Rezension: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen von Tanja van Hoorn

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Rezensionen 220 gehɆrt zum Spannendsten in diesem Werk). Der App. 5 bietet eine Liste der zum Dr. phil. Pro- movierten an Philosophischen FakultȨten und sol- chen fɒr Kɒnste fɒr sieben ausgewȨhlte Universi- tȨten. App. 6 listet die UniversitȨten des deutschen Kulturraums knapp auf. Clarks Buch bietet einen guten Ƞberblick ɒber die verschiedenen an der frɒhmodernen Universi- tȨt vorwiegend innerhalb der Philosophischen Fa- kultȨt praktizierten materialen Formen von Ge- lehrsamkeit in ihrem Ƞbergang zu moderneren Formen der Forschung. Auf der Basis der wesent- lichen SekundȨrliteratur und tief schɒrfender eige- ner Archivstudien ist Clark eine ungemein inhalts- reiche Synthese von teils wohl vertrautem, teils neuem Quellenmaterial gelungen, das er mittels eines klar definierten – an Max Webers Ƞberle- gungen zur Rationalisierung und die Entzaube- rung der Welt ebenso wie dessen Konzept der pro- testantischen Ethik orientierten – interpretatori- schen Rahmens in eine ErzȨhlung ɒber die Moder- nisierung einer Institution bettet. Es bleibt den- noch zu fragen, ob die große von der traditionellen zur modernen UniversitȨt mittels des ,akademi- schen Charisma‘ gezogene Linie (deren chronolo- gische Brɒche Clark selbstredend bewusst sind) sich nicht durch eine stȨrkere Beachtung der un- terschiedlichen Formen der Forschung an den drei hɆheren FakultȨten (Jurisprudenz, Medizin, Theo- logie) hȨtte weiter differenzieren lassen. Ebenso bleibt die naturwissenschaftliche Forschung, die ja bis zur Grɒndung eigener FakultȨten (zuerst Tɒ- bingen 1863) an den philosophischen FakultȨten beheimatet war, weitgehend ausgeblendet: Die Grɒndung naturwissenschaftlicher Seminare er- wȨhnt Clark nur en passant (S. 449), wȨhrend er die Ursprɒnge des Forschungsseminars in der Phi- lologie in einem eigenen Kapitel behandelt. Dies zeigt, dass es mɆglich sein dɒrfte, in einer komple- mentȨren Studie die Gemeinsamkeiten wie auch Differenzen der universitȨren Forschung in den verschiedenen FakultȨten, ja sogar den einzelnen Disziplinen, herauszuarbeiten. Stilistisch wird Clarks Mischung aus deutscher Grɒndlichkeit und intellektueller Verspieltheit vielleicht nicht jedermann gleichermaßen goutie- ren. Es ist eine seltsame Mixtur aus strenger histo- rischer Forschung und einem eher essayistischen Umgang mit dem Thema. Nicht ohne Grund nennt Clark sein Werk selbst „an odd book“ (S. 3). Seine anregende Studie lebt im Ƞbrigen sehr we- sentlich davon, dass viele der von ihm als traditio- nell beschriebenen akademischen Praktiken manchmal erstaunlich modern anmuten. Clark hȨlt uns einen historischen Spiegel vor, in dem wir – neben manch tatsȨchlich Ƞberholtem – insbe- sondere die traditionellen Rudimente in unserer universitȨren Gegenwart erkennen kɆnnen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser gewichtige Beitrag ge- rade zur deutschen UniversitȨts- und Wissen- schaftsgeschichte auch seinen deutschen Ƞberset- zer und Verleger finden mɆge, so wie man der University of Chicago Press gratulieren muss, dass sie den Mut aufgebracht hat, diesen grundgelehr- ten WȨlzer zu einem sehr erschwinglichen Preis in exzellenter Ausstattung zu produzieren. Kai Torsten Kanz (Lɒbeck) Ber. Wissenschaftsgesch. 31 (2008) 70–78 i 2008 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 73 DOI: 10.1002/bewi.200701298 Tanja van Hoorn: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann Gottlob Kru ¨gers Grundriß eines neuen Lehrgeba ¨udes der Artzneygelahrtheit (1745). Hannover-Laatzen: Wehrhahn 2006. 218 S. kt., e 25,00; ISBN 978-3-86525-043-8. Der Hallenser Mediziner Johann Gottlob Krɒ- ger kɒndigte seinen Lesern 1745 nichts weniger als den „Grundriß eines neuen LehrgebȨudes der Artzneygelahrtheit“ an. Seine gleichnamige Schrift erschien bei Carl Herrmann Hemmerde in Halle. Sie entstand im Spannungsfeld der widerstreiten- den Lehren des Mechanismus sowie des Stahlianis- mus. Seine Arbeit war daher kein leichtes Unter- fangen und musste die verschiedenen physiologi- schen Positionen berɒcksichtigen. Tanja van Hoorn legte nun eine klar strukturierte Interpreta- tion des Textes vor. In ihrer Arbeit orientiert sie sich an der inhaltlichen Gliederung des Krɒger- schen Textes, der im Original etwas unɒbersicht- lich wirkt, da ihm ein formales Inhaltsverzeichnis fehlt. Ihre einzelnen Kapitel behandeln zunȨchst Widmung, Vorrede, die mechanische bzw. physi- kalische Philosophie, die Seele und ihre kɆrperli- chen Wirkungen, Krɒgers Empfindungsgesetz, so- wie den Schlussexkurs des Autors ɒber Reproduk- tion und Generation. Nach kurzer Skizzierung der zeitgenɆssischen philosophischen, medizinischen und theologischen StrɆmungen in Halle ordnet van Hoorn Krɒger gemeinsam mit Johann August Unzer und Ernst Anton Nicolai in eine Gruppe junger Hallenser Mediziner ein, die den menschlichen KɆrper aus einer medizinisch-philosophischen Doppelper-

