RobinATCI CI TI Leonidas KAVAKOS - Staatskapelle Dresden · 2016. 1. 20. · Jean Sibelius...

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SAISON 2015 2016 23. / 24. / 25.1.16 5. SYMPHONIEKONZERT Robin TICCIATI Leonidas KAVAKOS

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SAISON 2015 201623. / 24. / 25.1.165. SYMPHONIEKONZERT

Robin

TICCIATILeonidas

KAVAKOS

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SAISON 2015 201623. / 24. / 25.1.165. SYMPHONIEKONZERT

Robin

TICCIATILeonidas

KAVAKOS

»ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER«

Die berühmte Ode von Friedrich Schiller hat

seit jeher die Menschheit inspiriert. Sie ist,

nicht zuletzt durch Ludwig van Beethoven,

zu einem Fixpunkt im Wertekanon unserer

den Idealen des Humanismus verpflichteten

Gesellschaft geworden. Vollendet hat Schiller seine Ode

vor 230 Jahren im Weinberghaus der Familie Körner

in Dresden-Loschwitz. Die Sächsische Staatskapelle

Dresden und Christian Thielemann bekennen sich mit

Nachdruck zu diesen Werten. Die Geschichte der Staats-

kapelle wäre ohne diese nicht denkbar. Nicht Angst und

Ausgrenzung sollen unser Handeln bestimmen, sondern

Mitmenschlichkeit, Mut, Respekt und Toleranz.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gesundes und

vor allem friedlicheres Neues Jahr!

C H R I S T I A N T H I E L E M A N N , D I E M U S I K E R I N N E N

U N D M U S I K E R S O W I E D I E D I R E K T I O N

D E R S Ä C H S I S C H E N S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N

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2 3 5. SYMPHONIEKONZERT

SA MSTAG23.1.1620 UHR

SONNTAG24.1.1611 UHR

MONTAG25.1.1620 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

5. SYMPHONIEKONZERT PROGRAMM

Klänge der JahrhundertwendeDas von Robin Ticciati zusammengestellte Programm führt in die Zeit des Fin de siècle. Mahlers Symphoniesatz »Blumine« ist eine romantische Naturidylle. Weit stürmischer gibt sich bisweilen Debussys impressionis-tisches Meisterwerk. Und während Ravels »Valses« dem Vorbild Schubert die Ehre erweisen, markiert Sibelius’ Violinkonzert einen Klassiker der Gattung, der Leonidas Kavakos seit dessen preisgekrönter quellenkri-tischer Einspielung immer wieder zur Auseinandersetzung reizt.

Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper

Robin Ticciati Dirigent

Leonidas Kavakos Violine

Gustav Mahler (1860-1911)»Blumine«Symphonischer Satz – Andante allegretto

Jean Sibelius (1865-1957)Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 471. Allegro moderato2. Adagio di molto3. Allegro, ma non tanto

P A U S E

Maurice Ravel (1875-1937)

»Valses nobles et sentimentales«1. Modéré – très franc2. Assez lent – avec une expression intense3. Modéré4. Assez animé5. Presque lent – dans un sentiment intime6. Assez vif7. Moins vif8. Épilogue. Lent

Claude Debussy (1862-1918)»La mer«trois esquisses symphoniques pour orchestredrei symphonische Skizzen für Orchester1. De l’aube à midi sur la mer – très lent

Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer – sehr langsam2. Jeux de vagues – allegro

Spiel der Wellen – Allegro3. Dialogue du vent et de la mer – animé et tumultueux

Dialog zwischen Wind und Meer – lebhaft und stürmisch

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4 5 5. SYMPHONIEKONZERT

Robin Ticciati Dirigent

Ausgebildet als Violinist, Pianist und Percussionist und als Mitglied des National Youth Orchestra of Great Britain wandte sich Robin Ticciati im Alter von 15 Jahren dem Dirigieren zu. Zu seinen besonderen Förderern zählen Sir Colin Davis und Sir Simon Rattle. Ticciati, der in

London geboren wurde, ist seit der Spielzeit 2009 / 2010 Chefdirigent des Scottish Chamber Orchestra, mit dem er zahlreiche Tourneen in Europa und Asien unternimmt. Schwerpunkte des Scottish Chamber Orchestra in der aktuellen Spielzeit bilden die großen Werke von Johannes Brahms, namentlich dessen Symphonien und »Ein deutsches Requiem« sowie Kompositionen der Zweiten Wiener Schule. Die Zusam-menarbeit mit dem SCO ist in mehreren CD-Aufnahmen dokumentiert, u. a. mit Einspielungen von Berlioz’ »Symphonie fantastique«, »Les nuits d’été« und »La mort de Cléopâtre«. Zudem liegen ein Doppelalbum mit den Symphonien von Robert Schumann und eine jüngste Aufnahme mit Haydn-Symphonien vor.

Seit Sommer 2014 ist Ticciati außerdem Musikalischer Leiter des Glyndebourne Festival, wo er sein Engagement mit Richard Strauss’ »Der Rosenkavalier« und Mozarts »La finta giardiniera« begann und ein Jahr später mit der »Entführung aus dem Serail« und einem Doppelabend mit Maurice Ravels »L’heure espagnole« sowie »L’enfant et les sortilèges« fortsetzte. Neben Glyndebourne führten ihn weitere Opernprojekte an die Mailänder Scala (Benjamin Brittens »Peter Grimes«), zu den Salzburger Festspielen (Mozarts »Le nozze di Figaro«), an das Royal Opera House (Tschaikowskys »Eugen Onegin«) und an die New Yorker Met, wo er mit Humperdincks »Hänsel und Gretel« debütierte.

Robin Ticciati wirkt an renommierten Konzert- und Opernhäu-sern in Europa und Amerika, u. a. beim London Symphony Orchestra, dem Royal Concertgebouw, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Philadelphia Orchestra und den Los Angeles Philharmonic. Seine Konzertdiskographie umfasst u. a. Hector Berlioz’ »L’Enfance du Christ«, Antonín Dvořáks neunte Symphonie und Anton Bruckners Messe f-Moll Nr. 3. Mit Beginn der Spielzeit 2017 / 2018 übernimmt er die Position des Chefdirigenten und Künstlerischen Leiters beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin.

