichen Akteure ihre Partizipationspoliti-ken teils mit finanziellen und personel-len Ressourcen ausstatten und Didakti-ken und Bildungsträger meist chronischunterfinanziert sind. Nichtregierungsor-ganisationen haben ebenfalls Eigenin-teressen an Partizipationspolitik und -bil dung. So überrascht es nicht, dasssich eine Art von Partizipationsindustrieherausbildet (vgl. Splitter 2011).

Fünftens unterscheiden sich die Vor-stellungen von politischer Partizipationund Kompetenzen erheblich danach, vonwelchen Demokratietheorien, politischenSystemen und Kulturen man ausgeht.Auch die Politikdidaktik hat sich seitlangem ausführlich mit unterschiedli-chen Bürgermodellen oder Leitbildernbeschäftigt (z. B. Detjen 2007, S. 215-226). Sie setzt ihre Leitbilder aber nichtsystematisch mit unterschiedlichen Theo-rien, Institutionen und Kulturen von Staatund Demokratie, Bürgerschaft und Par-tizipation in Beziehung. Würde sie dieDifferenz in den theoretischen Fundie-rungen und in den politischen Kultureninnerhalb eines Landes und zwischenLändern herausarbeiten, sähe sie, dasses Bildung für politische Partizipationnur im Plural geben kann. Spiegelbild-lich wäre empirisch zu prüfen, welcherealen Effekte Formen politischer Par-tizipation jenseits von Wahlen dauerhaftbewirken und ob sie die üblichen poli-tischen Ungleichheiten verschärfen, ab-mildern oder nicht berühren.

Schließlich kommt es in der politischenBildung zum Thema Partizipation sech-stens darauf an, sich über die Kriterienzu verständigen, an denen man den Er-folg von partizipatorischer Bildung undpraktischer Partizipation messen will. Ne-ben Kriterien aus den oben angedeuteten

Ansätzen kann man ganz schlicht zweiklassische Evaluationsdimensionen un-terscheiden: Partizipation als Prozess undProdukte von Partizipation. Politische Bil-dung muss vermeiden, dass sie im staat-lich-halbstaatlichen Kontext geduldigeBürgerinnen für partizipative Beschäfti-gungstherapien mit hohem Enttäu-schungspotenzial fördert. Deshalb fragtsie als politische Bildung nach dem kon-kreten Beitrag politischer Partizipationzur Entwicklung von Persönlichkeit, Mün-digkeit und Kompetenz der lernendenSubjekte und als politischeBildung nachdem konkreten politischen Ertrag vonPartizipation in Form von besseren Lei-stungen des Systems für die Subjekte undihre Verwirklichungschancen. Insbeson-dere der zweite Aspekt kommt in der Po-litikdidaktik bisher systematisch zu kurz.Als kritische politische Bildung fragt sienicht zuletzt danach, wem Partizipati-onspolitiken und Partizipationen nützenund wen sie politisch marginalisieren oderausschließen.

Literatur

Biesta, G.: The Ignorant Citizen. Mouffe,Rancière, and the Subject of Democra-tic Education. In: Studies in Philosophyand Education 30. Jg. 2011, S. 141-153.

Busch, M./Grammes, T./Welniak, C.: „Eskann sehr nett werden, wenn künftigdie Schüler so Politik treiben“. In: Polis16. Jg. 2012, H. 1, S. 18-20.

Detjen, J.: Politische Bildung. Geschichteund Gegenwart in Deutschland. Mün-chen, Wien 2007.

Hedtke, R.: Who is Afraid of a Non-Con-formist Youth? The Right to Dissentand to Not Participate. In: Hedtke/Zi-menkova (Hg.) 2012 (i.E.).

Hedtke, R./Zimenkova, T. (Hg.): Educationfor civic and political participation. Acritical approach. New York u.a. 2012(i.E.).

Hirschman, A. O.: Engagement und Ent-täuschung. Über das Schwanken derBürger zwischen Privatwohl und Ge-meinwohl. Frankfurt/M. 1988 (Orig.1982).

Sack, D.: Dealing with Dissatisfaction. Ro-le, Skills and Meta-Competencies ofParticipatory Citizenship Education. In:Hedtke/Zimenkova (Hg.) 2012, Kap. 2(i. E.).

Schmidt, M. G.: Demokratietheorien. EineEinführung. Wiesbaden 2008.

Splitter, L. J.: Questioning the "Citizens-hip Industry”. In: Journal of SocialScience Education, 10. Jg. 2011, Nr. 1,S. 12-22 (http://www.jsse.org/2011/2011-1/splitter-jsse-1-2011 besucht4.6.2012).

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Aktivierung oder Steuerung: Par-tizipation in der Gegenwart

Beim Thema „Partizipation“ stößt mangegenwärtig auf ausgesprochen ge-gensätzliche Zugriffsweisen. Einerseitsist eine durchaus überbordende Ge-schäftigkeit in Sachen Partizipation unü-bersehbar. Für eine Vielzahl gesell-schaftlicher Institutionen werden mitdem ausgewiesenen Ziel einer zivilge-sellschaftlichen Stärkung der Demokra-tie neue Beteiligungsformen aufgelegt.Eine stärkere Einbindung von Bürge-rinnen und Bürgern soll die Gesellschaftnachhaltig vor einem drohendem Legi-timationsverlust schützen, der sich durcheine zunehmende Distanzierung desVolkes von etablierten politischen Insti-tutionen in vielen Indikatoren anzukün-digen und zu verstärken scheint. Längst

ist die Rede von Politik-, Parteien- undPolitikerverdrossenheiten, die sich in im-mer neuen Negativrekorden bei Partei-mitgliederzahlen und vor allem in derWahlbeteiligung zu erkennen geben. Bür-gerinnen und Bürger wenden sich of-fenbar von eingerichteten Möglichkei-ten politischer Beteiligung ab, da sie –so die gängige Interpretation – nicht mehrvon der Wirksamkeit ritualisierter Be-teiligungsformen überzeugt sind. Derumfassende Versuch der Einrichtung undBewerbung neuer Partizipationsmög-lichkeiten verdeutlicht an dieser Stelleeinmal mehr, dass der Fortbestand einermodernen Demokratie im Kern von derEinbindung der Bürgerinnen und Bür-ger abhängt. Andererseits werden genaujene Partizipationsprogramme verdäch-tigt, Bestandteil einer umfassendenRegie rungsstrategie zu sein. Letzteregründet nicht auf einer Logik, die aufdie hierarchische Einrichtung einesGemein wesens abstellt, in dem quaphysi scher Macht Ordnungsverhältnis-se installiert werden, sondern es geht umdie Regierung (gouverné) des Bewusst-seins (mentalité) – um die gouvernemen -talité. Die Regierungskunst der Gou-vernementalität (vgl. statt vieler Fou-cault 2004) besteht dem Grunde nach ineiner Umschrift der Kräfteverhältnisse:Eine Durchsetzung von Machtverhält-nissen erfolgt nicht gegen sondern mitder Bevölkerung. Partizipation nimmtdarin die Stellung eines viel umfassen-deren Machtmittels ein als die alten Ka-tegorien von Staatsgewalt, Herrschaftund Unterwerfung – denn anders als inhierarchischen Entscheidungsstrukturenkann niemand gegen Partizipation, ge-gen die Aufforderung sich zu beteiligen,sein (vgl. dazu Junge 2008). Wenn dieBürgerinnen und Bürger aber nur nocheiner Partizipationsaufforderung nach-kommen, kann hier im emphatischenSinne nicht mehr von einer „echten“ Mit-

bestimmung gesprochen werden – viel-mehr sind sie als „Adressen“ in eine Re-gierungslogik eingegliedert.

Verabschiedung der Mitbestim-mung in der Postdemokratie?

Die beiden Zugriffsweisen auf die Par-tizipation treffen sich im stillen Einver-nehmen in der Diagnose „Postdemo-kratie“, die im Wesentlichen in der Ein-schätzung besteht, dass die politischenBeteiligungsmöglichkeiten einer deutli-chen Einschränkung unterliegen: „DerBegriff bezeichnet ein Gemeinwesen, indem zwar nach wie vor Wahlen abge-halten werden, Wahlen, die sogar dazuführen, dass Regierungen ihren Abschiednehmen müssen, in dem allerdings kon-kurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte wäh -rend der Wahlkämpfe so stark kontrol-lieren, dass sie zu einem reinen Spektakelverkommt [...]. Die Mehrheit der Bür-ger spielt dabei eine passive, schwei-gende, ja sogar apathische Rolle, sie rea-giert nur auf Signale, die man ihr gibt.“(Crouch 2008, S. 10) Mit dem Versuch,ein vermeintliches Gegengift zu verab-reichen, etwa die Entwicklung neuer Be-teiligungsformen, wird dem Grunde nachnur eingestanden, dass die Diagnose zu-trifft, auf den ausgetretenen institutio-nalisierten Beteiligungswegen Politiknicht mitgestalten zu können. Die gou-vernementalitätstheoretische Perspekti-ve zeigt sich dann in der Einrichtung je-ner Beteiligungsformen, die jeweils wie-der ein vernünftiges, beteiligungswilligesund informiertes Subjekt voraussetzen(produzieren): In der „Expertokratie“wird durch Partizipation regiert.

Für die politische Bildung scheint sichdamit eine unbefriedigende Situation zuergeben. Als Produzentin von Musternfür neue Formen politischer Partizipati-

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Partizipation als Artikulation und Unterbrechung Politische Einsätze unter den Bedingungen der Postdemokratie

von Werner Friedrichs

Dr. Werner Friedrichs ist Fachleiter fürWerte und Normen am StudienseminarCelle für das Lehramt an Gymnasien, Studienrat am Gymnasium Soltau undwissenschaftlicher Mitarbeiter an derLeibniz Universität Hannover.

Fachbeitrag

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einschlägige Institutionen bezogen, andenen sich auch die neuen Partizipati-onsformen orientieren – etwa in Bürger -foren oder Initiativprogrammen (vgl. da-zu z.B. Nanz/Fritsche 2012). Nur durcheinen solchen Anschluss kann dann aufdie mitgedachte Funktion die Politik,welche nach gängiger Lesart darin be-steht, kollektiv verbindliche Entschei -dun gen bereitzustellen, nachhaltig Ein-fluss genommen werden. Ein Partizipa -tions verständnis, das an diese Grund- ver messung politischer Prozesse an -schließt, lässt sich auf dem Raster derUnterscheidung von Inklusion und Ex-klusion abtragen: Man kann die an demEntscheidungsprozess beteiligten undnicht-beteiligten Bürgerinnen und Bür-ger unterscheiden. Partizipation erscheintauf dieser Folie als „politische Inklusi-onsformel“ (Bora 2004, vgl. auch dieBei träge in Gusy 2004), die sich an ihrenZugriffsweisen dechiffrieren lässt: Be -mühungen um eine stärkere Einbindungvon Bürgerinnen und Bürgern könnenals Verstärkungen der Inklusionsbe mü -hun gen und somit auch als Regierungs-handeln im Sinne einer gouvernemen-talité verstanden werden. Eine konse-quente kritische Reflexion im Sinneeiner radikalen Eigenständigkeit desSubjekts in politischen Prozessen drohtdagegen in einer Exklusion zu kulmi-nieren.

Nicht zuletzt aufgrund der hier nurangedeuteten Konsequenzen, die sichdurch die Statik der Grundvermessungdes Politischen ergeben, hat sich in derpolitischen Theorie eine Diskussion umden Begriff des Politischen ergeben.Ausgangspunkt ist unter anderem dieWahrnehmung, dass sich sogar in den

on sieht sie sich in der postdemokrati-schen Konstellation dem Vorwurf aus-gesetzt, Bestandteil und möglicherwei-se sogar Multiplikatorin einer umfas-senden Regierungslogik zu sein. Sieentwirft ein Partizipationsdispositiv, dasBürgerinnen und Bürger in die Regie-rungslogik der Gouvernementalität um-fassend einbindet, d. h. regierbar macht,und ist damit auf die Funktion einesSteigbügelhalters für die reibungsloseReproduktion staatlicher Machtverhält-nisse zurückgeworfen. Bezieht die Po-litische Bildung dagegen vor dem Hin-tergrund ihrer eigenen Ansprüche (diemindestens in der Förderung eigen-ständiger Urteilskraft bestehen) expli-zit kritisch Stellung zu den gouverne-mentalen Verhältnissen, verläuft dieFluchtlinie der Positionierungsmög-lichkeiten über eine radikale System-kritik bis hin zur Selbstauflösung derPolitischen Bildung.