Transcript of Rezension: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen von Tanja van Hoorn

Rezensionen

220 geh�rt zum Spannendsten in diesem Werk).Der App. 5 bietet eine Liste der zum Dr. phil. Pro-movierten an Philosophischen Fakult�ten und sol-chen f�r K�nste f�r sieben ausgew�hlte Universi-t�ten. App. 6 listet die Universit�ten des deutschenKulturraums knapp auf.

Clarks Buch bietet einen guten �berblick �berdie verschiedenen an der fr�hmodernen Universi-t�t vorwiegend innerhalb der Philosophischen Fa-kult�t praktizierten materialen Formen von Ge-lehrsamkeit in ihrem �bergang zu modernerenFormen der Forschung. Auf der Basis der wesent-lichen Sekund�rliteratur und tief sch�rfender eige-ner Archivstudien ist Clark eine ungemein inhalts-reiche Synthese von teils wohl vertrautem, teilsneuem Quellenmaterial gelungen, das er mittelseines klar definierten – an Max Webers �berle-gungen zur Rationalisierung und die Entzaube-rung der Welt ebenso wie dessen Konzept der pro-testantischen Ethik orientierten – interpretatori-schen Rahmens in eine Erz�hlung �ber die Moder-nisierung einer Institution bettet. Es bleibt den-noch zu fragen, ob die große von der traditionellenzur modernen Universit�t mittels des ,akademi-schen Charisma‘ gezogene Linie (deren chronolo-gische Br�che Clark selbstredend bewusst sind)sich nicht durch eine st�rkere Beachtung der un-terschiedlichen Formen der Forschung an den dreih�heren Fakult�ten (Jurisprudenz, Medizin, Theo-logie) h�tte weiter differenzieren lassen. Ebensobleibt die naturwissenschaftliche Forschung, die jabis zur Gr�ndung eigener Fakult�ten (zuerst T�-bingen 1863) an den philosophischen Fakult�tenbeheimatet war, weitgehend ausgeblendet: Die

Gr�ndung naturwissenschaftlicher Seminare er-w�hnt Clark nur en passant (S. 449), w�hrend erdie Urspr�nge des Forschungsseminars in der Phi-lologie in einem eigenen Kapitel behandelt. Dieszeigt, dass es m�glich sein d�rfte, in einer komple-ment�ren Studie die Gemeinsamkeiten wie auchDifferenzen der universit�ren Forschung in denverschiedenen Fakult�ten, ja sogar den einzelnenDisziplinen, herauszuarbeiten.