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Leonidas Kavakos Violine

Bereits als Jugendlicher gewann Leonidas Kavakos den Sibe-lius-Wettbewerb (1985), den Paganini- sowie den Naumburg-Preis (1988) und erregte schnell internationale Aufmerksam-keit. Seine Virtuosität, Musikalität und künstlerische Integrität machten ihn früh zu einem begehrten und gefragten musika-

lischen Partner. Kavakos’ zeitige Erfolge führten u. a. zur Tonaufnahme von Sibelius’ Violinkonzert. Mit Orchestern wie den Berliner und Wiener Philharmonikern, dem Royal Concertgebouw, dem London Symphony Orchestra, den Münchner Philharmonikern, dem Orchestre de Paris, dem Gewandhausorchester Leipzig und den großen amerikanischen Orches-tern verbindet ihn eine enge künstlerische Freundschaft. Auch als Diri-gent arbeitet Kavakos mit Ensembles von Weltrang: So leitete er u. a. die Symphonieorchester von London und Boston, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, die Wiener Symphoniker sowie das Chamber Orche-stra of Europe, das Orchestre Philharmonique de Radio France und die Bamberger Symphoniker. Als Interpret kammermusikalischer Werke ist er regelmäßig Gast auf den Festivals in Verbier, Montreux-Vevey, Bad Kissingen, Edinburgh, Salzburg und bei den Dresdner Musikfest-spielen. Als Initiator einer Kammermusik-Reihe in der Megaron Concert Hall in Athen bleibt er seinem Heimatland seit 15 Jahren auch künstle-risch verbunden und verpflichtete so renommierte Namen wie Mstislav Rostropovich, Heinrich Schiff, Menahem Pressler, Emanuel Ax, Nikolai Lugansky und Gautier Capuçon. Zudem kuratiert er in Athen jährlich stattfindende Meisterkurse für Violin- und Kammermusik.

Kavakos’ Einspielung aller Violinsonaten Beethovens mit Enrico Pace wurde 2013 mit dem ECHO Klassik »Instrumentalist des Jahres« ausgezeichnet und 2014 für einen Grammy nominiert. Es folgten Einla-dungen an die Carnegie Hall, zu den Salzburger Festspielen, an das Concertgebouw in Amsterdam, nach Hongkong und Shanghai sowie zum Beethovenfest Bonn. Nach Aufnahmen von Johannes Brahms’ Violinkon-zert mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly 2013 und als Solopartner Yuja Wangs mit Brahms’ Violinsonaten war Leonidas Kavakos Gramophone-Künstler des Jahres 2014.

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8 9 5. SYMPHONIEKONZERT

ENTSTEHUNG

Juni 1884

WIDMUNG

Marion von Weber, Mahlers erste große Liebe

UR AUFFÜHRUNG

23. Juni 1884 in Kassel im Rahmen der Bühnenbegleit-musik zu »Der Trompeter von Säkkingen«

BESETZUNG

2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, Trompete, Pauken, Harfe und Streicher

DAUER

ca. 8 Minuten

Gustav Mahler* 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen † 18. Mai 1911 in Wien

»Blumine«

Symphonischer SatzAndante allegretto

EINE »LIEBESEPISODE« IN IDYLLISCHER LANDSCHAFTZu Gustav Mahlers »Blumine«

Im November 1884 bezieht Gustav Mahler während seines Engage-ments als zweiter Kapellmeister am Königlichen Theater in Kassel sein Domizil in der Wolfsschlucht 13. Als Liebhaber der Werke Carl Maria von Webers dürfte ihm die anschauliche Adresse nicht gleichgültig sein, spielt doch die Wolfsschlucht in Webers »Frei-

schütz« eine wichtige Rolle. Noch kann er freilich nicht ahnen, dass die Familie Weber vier Jahre später mit emotionaler Wucht in sein Leben treten wird. Die Kasseler Stelle, die er 1883 antritt, fordert von dem 23-Jährigen zunächst ein straffes Pensum. Als zweiter Kapellmeis ter muss er alles dirigieren, was der erste Kapellmeister nicht übernimmt und ist außerdem für das Engagement von Aushilfsmusikern bei dem von ihm geleiteten Vorstellungen verantwortlich, für die Bearbeitung größerer Werke auf die Maßstäbe des Kasseler Hauses, was insbe-sondere das Reduzieren und Arrangieren des Orchestermaterials bedeutet, und ist zudem für Zwischenaktmusiken in den Schauspielauf-führungen zuständig. Im Juni 1884 verfasst er eine Begleitmusik zu Joseph Viktor von Scheffels damals populärem Versepos »Der Trom-peter von Säkkingen« und erledigt diese Aufgabe nach eigener Aussage »binnen zwei Tagen«. Die Premiere dieser »lebenden Bilder« findet am 23. Juni 1884 kurz vor Saisonende in Kassel statt und erlebt weitere Aufführungen in Mannheim, Karlsruhe und Wiesbaden. Beim Publikum erfreuen sich die sogenannten tableaux vivants großer Beliebtheit – ganz im Gegensatz zu Mahler, der nur einen einzigen Satz daraus an seine weiteren Wirkungsorte Prag und vor allem Leipzig mitnimmt. Dieser Satz erinnert mit seinem Trompetensolo zu Beginn und am Schluss an eine Serenade oder ein Ständchen, das der Trompeter Werner seiner Angebe-teten Margarete »in der Mondnacht nach dem Schlosse über den Rhein hinüber geblasen« darbringt, wie es eine zeitgenössische Schilderung weiß. Zur Trompete kommt der Gesang einer Oboe und macht im Duett das Paar erkennbar. Es ist die Geschichte zweier Liebender, die einzig auf wundersame Weise zusammenfinden können. Der Trompeter Werner und die adlige Margareta lernen sich in Säckingen kennen, doch verhindern

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10 11 5. SYMPHONIEKONZERT

Gustav Mahler zur Zeit der Entstehung seiner ersten Symphonie, 1888

die Standesschranken eine Ehe. Nach Jahren der Trennung macht ein verständnisvoller Papst aus Werner Kirchhof einen »Marchese Campo-santo« und damit zu einem akzeptablen Heiratspartner. Es scheint, als ob Mahler den Namen »Camposanto« in erweitertem Sinne auffasst: aus dem Kirchhof wird ein der Liebe geweihtes Feld. Und in der Tat trägt Mahlers Stück Züge einer pastoralen Landschaft, in der sich zwei Liebende verlieren. Dem Horn sind ebenfalls Solopassagen zugedacht, während Streicher und Harfe den musikalischen Fluss zart umranken. Mahler nennt das Ganze eine »Liebesepisode« – eine Liebesszene, so möchte man hinzufügen, vor idyllischer Szenerie.

