Rerum novarum

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Rerum novarum. Vortrag von Ivo Muser. Presseempfang Raiffeisenverband Südtirol. Aprill 2011

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Presseempfang 14.04.2011 Dr. Ivo Muser, Domdekan in Brixen

RERUM NOVARUM Anstoß zur Verbreitung der Raiffeisengenossenschaft en in Tirol Als Papst Pius IX. am 7. Februar 1878 starb, endete nach mehr als 32 Jahren das

bis jetzt längste Pontifikat der Kirchengeschichte. Das Konklave zur Wahl eines

Nachfolgers war auf den 18. Februar angesetzt. Dazu ist eine sympathische

Anekdote überliefert. Als Kardinal Vincenzo Gioacchino Pecci mit seinen 68 Jahren

ins Konklave einzog, stützte er sich auf einen Stock, um den übrigen 60

Papstwählern zu signalisieren: Wenn ich gewählt werden sollte, dann bin ich ein

Übergangspapst. Als er 36 Stunden später das Konklave als Leo XIII. verließ, da

schwang er den Stock. Und er schwang ihn mehr als 25 Jahre lang. Kein Papst in

der gesamten Kirchengeschichte wurde so alt wie er. Als er am 20. Juli 1903 im Alter

von 93 Jahren starb, ging das bis jetzt drittlängste Pontifikat zu Ende, nach dem

bereits erwähnten Pius IX. und nach Johannes Paul II., der es auf fast 27 Papstjahre

brachte, der uns allen noch ganz lebendig in Erinnerung ist und der am 1. Mai, nur

sechs Jahre nach seinem Tod, selig gesprochen wird.

Leo XIII. wurde am 2. März 1810 im Städtchen Carpineto unweit von Rom als Sohn

einer Landadelsfamilie geboren; er war eine hochgebildete Persönlichkeit, von der

Ausbildung her ein glänzender Jurist, Nuntius in Belgien und dann bis zu seiner Wahl

zum Nachfolger Petri Erzbischof von Perugia. Er hat 86 Enzykliken veröffentlicht. Die

bekannteste unter ihnen ist Rerum novarum, die als „Mutter der Sozialenzykliken“ in

die Kirchengeschichte eingegangen ist. Veröffentlicht wurde sie am 15. Mai 1891 –

also vor bald 120 Jahren. Rerum novarum gibt die Initialzündung zur Soziallehre der

Kirche. Das ist die Lehre darüber, wie Christen ihr Zusammenleben in der

menschlichen Gesellschaft verstehen, einrichten und ordnen sollen; wie Christen

sich in die Gesellschaft einbringen können und wie sie sich als große oder kleine

gesellschaftliche Gruppen, aber auch als einzelne der Gesellschaft gegenüber

verhalten sollen.

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In welchem geschichtlichen Kontext entsteht dieses päpstliche Schreiben zur

„Arbeiterfrage“?

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führten radikale Veränderungen auf politischem,

wirtschaftlichen und sozialen Gebiet, besonders in Wissenschaft und Technik, zu

einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft. So lange die Welt steht, haben die

Menschen arbeiten müssen und haben gearbeitet, aber erst das 19. Jahrhundert hat

im Zusammenhang mit der Industrialisierung das rechtlich freie, tatsächlich aber

unfreie Lohnarbeitsverhältnis als Massenerscheinung hervorgebracht. „Proletariat“

nannte man damals diese wachsende neue gesellschaftliche Gruppe, für die der

rechte Platz oder eine sinnvolle Eingliederung in die menschliche Gesellschaft noch

nicht gefunden war, die in drückender Not und ständiger Daseinsunsicherheit lebte,

ohne Aussicht auf Besserung ihrer Lage. In unseren Breiten kennt man die Lage der

Arbeiterschaft von damals nicht mehr und kann sich kaum noch in sie hineindenken.