Umschrift des Politik- und Partizipationsbegriffs in denneuen Demokratietheorien

Reflektiert man diese Anforderungs -situation vor dem Hintergrund der jüng-sten Diskussion um die neuen Demo-kratietheorien sowie insbesondere umden Begriff des Politischen, wird sicht-bar, dass sich die Aporetik der Konstel-lation für die Politische Bildung vor al-lem aus der klassischen Vermessung desPolitik- und Partizipationsbegriffes er-gibt. Demnach wird der Politikbegriffin den einschlägigen Dimensionen ver-messen und politische Prozesse vor al-lem auf gesellschaftlich etablierte und

institutionalisierten Räumen politischerEntscheidungsfindung, in denen Inklu-sion qua Prozess gegeben ist, keine Be-teiligungsmöglichkeiten in einem em-phatischen Sinne ergeben. „Man wirdsagen, dass gerade die gereinigte Poli-tik die der Beratung und der Entschei-dung des Gemeinwohls eigenen Orte ge-funden habe: die Parlamente, wo mandiskutiert und Gesetze verabschiedet,die Sphären des Staates, wo man ent-scheidet, die Höchstgerichtsbarkeit, diedie Übereinstimmungen der Beratungenund Entscheidungen mit den Grundge-setzen der Gemeinschaft verifiziert. Un-glücklicherweise breitet sich gerade andiesen Orten die resignierte Meinungaus, dass es wenig zu beraten gibt, sichdie Entscheidungen von selbst aufdrän-gen.“ (Rancière 2002, S. 2) M.a.W. diepolitischen Räume sind abgesteckt, ver-messen, metrisiert, so dass sich eingrundlegend politisch-kontroverses Mo-ment nicht entfalten kann.

Um dieses Phänomen der entpoliti-sierten Politik zu erfassen, wird der Be-griff der Politik vom Begriff des Politi-schen unterschieden. In unvertretbarerKürze lässt sich Politik als das empiri-sche Gebiet der Politik verstehen, dasdie vielfältigen konventionellen Prakti-ken der Politik umfasst, während dasPolitische die grundsätzliche Frage auf-wirft, wie diese Praktiken eingerichtetsind (vgl. dazu Mouffe 2007, S. 15ff.).Wesentlich dabei ist, dass die den Be-griff der Politik konturierenden kon-ventionellen Praktiken in einem umfas-senden Sinne gedacht sind. Mit ihnenwird auf gesellschaftlich formatierte Pra-xen abgehoben im Sinne einer sozialenTopologie: Es wird festgelegt, welche

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Verbindungen hergestellt werden dür-fen, welche Äquivalenzen zugelassenund welche ausgeschlossen sind. Es istnicht von einer unendlichen Vielfalt mög-licher Positionierungen auszugehen, son-dern es wird in der Politik eine bestimmteVielfalt von Verknüpfungen durch dieHerrschaft eines hegemonialen Diskur-ses installiert. D.h. es gibt weder einevorgängig logische Kohärenz sozialerPositionen noch ein subjektives Aprio-ri. Alles wird erst durch eine historischePraxis eingesetzt und stabilisiert. (vgl.dazu Laclau/Mouffe 1991, S. 144ff.) DerBegriff der Politik ist somit antiessen-tialistisch, diskursiv, umfassend undgrundlegend gedacht. Er ist dem Grun-de nach als ein „Regime des Sinnlichen“(Rancière 2002, S. 112) zu denken: dieEinrichtung der gesellschaft lichen Mei-nung, die Festlegung der Kataloge vonMitspracherechten usw. Die Dimensiondes Politischen liegt dagegen „vor“ demder Politik; in ihr stehen dem Grundenach unterschiedliche Arten, die Ein-richtung des Sinnlichen zu denken, inKonkurrenz zueinander.

Partizipation als Unterbrechungund Artikulation

Die Unterscheidung von der Politik unddem Politischen legt nahe, dass Partizipa-tion in der Dimension der Politik nur be-deuten kann, dass eingerichtete Entschei-dungswege nachvollzogen werden. Dage -gen geht es in der Dimension des Po li-tischen um eine grundsätzlichere Form der

Partizipati-on. Es gehtum die Fra-ge, wie dieg e s e l l -schaftlichenD e n k f o r -men, Vertei-l u n g e n ,Mus ter, Aus-wählmög-lichkeiteneingerichtetwerden.

Die Um-setzung undDenkweisesolcher Par-tizipations-

formen ist indes anspruchsvoll, auch weildie Ebene des Politischen sich einer kla-ren Darstellbarkeit entzieht. Sie ist nurdurch die Ebene der Politik hindurch sicht-bar – sie lässt sich sogar als das „Undar-stellbare der Politik“ (Butler 1998) be-zeichnen. Auch wenn in der Diskussionder „neuen Demokratietheorien“ das derPolitik „vorgängige“ Politische in einemgewissen Sinne als die „Eigentlichkeit“der Politik erscheint, kann es nicht umdie Abschaffung oder gar Zerstörung derEbene der Politik gehen, denn dann ver-schwände auch das Politische. Erst imUnbehagen einer spezifischen Einrich-tung der Politik und ihrer Artikulationwird das Politische sichtbar.

Genau an dieser Stelle ergibt sich dieMöglichkeit, Politische Bildung und Par-tizipation zu denken, ohne in die apore-tische Anforderungssituation zu geraten,entweder eine Apologie der Politik zubetreiben oder deren Abschaffung zu for-dern. Denkt man Partizipation mit Hil-fe der Unterscheidung von Politik undPolitischem, geht es nicht mehr um In-klusion vs. Exklusion, sondern um For-men der Artikulation und Unterbrechung.Wenn man davon ausgeht, dass die Di-mension der Politik in einer hegemo-nialen Ordnung besteht, nach der alleElemente dadurch ihre Bedeutung, ihreIdentität erhalten, dass sie durch einefestgelegte Anzahl von Relationen in ei-ner „strukturierten Totalität“ verortetsind, kann durch eine Artikulation dasspezifische „Gefüge“ um die je spezifi-sche Identität modifiziert werden. Dem-nach kann eine Artikulation als Praxis

aufgefasst werden, „die eine Beziehungzwischen Elementen so etabliert, dassihre Identität als Resultat einer artikula-torischen Praxis modifiziert wird“(Laclau/Mouffe 1991, S. 155). Politi-sche Partizipation wäre in diesem Sin-ne umfassender zu verstehen – als Arti -ku lation von spezifischen Zusammen-hängen, die bislang nicht in der„struk turierten Totalität“ vorkommen.So lassen sich etwa die Aktivitäten derPiratenpartei als die Artikulation einesMitbestimmungsanspruches ohne vor-herige umfassende Orientierung im Wis-sen verstehen. In einer „gegenläufigen“Bewegung lässt sich Partizipation als„Unterbrechung“ denken. Es geht umeine Unterbrechung der „Idee der Dis-positionen“ (vgl. Rancière 2008, S.15ff.). In der Idee der Dispositionen wer-den Modi des Sprechens und der Betei-ligung festgelegt – eine Partizipation be-stände darin, genau diese Modi zu un-terbrechen. Darstellungen, Experimente,Demonstrationen, Selbstdarstellungenoder Ausdrucksformen verschaffen ent-sprechenden Momenten Geltung. Parti-zipation als Unterbrechung öffnet denRaum der Politik durch Irritationen zumRaum des Politischen hin – Partizipati-on als Artikulation formuliert Positio-nen aus dem Raum des Politischen inden Raum der Politik hinein.

Literatur

Bora, A.: „Partizipation“ als politische In-klusionsformel. In: Gusy 2005, S. 15-34.

Butler, J.: Das Undarstellbare der Politik.Zur Hegemonietheorie ErnestoLaclaus. Wien 1998.

Crouch, C.: Postdemokratie. Frankfurt/M.2008.

Foucault, M.: Geschichte der Gouverne-mentalität. 2 Bde., Frankfurt/M 2004.

Gusy, C. (Hg.): Inklusion und Partizipati-on. Politische Kommunikation im hi-storischen Wandel. Frankfurt/M 2005.

Junge, T.: Gouvernementalität der Wis-sensgesellschaft. Politik und Subjekti-vität unter dem Regime des Wissens.Bielefeld 2008.

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Einleitende Gedanken

Die Idee des Klassenrates ist nun kei-neswegs neu. Sie lässt sich mindestensbis zu verschiedenen Vertretern einerpädagogisch heterogenen Reform päda -gogik zurückverfolgen Dabei liegt es aufder Hand, dass die aktuelle Legitimati-onskrise von Politik und die damit ein-hergehende mangelnde gesellschaftlicheIntegration(sbereitschaft) verschiedenersozialer Gruppen2 eine zentrale Her-ausforderung darstellt, die nicht ohne ei-ne weitreichendere Partizipation der Bür-ger bewältigt werden kann. Diese im ge-

samten Sozialisationsprozess der Indi-viduen wirkenden Widersprüche undHerausforderungen stellen auch neueHerausforderungen an die schulpäda go -gische Praxis. Es sei vorausgeschickt,der Klassenrat ist nicht nur eine Ange-legenheit für den Politikunterricht.

Partizipation

Der Begriff Partizipation als pädagogi-sches Ziel und didaktische Dimensionin politischer Bildung ist zentral. Washeißt Partizipation? Die Akzentuierun-gen und Gradationen können dabei un-terschiedlich angelegt und bewertet wer-den, womit der demokratietheoretischeBezugspunkt des jeweiligen Autors dannimplizit aufscheint. Daher sei auf Vilm-ar verwiesen, demnach Demokratie oh-ne Partizipation nicht denkbar ist: „P[ar-tizipation] und ‚Demokratisierung‘ kon-vergieren dabei begrifflich als dersubjektive und der objektive Ausdruckdesselben Sachverhaltes einer Erweite-rung demokratischer Strukturen in un-serem gesellschaftlichen Leben“ (1986,S. 339). Damit ist auf ein Mehr an Par-tizipation verwiesen. Gleichzeitig ist da-mit die Frage nach dem Grad an Parti-zipation aufgeworfen, der sich je nachForm unterscheidet, aber auch als Prüf-stein für Demokratie oder demokrati-sche Verhältnisse gelesen werden kann,wenngleich in Schule verschiedene An-sätze institutionalisierter Formen vonPartizipation vorliegen. In Rekurs aufArnstein (1969) referiert Schnurr achtStufen, die von Manipulation im Stu-fenabschnitt der Nicht-Beteiligung bishin zur Übertragung von Macht undKontrolle durch die Bürger im Stufen-abschnitt der Verortung von Macht beiden Bürgern reichen (vgl. Schnurr 1999,

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Partizipation durch Klassenrat1

Ein vernachlässigtes Potenzial für politische

Bildung und Schulentwicklung

Von Oskar Brilling

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Dr. phil., Dipl.-Soz.Wiss. Oskar Brilling,Sozial- und Erziehungswissenschaftler,Lehrer an einem Gymnasium für dieFächer Politik, Sozial- und Erziehungs -wissenschaften. Lehrbeauftragter fürUmweltbildung 1994-2001 an der Universität Wuppertal.

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S. 1337). Hiermit kann nicht nur der De-mokratisierungsgrad in Organisationenund Gesellschaften beurteilt werden, son-dern diese Stufen können auch als kriti-sche Referenzfolie bei der Implementa-tion von Klassenräten und zur Beurtei-lung ihres Entwicklungsgrades inSchulen genutzt werden, um Grenzenals auch Notwendigkeiten erweiterterPartizipation in Schulen zu erkennen, zudiskutieren und zu vereinbaren.