»Alles in mir und um mich wird! Nichts ist!«

Auch Mahler steht in Flammen. Zum ersten Mal in seinem Leben befindet er sich in einer leidenschaftlichen Affäre. Bald nach seiner Ankunft in Kassel im Herbst 1883 verliebt er sich in die etwa gleichaltrige Koloratur-sopranistin Johanna Richter. Doch überschreitet die Beziehung, die ihm mehr Schmerzen als Freuden bringt, offensichtlich nie das Maß an Gesit-tung. Erfüllung bleibt, nach allem, was man weiß, aus. Immerhin bringt die Affäre die »Lieder eines fahrenden Gesellen« hervor, welche Mahler als Zyklus im Dezember 1884 in der Kasseler Wolfsschlucht 13 schreibt und, zumindest heimlich, Johanna Richter widmet. Das ist insofern von Bedeutung, da Mahler zwei dieser Lieder vier Jahre später in seiner ersten Symphonie zitiert. Im Frühjahr 1888 entstanden, arbeitet er an seinem symphonischen Erstling innerhalb von nur sechs Wochen, wenn man den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner glauben will. Seit mehr als 1 ½ Jahren ist er nun Kapellmeister am Neuen Stadttheater in Leipzig und lernt an der Pleiße die Familie Carl von Webers kennen. Carl von Weber ist Hauptmann in einem Leipziger Regiment und Enkel Carl Maria von Webers sowie im Besitz des kompositorischen Nachlasses seines Großvaters. Zu Webers Gattin Marion, vier Jahre älter als Mahler und Mutter dreier Kinder, entwickelt der Komponist eine heftige Leidenschaft. Gegenüber Natalie bemerkt er: »Das musikalische, lichtstrahlende, dem Höchsten zugewandte Wesen seiner Frau gab meinem Leben einen neuen Inhalt. Auch die entzückenden Kinder waren mir – wie ich ihnen – aufs innigste und heiterste zugetan, daß wir herzlich aneinan der hingen.« Weiter äußert er: »Als ich den ersten Satz [der ersten Symphonie] fertig hatte – es war gegen Mitternacht –, lief ich zu Webers und spielte ihn beiden vor, wobei sie, zur Ergänzung des ersten Flageolett-A, mir oben und unten auf dem Klavier aushelfen mußten. Wir waren alle drei so begeistert und selig, daß ich eine schönere Stunde an meiner Ersten nicht erlebt habe. Dann ergingen wir uns noch lange beglückt im Rosental.«

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12 13 5. SYMPHONIEKONZERT

Es ist nur eine Frage der Zeit, dass es zu Verwicklungen innerhalb der Ménage a trois kommt. In einem Brief Anfang Januar 1888 redet Mahler in vielsagenden Andeutungen: »Die wenigen Zeilen sind alles, was ich jetzt aufbringen kann in dieser Trilogie der Leidenschaften und Wirbelwind des Lebens! Alles in mir und um mich wird! Nichts ist!« Der 28-Jährige plant eine Flucht mit Webers Frau, was diese jedoch ablehnt. Als im Mai 1888 seinem Entlassungsgesuch aus dem Dienst am Leipziger Theater stattgegeben wird, schenkt er Marion Abschriften seiner ersten Symphonie mit dem ihr zum Geburtstag gewidmeten »Blumine«-Satz – jenes Stück, das er aus Kassel mitgebracht hat. Die Symphonie wird am 20. November 1889 unter Mahlers Leitung in Budapest uraufgeführt und trägt den Titel »Symphonische Dichtung«, sie beinhaltet fünf Sätze, mit dem »Blumine«-Satz an zweiter Stelle. Für die Hamburger Aufführung der Symphonie am 27. Oktober 1893 lässt Mahler im Konzertprogramm ungewohnt detaillierte Hinweise abdrucken: »Titan«, eine Tondichtung in Symphonieform. 1. Theil: »Aus den Tagen der Jugend«, Blumen-, Frucht- und Dornstücke. I. Satz: »Frühling und kein Ende«. II. Satz: »Blumine«. III. Satz: »Mit vollen Segeln«. 2 Theil: »Commedia humana«. IV. Satz: »Gestrandet«, ein Todtenmarsch in »Callot’s Manier«. V. Satz: »Dall’ Inferno«. Die Hamburger Version der Symphonie unterliegt einer grundlegenden Revision, innerhalb derer auch der »Blumine«-Satz modi-fiziert wird. Eine weitere Überarbeitung erfährt das Werk für die Berliner Aufführung 1896, wo der 2. Satz, also jenes »Blumine«-Stück, endgültig entfernt wird. Das nunmehr viersätzige Opus heißt jetzt einfach nur »Symphonie in D-Dur«. Zu einem der Gründe, warum Mahler »Blumine« aus dem Werk herausgenommen hat, äußert er sich gegenüber Natalie: »Wegen zu großer Ähnlichkeit der Tonarten in benachbarten Sätzen habe ich hauptsächlich auch das Andante ›Blumine‹ aus der Ersten entfernt.« So plausibel sich die Begründung liest, kommt sie doch von dem Verdacht einer Irreführung nicht los. Denn wiederholt ist dem Andante-Satz nach-gesagt worden, innerhalb des symphonischen Gefüges zu »trivial« zu wirken. Erst als eigenständiges Werk wird er zum vollgültigen Seitenstück einer floralen Schäferidylle. Mahler selbst hat die Spur gelegt, als er im Hamburger Programm zum 1. Teil den Zusatz »Blumen-, Frucht- und Dornstücke« hinzufügt. Er macht damit auf eines seiner Lieblingsbücher aus junger Zeit aufmerksam, auf Jean Pauls »Blumen-, Frucht- und Dorn- stücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Sieben- käs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel«. Im Vorwort zur zweiten Auf- lage des Romans mit dem auffallend kauzigen Titel spricht Jean Paul von einer Herbst-Flora, die zur »Herbst-Blumine« im Sinne der femininen Wortform von »Blume« wird. Bereits in Heinrich Campes »Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen

