Reportage: Äthiopien - ein Land macht Schule

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Nr.1/März 2011 «Ohne Lehrer geht es nicht.» Auf Schulbesuch bei Derarto (9) und Kamal (13) im äthiopischen Hochland. Menschen Wir helfen

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Kein anderes Land auf der Welt macht solche Fortschritte bei der Einschulung von Kindern wie Äthiopien. Zur Jahrtausendwende konnte nur gerade eines von drei Mädchen im Land die Schule besuchen. Heute sind es bereits mehr als drei Viertel. Bis alle Kinder Zugang zu einer qualitativ guten Schule erhalten, bleibt dennoch viel zu tun. (Reportage: Caritas Magazin, 1/2011)

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Nr.1/März 2011

«Ohne Lehrer geht es nicht.»Auf Schulbesuch bei Derarto (9) und Kamal (13) im äthiopischen Hochland.

MenschenWir helfen

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ÄthioPien: ein land macht SchuleKein anderes Land auf der Welt macht solche Fortschritte bei der Einschulung von Kindern wie Äthiopien. Zur Jahrtausendwende konnte nur gerade eines von drei Mädchen im Land die Schule besuchen. Heute sind es bereits mehr als drei Viertel. Bis alle Kinder Zugang zu einer qualitativ guten Schule erhalten, bleibt dennoch viel zu tun.

Text: Stefan gribiBilder: Andreas Schwaiger

«Dramatisch» und «beispiellos» sei die Aus-weitung des äthiopischen Schulsystems, schreibt Jakob Engel. Der Wissenschafter am renommierten britischen Overseas De-velopment Institute belegt seine Einschät-zung mit Zahlen: Zwischen 1994 und 2008 sei die Zahl der Kinder, die eine Primarschule besuchen, von drei auf 15 Millionen ange-stiegen. In einem Land, in welchem die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung An-alphabeten sind, können heute 80 Prozent der Kinder eine Primarschule besuchen. Dass Äthiopien eine nicht nur schnelle, sondern auch «sozial gerechte Ausweitung des Schulzugangs» aufweise, führt Engel vor allem auf das starke Engagement der Regierung zurück. In den letzten 15 Jahren habe sie die Ausgaben für die Bildung von 8,2 auf 23,6 Prozent des Staatsbudgets ge-steigert.

Schulbesuch statt HeiratAuch die elfjährige Musteria ist seit letztem Herbst eine stolze Primarschülerin. Dabei trägt sie als Mädchen, als Kind einer armen Bauernfamilie, wohnhaft in einer abgelege-nen Region des äthiopischen Hochlandes, alle Risiken, ohne Schulbildung zu bleiben. Hier geht die Mitarbeit zuhause und auf dem Feld oft der Schule vor. Mit elf ist Mus-teria in einem Alter, in dem manche arme Familie bereits eine Heirat arrangiert. Jun-gen werden generell bevorzugt, und da sie bald in die Pubertät kommt, würden man-che Eltern das Mädchen zum Schutz zu-hause behalten.

Doch Musteria profitiert von der Gunst der Stunde: Zusammen mit ihren zwei jün-geren Geschwistern Derarto (9) und Chala (7, Bild links) haben die Eltern sie sozu sagen im Multipack eingeschult. «Ich habe mich nie danach zu fragen getraut. Aber ich war sehr glücklich, als meine Eltern mir sagten, dass ich in die Schule gehen kann», sagt Musteria. Darauf hoffen durfte sie, weil ihr Bruder Kamal (13) bereits zwei Schuljahre absolviert und sich dort als cleverer Schüler hervorgetan hatte. Auf die Frage, was sie denn bewogen habe, die Kinder zur Schule zu schicken, antwortet ihre Mutter Nuria: «Ich will, dass sie sich später selbst helfen können. Sie sollen nicht ungebildete Bauern

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bleiben wie wir.» Nein, sie rechne nicht damit, dass die sieben Kinder im Dorf blie-ben. Um sich eine Existenz aufzubauen, müssten sie wegziehen, meint sie. Und dies ist nicht uneigennützig: Die Eltern erhoffen sich von einem erfolgreichen Werdegang ihrer Kinder auch, dass sie im Alter auf ihre Unterstützung zählen dürfen.