Innerschulisch ist dann die Frage zudiskutieren: Welchen Stellenwert sollPartizipation an unserer Schule haben?3

Die Demokratiekompetenz „Partizipation“ beim Demokratie-Lernen

Die Entfaltung der didaktischen Be-zugspunkte durch den Klassenrat kannhier nicht umfassend vorgenommen wer-den, so dass hier nur Andeutungen un-ter Rückgriff auf Reinhardt (2005) statt-finden. Demnach beinhaltet Partizipati-on im Demokratie-Lernen „Wissen,Urteilen, Können und Wollen auf Seitender Subjekte“, um die „Wahrnehmungund Ausübung von (politischen) Teilha-berechten“ realisieren zu können (ebd.,S. 25). Und kritisch weiter, während„über Alltagsrollen in Gesellschaft undWirtschaft unvermeidlich teilgenommenwird, drängt sich die Teilnahme am de-mokratisch-politischen System nicht auf,

sondern sie bedarf der subjektiven Ent-scheidung. Vom Aktivbürger über deninterventionsfähigen und den reflektiertzuschauenden Bürger reicht die Palettemöglicher Partizipation bis zum Desin-teressierten, der vermeintlich unpolitisch

ist und nicht an der – idealiter – gemein -samen Regelung gemeinsamer Angele-genheiten mitwirkt“ (ebd.). Der Klas-senrat kann demnach zentrale Anliegenpolitischer Bildung als Lern- und Parti-zipationsprozess anbieten. Partizipationdurch den Klassenrat findet dann in der(Groß)Gruppe Klasse im Nahraum derdurchaus komplexen Institution Schulestatt, die zugleich als politisch verfassteInstitution bestimmten Regularien undGrenzen unterworfen ist.

Partizipation verwickelt die Schüle-rInnen als Akteure in soziale und politi-sche Bezüge mit unterschiedlicher Reich-weite und Konflikthaftigkeit (vgl. ebd.),die mitunter auch den lebensweltlichenZusammenhang von Schule, Stadtteil,

Netz community, Frei-zeit und Familie an-sprechen. Zugleichstellt der Klassenratein Lernfeld zur Ver-fügung, in dem für dasDemokratie-Lernendie schon angespro-chene Konfliktfähig-keit, die Perspektivü-bernahmen als auchdie politisch-morali-sche Urteilsfähigkeit(vgl. ebd., S. 23ff.)durch die Einmi-schung in die eigenen

Angelegenheiten (Max Frisch) gelerntwerden.

Dies ist als fächerübergreifender Zu-sammenhang wie als progressiver Lern-prozess in der Sekundarstufe I zu den-ken.

Ein vergessener Zusammenhang– die pädagogisch-anthropologische Begründung

Der Mensch ist als Einzelwesen, als In-dividuum nicht überlebensfähig. Das isteine konstitutive Bedingung, die ihn im-mer auf ein – wie auch immer geartetes– Zusammenleben in Gruppen verweist.Damit ist die Organisation dieses Zu-sammenlebens zentral und für unserenkulturellen und historischen Kontext dieDimension des Politischen gesetzt. Da-mit ist anthropologisch der Mensch alsZoon politikon begründet. Die jeweili-ge Ausgestaltung des Politischen ist ei-ne sozio-kulturelle Frage und findet z.B.Ausdruck in der Forderung nach Parti-zipation.

Beobachtungen zur Praxis Klassenrat

Der Klassenrat ist Legion in vielen Ge-samtschulen, aber auch zunehmend inGrundschulen. Das Motiv zur Imple-mentation wird dabei unterschiedlichsein und reicht damit von der Befähi-gung zur politischen Partizipation (incl.der o.g. Kompetenzen) bis hin zum bes-seren Klassenmanagement bei zuneh-mend als schwierig erscheinenden Schü-lerInnen und Klassenzusammensetzun-gen. Dies zeigt unterschiedlicheZielsetzungen bei der Implementationder Institution Klassenrat in Schulen auf,die auch jenseits der vorgenanntenpädagogischen und didaktischen Zu-sammenhänge liegen.

In den Jahrgangstufen 5 und 6 ist derKlassenrat selbst noch primär Lernfeld,in dem die vorgenannten Kompetenzenentlang verschiedener Aufgaben, Rollenund Problemstellungen in unterschied-licher Weise aufgebaut werden können.In den Nachfolgejahrgängen 7-9/10rücken die eigenen Angelegenheitenmehr in den Vordergrund, wenngleichdurch die heterogene entwicklungspsy-chologische Entwicklung der Schülerhier binnendifferenziert zu denken ist.Am augenscheinlichsten ist hier die Dif-ferenz zwischen Jungen und Mädchenin der Wahrnehmung und moralischenBeurteilung von Problemstellungen bishin zur Fähigkeit der Empathie als Vor-aussetzung für konstruktive Konfliktlö-

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sungen. Schon das zeigt, dass in der Dif-ferenz auf der Gleichaltrigenebene eineEntwicklungschance liegt, die für dieIdentitätsentwicklung bedeutsam ist. Die-se unterliegt der situativen Rahmungdurch die Institution Klassenrat.

Die Schulklasse hat ja mindestens dreiGruppenformationen zu lernen und zumeistern: a.) die „Schulklasse“ im in-formellen Bereich (z.B. der Pause), b.)die Schulklasse im formellen BereichUnterricht (z.B. mit fester Sitzordnungetc.) und c.) die Schulklasse als Klas-senrat mit seiner spezifischen Form undZielstellung. Die Schanierstelle und kon-struktive Funktion des Klassenrates wirdschon bei dieser Betrachtung deutlich.

Grundsätzlich realisiert sich im Klas-senrat Partizipation aus Sicht politischerBildung auf zwei Ebenen, in Mei-nungsbildungs- und Entscheidungspro-zessen (vgl. Vilmar 1985, S. 339).

Bewegen sich die auf der Agenda desKlassenrates eingebrachten Themen vonder „Anklage“ (Kritik) bestimmten Ver-haltens von Mitschülern, Abläufen imSchulalltag etc., über das Planen ver-schiedener Vorhaben bis hin zur Zu-ständigkeit für bestimmte Aufgaben, beiRegelverletzungen etc., so reicht der Mo-dus der Interaktion von der Informationbis zur notwendigen Abstimmung überverschiedene Problemperspektiven undVorschläge. In diesen Auseinanderset-zungen wird deutlich, dass das Gelingenund die Anerkennung von Demokratieauch an Emotionen hängt! Eine ei-gentümliche Betrachtung? Das Reden,Beraten unter Beteiligung der Betroffe-nen verlangt – im geregelten Ablauf –das Aushalten von Kritik und „Nieder-lagen“! Die SchülerInnen lernen diesachlich vorgetragene Kritik z.B. anstörendem Verhalten von der Kritik ander Gesamtperson zu trennen! – Dasstärkt die Regulation der persönlichenEmotionen und die Ich-Identität.

Hierbei tritt ein anderes zentrales Mo-ment von Demokratie (oder Partizipa -tion) in den Vordergrund: die Wahlent-scheidung. Vorgängiges Wissen und Ur-teilsbildung kulminieren jetzt in derWahlentscheidung in ein gefordertes,prozedurales Wollen – der Wahl für ei-nen Lösungsvorschlag, ein Ausflugszieletc. Hiermit tritt das Freinet’sche Cre-do, „den Kindern das Wort geben“, inerweiterter Bedeutung in Form der

Stimmabgabe als „den Kindern eineStimme geben“ auf. Die Beobachtungin den jüngeren Jahrgängen lehrt, dasses gilt eine „eigene Stimme“ zu habenund nicht die „Gruppenstimme“ aus demPeer Group-Bezug abzugeben. Hier kannund soll die Emanzipation von Grup-penzwängen hin zu einem politisch mün-digen Subjekt gelernt und erfahren wer-den.

Dies gewinnt eine besondere Bedeu-tung, wenn die Beobachtung des Leh-

rers zur Erkenntnis reift, dass Schülerim eigenen Klassenverband Schüler un-terdrücken. Dieser Umstand spiegelt sichnicht nur in Noten sondern auch in ei-ner Entwicklungshemmung für betrof-fene Schüler wider. Den betroffenenSchülern kann entgegen dieser asym-metrischen Interaktionsstruktur aufSchülerebene durch den Klassenrat –durch das Führen von Rednerlisten undeinem geordneten Gesprächsablauf – ei-

ne konterkarierende Erfahrung eröffnetwerden, die sie ermutigen kann. JedemSchüler ein Wort und Stimme geben ge-winnt dann noch eine erweiterte Be-deutung.

Die Beobachtung einer Klassenrats-sitzung in einer 6. Klasse (ein Jahr nachder Einführung) ergab, dass eine stille,zurückhaltende Schülerin nun recht sou-verän die Gesprächsleitung übernom-men hatte, um eine wohl strukturierteund Ergebnisse generierende Sitzung zuleiten. Im selbstbestimmten Modus derÄmter-Wanderung konnten sich dieSchüler in dieser Klasse in den ver-schiedenen Ämtern und den damit ver-bundenen Herausforderungen erproben.Selbstwirksam erfahren sie hier unmit-telbar den Erfolg oder Misserfolg ihresHandelns, allerdings ohne Risiko des un-terstellten Notendrucks. Der sozialeDruck bleibt.

Beiträge zur Schulentwicklung

Der thematische Kontext Schulent-wicklung verweist darauf, dass für dasGelingen der Implementation und eineanspruchsvolle Umsetzung (i.S. echterPartizipation durch Klassenrat) das Sy-stem Schule, seine Strukturen und Ak-teure umfassender in den Blick zu neh-men sind. Nicht pädagogische und di-daktische Fragen spielen eine Rolle,sondern zunächst der systemische Blickauf Strukturen, Entwicklungen und Ak-teure.4 Was kann das heißen? Nachfol-gend werden Hinweise aus dem Prozessder Implementation an einem Gymnasi-um im Ruhrgebiet gegeben.

Das Selbstverständnis der Schule

Passt es zum Selbstverständnis einesGymnasiums, dass an diesem die Insti-tution Klassenrat implementiert wird?Diese Frage wird von Fall zu Fall einestrittige, innenpolitische Diskussion inder Schule hervorrufen können, manch-mal auch Diskussionen auf den Hinter-bühnen der Lehrer- und Elternschaft.Grundsätzlich aber ist diese Zielsetzungnicht nur in den Landesverfassungen ge-geben, sondern kann auch in den Leit-bildern der Schulen Eingang finden, umdies aus dem Diskussionsprozess inner-

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halb der Schulgemeinde heraus zu ma-nifestieren. – Wünschenswert zur Absi-cherung dieser Institution wäre dies al-lemal.

So ist es doch reichlich verwunder-lich, dass dies für Schulen in einer de-mokratischen Gesellschaft nicht zu ei-ner Selbstverständlichkeit, zur „natürli-chen“ Einübung durch Demokratie-Lernen gehört, und dies unabhängig vonder Schulform.5

Der Leidens- und Entwicklungsdruck

Eine andere Perspektive gewinnt die Ein-führung des Klassenrates, wenn der Lei-dens- und Entwicklungsdruck einerSchule Triebfeder für pädagogische In-novationen wird. Dies kann durch dieo.g. verändere Schülerschaft, veränder-te Anforderungen an das Klassenmana-gement, erweiterte Lernziele (wie z.B.Team- und Kritikfähigkeit etc.), die Ein-führung von Inklusion u.a.m. hervorge-rufen sein. Mit dem Leidensdruck istaber noch nicht der konstruktive, derpädagogische Blick auf notwendige Pro-zesse der Schulentwicklung automatischimpliziert, so dass der pädagogischenOrganisationsentwicklung von Schulenanheim steht die pädagogische und cur-riculare Bedeutung des Klassenrates zuerkennen. Die Zielsetzungen, die mit derEinführung des Klassenrates verbundenwerden sind vielfältig (s.o.).

Schülerirritationen

Die Neueinführung eines Klassenratesbringt mitunter auf Seiten der SchülerIrritationen hervor. „Wann gibt es No-ten?“, Wie können Sie Noten bilden?“,fragen die Schüler. „Es gibt hier keineNoten. Nein, es darf hier gar keine No-ten geben!“, lautet meine Antwort. Sofördert diese Anekdote aus dem Schulall-tag zutage, dass aus dem Schülerhabi-tus eindimensionale Leistungserwar-tungen generiert werden, die auf dievorgän gige Schülersozialisation zurück -gehen. Es bleiben Fragen: Engagierensich Schüler vor diesem Hintergrundüberhaupt noch im Klassenrat?, Machtdie Sitzung für die Schüler überhauptnoch Sinn, wenn der ‚Sinnspender‘ No-

te entfällt? Die bisherige Erfahrung lehrt,dass zwar das Anliegen, sich in die ei-genen Angelegenheiten im Schulalltageinzumischen für die ungeübten Schülereine Herausforderung darstellt, abergenügend Motivation birgt, um sich imKlassenrat zu engagieren.