Stilistisch wird Clarks Mischung aus deutscherGr�ndlichkeit und intellektueller Verspieltheitvielleicht nicht jedermann gleichermaßen goutie-ren. Es ist eine seltsame Mixtur aus strenger histo-rischer Forschung und einem eher essayistischenUmgang mit dem Thema. Nicht ohne Grundnennt Clark sein Werk selbst „an odd book“ (S. 3).Seine anregende Studie lebt im �brigen sehr we-sentlich davon, dass viele der von ihm als traditio-nell beschriebenen akademischen Praktikenmanchmal erstaunlich modern anmuten. Clarkh�lt uns einen historischen Spiegel vor, in dem wir– neben manch tats�chlich �berholtem – insbe-sondere die traditionellen Rudimente in unsereruniversit�ren Gegenwart erkennen k�nnen. Esbleibt zu hoffen, dass dieser gewichtige Beitrag ge-rade zur deutschen Universit�ts- und Wissen-schaftsgeschichte auch seinen deutschen �berset-zer und Verleger finden m�ge, so wie man derUniversity of Chicago Press gratulieren muss, dasssie den Mut aufgebracht hat, diesen grundgelehr-ten W�lzer zu einem sehr erschwinglichen Preis inexzellenter Ausstattung zu produzieren.

Kai Torsten Kanz (L�beck)

Ber. Wissenschaftsgesch. 31 (2008) 70–78 i 2008 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 73

DOI: 10.1002/bewi.200701298

Tanja van Hoorn: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann GottlobKrugers Grundriß eines neuen Lehrgebaudes der Artzneygelahrtheit (1745).Hannover-Laatzen: Wehrhahn 2006. 218 S. kt., e 25,00; ISBN 978-3-86525-043-8.

Der Hallenser Mediziner Johann Gottlob Kr�-ger k�ndigte seinen Lesern 1745 nichts weniger alsden „Grundriß eines neuen Lehrgeb�udes derArtzneygelahrtheit“ an. Seine gleichnamige Schrifterschien bei Carl Herrmann Hemmerde in Halle.Sie entstand im Spannungsfeld der widerstreiten-den Lehren des Mechanismus sowie des Stahlianis-mus. Seine Arbeit war daher kein leichtes Unter-fangen und musste die verschiedenen physiologi-schen Positionen ber�cksichtigen. Tanja vanHoorn legte nun eine klar strukturierte Interpreta-tion des Textes vor. In ihrer Arbeit orientiert siesich an der inhaltlichen Gliederung des Kr�ger-schen Textes, der im Original etwas un�bersicht-

lich wirkt, da ihm ein formales Inhaltsverzeichnisfehlt. Ihre einzelnen Kapitel behandeln zun�chstWidmung, Vorrede, die mechanische bzw. physi-kalische Philosophie, die Seele und ihre k�rperli-chen Wirkungen, Kr�gers Empfindungsgesetz, so-wie den Schlussexkurs des Autors �ber Reproduk-tion und Generation.

Nach kurzer Skizzierung der zeitgen�ssischenphilosophischen, medizinischen und theologischenStr�mungen in Halle ordnet van Hoorn Kr�gergemeinsam mit Johann August Unzer und ErnstAnton Nicolai in eine Gruppe junger HallenserMediziner ein, die den menschlichen K�rper auseiner medizinisch-philosophischen Doppelper-

Ber. Wissenschaftsgesch. 31 (2008): Rezensionen

spektive heraus untersucht und sich im skizziertenSpannungsfeld am „Vorabend der Irritabilit�tsleh-re Hallers“ (S. 27) positioniert habe. In Kr�ger, aufdessen Biographie sie leider nicht n�her eingeht,erblickt sie den Kopf dieser Gruppe. Sie betrachtetseinen Text vor allem im zeitlichen Zusammen-hang um 1750. Damit m�chte sie sich von Ans�t-zen Carsten Zelles und Hans-Peter Nowitzkis ab-grenzen, welche die Arbeiten der Hallenser Medi-ziner in Beziehung zur Anthropologie der 1770erJahre setzen.

Deutlich zeigt van Hoorn Kr�gers Bestreben,Mechanismus und Stahlianismus einer Pr�fung zuunterziehen. In der mechanischen Philosophie saher eine unrealistische Idealvorstellung, die oftscheitere, da nicht alle wirkenden Kr�fte oder Na-turgesetze bekannt seien. Die stahlianische Seelekritisierte er als eine h�ufig vorschnelle Erkl�rungf�r zun�chst noch unbekannte k�rperliche Zusam-menh�nge. Kr�ger selbst vertrat eine physikalischePhilosophie, in welcher die Frage nach der letztli-chen Ursache begrenzt wurde, da die zu untersu-chende Naturerscheinung immer aus anderen Er-scheinungen zu erkl�ren sei.