Das Land wird zu klein«Die Bauernfamilien merken, dass sie ihre Kinder in die Schule schicken müssen, weil ihre Felder zu klein geworden sind», sagt Tafesse Sisay, Verantwortlicher für Bildung

und Gesundheit des Hararghe Catholic Sec-retariat (HCS), der Partnerorganisation von Caritas Schweiz in Ostäthiopien. In der Fa-milie von Musteria ist die Rechnung schnell gemacht: Der Vater besitzt Land, das mit einem Ochsen in vier Tagen gepflügt werden kann. Das ist hier das traditionelle Flächen-mass. Umgerechnet ist das eine halbe Hek-tare Land. Die Familie baut hauptsächlich Sorghum an, das hirseähnliche Hauptnah-rungsmittel, sowie etwas Mais, Süsskartof-feln und Bohnen. Für eine nachhaltige Selbst-versorgung, die auch trockene Jahre zu überbrücken vermag, bräuchte es ein Mehr-

faches an Boden. Eine Teilung des Landes für die Kinder der Familie macht keinen Sinn mehr, schon gar nicht durch sieben.

Auch die Regierung trägt das Ihre dazu bei, dass die Kinder zu Schule gehen. Zum Beginn des laufenden Schuljahres hat sie eine Kampagne gestartet. Eltern werden jetzt von Lehrerinnen und Lehrern oder Vertre-tern der Gemeinde besucht, um sie davon

Bild: Musteria und Kamal holen frühmorgens an der Quellfassung je 20 Liter Wasser für die ganze Familie.

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Wer seine Kinder nicht in die Schule schickt, wird aufs Gemeindebüro vorgeladen.

Bild: Mutter und Vater hoffen, dass die Schule den Kindern eine bessere Zukunft eröffnet.

Somaliland

Eritrea

Kenia

Sudan

AddisAbeba Karamile

Jemen

Somalia

Dire Dawa

Aksum

Äthiopien

zu überzeugen, dass sie ihre Kinder in die Schule schicken sollten. Wer das nicht tut, wird aufs Gemeindebüro vorgeladen, ein sanfter Druck, den eine Bauernfamilie schon als sehr unangenehm empfindet. Auch wenn sie ihren freien Entscheid betonen, hat diese Perspektive bei den Eltern von Musteria wohl mit dazu beigetragen, dass sie auch die anderen Geschwister im Schulalter mit-schickten. «Und nächstes Jahr wird Meha-buba zur Schule gehen», sagt Mutter Nuria mit sichtlichem Stolz. Kaum zu glauben, dass das kleine Mädchen schon so weit ist. Die Fünfjährige scheint gar nichts dagegen zu haben und strahlt über das ganze Gesicht.

Wasser holen am frühen MorgenMusteria und ihre drei Geschwister besuchen die St. Joseph-Schule in Karamile. Bevor sie an diesem kühlen Morgen im November losziehen, haben sie wie immer Arbeiten zu erledigen. Derarto holt die zwei Kühe und die Ziegen aus dem Stall. Dieser ist im Wohnhaus untergebracht und ausschliess-lich durch die gleiche Türe zugänglich wie das Wohn- und Schlafzimmer. Die Tiere sind hier vor Hyänen und Wildkatzen geschützt, die nachts die Gegend durchstreifen. Und sie geben Wärme ab für die Familie, denn in der Höhenlage von 2000 Metern über Meer kann es empfindlich kalt werden. Musteria hilft in der Rundhütte neben dem Wohnhaus beim Kochen auf offenem Feuer. Es gibt einen Brei aus kürzlich geernteten Bohnen zum Frühstück. Kamal und Chala haben heute den Job, Wasser zu holen. Eine Drei-viertelstunde sind sie unterwegs, hin und

zurück zur Quellfassung. Je zwanzig Liter tragen sie nach Hause, das siebenjährige Mädchen in einem Container, den es mit einem Tuch auf dem Rücken festbindet, der Junge verteilt auf zwei Container in der Hand.