Hieran wird deutlich, die Schule alsBildungseinrichtung und Erfahrungs-raum gewinnt ein weiteres – nicht no-teninduziertes – Lernfeld hinzu, das ei-ne komplementäre Lernsituation zu dentraditionellen darstellt.

Schulbühnen

Der Schulalltag kann nach Zinneckerauch in der Dichotomie einer Vorder-und Hinterbühne gelesen werden. Er-eignisse auf der Hinterbühne beeinflus-sen mitunter nachhaltig das unterricht-liche Geschehen auf der Vorderbühne.Der Klassenrat als Institution kann eineVermittlung zwischen diesen Weltenschaffen und das mitunter nicht kon-struktive Verhältnis verbessern helfen,indem Themen der Hinterbühne in derÖffentlichkeit des Klassenrates disku-tiert werden. Das ist eine Chance für dasSchulklima, die Klassengemeinschaft,die mit pädagogischem Fingerspitzen-gefühl seitens der anwesenden Lehrerbehandelt werden muss, um den Klas-senrat als Raum der „Selbst- und Mit-bestimmung“ (Kieper 1997) nicht zu ge-fährden.

Schülerdiskurse und -strategien

Bei aufgeworfenen Problem- und Fra-gestellungen sind SchülerInnen durchdas Regularium des Klassenrates ge-rahmt zu erstaunlichen Reflexionspro-zessen in der Lage, die aus dem Unter-richtsgespräch im Fach Politik so nurschwerlich zu generieren sind.

Mitunter nehmen Schüler eigenstän-dig Vernetzungen zum Fachunterrichtvor, z.B. der Wahlmodus für Entschei-dungen im Klassenrat im Vergleich zuverschiedenen Wahlrechtssystemen etc.

Schüler agieren aus ihrem Erfah-rungsschatz im Klassenrat auch strate-gisch. Sie antizipieren die Reaktionender Mitschüler auf ein eingebrachtes bzw.auf der Wandzeitung platziertes Themaund formulieren ihren Themen entspre-chend, bilden Fraktionen, denken überMehrheiten für ihre Vorschläge nach,versuchen Themen zu verhindern, in-dem sie die Vorschläge von der Wand-zeitung „stehlen“. Dies zeigt zweierlei,die Schüler beschäftigen sich zwischenden Sitzungen mit den anstehenden The-men und der Klassenrat stellt eine (Klas-sen)Öffentlichkeit mit besonderem Ge-wicht dar.

Vernetzungsaspekte auf derSchülerebene

Um das Prinzip der Partizipation insti-tutionell im Schulleben weiter zu ver-ankern, bieten sich verschiedene Anläs-se. Diese werden als Anstoß genommen,ohne diese Vernetzung institutionell –

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lehrerzentriert – vorzugeben. Beispiele:i. ) Probleme bei der aktuellen Pausen-regelung ergeben während der Klassen-ratssitzungen die Einsicht, dass dies dengesamten 7. Jahrgang betreffen könnte.Daraufhin wird im Klassenrat beschlos-sen, dass Vertreter aus den Parallelklas-sen eingeladen werden, um das Problemgemeinsam zu beraten und eine ge-meinsame Problemlösung zu finden. DieIdee zu einem Jahrgangsrat in größerenZeitabständen steht im Raum. ii.) Ver-treter der SV wollen von ihrem Schüler-Zeitungs-Projekt berichten. Dazu kom-men sie eher zufällig in eine Klassen-ratsstunde. Dieser lässt die ad-hoc-Be richterstattung unter dem Tagesord-nungspunkt „Aktuelles?“ zu.

Sieht es die aus der Beratungslitera-tur zu entnehmende Tagesordnung un-ter „Bericht aus der SV“ formal vor, soentstand aus dieser konkreten Situationseitens der Schülersprecher die Idee, dassdie SV-Arbeit und der Klassenrat dochin Zukunft besser zu vernetzen seien.(Die Nachhaltigkeit dieser Idee wird inZukunft zu fördern und zu überprüfensein.)

Schwierigkeiten bei der Imple-mentation an einem Gymnasium

Die erste Schwierigkeit ist auch hier dieRessourcenfrage, da die Klassenrats-stunde nicht, wie an Gesamt- und Grund-schulen, am Gymnasium in der Unter-richtsverteilung eine gesetzte Größe dar-stellt. Damit ist es für eine Schule immerauch eine innenpolitische Fragestellung,die zu Diskussionen im Kollegium umknappe Ressourcen führt, da die durch-gehende Implementation des Klassen-rates schnell das Volumen einer ganzenLehrerstelle ausmacht, je nach Größeder Schule auch mehr.

Schnell taucht vor diesem Hintergrunddie Frage auf, wo die Klassenratsstun-de in den jeweiligen Jahrgängen ange-siedelt werden kann und soll. Dabei tre-ten dann mehr oder weniger überzeu-gende Argumente im Rahmen derLehrerkonferenzen zutage. Die Win-Win-Situation wird dann gern zulastenanderer Fächergruppen belassen. DieAnsiedlung bei den sog. Ori-Stunden6

ist wenig überzeugend, da der Klassen-rat dann zu einer Reststunde für diver-

se organisatorische Angelegenheiten ver-kommt, was den Zielsetzungen undMöglichkeiten durch den Klassenrat wi-derspricht. Dann plädieren wir eher füreinen Verzicht auf das Modell Klassen-rat, da den SchülerInnen der zugestan-dene, eigenverantwortliche Raum zurVerhandlung und Regelung ihrer Ange-legenheiten genommen wird. Die Klas-senratsstunde muss unangetastet blei-ben!

Chancen und Grenzen für LehrerInnen

LehrerInnen lernen Klassenrat? Die Er-fahrungen der Implementation zeigen,dass in einem gymnasialen Rahmen derLernprozess auch auf Seiten der Lehre-rInnen zu beachten ist. Der Rollentausch,die Zurücknahme der Führungsrolle z.B.im Ggs. zum Unterrichtsgespräch, beimAgenda-Setting in der Stunde bis hinzur Abwehr adressierter Verantwortungs -übernahme u.a.m. ist zu lernen. Die Ein-nahme, das Einlassen auf die Perspek-tive „Augenhöhe“ durch Platznahme imSitzkreis kann eine neue bis hin zu ei-ner herausfordernden Aufgabe auf demWeg zur weiteren Ausdifferenzierungeiner professionellen Lehrerpersön-lichkeit sein. Die Beziehung und dasMachtverhältnis zu den Schülern sindneu zu strukturieren und im Unterrichtwieder in die richtige Balance zu brin-gen. Der Lehrer muss einen neuen Spie-ler in seinem inneren Team haben, dener auf das päda go gische Feld im Klas-senrat schicken kann (vgl. Lohmann

2005). Gleichzeitig ermöglicht dies denSchülern eine differenzierte, situations-abhängige Wahrnehmung des Lehrersim Schulalltag.

Zudem gilt es die Beiträge der Schülerals moralische Urteile, differenziert kon-struktive Lösungsvorschläge, selbstkri-tische Kommentare bis hin zu Zivilcou-rage im Rahmen der sozialen GruppeKlasse zu würdigen. Eine Klassenrats-stunde ist anders zu lesen als „konven-tionelle“ Unterrichtsstunden. Sie führenzudem zu einem erweiterten Schüler-bild, das vom Lehrer mit in die Unter-richtsstunde genommen werden kannund ihm dort eine andere Wahrnehmungvon Schülern ermöglicht, was dort wie-derum neue Kommunikations- und In-teraktionsstrukturen ermöglicht.

Klar ist, dass der den Klassenrat ein-führende Lehrer im Lern- und Entwick-lungsprozess zwei gegenläufige Prozessebeachten muss, um die Balance für ge-lingende Sitzungen zu finden: Die Ab-gabe der Definitions- und Handlungs-macht des Lehrers muss mit einer gleich-laufenden Verantwortungsübernahme(Machtgewinn) seitens der SchülerIn-nen einhergehen. Ohne diese Bereitschaftdes Lehrers kann der Klassenrat nichtgelingen. Den Schülern sollte die Teil-autonomie mit selbstbestimmten Regeln,Sanktionen und Abläufen zugestandenwerden.

Ausblick

Der Klassenrat als anspruchvolles Mo-dell zur Partizipation im pädagogischen

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Raum kann als leichtes Gegengift gegenDesintegration und Legitimationspro-bleme bei postdemokratischen Ent-wicklungstendenzen wirken. Partizipa-tion durch Klassenrat ist gelebte Demo-kratie in der Schule.

Es ist schon verwunderlich, dass die-ses Modell für Partizipation in der Schul-pädagogik wie politischen Bildung nichtschon einen größeren Stellenwert besitzt.Aber auch das wird eine eher ökonomi-sche, denn eine prinzipiell pädagogischeFrage sein, die zu beantworten wiederauf die Ebene der Schulen selbst zurück-geworfen wird, zumindest im Rahmender Stundenverteilung bzw. -ressourcenim gymnasialen Bereich. Damit wirdwieder einmal einer Gruppe die Verant-wortung zugeschoben, die nicht mit Res-sourcen zum verantwortungsvollen Um-gang mit derartigen Vorhaben ausge-stattet ist.

Anmerkungen

1 Dieser Diskussionsbeitrag ist als Nach-trag zum Workshop 27 „Demokratievererbt sich nicht! – Im Klassenratkann Partizipation in der Schule er-lernt und (er-)lebt werden!?“ gedacht,der beim 12. Bundeskongress „Zeital-ter der Partizipation“ 2012 in Berlinvon von Helmut A. Bieber (Zentrumfür schulpraktische LehrerausbildungGelsenkirchen & dvpb-nw e.v.) und Dr.Oskar Brilling gemeinsam geplant unddurchgeführt wurde.

2 Vgl. z.B. Heitmeyer 1998; Heitmeyer/Mansel 2003; Heitmeyer/Imbusch,2005; El-Mafaalani/Toprak 2011;Crouch 2008; Welzer 2008; Faigle/Hugendick 2010; Eikel, 2006

3 Vgl. auch Fußnote 4.

4 Anregenswert sind die Überlegungen,die – über das Modell des Klassenrateshinaus – im BLK-Programm „Demokra-tie lernen & leben“ angestellt werden,um mit einer breiter angelegten Parti-zipationsförderung die gesamte sozia-le System Schule in den Blick zu neh-men (vgl. Eikel 2006).

5 Unterschiedliche Perspektiven undRahmungen ergeben sich im Ansatzdes Just Community-Konzeptes bzw.dem Ansatz der DemokratischenSchulgemeinde, die im Anschluss anKohlberg den moralischen Diskurs alsLeitfaden zur praktizierten Partizipati-on aufnehmen (vgl. Reinhardt, 1999,S. 123ff.). Ein anderer Ansatz i.S. vondemokratischer Schulentwicklunggeht auf das BLK-Programm „Demo-kratie lernen und leben“ zurück (vgl.Eikel 2006).

6 Dies ist eine Verfügungsstunde für denLehrer, in der i.d.R. der Klassenlehrer inlehrerzentrierter Weise Informationengibt und Klassenangelegenheiten mitund für seine Klasse regelt. Dies ver-fehlt die pädagogischen und didakti-schen Intentionen des Klassenrates.

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28 polis 3/2012

Verbands-

politische

Rundschau

Analysen

Positionen

Informationen

Diskussionen

zur Arbeit der

Deutschen

Vereinigung

für Politische

Bildung

Die Jahrestagung findet von12.-14. Oktober an der Akademiefür politische Bildung in Tutzingstatt. Thema: „Finanzkrise-Schul -denkrise-Systemkrise“. Referen -ten sind u.a.: Dr. Theo Waigel,Bundesfinanzminister a.D., Prof.Dr. Hans-Werner Sinn, Direktordes Ifo-Instituts, Dr. Jens Bastian,EU-Kommission, AußenstelleAthen, Dr. Thomas Mayer, ehem.Chefvolkswirt Deutsche BankGroup, Frank furt/M., Franz JosefBenedikt, Vertreter des Präsi den -ten der Hauptverwaltung in Bay -ern der Deutschen Bundes bank,Prof. Dr. Bernd Overwien, UniKassel, Prof. Dr. Peter Hampe,TU Dresden. Anmeldungen undInfos über www.apb-tutzing.de

Der Landesvorstand hat in derFra ge der Neuorientierung der

bayerischen Landeszentrale für

politische Bildungsarbeit be -ratende Unterstützung angeboten.Unregelmäßigkeiten auf der Lei -tungsebene hatten im Herbst ver-gangenen Jahres eine breite öf -fent liche Diskussion evoziert, inder von mehreren Mitgliederndes parlamentarischen Kontroll -gre miums auch die zu enge An -bin dung der BLZ an die Staats re -gie rung moniert wurde. Im Hin -blick auf ein Symposion, das imHerbst stattfinden soll, werdenderzeit die Kontakte zum par la -men ta rischen Beirat (Kon troll -gre mium) der Landeszentrale in-tensiviert.