Zwischen Mechanisten und Stahlianern verstandsich Kr�ger als „Friedensvermittler“. K�rper undSeele sind f�r ihn �ber den Nervensaft miteinanderverbunden, der nach van Hoorn als ein „psycho-physiologisches Scharnier“ (S. 87) fungiert habe.Durch Reizung der Nerven sollten k�rperliche Be-wegungen erzeugt werden k�nnen, die der hervor-gerufenen Empfindung proportional seien. Dazuberief sich Kr�ger auf die Arbeiten Giorgio Bagli-vis und Ernst Anton Nicolais. Doch er wusste, dasser auch f�r seine Konzeption keinen letztg�ltigenWahrheitsanspruch geltend machen, sondern sichder Wahrheit h�chstens ann�hern konnte – wes-halb das im Titel seiner Schrift angek�ndigte neuemedizinische Lehrgeb�ude folgerichtig nur auf ein„Glaubenbek�ntniß“ hinauslief. Der von Kr�gereingeschlagene Mittelweg zwischen Mechanistenund Stahlianern musste die Argumentation nat�r-lich gegen�ber beiden Seiten erschweren undmacht einen Blick auf seine Argumentationsstrate-

gie erforderlich: Sie musste sowohl abgrenzen alsauch integrieren. Dieser Notwendigkeit kommt dievorliegende Interpretation nach. Beispiele findensich in den Untersuchungen der Kr�gerschen Ma-schinendefinition des menschlichen K�rpers oderseines K�rpervergleiches mit einer M�hle.

Van Hoorn betrachtet Kr�gers „Grundriß“ imZusammenhang mit der „Physiologie“, dem zwei-ten Band der Kr�gerschen „Naturlehre“. Er hatteihn selbst als erg�nzenden Text gesehen und dieseVerbindung beider Schriften ausdr�cklich herge-stellt. Sie arbeitet seine Orientierung an der aufVernunft und Erfahrung gegr�ndeten mathemati-schen Methode, die ihm als Vorbild seiner Er-kenntnissuche diente, ebenso heraus, wie sein Be-kenntnis zur Naturlehre Newtons. Kr�gers phy-siologisches Konzept grenzt sie von der Irritabili-t�tslehre Albrecht von Hallers ab.

Van Hoorn ber�cksichtigt zudem eine großeMenge an Literatur. Keine Erw�hnung findet je-doch Kr�gers 1752 ebenfalls bei Hemmerde inHalle verlegte Antrittsvorlesung „Von der Ord-nung in welcher man die Artzneygelahrtheit erler-nen m�sse“, die er im Vorjahr anl�sslich seinesWechsels nach Helmstedt an der dortigen Univer-sit�t gehalten hatte. Auch sie verdeutlicht deneklektischen, der mathematischen Methode undder Vernunft verpflichteten Ansatz seiner Lehre,die er nun versuchte, in eine Studienordnung um-zusetzen.

In einem zweiten Teil wird van Hoorns Inter-pretation des Kr�gerschen „Grundrisses“ danndurch das angef�gte Faksimile des Originaltextesvon 1745 erg�nzt. Somit wird dem Leser auch dieQuelle zug�nglich gemacht, bei der es sich um dasExemplar der Universit�ts- und LandesbibliothekSachsen-Anhalt handelt. Ein Namensregister, indas auch die Nennungen im Faksimile erfasst wur-den, erm�glicht die gezielte Suche nach bestimm-ten Personen. Es rundet die vorgelegte, kenntnis-reiche Arbeit ab, deren Herangehensweise hilf-reich ist, Kr�gers Lehre im Kontext seiner Zeit zuverorten.

Martin Schneider (Wien)

74 i 2008 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 31 (2008) 70–78

DOI: 10.1002/bewi.200701285

Monika Gisler: Gottliche Natur? Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz des18. Jahrhunderts. Z�rich: Chronos Verlag 2007. 310 S., e 32,00; ISBN 978-3-0340-0858-7.

Monika Gisler beginnt ihre Dissertation �berden Erdbebendiskurs in der Schweiz, die an derPhilosophisch-Historischen Fakult�t der Univer-sit�t Basel angefertigt wurde, mit Johann Jakob

Scheuchzer, der Anfang der 18. Jahrhunderts imRahmen seiner Betrachtungen �ber die Entstehungder Erde die Erdbebenforschung erstmals als Be-standteil der Naturgeschichte ansah. Damals stellte