fremden Ausdrücke« von 1801 steht »Blumin« als Ausdruck für »Flora, die Blumengöttinn« und wird in Verbindung zur »Fruchtbringenden Gesellschaft« gebracht, eine der größten deutschen Sprachakademien des siebzehnten Jahrhunderts. Hier, in der Zeit des Barock, heißt es in Philipp von Zesens autobiographisch gefärbtem Roman »Adriatische Rosemund« von 1645: »Bluhminne stükt ihr kleid mit tulpen und narzissen«. Eine Anmerkung erläutert und legitimiert die Verdeutschung: »In der 13. Zeile, Bluhminne. Diese ward von den Römern unter dem namen Flora, oder Chloris, als eine göttin der bluhmen verehret.« In welchem Sinne Mahler ›Blumine‹ versteht – ob als deutsche Variante für Flora oder gar als Blumenstück / Blütenlese –, bleibt unklar. Mahler soll laut Natalie bezüg-lich der Komposition scherzhaft von einer »Jugend-Eselei« seines Helden gesprochen haben. Der Zusammenhang mit einer weiblichen Personenbe-zeichnung liegt nahe, vielleicht sogar metaphorisch erweitert zu ›jugend-lichen Blütenträumen‹, die sich dem jungen Komponisten in Zeiten emoti-onaler Verdichtung eröffnet haben.

Nachtrag: 1966 entdeckt der Mahler-Biograph Donald Mitchell das Hamburger Manuskript der ersten Symphonie, welches James Osborn der Bibliothek der Yale University gestiftet hat. Noch im gleichen Jahr wird es von Carl Fischer zum Druck vorbereitet und veröffentlicht.

A N D R É P O D S C H U N

Der Trompeter von Säckingen, Ansichtskarte, ohne Jahr

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14 15 5. SYMPHONIEKONZERT

ENTSTEHUNG

1903 in Helsinki (erste Fassung); 1904 / 05 überarbeitet (Endfassung)

WIDMUNG

dem jungen ungarischen Geiger Franz von Vecsey

UR AUFFÜHRUNG

am 8. Februar 1904 in Helsinki (erste Fassung); Endfassung am 19. Oktober 1905 in Berlin (Solist: Kárel Halir, Königlich-Preußische Hofkapelle, Dirigent: Richard Strauss)

BESETZUNG

Violine solo; 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher

DAUER

ca. 30 Minuten

Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 471. Allegro moderato 2. Adagio di molto 3. Allegro, ma non tanto

ZUM 150. GEBURTSTAG DES KOMPONISTEN

DER TRAUM DES VIRTUOSENZum Violinkonzert von Jean Sibelius

Neben Gustav Mahler war Jean Sibelius derjenige Kompo-nist, der es auf dem Weg ins zwanzigste Jahrhundert noch einmal unternahm, die Gattung der Symphonie auf authen-tische Weise ins Zentrum seines Schaffens zu rücken. Nur indirekt sind Gedanken aus einem Gespräch, das

die beiden 1907 führten, überliefert. Während Sibelius das Wesen des Symphonischen in motivischer Einheit, in der Ableitung der verschie-denen Gestalten aus Urmotiven verwirklicht sah, vertrat Mahler ein Weltbild des Widerspruchs: »Die Symphonie muss wie die Welt sein. Sie muss alles umfassen.« Die Wahrheit der Naturphilosophie des späten neunzehnten Jahrhunderts steht gegen die zerreißende Wirklichkeitser-fahrung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Kontroverse ist aber noch in anderer Hinsicht interessant, macht sie doch auch verständlich, warum Mahler niemals ein Solokonzert hätte schreiben können, während Sibelius zwischen seiner zweiten und dritten Symphonie immerhin ein einziges Mal auf diese Form zurückgriff. Und dabei verleiht er nicht zuletzt gerade durch jene Vorstellung einer metamorphosenartigen moti-vischen Beziehungsdichte auch dem Prinzip des Konzertierens in seinem Violinkonzert neue Glaubwürdigkeit.

Die eminente psychologische Spannung, die sich im Klanglichen, Motivisch-Harmonischen, aber auch der Zeitgestaltung äußert, bezeugt die Nähe des Werkes zum Symbolismus. Wie Debussy und Schönberg war auch Sibelius fasziniert von Maurice Maeterlincks »Pelléas und Méli-sande«, und im Abstand weniger Jahre entstanden dazu – in Nachbar-schaft zum Violinkonzert – Schönbergs Symphonische Dichtung, Sibe-lius’ Schauspielmusik und Debussys Oper. Offensichtlich besaß aber die Zeit, in der Sibelius’ Violinkonzert uraufgeführt wurde, für diese Feinner-vigkeit kein Ohr, und das jugendstilartige Rankenwerk, das die virtuose Seite mindestens zum Teil ganz eigenartig prägt, wurde ebenfalls nicht in dieser Qualität wahrgenommen. Selten waren die überlieferten Reak-tionen zunächst so einheitlich negativ, sowohl für die erste Fassung, die im Januar 1904 in Helsinki uraufgeführt wurde, wie auch für die zweite, wesentlich veränderte, die 1905 in Berlin zum ersten Mal erklang.