Bayern

Tagungen in Kiel

Der Landesverband Schleswig-Holstein plant für den Herbst Ta -gungsangebote zu aktuellen The -men der Europa- und Weltpolitik.Am 11. November befassen wiruns in der Hermann-Ehlers-Aka -demie in Kiel unter dem Ar beits -titel „Von der Schuldenkrise

zur Politischen Union?“ mitPerspek tiven der europäischenIntegration. Im Anschluss wirdeine außer or dentliche Mit glie der -versammlung stattfinden, um ei-ne Satzung für den Landes ver -

Unter dem Dach des Landesver -bandes hat sich ein neuer Ar -

beits kreis

POLITIKDIDAKTIK kon -stituiert, der sich am 2. Au gust zuseiner Halbjahressitzung inNürnberg zusammengefundenhat. Neben dem Projekt „virtuelleHochschule“, das von dem Kolle -gen Dr. Peter Herdegen (Uni ver -sität Regensburg) initiiert wurde,steht vor allem eine Diskussionüber die Situation der politi -

schen Bildung an den baye ri -

schen Hochschulen auf der Ta -ges ordnung. Beratungsgrundlagewar der empirische Befund, dasssowohl auf universitärer Ebeneals auch im Bereich der schuli -schen Politischen Bildung Bayernim Ländervergleich hinterher -hinkt. Ein von den Kollegen Prof.Brunold und Dr. Ohlmeier (Uni -versität Augsburg) verfasstes Po -si tionspapier wurde inzwischendem Wissenschaftsministeriumund dem Kultusministerium zu -geleitet. Ein erstes Beratungs ge -spräch fand am 7. August 2012im Kultusministerium in Mün -chen statt. Zur effektiveren Au -ßen prä sentation einigte sich derArbeits kreis darauf, dass Prof.Dr. An dreas Brunold und Akad.Dir. Dr. Peter Herdegen vorläufigdie Funk tion des Sprechers über-nehmen. Die nächste Sitzung desAK POLITIKDIDAKTIK findetam 14. Februar an der Ludwig-Maxi milians-Universität Mün -chen statt.

band zu be schlie ßen: Das Finanz -amt verlangt dies als Voraus -setzung für die Be scheinigungder Geme in nüt zig keit. Am 3.Dezember, also nach den USA-Wahlen, wird – eben falls in derHermann-Ehlers-Aka demie Kiel– eine Tagung zum Thema „DieUSA vor den Heraus forderungendes 21. Jahrhunderts“ stattfinden.Näheres zum Pro gramm werdenwir zeitnah auf unserer Home -page ankünden.

Prof. Dr. Klaus-Peter Kruber

Schleswig-Holstein

Auf Initiative des Landes vor -sitzenden werden in die anstehen-den Lehrplanarbeiten die Hoch -schuldidaktiker einbezogen. Derfür das Fach Sozialkunde zustän-dige Mitarbeiter am Staatsinstitutfür Schulentwicklung und Bil -dungsforschung (ISB) hat mitdem Arbeitskreis POLITIK DI -DAKTIK Kontakt aufgenommen.Die Einbindung der universitärenPolitikdidaktik soll dabei gewähr-leisten, dass die neuere fach di -dak tische Diskussion über Kom -pe tenzen und Basiskonzepte beider Lehrplanentwicklung an ge -messen berücksichtigt wird. DasBayeri sche Staatsministerium fürUnter richt und Kultus hat dabeiins be sondere Interesse an dem ander Friedrich-Alexander-Uni ver -si tät Erlangen-Nürnberg ent wi -ckelten Konzept integrativen Un -terrich tens im Fächerverbund Ge -schich te-Sozialkunde-Erdkunde(GSE) an der Haupt- und Mittel -schule bekundet.

Prof. Dr. Armin Scherb

· Informationen · Planungen · Aktionen · Berichte ·

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Verband

polis 3/2012

Bericht aus demhessischenLandesverband

Im Herbst und Frühjahr 2011/12hat die hessische DVPB zweiTagungen im Haus am Maibergmit veranstaltet.

Im Juni 2010 gab es, ver an -staltet vom Haus am Maiberg,dem deutschen Polen-Institut undder Deutschen Vereinigung fürPo litische Bildung Hessen, eineTagung, bei der Praktiker und In -teressierte des deutsch-polni -schen Jugendaustausches erörter-ten, wie die deutsch-polnischenBeziehungen mit Jugendlichengestaltet werden können. Die er -folgreiche Tagung hat die Orga ni -satoren dazu bewogen, ein weite-res Treffen ins Auge zu fassen.

Zeitgleich ergab sich der Kon -takt mit dem deutschen Spanisch -lehrerverband. So ergab sichdann die Tagung „Gegenwärtige

Ver gangenheiten – Erinne -

rungs poli tik in Polen, Spanien

und Deutsch land“, die am10./11. No vember 2011 stattfand

Hessen

und sich an Multiplikatoren ausSchule und Jugendbildung richte-te. In Ge sellschaften, die einenWechsel von Diktaturen oder to-talitären Regimen zu demokrati -schen und rechtsstaatlichen Ver -hältnissen hinter sich haben, ent-stehen zwar nicht dieselben Fra -gen, dennoch aber gibt es ge -mein same Erfahrungen im Um -gang mit der Vergangenheit. Inder Bil dungsarbeit mit Ju gend li -chen ist es unumgänglich, eineent spre chen de Aufarbeitung zuthematisieren, die allerdings hoheAnfor de rungen an das pä da go gi -sche Personal stellt, weil es sichum sensible und teilweise auchemotionale Aspekte handelt. ImMit telpunkt der Tagung stand dievergleichende Beschäftigung mitden Diskursen über die Er in ne -rungs kultur in Polen, Spanienund Deutschland. Die Tagungöff nete einen Raum für ent spre -chende, teils durchaus emotionaleDis kussionen.

Anfang März 2012 wurdedann die Diskurstagung „Was

heißt heute Kritische Politische

Bildung?“ durchgeführt. Untersehr zahlreicher Beteiligung vonAkteuren aus der schulischen undaußerschulischen Bildung sowieden Hochschulen kam es zudurch aus kontroversen Dis kus sio -nen zum Thema. Das 2011 er -schie nene Handbuch „Kri tischepolitische Bildung“ hatte ja inFachkreisen der Politischen Bil -dung schon kontroverse Dis kus -sionen ausgelöst, die nun konkretausgetragen werden konnten. Esging dabei um die Frage, wasdenn heute unter „kritischer politi-scher Bildung“ zu verstehen seiund ob es sinnvoll sei, dass eineGruppe von Wissenschaft ler/innenund Praktiker/innen mit diesemAnspruch arbeitet. Gefragt wurdeauch, ob Politische Bil dung nichtper se einen kritischen Auftraghat. Die Tagung war ge zielt dis -kur siv angelegt und es wird einenErgebnisband geben, der der Wei -ter führung der Dis kussion dient.

Prof. Dr. Bernd Overwien

Fachtagung zur politisch-historischen Bildung

Im Frühjahr 2013 wird zum drit -ten Mal eine Fachtagung zur poli-tisch-historischen Bildung inHan nover mit Unterstützung desniedersächsischen Kultus minis -teriums stattfinden. Ausgetragenwird die Veranstaltung wie in denvorangegangenen Jahren durchden Geschichtslehrerverband, dieDVPB und den VolksbundKriegs gräberfürsorge. In diesemJahr wurde das Thema „Völker -mord“ unter verschiedenenAspekten beleuchtet und für dieschulische und non-formaleBildung aufbereitet. In derniedersächsischen Fachzeitschrift„Po litik unterrichten“ (1.2012) istder Bericht von ManfredQuentmeier (stellvertretenderVorsitzender DVPB-Nds.) hierzuveröffentlicht.

Markus W. Behne

Niedersachsen

Didaktikforum„Planspiele in derPolitischen Bildung“

Vom 26. bis 28. November 2012wird in der Politischen Bildungs -stätte Helmstedt das Didaktik -forum „Planspiele in der Politi -schen Bildung“ in Zusammen -arbeit mit der Agentur für Er -wach senen- und WeiterbildungNiedersachsen, der Bundes -zentrale für politische Bildungund der Deutschen Vereinigungfür Politische Bildung – Landes -verband Niedersachsen stattfin -den. Ähnlich der Planspielkon -gresse in Bayern wird das Semi -nar einen Überblick über die Ent -wicklungen der Planspielmethodein der Politischen Bildung geben.Es dient dem fachdidaktischenund interdisziplinären Austauschüber die Planspielmethode unddem Kennenlernen von Angebo -ten von Planspielen aus Nieder -sachsen und den Nachbarländern.Neue Planspielprodukte der Bun -deszentrale für politische Bildung

werden präsentiert. Eine kritischeReflexion der Methode und ihrerGrenzen wird nicht zu kurz kom-men. Auch Fragen der Weiterent -wicklung werden diskutiert.Schließ lich muss auch die Fragegestellt werden, wie und ob über-haupt die Planspielmethode poli-tische Beteiligung befördernkann. Eingeladen sind Lehrkräfteund ReferendarInnen aus Nieder -sach sen und den Nachbarländern,Mitt lerinnen und Mittler der au -ßer schulischen Bildung sowieDo zentinnen und Dozenten ausdem Hochschulbereich. AnetteWerhahn (Agentur für Erwach se -nen- und Weiterbildung – Han -nover) Detlef Dechant (Bun des -zentrale für politische Bildung –Bonn) sowie von der DVPBMarkus W. Behne (CIVIC-Ins ti -tut für internationale Bildung –Düs seldorf) und Horst Lahmann(Niedersächsische ExtremismusInformationsstelle NEIS – Han -nover), würden sich freuen, Sieals Gäste der Veranstaltung be -grüßen zu können.

20. Tag der PolitischenBildung

Die Landtagswahlen in Nieder -sachsen im Januar 2013 nimmtdie DVPB Niedersachsen zumAn lass, sich bei allen Landtags -fraktionen und dem Kultus-sowie dem Wissenschafts minis -terium für die Unterstützung undeinen offenes Ohr für die An lie -gen der Politischen Bildung inder ablaufenden Legislatur perio -de zu be danken. Wir werden nachdem 20. Tag der Politischen Bil -dung am 27.09.2012 erneut an al-le wahl kämp fenden Parteieneinen Ap pell richten, die Bür -gerinnen und Bürger und ihrRecht auf eine unabhängige, kri-tische Politische Bil dung zu för-dern und für eine ausreichendeinstitutionelle Un terstützung zumBeispiel in Form einer Landes -zentrale für Politi sche Bildung zusorgen.

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Verband

polis 3/2012

Prof. Michael May –neu in Jena

Beim Stammtisch des DVPB-Landesverbandes Thüringen am26. Mai diesen Jahres im Gast -haus „Zur Noll“ in Jena hatten dieMitglieder des Landesverbandesder DVPB Thüringen die Mög -lich keit, den neuen Inhaber derJenaer Professur für die Didaktikder Politik, Professor Dr. MichaelMay, näher kennenzulernen.