Nun ist es Zeit, in die Schule aufzubre-chen. Niemand in der Familie hat eine Uhr. «Wir schauen auf den Sonnenstand», erklärt

Vater Abdi. Der Schulweg führt die vier Kinder auf einem abschüssigen, stellenweise schwer begehbaren Pfad durch Felder, He-cken und über Gräben und Bäche, vorbei an den verstreuten Häusern. Hefte und Bücher unter dem Arm schlagen sie leichtfüssig ein Tempo an, bei dem selbst geübte Wanderer ins Hintertreffen zu geraten drohen. Sie legen die zweieinhalb Kilometer den Berg

hinunter in zwanzig Minuten zurück. Am Abend brauchen sie eine Viertelstunde län-ger, denn ihr Haus liegt rund 200 Meter höher als die Schule.

Mehr als eine Stunde zu FussVon allen Seiten stossen immer mehr Kinder dazu. Es ist acht Uhr, als die vier Geschwis-ter auf dem Schulhof eintreffen. 400 Schüler

stellen sich nun klassenweise in sechs Rei-hen ihrer Körpergrösse nach auf und singen die Hymne der Region Oromiya. Dann marschieren sie auf Kommando in die sechs Klassenzimmer. Die beiden ersten Klassen

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zählen je 110 Kinder, die beiden zweiten je 42, die dritte Klasse 76 und die vierte 31. Einige Nachzügler treffen verspätet ein. «Sie wohnen etwas weiter weg», erklärt Schul-direktor Berhun Gebreselassie nachsichtig. Die Nachfrage ergibt, dass sie mehr als eine Stunde zu Fuss von zuhause in die Schule unterwegs sind.

67 Kinder pro KlasseDie St. Joseph-Schule zählt zu den acht von HCS geführten ländlichen Schulen in Ost-

äthiopien, die Caritas Schweiz im Rahmen ihrer Kinderpatenschaften finanziert. Die Schule platzt für europäische Augen aus allen Nähten, kommt aber auch für äthio-pische Verhältnisse an ihre Kapazitätsgren-zen. «Die Regierung schreibt eine durch-schnittliche Klassengrösse von maximal 65 Schülern vor, bei uns sind es dieses Jahr 67», sagt der Schuldirektor.

Dass er nicht nur der Namensvetter des in Äthiopien als Held verehrten Marathon-Weltrekordhalters Haile Gebreselassie, son-

Argaw Fantu ist Verantwortlicher für Bildung beim Ethiopian Catholique Secretariat ECS (Caritas Äthiopien)

Äthiopien wird oft als Beispiel zitiert, wie arme Länder die Schulbildung von Kin-dern massiv verbessern können. Sie wa-ren über 20 Jahre selbst Lehrer. Was hat sich in dieser Zeit verändert?Der Bedarf an Bildung ist enorm gestiegen. Für die Entwicklung unseres Landes braucht es qualifizierte Berufsleute und Arbeitskräfte. 1994 hat die Regierung eine Bildungsreform gestartet, mit dem Ziel, dass alle Kinder in Äthi-opien zur Schule gehen können. Es wurden – auch mit internationalen Hilfsgeldern – sehr viele neue Schulen gebaut.

Wie viele Kinder gehen denn heute zur Schule?Rund 80 Prozent aller Kinder ab sieben Jahren gehen zur Schule, und zwar fast gleich viele Mädchen wie Buben. Das ist noch nicht genug. Zum Anfang des jetzt laufenden Schuljahres hat die Regierung eine weitere Offensive ge-startet. Die Dorfgemeinschaften sind aufgefor-dert, dafür zu sorgen, dass kein schulpflichti-ges Kind während der Unterrichtszeit im Dorf behalten wird. Dieser soziale Druck auf die El-tern zeigt Wirkung. In abgelegenen ländlichen Gegenden fehlt es aber nicht nur am Bewusst-sein der Eltern, sondern nach wie vor an der Schulinfrastruktur.