Jean Sibelius* 8. Dezember 1865 in Hämeenlinna, Finnland† 20. September 1957 in Järvenpää, Finnland

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16 17 5. SYMPHONIEKONZERT

»Ich war zwölf und ein Virtuose«

In einer Zeit, in der das Neue mit stärkeren Reizen auftrat, fiel Sibelius’ Stück als Virtuosenkonzert zunächst unter die Kategorie eines Nachläu-fers des neunzehnten Jahrhunderts und wurde so entweder unsinniger-weise zum Beispiel gegen Mendelssohns nur sehr äußerlich ähnliches Konzert ausgespielt oder aber von vornherein als Relikt längst vergan-gener Zeiten abgelehnt. Wir wissen nicht, wie Richard Strauss, der als Dirigent die Berliner Uraufführung der zweiten Fassung leitete, darüber dachte. Aber in seinen eigenen konzertanten Kompositionen ging Strauss bekanntlich Wege, die diese spielerischen, im weitesten Sinne neo-klas-sizistischen Kompositionen deutlich von dem symphonischen, sozusagen progressiv-ernsten übrigen Teil seines Œuvres schieden. Die wirkliche Erfolgsgeschichte des Sibelius-Konzertes begann erst in den dreißiger Jahren, seitdem aber gehört es bis heute, zusammen mit dem gleichzeitig entstandenen »Valse triste«, zu den meistgespielten Werken des Kompo-nisten, ja, es ist wahrscheinlich das meistaufgeführte Violinkonzert des zwanzigsten Jahrhunderts. Sibelius selbst schrieb kein weiteres Solokon-zert, obwohl ihn zahlreiche Anfragen und Anträge für Auftragswerke erreichten. Aber so sehr er noch zu Beginn des Jahrhunderts auf das Geldverdienen mit dem Komponieren angewiesen war, so sehr konnte er es sich zwei Jahrzehnte später bei fließenden Tantiemen leisten, nur noch das zu machen, was er wollte. Es gab zwar Pläne für ein zweites Violinkonzert, ein »Concerto lirico«, vollendet aber wurden lediglich noch einige Folgen von Konzertstücken – Serenaden und Humoresken – für Violine und Orchester.

In seinem Tagebuch, das erst vor einigen Jahren öffentlich zugänglich wurde, notierte Sibelius am 2. Februar 1915 auf lapidare Weise einen Traum: »Ich war zwölf und ein Virtuose.« Das Violinkon-zert und die Wahl des Soloinstruments ist lebensgeschichtlich immer wieder mit der gescheiterten Geigerkarriere von Sibelius in Verbindung gebracht worden. Auf seine Art war er ein Wunderkind, denn bis zu seinem 15. Lebensjahr hatte er sich das Geigenspiel nur mehr oder weniger autodidaktisch beigebracht, dann lernte und studierte er bei verschiedenen Lehrern in Helsinki, später in Berlin, ohne indessen, wie auch als Komponist, einen formellen Abschluss zu machen. Das Ende seiner angestrebten Laufbahn brachte das Scheitern eines Probespiels bei den Wiener Philharmonikern 1891, Sibelius war 26 Jahre alt.

In seinen Jugendjahren war die Geige für Sibelius aber weniger ein Instrument der Kammer- oder Konzertsaalmusik gewesen, sondern ein Medium, um mit der Natur zu kommunizieren. Noch später erinnerte er sich gern an jene Augenblicke des Glücks, in denen er mit der Geige Vom Violinvirtuosen zum Komponisten: Jean Sibelius, um 1900

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18 19 5. SYMPHONIEKONZERT

herumwanderte und mit den Klängen um ihn herum improvisierte. Auf sein zehntes Lebensjahr datieren Sibelius-Forscher eine eigentümliche kleine, klanglich experimentelle Komposition mit dem Titel »Wasser-tropfen«, die als Duo für Violine und Cello jenes Naturgeräusch in Musik zu verwandeln sucht. Solche, in der Jugendzeit mit der Geige improvi-sierend und intuitiv umgesetzte Begegnung mit dem Klang der Natur beschäftigte Sibelius aber sein ganzes Leben lang. Er war fasziniert von dem ganz eigentümlichen Obertonspektrum eines Kornfeldes kurz vor der Ernte, wie von den Stimmen der Vögel, besonders der Schwäne, die in ihm bis in ihre Gestalt hinein musikalische Vorstellungen zu wecken vermochten.

Parallele Traumwelten

Dennoch handelt es sich bei Sibelius’ Musik nicht um einen musika-lischen Realismus, der Landschaftliches oder Lebensweltliches abbildet, um es vor dem Hörer wieder erstehen zu lassen. Schon vom Material her benutzt Sibelius erstaunlich wenig im strengen Sinne finnische Motive und Themen. Und selbst der Anfang des Violinkonzertes, der in einzelnen motivischen Zellen das ganze Stück hindurch präsent bleibt, und dessen metrische Unbestimmtheit, frei schweifende Entwicklung und modale Prägung sofort alle Klischeebilder nordischer Weite aufzurufen vermag, trägt in sich eine Erinnerung aus ganz anderen Breiten. »Allegretto, Glocken von Rapallo« lautet die Beschriftung auf einem in Italien entstan-denen Skizzenblatt, auf dem zum ersten Mal Motive des Violinkonzerts erscheinen, einige Jahre bevor Sibelius im September 1902 von den finnischen Inseln als frisch Verheirateter seiner Frau schreibt, ihm seien »einige herrliche Themen für das Violinkonzert eingefallen«. »Rapallo« nannten Sibelius und seine Frau Aino dann auch den Obstgarten ihres Landhäuschens, 25 Kilometer entfernt von Helsinki, dessen Bau 1903 begann, und in das sie 1904 einzogen.

So ist die Zeit der Entstehung des Violinkonzertes und der Umar-beitung seiner ersten Fassung verbunden mit einem Wechsel des Lebens-mittelpunktes, mit mehr Distanz zur Bohème Helsinkis und einer neuen Wendung zur Natur, wenn auch in Nachbarschaft einer Künstlerkolonie. Und vielleicht kann man es gerade als besondere Leistung Sibelius’ in seinem Violinkonzert sehen, dass es – im ersten Satz – genau solch ein Lebensgefühl zwischen der Ahnung naturhafter mythischer Tiefe und der Vorstellung erhitzter Gesichter im etwas schwülen Salon in dichtester Weise miteinander verbindet, ineinander gleiten lässt, fast wie im Traum. Das erinnert an die Parallelwelten auf den symbolistischen Bildern seines Malerfreundes Akseli Gallen-Kallela (1865-1931). Und es synthetisiert

die beiden Pole seines Musikdenkens, die ansonsten im Jahr 1903 etwa in den Klavierbearbeitungen finnischer Volkslieder und der eleganten Melancholie des »Valse triste« in isolierter Weise Ausdruck finden.