May, der in Sachsen-Anhaltgeboren wurde und sein Abitur inQuerfurt abgelegt hat, studiertezwischen 1993 und 2000 die Fä -cher Sozialkunde und Geschichtefür das Lehramt an Gymnasien ander Martin-Luther-UniversitätHalle-Wittenberg und der Univer -sity of Aberdeen in Großbritan -nien. Nachdem er das ErsteStaats examen für das Lehramt anGymnasien abgelegt hatte, war erzwischen 2000 und 2002 Referen -dar am Staatlichen Studien se -minar in Halle, wo er 2002 mitdem Zweiten Staatsexamen ab -schloss. Gefördert durch ein Lan -desgraduiertenstipendium desLandes Sachsen-Anhalt warMichael May sodann Doktorandam Zentrum für Schul- und Bil -dungsforschung (ZSB) in Halleund promovierte 2006 mit einerArbeit über „Demokratiefähigkeitund Bürgerkompetenzen. Norma -tive und kompetenztheoretischeGrundlagen der politischen Bil -dung“. Zwischen 2002 und 2012unterrichtete May durchgängig anGymnasien in Sachsen-Anhaltund Niedersachsen sowie kurzzei-tig an einer privaten Berufsschuleund im außerschulischen Bereich(Museumspädagogik). In Nieder -sachsen war er Mitglied der Abi -

tur kommission für Politik-Wirt -schaft und zwischen 2009 und2012 Fachleiter für Referen da -rinnen und Referendare am Stu -dienseminar Braunschweig. Zu -dem nahm er zwischenzeitlichLehraufträge an den UniversitätenHalle, Göttingen und Jena wahrund ist nun seit 2012 Inhaber derProfessur „Didaktik der Politik“an der Friedrich-Schiller-Univer -sität Jena.

Schwerpunkte seiner Arbeit:Zum einen sei es ihm ein Anlie -gen, an die Theorie des „situiertenLer nens“ anzuknüpfen, in derenMittelpunkt typische fachspezifi-sche „Anforderungssituationen“stünden. Konzeptionell gehe esihm dabei um die Frage, wie sichan eben diese Anforderungs si tua -tionen Lernwege für Schüler undSchülerinnen anschließen ließen,die einer kompetenzorientiertenpolitischen Bildung entsprächen.Empirisch sei für ihn sodann vonInteresse, wie Schüler und Schü -lerinnen mit diesen Anforderungs -situationen konkret im Fachun ter -richt umgingen. Als einen weite -ren Baustein seiner Arbeit identi-fizierte May „außerschulischenLernorte“, deren Schwerpunkt aufder historisch-politischen Bildungläge.

Im Anschluss an diese Skiz -zierung seines wissenschaftlichenProgramms hatten die Gäste desStammtisches noch Gelegenheit,mit Professor May ins Gesprächzu kommen. Dabei ergaben sichschnell die ersten potenziellenKo operationsmöglichkeiten, soz.B. mit den Staatlichen Studien -seminaren für die Lehreraus bil -dung in Thüringen. Deutlich wur-de aber auch, dass durch den ehe-maligen Inhaber der Professur,Professor em. Dr. Carl Deich -mann, ein gut funktionierendesNetzwerk von Institutionen derPolitischen Bildung im Freistaatetabliert werden konnte. Über dieExistenz dieses Netzwerkes (u.a.in Form der Landeszentrale fürPolitische Bildung, dem Thürin -ger Institut für Lehrerfortbildung,Lehrplanentwicklung und Mediensowie der Deutschen Vereinigungfür Politische Bildung) zeigte sichMay sehr erfreut und verwies aufseine Absicht, diese erfolgreichenund fruchtbringenden Koopera tio -nen – u.a. in Gestalt der „JenaerGespräche zur politischen Bil -dung“ – konsequent fortzuführen.

Marc Partetzke

Abiturpreis für Hendrik Bachmann

Hendrik Bachmann besuchte von2004 bis 2012 das Pestalozzi-Gym nasium in Stadtroda/Thürin -gen. Hier legte er ein hervor ra -gen des Abitur (1,4) ab. Besondersgute Leistungen erreichte Hendrikin den gesellschaftswissenschaft-lichen Fächern. Dies ist auch aufsein großes Interesse und Engage -ment für gesellschaftliche und po-litische Themen zurückzuführen.

Als Schülersprecher des Gym -nasiums und als Kreisschüler spre -cher des Saale-Holzland-Kreisessetzte er sich für die Belange sei-ner Mitschüler ein. So favorisierteer z. B. die Direktwahl des Schü -lersprechers an Thüringer Schu -len.

Des Weiteren betätigte sichHendrik sehr aktiv als Redakteurder Schülerzeitung „LUX“.

Über die Schule hinaus betei-ligte sich Hendrik sehr erfolgreichan zahlreichen Seminaren undWettbewerben, so z.B. an denSchülerpolitiktagen 2008/2009,am Schülerzeitungsseminar derLandeszentrale für politischeBildung Thüringen 2009, amSeminar „Wer keinen Mut zumTräumen hat, hat keine Kraft zumHandeln“ der Landeszentrale fürpolitische Bildung Thüringen2010, an der Demokratiewerkstatt„Schule“ der Landeszentrale fürpolitische Bildung Thüringen2010 und war zugleich auch Sie -ger beim Wettbewerb „Schlag denProf.“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2011.

Beim Wettbewerb und Work -shop für engagierte Schüler derTU Dresden 2011 errang HendrikBachmann den 1. Platz und einen2. Platz beim Schülerwettbewerb„Alles was Recht ist – Verfassunglebt! Thüringen als Verfassungsortin Europa“ 2011 des ThüringerJustizministerium. Erfolgreichnahm Hendrik 2011 am 3. Thürin -ger Jugendkongress „Nachhaltigdabei sein“ und am Projekt Po li -tik orange „Abgestimmt“ – Aus -gabe zum SPD-Parteitag teil.

Mit dem Abiturpreis würdigtder Landesverband der DVPBThüringen das überdurchschnittli-che außerschulische EngagementHendrik Bachmanns und seinesehr guten schulischen Leis -tungen. Als Anerkennung dafürerhielt er eine einjährige kostenlo-se Mitgliedschaft im Landes ver -band der DVPB und bezieht da -

mit auch die Verbandszeitung POLIS. Zudem wurde ihm imRahmen der Abiturfeier eineBücherauswahl der Landes zen -trale für Politische Bildung über-reicht.

Auf diesem Weg übermitteltder Landesverband der DVPB ausThüringen dem Preisträger die be-sten Glückwünsche.

Ellna RohländerToralf Schenk

Neue Lehrpläne in Thüringen

In den zurückliegenden zwei Jah -ren sind die Thüringer Lehrpläneder Fächer des gesellschaftswis -sen schaftlichen Aufgabenfeldesfür den haupt- und realschulbezo-genen Abschluss und für den Er -werb der allgemeinen Hochschul -reife überarbeitet und weiter ent -wickelt worden. Alle Fachlehr -pläne für den gesellschaftswissen-schaftlichen Unterricht folgen ei-ner gemeinsamen Konzeption, diedurch Kontinuität, Qualifizierungund Innovation gekennzeichnetist.

Kontinuität – Was istunverändert?

– Die Fachlehrpläne sind ve r -bind liche zentrale Steuerungs -instrumente für die Lernkom -petenzentwicklung der Schü -lerinnen und Schüler, für dieUnterrichts- und Schulent -wick lungsprozesse.

– Das Thüringer Kompetenz mo -dell bildet die Basis für dielehrplandidaktische Konstruk -tion. Die Ziele für die Ko m pe -

Thüringen

Prof. Dr. Michael May

Hendrik Bachmann mitAuszeichnung

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Verband

polis 3/2012

tenz entwicklung werden imfachlich-inhaltlichen (Sach -kompetenz), methodisch-stra-tegischen (Methoden kompe -tenz), sozial-kommunikativen(Sozialkompetenz) und selbst-regulierenden Lernen (Selbst -kompetenz) beschrieben.

Qualifizierung – Was wirdverbessert?

– Die Lernkompetenzen derSchü lerinnen und Schüler, dieMethoden-, Selbst- und So zial -kompetenz umfassen, werdengestärkt und in jedem Unter -richts fach fachspezifischausgeprägt.

– Das fächerübergreifende Ar -bei ten und fächerübergreifendeAbstimmung wird opti miertund eine inhaltliche Überfrach-tung abgebaut.

– Die weiterentwickelten Lehr -pläne verstärken Freiräumeund unterstützen die individu-elle Förderung der Schü le rin -nen und Schüler.

– Die Abschlussprofile sind alsAnschlussprofile konzipiert.

Innovation – Was ist neu?

– Die weiterentwickelten Lehr -pläne sind standard- und out -

putorientiert. Sie beschreibengemeinsame gesellschaftswis-senschaftliche Kompetenzenfür das gesellschaftswissen -schaftliche Aufgabenfeld.Durch die Vernetzung der Fä -cher können Synergien genutztund Lernunterstützung ermög-licht werden.

– Die Fachlehrpläne Sozial kun degreifen die fachdidaktischeDis kussion um Basiskonzepteder politischen Bildung auf.Als grundlegende Vorstell un -gen, die für politisches Wissenprägend und strukturbildendsind, werden in Anlehnung anWolfgang Sander die Basis kon -zepte Macht, Öffentlich keit,Ge meinwohl, System, Konfliktund Knappheit identifiziert.Die Lernbereiche der So zial -kun delehrpläne nehmen dieBa siskonzepte in unter schied -licher Schwerpunkt set zung auf.

– Als Handlungsanforderungenfür den Sozialkundeunterrichtwerden fachspezifische Kom -petenzen ausgewiesen, die sichan den GPJE- Bildungs stan -dards orientieren.

– Die Ziele in den einzelnenLern bereichen werden als be -obachtbare und einschätzbareKompetenzen beschrieben.Die ser Zugang setzt die Ver -

wendung von Deskriptorenund Operatoren voraus.

– Aussagen zur Lernausgangs -lage sind Bestandteil der Ziel -beschreibungen und beziehensich auf die Fächer der jeweili-gen Schulart, die eher einset -zen.

Zusammenfassung

Die neuen Thüringer Lehrpläneer höhen die Eigenverantwortungder Lehrerinnen und Lehrer fürdie Inhaltsauswahl, die Lerner geb -nisse, für die individuelle För de -rung der Schülerinnen und Schü -ler sowie für die schulinterneLern planung. Zudem wächst derAnspruch an Aufgaben und Lern -arrangements hinsichtlich derKom petenzentwicklung im Unter -richt, der Überprüfung des Lern -stands und der Ableitung von För -dermaßnahmen.

Die Thüringer Lehrpläne sind un-ter http://www.schulportal-thueringen.de/lehrplaeneabrufbar.

Dr. Sigrid Biskupek

Vorankündigungen

20.09.2012 – Tag der Gesell -schafts wissenschaften zumThema „Leben in einer globa li -sierten Welt“. Anmeldung erbetenüber das Thillm in Bad Berka

13.11.2012 – 16:00–18:00 UhrMitgliederversammlung desLandesverbandes der DVPBThüringen in der Mensa der IGS„Grete Unrein“ Jena, August-Bebel-Straße 1

13.11.2012 – 18:30-20:00 UhrJenaer Gespräche zur politischenBildung in der Carl-Zeiss-Straße 3der Friedrich Schiller Univer si tätJena zum Thema: „Meine El ternerzählen mir aber etwas an ders …– politisch-historische Bildungs -arbeit zur DDR-Diktatur mitSchü lern und Jugendlichen“; an -gefragte Podiumsgäste: Dr. M.Wanitschke; Dr. P. Wurschi, Dr. F.König; Moderation: Prof. Dr. M.May; nähere Infos auf unsererHomepage www.dvpb-thueringen.de

Für die Aktualisierung seiner Mi -tgliederkartei bittet der DVPBLan desverband alle Mitglieder,ihre aktuellen Kontaktdaten mitAnschrift, Telefonnummer und e-Mail Adresse dem DVPB-Lan -desvorsitzenden Anselm Cypion -ka zukommen zu lassen.([email protected])

Toralf Schenk

Mecklenburg-Vorpommern

Programm für den Herbst 2012

Im November 2012 findet zumfünften Mal in Kooperation derLandeszentrale für politischeBil dung mit dem Landesverbandder DVPB in Mecklenburg-Vor -pom mern der Jahres kon gress

Poli tische Bildung statt. „Ist

Europa in der Krise?“ heißt esam 16. November in Greifswald.Die Zusammen arbeit mit derLpB ist inzwi schen zu einer ge-schätzten Tra dition geworden.