Wie beurteilen Sie die erreichten Fort-schritte?Mehr Schulen bedeuten nicht automatisch eine bessere Qualität der Schulbildung. Ein grosses Problem liegt darin, gut ausgebildete, moti-

vierte Lehrerinnen und Lehrer zu finden. Der Beruf war lange Zeit wenig angesehen in der Gesellschaft. Die Regierung hat nun aber die Gehälter angehoben und in die Verbesserung der Ausbildung investiert. Es gibt heute 13 Uni-versitäten im Land, und alle bilden Lehrerinnen und Lehrer aus. Die Studiengebühren sind tie-fer angesetzt als in anderen Fächern. Die Zahl der ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer steigt durch diese Massnahmen, aber nicht gleich schnell wie die Zahl der Schülerinnen und Schüler.

Reicht der Lohn einer Lehrperson, um eine Familie zu ernähren?Nur ganz knapp, je nach Region gar nicht. Der Einstiegslohn beträgt 800 Birr (46 Franken) im Monat. Die Familien müssen also noch zusätz-liche Einkommensquellen haben. Im Übrigen sind die Preise sehr stark angestiegen letztes Jahr.

Ist Lehrer ein Männerberuf in Äthiopien?Auf der Primarschulstufe nicht mehr, da gibt es inzwischen gleich viele Frauen wie Männer, die

unterrichten. Auf den oberen Stufen ist der An-teil der Männer dagegen höher.

Was ist der Beitrag der katholischen Kir-che?Die Regierung hat viel erreicht, aber sie ist nicht in der Lage, so viele Schulen zu führen, wie Äthiopien braucht. Daher sind kirchliche Schulen willkommen. Unsere Schulen folgen dem Lehrplan der Regierung und die Qualität wird ständig überprüft. Die katholischen Schu-len haben eine lange Tradition. Wir führen 320 Schulen für über 150 000 Kinder im ganzen Land.

Was sind die Zukunftsperspektiven der Kinder, die nun von einer verbesserten Schulbildung profitieren?Die Begabtesten gehen an die Universitäten, die heute in allen Regionen existieren. Das Ausbildungssystem setzt aber bereits ab der 5. Klasse auch auf praktische Kenntnisse und bietet nach der 10. Klasse Berufslehren an. Die jungen Leute werden animiert, eigene Ge-schäfte zu eröffnen. Dadurch beginnt sich die Beschäftigungslage zu verbessern. Die Jungen schaffen ihre eigenen Arbeitsplätze.

Wandern viele gut gebildete junge Leute ins Ausland aus?Ja, das ist ein Problem. Im Ausland gibt es gut bezahlte Jobs. Es gibt aber auch die umge-kehrte Entwicklung. Gerade für die Lehreraus-bildung sind viele gut Gebildete auf Einladung der Regierung nach Äthiopien zurückgekom-men. Jetzt, wo unser Land politisch stabiler ist, ist die Rückkehr für viele eine Option.

Argaw Fantu

lehrerBeruf wird attraktiver gemacht

dern auch selbst flink zu Fuss ist, zeigt sich auf dem Weg in die auf kleinen Wegen über Stock und Stein in einer halben Gehstunde erreichbaren staatlichen Primarschule. Der befreundete Leiter dieser Schule zeigt mit besorgtem Gesicht die Klassenzimmer. Dabei wird klar, dass das äthiopische Schulwun-der zuallererst ein quantitativer Erfolg ist. Die halbe erste Klasse sitzt hier auf dem Erdboden, die andere Hälfte auf wackligen Bänken, Tische gibt es erst ab der dritten Klasse. Eine Aufgabe zwischen Herkules

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und Sysiphos, hier einen erfolgreichen Un-terricht zu gestalten. «Wir haben Pulte und Bänke für alle Kinder, und der Fussboden ist mit Fliesen belegt. Zudem schätzen die Eltern die gute Qualität unseres Unter-richts», unterstreicht Schuldirektor Gebre-selassie auf dem Rückweg.