Zu der traumartigen Anmutung, die Sibelius’ Musik hier, insbe-sondere im ersten Satz, erzeugt, trägt vor allem bei, dass vor dem Hinter-grund einer traditionellen Sonatenhauptsatzform doch kein Moment der völligen Identität existiert, vielmehr jeder einzelne Augenblick das Vorangegangene prozesshaft in sich aufnimmt, und so auch da, wo Iden-tität aufscheint, diese völlig verwandelt wirkt. Es gibt keinen Moment der Wiederholung, immer ist etwas in irgendeiner Weise transformiert. Sehr deutlich wird dies etwa in der Reprise des Hauptthemas. Steht es zu Beginn in der Solovioline ganz nah und deutlich vor dem unbestimmt wogenden Streichergrund, so erscheint es in der Reprise im Fagott wie ein dunkler Schatten, der sich in den Schluss der Violinkadenz hinein-schiebt. Das Identische erscheint hier als Abgespaltenes, in die Tiefe und Ferne entrückt. In der Erstfassung stand an dieser Stelle noch ein eher schematisch auftrumpfendes Streichertutti. Ähnlich verwan-

»Symposium«, Ölgemälde von Akseli Gallen-Kallela (1894). Das Bild verursachte bei seinem Erscheinen einen Skandal, zeigte es doch führende Vertreter einer finnischen Künstler-Avantgarde (darunter Jean Sibelius, rechts) – mit ins Leere starrenden Augen und vor halbleeren Weingläsern.

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delt wirkt in der Reprise auch das zweite Thema, das hier nicht in den Fagotten sondern den tiefen Streichern erklingt. Und es wird in den Holzbläsern überlagert durch eine Ankündigung des dritten Themas, das hier – bekannt aus der Exposition, wo es überraschend auftrat – als bereits Bekanntes schon das zweite in seinen Sog hineinzieht, ja, es sogar metrisch umformt. Die Reprise kennt beim zweiten Thema nicht mehr den -Takt der Exposition, sondern bringt dies jetzt im -Takt in triolischen Halben, in irrationaler Vergrößerung, bei der das, was vorher die Zeit von sechs Vierteln füllte, jetzt (als sechs triolische Halbe) auf den Zeitraum von acht Vierteln gedehnt wird.

Mehr als ein Virtuosenkonzert

Traumartig ist aber auch die überdeutliche Präsenz, die im Verlauf der Entwicklung bestimmte, vorher schon vorhandene, aber ganz unschein-bare Details erhalten, die abgespalten, umgestellt, vergrößert und umge-formt werden. Eigentlich lässt sich das ganze Stück, insbesondere aber der erste Satz, aus den motivischen Zellen des Anfangs ableiten, der so auch etwas Doppeldeutiges gewinnt: Er steht einerseits für sich selbst als erste von drei Themengruppen, andererseits bildet er das motivische Reservoir, aus dem die folgenden Themen schöpfen. Das tänzerische Abschlussthema greift sich den Quintfall heraus, und das elegische zweite Thema wächst als Vergrößerung aus einem unscheinbaren, dreitönig absinkenden Sekundgang hervor. Insbesondere dieses zweite Thema leuchtet in vielfachen harmonischen Wandlungen mit sentimental aufgeladenen Vorhalten immer wieder auf ganz unerwartete Weise auf. Es bildet so eine mit den konstruktiven Höhepunkten nicht kongru-ente Dramaturgie, eine erzählerische Unterströmung, die sich auch im zweiten und dritten Satz in Einblendungen bemerkbar macht und eine unterschwellige Verbindung unter den ganz verschiedenartigen Oberflä-chen suggeriert.

Ursprünglich besaß der erste Satz zwei große Kadenzen, die beide die Funktion einer Durchführung übernahmen, die erste für das erste Thema, die spätere für das zweite. Dass Sibelius die an sich großartige, eher ernste als virtuose zweite Kadenz in seiner Überarbeitung opferte, bewirkte nicht nur eine bessere Ausbalancierung der Form. Es bewahrte vielmehr diesem zweiten Thema auch seinen seltsamen, zwischen latenter Anwesenheit und augenblicksartig aufscheinender Präsenz schwankenden Charakter. Sibelius fand erst durch die Überarbeitung zu jener psycho-logischen Wahrhaftigkeit, die er suchte, und die das Stück weit über ein bloßes Virtuosenkonzert hinaushebt. M A R T I N W I L K E N I N G

Buchpräsentation in der Semperoper

Michail Jurowski –Dirigent und KosmopolitErinnerungen notiert von Michael Ernst (Henschel Verlag)

Buchvorstellung am 25. Januar 2016 um 14 Uhr im Oberen Rundfoyer der Semperoper. Michail Jurowski im Gespräch mit Michael Ernst. Der Eintritt ist frei.

In Kooperation mit den Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch

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ENTSTEHUNG

Frühjahr 1911

WIDMUNG

Louis Aubert

UR AUFFÜHRUNG

9. Mai 1911, veranstaltet von der Société Musicale Indépen-dante; 12. April 1912 Urauf-führung der Orchesterfassung unter Leitung des Komponisten

BESETZUNG

2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Schlagzeug, 2 Harfen, Celesta und Streicher

DAUER

ca. 15 Minuten

Maurice Ravel* 7. März 1875 in Ciboure, Frankreich † 28. Dezember 1937 in Paris

»Valses nobles et sentimentales«

1. Modéré – très franc2. Assez lent – avec une expression intense3. Modéré4. Assez animé5. Presque lent – dans un sentiment intime6. Assez vif7. Moins vif8. Épilogue. Lent

NOBLESSE UND SENTIMENTZu Ravels »Valses nobles et sentimentales«

Als Maurice Ravel 1911 seine »Valses nobles et sentimentales« komponiert, tanzt ein ganzer Kontinent in feierseligem ¾-Takt. Nicht nur Richard Strauss’ »Der Rosenkavalier«, uraufgeführt im Januar 1911, arbeitet mit deutlichen Walzer anklängen in anachronistisch gefärbter Wiener