Angesichts eines sehr dünnenAngebotes an Fortbildungen fürLehrerinnen und Lehrer des Fa -ches Sozialkunde von Seiten desMinisteriums, hat der Landes -ver band begonnen, kleinformati-ge Fortbildungsveranstaltungenan unterschiedlichen Orten imLand anzubieten. Den Auftakt

für die ses dezentrale und klein -formatige Programm machte ei-ne Fortbil dung zum Thema„Europäisches Recht nach

dem Vertrag von Lissabon“.Im Mai folgte eine Veranstaltungin Kooperation mit der Landes -zentrale für politische Bildung,der Europaschule Rö vers hagenund dem Verein „politischeMemoriale“ zu Fragen histo -risch-politischer Bildung. ImRah men der Nachmittagsveran -stal tung wurde u.a. ein in derEuro pa schule erarbeiteter Ge -schichts kof fer vorgestellt, derMaterialien und Ar beits vor -schläge zur Aufarbeitung derAußenlager des KZ Ravens brückenthält. Dr. Gudrun Heinrich(DVPB) referierte zur Frage:„Welche Rolle spielt das

Wissen über die NS-Ge -

schichte für die Auseinander -

setzung mit Rechtsextremis-

mus?“.Im Rahmen unserer Fortbil -

dungsreihe bieten wir bewusstVeranstaltungen in unterschiedli-chen Regionen des Landes anund beschränken sie zeitlich aufeinen Nachmittag, um so denKolleginnen und Kollegen vorOrt die Mög lichkeit geben, dieTeilnahme in den normalen Ar -beitsalltag zu integrieren.Wirhoffen, damit stärker mitein -ander ins Gespräch zu kommen,den Ver band bekannter zu ma -chen und damit auch die Be -deutung der Wertschätzung derstruktur schwa chen Räume be -tonen zu können. Für den Herbstund Win ter 2012 sind Veranstal -tungen zur Frage der Ener -

giewende (Abi turschwerpunkt

2013) und Me thoden der poli-

tischen Bildung geplant.

Aktuelle Informationen zu denVeranstaltungen finden Sieunter: www.dvpb-mv.de.

Unsere nächste Mitgliederver -samm lung findet am 18.10.2012in Güstrow im Haus der Kirchestatt. Eine persönliche Einladungan alle Mitglieder wird noch ver-schickt.

Dr. Gudrun Heinrich,Landesvorsitzende

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Auf zur Verteidigung desSelbstverständlichen!

Reinhold Hedtke / CarolinUppenbrock: Atomisierungder Stundentafeln?Schulfächer und ihreBezugsdisziplinen in derSekundarstufe I. (workingpaper Nr. 3 der iböb –Initiative für eine bessereökonomische Bildung)Bielefeld 2011, 108 S., imInternet unter:http.//www.iboeb.org.

Es handelt sich bei diesem work -ing paper um das Bemühen, den„didaktischen Disziplinismus“ zuwiderlegen, der darauf abzielt,ein zelnen reinen Hochschul diszi -plinen entsprechend lupenreineSchulfächer zuzuordnen und diesschulpolitisch rigoros in die Tatumzusetzen. Insbesondere geht esdabei um die derzeit von interes-sierten Kreisen erhobene Fo r de -rung nach einem Schulfach kli -nisch reiner Ökonomie, welcherneuerdings ein theoretischerÜber bau zur Begründung dieses„didaktischen Disziplinismus“bei gegeben wird.

Im ersten Teil des working pa-per Nr. 3 mit dem treffenden Titel„Atomisierung der Stundentafel“wird dagegen überzeugend darge-stellt, was später zusammen fas -send resümiert wird:� Ein strukturelles Ergebnis: Ein

Schulfach bezieht sich immerauf eine Mehrzahl wissen -schaft licher Disziplinen. (Unddas ist gut so!)

� Der didaktische Disziplinis -mus erweist sich als wissen -schaftlich unhaltbar und orga-nisatorisch undurchführbar.

Die Beweisführung hierzu vonReinhold Hedtke und CarolinUppenbrock ist mehr als erschöp-fend; sie ist geradezu erdrückendund vernichtend. Bei der Lektürehatte der Rezensent an manchenStellen das Bedürfnis, die hoff -nungslos unterlegenen Vertreterdes „didaktischen Disziplinismus“zur Aufgabe aufzufordern.

Wie bei einem Boxkampf un-ter völlig ungleichen Kämpen, wodas Publikum nach einiger Zeitdem Ringrichter „aufhören ....aufhö ren“ zuruft, er möge endlichden aussichtslosen Kampf abbre-chen! Zugleich fragt man sich:Warum ist es offenbar notwendig,das an sich Selbstverständliche so

aus führlich zu belegen und zu be-weisen? Sind die Adressaten die-ser Be weisführung etwa extremhart hö rig oder etwa so starr köp -fig? Eben dies ist offenbar derFall.

Dabei beschränken sich dieAutoren Hedtke und Uppenbrockim Wesentlichen auf wissen -schafts systematische und organi-satorische Beweisführungen, umdie disziplinorientierte Abbild di -daktik ad absurdum zu führen.Bei Bedarf könnte man auch nochfolgende weitere Thesen auf -stellen und belegen: � Der didaktische Diszipli nis -

mus widerspricht den Inter -essen von Schülern; es ent -spricht vielmehr den Schü le r -interessen, dass Schulfächersich auf eine Gruppe von wis-senschaftlichen Disziplinenbeziehen.

� Der didaktische Disziplinis -mus widerspricht auch den In -teressen der Gesellschaft (derEltern; der Bildungspolitik), esentspricht vielmehr den In ter -essen der Gesellschaft (der El -tern, der Bildungspolitik), dasssich Schulfächer auf Gruppenvon wissenschaftlichen Dis -ziplinen beziehen.

Wenn erforderlich, kann auch diesnoch üppig belegt werden. Vor -läufig reichen die Beweis füh -rungen der Autoren aber sicher -lich für alle Interessenten aus, de-nen unverhofft ein „didaktischerDisziplinismus“ über den Wegläuft.

HK

Wirtschaft – politikdidaktisch gesehen

Klaus Moegling: Ökono mi -sche Bildung im Politik unter -richt. Didaktische Konzepte,Modelle und Praxis politisch-ökonomischer Bildung.Immenhausen: Prolog-Verlag2012, 183 S., 24,80 EURO

Klaus Moegling legt ein Werkvor, welches eine politikdidak ti -sche Sicht auf die Ökonomie re -präsentiert. Die Ökonomie ist einunerlässlicher Bestandteil derheu tigen politischen Bildung.Insbesondere die Finanzkrise von2008, die anschließende Welt wirt -schaftskrise und die nur schwer inden Griff zu bekommendeEurokrise machen deutlich, dassökonomisches Wissen ein wichti-ger Bezugspunkt des politischdenkenden und handelnden Bür -gers ist. Entsprechend hoch istauch ihr Stellenwert im Politik -unterricht.

Im ersten Teil widmet sich derAutor der Didaktik der politisch-ökonomischen Bildung im Po li -tikunterricht. Dabei geht er aufdie notwendigen Kompetenzen,Standards und Indikatoren sowieauf die didaktisch-inhaltlichenNotwendigkeiten eines zeitge mä -ßen ökonomischen Unterrichtsein. Auch Genderaspekte hinsicht-lich der politisch-ökonomischenBildung werden in diesem Kapitelaufgegriffen. Anschließend legtMoegling im zweiten Teil des Bu -ches das seiner Ansicht nach poli-tisch-ökonomische Grundlagen -wissen für Politiklehrer/-innendar. Kurz und prägnant geht er aufdie verschiedenen Aspekte ein.

Im dritten Teil des Buches er-läutert der Autor unterschiedlichePraxisbeispiele der politisch-öko-nomischen Bildung in den Se kun -darstufen I und II. Dabei liegt derFokus zunächst auf verschiedenenMethoden der politisch-ökonomi-schen Bildung. Anschließend wirdanhand konkreter Unterrichts um -setzungen gezeigt, dass die po li -tik didaktische Einbettung desWirt schaftsunterrichts absolutsinnvoll ist. Im Mittelpunkt derangeführten Praxisbeispiele ste -hen z.B. Fragen, wie in betriebli-chen Zusammenhängen Ent schei -dungen gefällt werden und dieKon fliktlinien in den Betriebenverlaufen. Ausführlich werdenauch Unterrichtsbeispiele zur Fi -nanz- bzw. Weltwirtschaftskrise

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RezensionenNeue Literatur – kurz vorgestellt

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Page 32: REPORT DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG FÜR ...dvpb.de/wp-content/uploads/2016/09/3-2012_Gesamt.pdf2016/09/03  · REPORT DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG FÜR POLITISCHE BILDUNG POLIS 2012 Zeitung

und zur Eurokrise dargelegt. Wel -che verschiedenen politischen Be -wältigungsstrategien der Krisenstehen auf staatlicher Seite zurVerfügung? Was bedeuten dieausgehandelten Hilfspakete fürdie politische Union Europas?

Abschließend lenkt der Autorden Fokus auf die politisch-öko -nomische Bildung in der Lehrer -aus- und Lehrerfortbildung. Erkommt zu dem Schluss, dass öko-nomische Inhalte unbedingt eineauf den Politikunterricht zuge -schnittene Didaktik benötigen undunbedingt von wirtschaftswissen-schaftlichen Angeboten im Rah -men des betriebswirtschaftlichenoder volkswirtschaftlichen Stu -diums abzugrenzen sind. Dies hatdie Finanz-, Weltwirtschafts- undEurokrise in den letzten Jahrenein drucksvoll gezeigt, denn indiesem Rahmen sind die gegen -seitigen Abhängigkeiten von poli-tischen und ökonomischen Hand -lungsspielräumen sowie deren ge-sellschaftliche Bedeutung beson-ders deutlich geworden.

Das Buch richtet sich gleicher-maßen an Studierende des FachesPolitik und Wirtschaft wie auch anLehrerinnen und Lehrer im Vor - bereitungsdienst und an die Fach -kolle gen/innen in den Schu len.

Dem Buch ist anzumerken,dass Klaus Moegling weiß, wo voner schreibt. Als Fachleiter für Poli -tik und Wirtschaft und Lehrer mitjahrzehntelanger Berufs erfah rungberuhen seine theoretisch fundier-ten Ausführungen auch auf den ei-genen Erlebnissen und Tä tigkeiten.Seine Unterrichts um setzungensind dabei sehr kom plex und um -fassend, was ins be sondere Berufs -einsteigern eventuell das Gefühlgeben kann, dass eine solche Ar -beitsweise sie überfordert. Dies -bezüglich wäre eine zusätzlicheUnterrichtskonzeption mit ver -schiedenen Texten, Ar beits blättern,Karikaturen o.ä. zum Einstieg indiesem Band durch aus wünschens-wert. Nichts destotrotz muss esaber Ziel sein, dass projektorien -tierter und durch Schülerfragen ge-leiteter Unter richt Bestandteil desSchulalltags sind und werden.

Klaus Moegling leistet mit die -sem Buch einen wichtigen Bei tragzur aktuellen Diskussion der öko-nomischen Bildung. Ins beson deredie Kombination aus theoretisch-didaktischer Einbettung und – alle-samt erprobten – Praxis bei spielenmachen das Buch nicht nur lesens-wert, sondern auch zum Funduskonkreter Unterrichts konzepte.

Kerstin Otto

Politik sichtbar machen!

Wiebke Kohl/Anne Seibring(Hrsg.): „Unsichtbares“Politik programm. Themen -welten und politischesInteresse von „bildungs -fernen“ Jugendlichen(Schriftenreihe der Bundes -zentrale für politischeBildung, Band 1138), Bonn2012, 127 S., 1,50 EURO

„Rap-Musik kann eine wichtigeEinflugschneise politischer Bild -ung sein.“ (S. 59) Mit dieser kon-kreten didaktischen Schluss fol ge -rung bringen Marc Calm bach undSilke Borgstedt vom SINUS-Ins -titut Heidelberg ihre Studie zurLe benswelt und zum Milieu bil -dungsferner Jugend licher auf denPunkt (vgl. die Besprechung zudem Band: Wie ticken Jugend -liche. Düsseldorf 2011, in POLIS2/2012 S. 33). Die soziologischenBefunde zu diesem Teil-Milieuder Jugend lichen zwischen 14 und17 Jahren stehen im Zentrum deshier anzuzeigenden gehaltvollenBänd chens. Die beiden jungenHeraus geberinnen arbeiten in demseit 2007 aufgebauten Fachbe -reich „Politikferne Zielgruppen“der Bundeszentrale für politischeBildung, die sich konzeptionelloffensichtlich die qualitativeSINUS-Studie zur Grundlage ih-rer Arbeit gemacht hat. Elemen -tarisierung und Lebenswelt -orientierung kennzeichnen schlag-wortartig diesen Ansatz.