Viel mehr als FrontalunterichtInzwischen ist in der St. Joseph-Schule die dritte Schulstunde angebrochen. In der Klasse von Kamal sitzen immer sechs Schü-lerinnen und Schüler zusammen und stecken die Köpfe in ihre Bücher. «Sie lösen Rech-

nungen als Gruppenarbeit», erklärt der Schuldirektor. Natürlich geht es bei dieser Klassengrösse nicht ohne Frontalunterricht und das Memorieren von Vokabeln im Chor, aber moderne pädagogische Metho-den haben den Weg längst auch in diese ab-gelegene Region gefunden. Auch Sport wird

regelmässig betrieben, anders wäre der Un-terricht mit so vielen Kindern kaum durch-führbar. Die Schule versucht die Kinder so

gut wie möglich zu aktivieren. In Clubs be-schäftigen sie sich mit Themen wie der Um-

welt, mit Hygiene, mit dem Schutz vor Aids. Die Clubmitglieder haben die Aufgabe, den anderen Kindern an der Schule diese Anlie-

Moderne pädagogische Methoden haben den Weg längst auch in diese abgelegene Region gefunden.

Bild: Die Erstklässler beim Sportunterricht auf dem Schulhof. Ohne Bewegung geht es bei solchen Klassengrössen nicht.

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gen als Botschafter näherzubringen. Kamal besucht den Frage-und-Antworte-Club, eine Art Lernclub für besonders Begabte.

Unterrichtet wird in Karamile in der lokalen Sprache Oromifa. Das war nicht immer so. Bis in die 1990er-Jahre war die Schulsprache in Äthiopien Amharisch. Die neue Regierung hat mit der Schulreform

eingeführt, dass die jeweilige Regionalspra-che im Unterricht zu gebrauchen ist. Das hatte nicht nur bildungspolitische Gründe. Das Regime sichert sich mit dieser Konzes-sion an die stark ethnisch orientierten poli-

tischen Kräfte der Regionen ihre Macht ab. Hinter vorgehaltener Hand sehen manche Eltern darin aber einen Nachteil für ihre Kinder. Zwar lernen sie ab der ersten Klasse Englisch, Amharisch aber erst ab der fünf-ten Klasse. Dabei ist die Sprache mit dem eigenen Alphabet in den grossen Städten dominant und ist für die Verständigung in einem Land, in dem 80 Sprachen gespro-chen werden, von grosser Bedeutung.

nach der Schule wird gearbeitetAm Mittag wird die Schulglocke geschla-gen, die weit über das hügelige Land hin-weg zu hören ist. So wissen die Eltern, dass ihre Kinder nun auf dem Heimweg sind. Zuhause wartet viel Arbeit auf sie: Nun ist Musteria an der Reihe, zusammen mit ihrem

Unterrichtet wird in Karamile in der lokalen Sprache Oromifa.

Bild links: Nicht nur Frontalunterricht: Schuldirektor Berhun Gebreselassie zeigt einen von Schülern gebastelten Zählrahmen.

Bild: Englisch ist eines der Lieblingsfächer der elfjährigen Erstklässlerin Musteria.In Äthiopien kann an jeder Ecke Latte mac-

chiato bestellt werden. Wer das als Jux der Globalisierung interpretiert, liegt falsch. Der Milchschaum geht auf die italienische Besat-zung in den 1930er-Jahren zurück. Und so-wieso war es Äthiopien, das die Welt vor Tau-send Jahren mit der Entdeckung des Kaffees bereicherte.