Ausprägung. Auch Gustav Mahler verwendet ein Jahr zuvor in den Toblacher Krisenmonaten Versatzstücke eines Walzers in den Skizzen zum zweiten Scherzo in seiner unvollendeten zehnten Symphonie. Es scheint, als ob der Walzer den Geist einer gesamten Epoche erfasst, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs in beschwingter Champagnerlaune in die Abgründe der europäischen Zivilisation blickt. Betont unschuldig und naiv taumelt man in eine Zukunft, von der man kaum zu ahnen glaubt, schon bald in einer Katerstimmung aufzuwachen. Zu sehr ist man mit dem Blick zurück beschäftigt, als dass man sich ablenken lässt von düsteren Befürchtungen. Ein heftiger Materialrausch, vor allem in der Musik, befördert einen Überschuss an Phantasie, der jene Zeit im Nachgang golden schimmern lässt. Noblesse und Sentiment betreten noch einmal die Bühne, bevor die Zeichen der Zeit weitreichende Ände-rungen ankündigen. Die Jahre um die Jahrhundertwende haben das Zeug zu einem Epilog, der die Kraftlinien des neunzehnten Jahrhunderts abschließend bündelt. Vor allem einer ist es, dessen Name immer wieder fällt: Franz Schubert. So auch bei Maurice Ravel: »Der Titel der ›Valses nobles et sentimentales‹ zeigt zur Genüge meine Absicht, eine Walzer-kette nach dem Beispiel Schuberts zu komponieren. Auf die Virtuosität, die ›Gaspard de la Nuit‹ zugrunde lag, folgt eine merklich abgeklärte Schreibweise, die die Harmonik festigt und die Konturen hervortreten lässt.« Nach einem Exkurs in die dunklen Seitengänge der menschlichen Natur mit dem technisch äußerst anspruchsvollen »Gaspard de la Nuit« gönnt sich Ravel die Hinwendung zu einer Gattung, die eine gewisse Ungezwungenheit erlaubt, wie sie bei aller Empfindsamkeit bereits in Schuberts »Valses sentimentales« op. 50 (1825) zutage tritt. Mit seinen

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Walzern wollte Schubert »den schönen Wienerinnen« mit einem Lächeln huldigen – eine betörend unschuldige Art der künstlerischen Erschaf-fung, die in gewisser Weise auch auf Ravel zutrifft. Der Widmung an den Studienfreund Louis Aubert fügt er eine bezeichnende Bemerkung hinzu: sein Spiel verfolge keine andere Absicht als das »köstliche und immer neue Vergnügen an einer unnützen Beschäftigung«. Vor diesem Hintergrund von einer »abgeklärten Schreibweise« zu sprechen, wie Ravel es tut, lässt vermuten, dass er selbst am besten weiß, mit »Gaspard de la Nuit« und den »Miroirs« in Bereiche der Extreme vorgestoßen zu sein und dass eine künstlerische ›Festigung‹ nur durch Rückkehr zu den Gefilden des Bekannten möglich ist. »Abgeklärt« muss dabei nicht zwangsläufig gewöhnlich, uninspiriert oder handwerklich solide heißen. Im Gegenteil, die »noblen und empfindsamen Walzer« offerieren in ein-drucksvoller Weise eine Eleganz, die sich zwischen großer Geste und zarter Zerbrechlichkeit bewegt.

Baudelairische Reize

Am 9. Mai 1911 veranstaltet die Société Musicale Indépendante (S.M.I.) ein außergewöhnliches Konzert, bei dem die Namen der Komponisten vom Publikum erraten werden sollen. Im Programm stehen die »Valses nobles et sentimentales« an vierter Stelle, gespielt in der ursprünglichen Fassung für Klavier von Louis Aubert, komponiert, so heißt es, von X. Als viele Zuhörer ein »musikalisches Täuschungsmanöver« aus Dissonanzen und falschen Noten monieren, macht Ravel ein unbewegliches Gesicht. Erst als das Ergebnis der Umfrage bekannt gegeben wird, stellt sich heraus, dass das gebildete Publikum einer musikalischen Avantgarde nicht fähig ist, zwischen Debussy und Léo Sachs oder Ravel und Lucien Wurmser zu unterscheiden. Wenngleich Ravel auch richtig erraten wird, schreiben nicht wenige das Werk Satie oder Kodály zu.

Nur ein Jahr später macht die Tänzerin Natascha Trouhanova Ravels Walzerkette zur musikalischen Grundlage für ein Ballettpro-gramm mit dem Titel »Adélaide oder die Sprache der Blumen«. Innerhalb von zwei Wochen instrumentiert Ravel das mehrsätzige Werk, welches nun die Handlung um eine Pariser Kurtisane in der nach-napoleonischen Zeit orchestral begleitet. Am 22. April 1912 wird das Werk in der Orches-terfassung aufgeführt. Ravel, der selbst am Pult steht, soll bekannt haben, bei der Überlagerung von Zweier- und Dreiertakten im siebten Walzer mit dem Stab »immer im Kreise« geschlagen zu haben. Neben einem gewissen Grundvertrauen in die rhythmische Bewältigung – man könnte auch von einem kalkulierten dirigentischen Abtauchen sprechen – treten im Zeitalter der Moderne erweiterte Kreisläufe und kumulative Inno-

vationen auf den Plan, die eine Prozessform wachsender Asymmetrien hervorrufen. In der Gleichzeitigkeit von Zweier- und Dreiertakten macht sich ein Drang nach Ausdehnung bemerkbar. Doch ummantelt dieser die rhythmische Expansion in geradezu selbstverständlicher Natürlichkeit. Nach Ravels Phase einer aufsteigenden Spirale äußerer Virtuosität kommt es nun zu selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten bis hin zu einer intendierten Unterbietung aller Erwartungen an das virtuose