Für die damalige Zeit, die Zeit des noch völlig ungebändigten Liberalkapitalismus,

war Rerum novarum nicht nur aktuell und modern, sondern eilte ihr in vielen Stücken

voraus. Für die Entwicklungsländer ist das alles heute noch aktuell. Vielleicht sollten

wir Rerum novarum mit deren Augen lesen und würdigen.

Nur auf drei, besonders wichtige und markante Anliegen dieser Enzyklika kann ich

jetzt eingehen:

1. Lohngerechtigkeit. Die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbarte

Lohnhöhe ist für Papst Leo nicht, wie die liberalen Ökonomen damals behaupteten,

schon deshalb gerecht, weil sie „frei“ vereinbart ist, weil der Arbeitnehmer ihr also

aus „freien“ Stücken zugestimmt hat. Das trifft die Realität nicht, sagt der Papst. Der

Arbeitnehmer ist nicht frei, in ein Lohnarbeitsverhältnis einzutreten oder nicht; er ist

zwingend darauf angewiesen. Noch mehr: solange er, um zu leben und seine Familie

zu erhalten, nichts anderes als seinen Lohn hat, muss der Lohn dafür ausreichen. So

gebietet die Gerechtigkeit den „Lebenslohn“, eben einen Lohn, von dem man leben

kann. Gerechter Lohn sei „allerwichtigste Pflicht der Arbeitgeber“ und ein Verstoß

dagegen sei ein „großes Verbrechen, das um Rache zum Himmel schreit“ (RN 17).

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Gewalt und Aufstand als Mittel zur Lösung der Arbeiterfrage verurteilt der Papst

scharf; die Ablehnung der marxistischen Gesellschaftstheorie durchzieht das ganze

Schreiben. Aber gleichzeitig schärft er den Arbeitgebern ein, Sorge zu tragen, dass

die Arbeiter nicht zu Gewalt und Aufstand greifen: Die Arbeitgeber müssen die

Arbeitnehmer würdevoll achten und behandeln; sie dürfen nicht nur zur Mehrung des

Reichtums benutzt oder an ihrer physischen Leistung allein gemessen werden.

Schutz und Rücksicht auf Wohlergehen, Alter und Geschlecht seien erforderlich (RN

16). Für die damalige Zeit waren solche Forderungen alles andere als

selbstverständlich.

2. Koalitionsrecht der Arbeiter. Die Möglichkeit, dass Arbeiter sich zu

Interessensgruppen zusammenschließen, war damals alles andere als

selbstverständlich; nicht gefördert, nicht erwünscht, oft sogar ausdrücklich verboten!

Leo dagegen fordert das Koalitionsrecht als ein Menschenrecht, das jedem

Menschen zukommt und niemandem entzogen werden darf; durch den

Zusammenschluss sollen die Arbeiter erstarken (RN 38). In dieser Frage ist Leo

ganz klar, auch wenn er den Unterschied zwischen Arbeiterverein, Genossenschaft

und Gewerkschaft noch nicht klar erkennt und benennt. Auf jeden Fall entstanden in

der Folge viele christlich soziale Bewegungen, die das Genossenschaftswesen als

besonders geeignetes Instrument zur Linderung von Not und zur konkreten Hilfe für

Menschen förderten. Durch Rerum novarum kamen sich in dieser Frage auch die

sonst streng getrennten christlichen Konfessionen näher. So konnten zum Beispiel

die Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der ein überzeugter evangelischer Christ

war, von Katholiken geteilt und übernommen werden. Nicht zuletzt Priester haben

solche Genossenschaften gegründet. In kürzester Zeit entstanden allein auf dem

Gebiet des heutigen Südtirols 45 Raiffeisenkassen, angefangen bei der ersten

Raiffeisenkasse in Welschellen. Priester wirkten oft im Vorstand oder im Aufsichtsrat

mit.