Äthiopien ist ein Land mit grossem histori-schem und kulturellem Reichtum: Hier lebten vor über drei Millionen Jahren sehr wahr-scheinlich die ersten Vorfahren der Menschen. Die Ruinen von Aksum, die Felsenkirchen von Lalibela und die Stadt Harar zählen zum Welt-kulturerbe der Unesco.

Neben Liberia ist Äthiopien das einzige Land Afrikas, das nie kolonisiert wurde. Dies prägt bis heute das Selbstbewusstsein der Äthiopierinnen und Äthiopier.

Selbstbewusstes Äthiopien

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Bruder Derarto Wasser zu holen. Und eini-ges mehr steht für die Kinder an: die Tiere hüten, Brennholz sammeln, für die kleinen Geschwister sorgen, beim Kochen helfen, auf dem Feld mitarbeiten. Das Sorghum steht in voller Reife. Die Ernte wird dieses Jahr gut ausfallen. «Es macht mich glück-lich, die Felder so zu sehen. Es ist das Re-sultat von harter Arbeit», sagt Vater Abdi. Letztes Jahr ist die Ernte wegen zu geringem Regen fast vollständig ausgefallen, die Ge-gend wurde zur Hungerregion und die Men-schen konnten nur dank Nahrungsmittel-hilfe überleben.

Die St. Joseph-Schule liegt nahe an der Hauptstrasse. Der Schuldirektor zeigt die Hügel hinunter, in die mittleren Lagen, die schlecht erschlossen sind. Dort gibt es zur-

hÄnde waSchen alS Schulfach

Hände waschen mit Seife ist wichtig. Kinder lernen in der Schule spielerisch, was es für eine gute Hygiene zu beachten gilt. Caritas Schweiz bildet die Partnerorganisation, Leh-rerinnen und Lehrer sowie Mitglieder der dörf-lichen Schulbehörden für diese Kurse speziell aus. Das Konzept für dieses Hygienetraining hat Caritas Schweiz in ihren Projekten in So-maliland entwickelt. Für das Problem, dass sich viele Familien keine Seife leisten können, gibt es im äthiopischen Hochland eine ein-fache Alternative: Die Menschen waschen sich ihre Hände mit den Beeren der Endod-Pflanze, die auch dafür berühmt ist, dass sie Kleider – besonders auch weisse – blütenrein wäscht.

Bild: Vater Abdi hilft einem Nachbarn bei den Bauarbeiten für ein neues Haus.

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zeit noch gar keine Schulen. Die Regierung hat noch viel zu tun. Dennoch, die Vision, dass in Äthiopien alle Kinder zur Schule gehen können, scheint ihm nicht unrealis-tisch: «Wenn es in diesem Tempo weiter-

geht, dann schaffen wir es vielleicht sogar bis 2015, so wie es die Uno möchte.»

Für den Bildungsexperten Tafesse Sisay ist das der richtige Weg für Äthiopien: «Schulbildung ist der Schlüssel für die ganze Entwicklung. Die Stärkung der Frauen, die

Familienplanung, die Verbesserung der Hy-giene, der Kampf gegen HIV: All das kön-nen wir nur voranbringen, wenn die Men-schen hier eine bessere Bildung haben.» Und er bringt seiner Hoffnung Ausdruck, dass

die Spenderinnen und Spender in Europa ihr Interesse an dieser unspektakulären Form der Hilfe für Äthiopien nicht verlieren. Für Musteria und ihre Geschwister ist die Schule jedenfalls enorm wichtig. Dass sie alle sich wünschen, später einmal Lehrerin oder Leh-

rer zu werden, mag daran liegen, dass sie kaum andere Vorbilder haben. Ihr Land könnte sie für diese Aufgabe allemal gut einsetzen. <

«Schulbildung ist der Schlüssel für die ganze Entwicklung.»

Bild: Derarto hütet nachmittags die Kühe. Auch heute werden immer noch Kinder den ganzen Tag zuhause für Arbeiten eingespannt.