Die Aufsatzsammlung stelltsich bei näherer Lektüre als kleinaber fein heraus. Die insgesamtacht Beiträge sind in drei Teilegruppiert. Theoretische Artikelvon Hochschullehrern der Sozio -logie (Stefan Hardil; JürgenGerdes mit Uwe Bittlingmayer)führen gut verständlich in fach -wissenschaftliche Grundüber le -gungen zur Milieuforschung undzur demokratischen Partizipation

ein. Der zentrale Aufsatz vonAutoren aus dem SINUS-Institutvon Calmbach und Borgstedt fasstdie Ergebnisse und Schlussfol ge -rungen der oben angesprochenenStudie zu Lebenswelten von Ju -gendlichen unter besonderer Be -rücksichtigung von Angehö ri gendes sozial randständigen Milieusmit niedrigem Bildungs niveau zu-sammen. Die graphisch reichhal-tig mit zum Teil farbigen Schau -bildern und Fotos ausgestatteteBroschüre schließt mit fünf an -schaulichen Praxisberichten überpä dagogische Projekte mit dieserZielgruppe.

Der Band beschäftigt sich mitdem bedrängenden Problem, wieund durch welche Bildungs an ge -bote verhindert werden kann, dassdie bereits häufig konstatierte Po -litikdistanz, Demokratieskepsisund geringe Engagementbereit -schaft von Jugendlichen aus unte-ren sozialen Milieus weiteransteigt und in manifeste sozialeund politische Desintegration um-schlägt. (vgl. auch hierzu die Ver -öffentlichung: Frank Nonnen -macher und Benedikt Widmaier(Hrsg.): Unter erschwerten Be -dingungen. Politische Bildung mitbildungsfernen Zielgruppen,Schwalbach/Ts. 2012) Alle Au -toren des hier besprochenen Bu -ches gehen von der gut belegtenAnalyse aus, dass Interesse an ge-sellschaftlichen Themen bei bil -dungsfernen Jugendlichen durch-aus vorhanden ist. Beispielweisewerden Diskriminierungs er schei -nungen sensibel registriert, sozia-le Ungerechtigkeit wahrge nom -men und es existiert eine Pro -blem bewusstsein in Bezug auf dasmultikulturelle Zusammenlebenin Deutschland; aber – das ist dasVertrackte – diese Fragen werdenals unpolitisch verstanden. EinInteresse an Politikinhalten im en-geren Sinne (Parteien, Wahlen,Parlament) ist extrem gering.Politik ist für diese Jugendlichengleichsam verdeckt oder unent -deckt.

Die zentrale These diesesBandes ist: „Das politische Inter -esse und Potenzial jedenfallsschlummert in dieser Gruppe –wenn auch ‚unsichtbar‘“ (S. 79) –sowohl für sie selbst als auch bis-lang für die politische Bildung.Konstruktiv gewendet weist die -ser Ansatz darauf hin, dass zumBeispiel die Texte von Rap-Songsoder das subjektive Bedürfnis derJugendlichen nach ‚Respekt‘ An -satzpunkte politik-aufdeckenderBildung werden können.

Es leuchtet ein, dass das Ver -hältnis von sozialem und po liti -schem Lernen bei dieser Ziel grup -pe eine besondere Bedeutung be-

sitzt. Gerdes und Bittlingmayerverweisen nun überzeugend inihren Überlegungen einerseits da -rauf, dass demokratiepäda gogi -sche Ansätze dazu neigen, dieDifferenz zwischen Politik undGesellschaft zu unterschlagen,und andererseits politikdidakti -sche Fachpositionen die Tendenzzeigen, der Stärkung von Selbst -wirksamkeitsüberzeugungen fürdas politische Lernen einen zu ge-ringen Stellenwert einzuräumen.Das Autorenpaar plädiert vermit-telnd: „Insgesamt käme es aberdarauf an, eine pädagogischeÜbersetzung von sozialem undpolitischem Lernen konzeptionellzu verankern und damit ebennicht auf eine unorganisierte undunsystematische Arbeitsteilungvon Demokratiepädagogik undPolitikunterricht zu vertrauen,sondern ein integriertes Konzeptanzuvisieren, das es ermöglicht,verschiedene Kompetenzen(erfahrungsorientierte Handlungs -kompetenz, kognitive Sachkom -petenz, praktische Methoden kom -petenz und politische Parti zi pa -tionskompetenz) an ein und dem-selben Thema zu lernen.“ (S. 36)

Die fünf Berichte, die dieVeröffentlichung abschließen,skiz zieren Vorgehen und Resul ta -te von neuen Projekten aus dergan zen Bundesrepublik. Anregun -gen aus der Markenwerbung wer-den geprüft, Erfahrungen bei derPro duktion von politischen Un -terhal tungs formaten vorgestellt,die Herstellung von Kurzfilmendurch Jugendliche beschrieben,die Qualifizierung von Jugend -lichen für die Peer-to-Peer-Kom -munikation dargestellt und dieOrganisation von direkten Ge -sprächen zwischen Jugendlichenund politisch Verantwortlichenausgewertet. Alle Beispiele sindideenreich und inspirierend, aberüber methodisch belastbareevaluative Urteile zu Wirkungenerfährt man hier noch nichts.Auffällig ist auch, dass alle fünfvorgestellten Ansätze außerhalballgemeinbildender Schulenansetzen. Desto interessanter wirddeshalb eine Auseinandersetzungmit dem Projekt „VorBild“, indem an der PH Freiburg ein Kon -zept für die politische Bildung anFörderschulen entwickelt wird.Auch hier sollte sich die integrati-ve, lebensweltorientierte Po liti -sche Bildung bewähren können.[vgl. http://www.bpb.de/mediathek/vorbild/ undhttps://www.ph-freiburg.de/soziologie/forschung/projekte/vorbild.html ]

vO

33

Magazin

polis 3/2012

Wiebke Kohl / Anne Seibring (Hrsg.)

»Unsichtbares«Politikprogramm?Themenwelten und politisches Interesse

von »bildungsfernen« Jugendlichen

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Magazin

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Magazin

polis 3/2012

Vorpolitische politischeBildung

Benedikt Widmaier/FrankNonnenmacher (Hg.): Unterer schwerten Bedingungen.Politische Bildung mit bil -dungs fernen Zielgruppen.Schwalbach/Ts.:Wochenschau Verlag 2012,158 S., 19,80 EURO

Der auf der vorhergehenden Seitebesprochene Titel „UnsichtbaresPolitikprogramm“ und der hier an-zuzeigende Sammelband ergänzensich gut, aber überschneiden sichauch teilweise inhaltlich (vgl. zumThema auch den Thementeil desHeftes 3/2011 von POLIS). DieAuf satzsammlung mit 11 Bei trä -gen ist aus Vorträgen der Fach ta -gung „Politische Bildung unter er -schwer ten Bedingungen“ in derAka demie für politische und so zia -le Bildung „Haus am Maiberg“ derDiözese Mainz in Heppen heimher vorgegangen. Eine grö ßere An -zahl der Beiträge hat ihren Schwer -punkt im Bereich der So zialen Ar -beit und im außer schu li schenHand lungsfeld; im engeren Sinne

politikdidaktisch argumen tierendeAufsätze fehlen – sieht man ein -mal von Siegfried Schie les Aus -füh run gen (S. 77-88) zur Ele men -tarisie rung als neuer Stra tegie derpolitischen Bildung ab.

Die beiden Herausgeber zeich-nen in ihrer Einführung die Dis -kussion um politische Bildung mit„bildungsfernen Zielgruppen“ inDeutschland seit 2007 begrifflichgenau nach. Standen anfangs pla -ka tive Etikettierungen wie „abge -hängtes Prekariat“ im Vorder -grund, so wird von dieser Auto ren -gruppe nun im Anschluss an dieDiskus sion in der Sonder- undHeil päda go gik von „Bildung unterer schwer ten Bedingungen“ ge -spro chen und damit deutlicher so-ziale Benachteiligungen, physi scheund psychische Beeinträch ti -gungen und Mechanismen sozialerAusgren zung dieser Adres sa ten -gruppe akzentuiert.

Viele theoretische und prakti -sche Ansätze, die hier dokumen -tiert sind, belegen, dass Debattenund Konzeptentwicklungen aufdie sem Gebiet erst am Anfang ste -hen – gleichwohl aber von grund -sätzlicher Bedeutung sind. Wäh -rend beispielsweise das Frei burgerSoziologenteam aus dem Projekt„VorBild“ (Bittlingmayer/Gerdes/Schrai, S. 130-148) für eine „vor -po litische politische Bil dung“ anFör derschulen argumentieren, er -hebt Albert Scherr in seinen grund -sätz lichen pädago gi schen Überle -gun gen (S. 62-76, hier S. 73) Ein -wän de gegen Posi tionen, die all -tags weltliches Ler nen als notweni-ge oder hin rei chende Vorausset -zung politischer Bildung ansehen.Ganz zugespitzt formuliert Sieg -fried Schiele die Herausforderungso: Man hätte bisher in der Bun des - re publik nicht mehr als eine „eli tä -re politische Bildung“ aufgebaut:„Es gibt keine Breitenarbeit politi -scher Bildung“ (S. 87). vO

POLIS 4/2012

Politische Bildung mit

Migrantinnen und Migranten

(erscheint am 22.12.2012)

POLIS 1/2013

Menschenrechte und

Menschenrechtsbildung

(erscheint am 1.4.2013)

POLIS 2/2013

Kritische Politische Bildung(erscheint am 1.7.2013)

POLIS 3/2013

Professionalisierung in der

Politischen Bildung

(erscheint am 01.10.2013)

VORSCHAU

Liebe Leserinnen und Leser,haben Sie Wünsche und Vorschläge für zukünftige Heftthemen?Unten finden Sie die Planung für die kommenden Hefte. WollenSie selbst einen Beitrag schreiben? Reizt es Sie, auf einen bereitserschie nenen Beitrag zu antworten? Oder: Möchten Sie einfachnur Ihre Kritik an einem veröffentlichten Artikel übermit teln? In jedem Fall: Schreiben Sie an die Redak tion: 36100 Petersberg, Igelstück 5a, [email protected].

POLISReport der Deutschen Vereinigung für Politische BildungHerausgegeben von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung durch den Bundesvorsitzenden Prof. Dr. Dirk Lange(www.dvpb.de) 16. Jahrgang 2012

Leitende RedakteurinDr. Martina TschirnerIgelstück 5a36100 PetersbergTel.: 0661 9621133

VerlagWochenschau VerlagDr. Kurt Debus GmbHAdolf-Damaschke-Straße 1065824 Schwalbach/Ts.www.wochenschau-verlag.de

RedaktionDr. Martina Tschirner (V.i.S.d.P.)Prof. Dr. Tim EngartnerProf. Dr. Klaus-Peter HuferDr. Herbert KnepperProf. Dr. Dirk LangeHans-Joachim von OlbergProf. Dr. Bernd OverwienProf. Dr. Armin Scherb

Verantwortlicher Redakteur für diese AusgabeProf. Dr. Dirk Lange

Verantwortlich für die Verbandspolitische RundschauProf. Dr. Armin Scherb

HerstellungSusanne Albrecht-Rosenkranz, Opladen

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AbonnentenbetreuungTel.: 06196 860-65Fax: 06196 [email protected]

DruckGörres-Druckerei und Verlag GmbH

Erscheinungsweise4 Hefte jährlich.

PreiseEinzelheft: 6,80 € zzgl. Versandkosten. Standardabonnement: 22,80 € zzgl. Versandkosten. In den (Inlands-)Bezugspreisen sind 7% Mehrwertsteuer enthalten.

AnzeigenpreisePreisliste Nr. 1 vom 1. Januar 2012

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Bildnachweise für die Fotos in den Beiträgen: Alle Fotos vom Bundeskongress (S. 11, 12, 14, 15, 17, 20, 23, 25, 26, 27): bpb / Christian Plähn • S. 8 /10: Hannes Macher • S. 22: „Freistil Fotografie“ • S. 9: Jürgen Bauer

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