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3. Die Rolle des Staates. Damals wurde auch unter den Katholiken die Frage sehr

kontrovers besprochen, ob der Staat befugt sei, durch Schutzgesetze und

Maßnahmen von der Art der Sozialversicherung zugunsten benachteiligter

gesellschaftlicher Gruppen einzugreifen. Rerum novarum entscheidet, dass der Staat

dazu nicht nur das Recht habe, sondern die Pflicht! Der Staat müsse durch seine

Gesetzgebung, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist, die Menschenwürde, das

Privateigentum, die Sonntagsruhe, die vereinbarten Arbeitsverträge, besonders für

Frauen und Kinder, die Lohngerechtigkeit schützen, allerdings ohne dabei die

Handlungsfreiheit des Einzelnen, der Familien, aber auch der kirchlichen

Einrichtungen zu missachten (RN 28). Der Staat dürfe nie vergessen, dass der

Mensch und die Familie älter seien als er selbst (RN 6; 9). Den

Arbeitgeberverbänden räumt der Papst auch eine naturgegebene und notwendige

Rolle ein, die vom Staat anerkannt werden müsse, jedoch nicht über der des Staates

liegen dürfe.

120 Jahre danach – was bleibt von Rerum novarum?

Selbstverständlich ist auch dieses Dokument ein zeitgebundenes. Es will vor allem

jene Lösungen zurückweisen, die der Liberalismus und die marxistische

Gesellschaftslehre in der „Arbeiterfrage“ vertraten und vorschlugen. Vor allem wird

auch die sozialistische Eigentumslehre verworfen. Manche werfen dieser Enzyklika

auch vor, dass sie zu spät gekommen sei.

Vieles, was Papst Leo anprangert, verurteilt, beklagt, fordert und empfiehlt, ist für uns

längst selbstverständlich geworden; ja es bleibt hinter dem, was heute

selbstverständlich ist, zurück. Darin aber finden sich Aussagen von bleibender

Aktualität; einer Aktualität, die es gilt, in das Heute zu übersetzen. Ich kann es hier

nur mit Stichworten sagen: Das Subsidiaritätsprinzip, gerade auch als

entscheidendes Kriterium für das Genossenschaftswesen, menschliche Würde vor

jeder Form der Produktivität, menschliche Freiheit, Lohngerechtigkeit, Recht auf

Mitbestimmung und Mitsprache der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen; die Gesetze

des Marktes, der Wirtschaftlichkeit, der Effizienz, der Profitsteigerung, die sicher

auch legitim sind, dürfen nicht die einzigen Kriterien sein und vor allem sich nicht

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verselbständigen oder absolut gesetzt werden. Das Kapital muss im Dienst der

Menschen stehen und nicht umgekehrt. Die christlichen Wurzeln und Werte haben

eine große, verbindende Bedeutung – gerade auch für Gesellschaft, Wirtschaft,

Arbeiterfrage und Zusammenleben der Menschen.

Es lohnt sich noch heute, dieses päpstliche Schreiben zu lesen und auszuwerten.

Dieses Dokument des 19. Jahrhunderts soll und muss aber weitergeschrieben

werden unter den Herausforderungen und Vorzeichen von heute. Einige markante

Forderungen, die vom christlichen Gottes- und Menschenverständnis für die

„Arbeiterfrage“ immer aktuell bleiben, legen uns Rerum novarum und das

Evangelium, dem sich diese Enzyklika verpflichtet weiß, ans Herz. Vielleicht würde

Papst Leo XIII. seine Enzyklika für heute so zusammenfassen: Um den Menschen

muss es euch gehen! Gebt den Arbeitenden Mitverantwortung und habt Ehrfurcht vor

ihrer Würde! Seid kritisch einer Mentalität gegenüber, die sich leiten lässt vom

unbarmherzigen Druck: immer mehr, immer schneller, immer weiter, immer höher -

und vergesst nicht: Nicht vom Brot allein lebt der Mensch!