Maurice Ravel, um 1920

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Wesen von Kunst. Roland-Manuel geht dem nach, wenn er fragt: »Wie kann man eine so durchsichtige Schreibweise noch weiter auflockern, ohne sie ärmlich zu machen? Wie diese so klaren Züge noch schärfer herausarbeiten, ohne die feine Spitze abzubrechen?« An anderer Stelle spricht Roland-Manuel von einer »etwas kühlen Sinnlichkeit«, die Ravels Valses beseelt, von elektrischen Schauern, katzenhafter Geschmeidig-keit, Baudelairischen Reizen. Fragt man weiter nach der Besonderheit der Valses, so bemerkt der Musikkritiker und Musikologe Hans Heinz Stuckenschmidt: »Die Klangvisionen schaffen auf zauberische Art eine Welt der chromatischen Nachbar-Harmonik. Es ist ein Ravel’scher Kunst-griff von höchster Verfeinerung, die Schwerkraft des Grundtons immer wach bleiben zu lassen und dennoch diesen Grundton in jedem Takt, jedem Akkord, fast jeder Note in Frage zu stellen. Ravels Akkordresul-tate sind von kühner Abstraktion, so dass der Hörer auf eine listige und geistvolle Weise überredet wird, etwas als einfach zu akzeptieren, was in Wahrheit sehr kompliziert ist.«

Repräsentativer Charme und feinperlige Verve

Mit Grandezza öffnen sich im ersten Walzer die Flügeltüren zu einer bereits fortgeschritten ausgelassenen Gesellschaft. In frischem Schwung, so scheint es, werden die Portale der Festsäle auf- und zugeschlagen, in den Ecken reckt sich die Lust nach verlangenden Posen. Wirbelnd künden die Faltenwürfe der Tanzenden von einem wogenden Leben. Ganz anders der zweite Walzer. Empfindsam entzieht er sich, folgt geheimnisvollen, versponnenen Wegen und rankt an ihren Rändern in zarten Impressionismen empor. Auch der dritte Walzer bewegt sich auf dünnem Eis. Zierlich und auf Zehenspitzen tupft er dahin, verströmt sich zuweilen und erinnert in seiner Grazie an Tschaikowskys Ballettmu-siken mit den sehnsuchtsvollen Blicken federnder Ballerinen. Aus dieser Stimmung heraus entspinnt sich im belebteren vierten Walzer (»Assez animé«) ein geradezu fliegender Tanz mit weit ausholenden Hebungen und einer Schrittfolge, die die Weite des Raums ungehemmt nutzt. Man hat das Gefühl, einem pas de deux beizuwohnen, dessen fließende Bewe-gungslinien den Horizont auflösen – schrankenlos, selbstvergessen und unbegrenzt. Eine andere Perspektive auf die Gattung nimmt dagegen der fünfte Walzer ein. Seine Arabesken erscheinen in sich noch einmal ver edelt, sodass man tatsächlich meint Gefahr zu laufen, in diesem Geflecht dünngliedriger Verästelungen die »feine Spitze« abzubrechen. Die Tanzparaphrase gewinnt Züge eines vornehmen, zurückhaltenden Konversationsstils, der in gehobener Atmosphäre selbst zum Ausweis dämmernder Dekadenz wird. Doch verblasst diese schnell und geht über

in einen sprudelnden Tanz, der die Momente aufkeimender Ernst-haftigkeit rasch vergessen macht. Der Sog reißt fort – auch im letzten Walzer. Aufreizend tänzerisch komponiert, entwickelt er einen Schwung, der repräsentativen Charme und feinperlige Verve glei-chermaßen versprüht. Gleichwohl arbeitet er mit Dehnungen und Stockungen sowie mit metrisch-rhythmischen Überlappungen und setzt den Orientierungssinn der tanzenden Masse kurzzeitig außer Kraft. Er spielt mit der Trägheit des Körpers. Doch ist dieser einmal in Schwung geraten und wähnt sich im Gleichmaß mit anderen bewegten Körpern, ist er kaum aufzuhalten.

Ravel fügt mit dem Epilog eine melancholisch gefärbte Rück- schau hinzu – nachdenklich sin- nend und durchzogen von aufkla-renden Erinnerungsschüben, in

denen die Vergangenheit für einen kurzen Moment greifbar wird. Es ist ein leises, wehmütiges Abschiednehmen mit Spuren sanfter Bedrü-ckung. Wie hinter einem Schleier tönt die Musik, deren Konturen ihre Schärfe verloren haben und in einen Zustand der Auflösung münden. Ravel wendet hier die Technik der Überblendung an, die später in der Filmbranche als wichtiges Stilmittel eingesetzt wird. Im Übergang von Ab- und Aufblende erreicht er einen Sprung der Zeiten, dem jegliche Eindeutigkeit genommen ist. So könnte der Epilog auch ein Prolog für aufziehende Zeiten sein, in denen der Bewusstseinsstrom in Wellen von Wahrnehmungen und Empfindungen eine scheinbar ungeordnete Folge von Bewusstseinsinhalten nach außen spült. Der Walzer in seiner zivilisierten Form hat die Bewegung des Körpers in den Gesellschaften des neunzehnten Jahrhunderts diszipliniert und ihn zum Gleichtakt mit seinesgleichen erzogen. Was danach folgt, ist die Entfesselung eines Sturms, in dem das Chaos selbst zum kreativen Element wird.

A N D R É P O D S C H U N

Ravel als Soldat, 1916

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ENTSTEHUNG

1903-1905

UR AUFFÜHRUNG

15. Oktober 1905 in den Concerts Lamoureux unter der Leitung von Camille Chevillard;eigentlicher Premierentermin: 19. Januar 1908 in den Concerts Colonne unter dem Dirigat des Komponisten

BESETZUNG

2 Flöten, Piccolo, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, 3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 2 Kornette, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, 2 Harfen, Celesta und Streicher

DAUER

ca. 25 Minuten

Claude Debussy* 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye, Frankreich† 25. März 1918 in Paris

ERINNERUNG UND EINGEBUNGClaude Debussys »La mer«

»Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung der Wasser, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musi-kalischer als ein Sonnenuntergang! Für den, der mit dem Herzen schaut und lauscht, ist das die beste Entwicklungs-

lehre, geschrieben in jenes Buch, das von den Musikern nur wenig gelesen wird: das der Natur.« So lautet Claude Debussys Credo. Musik als Dämmerung, als Zustand eines Dazwischen, kaum greifbar, doch unmit-telbar wirkend. Im Februar 1913, fünf Jahre vor seinem Tod, sinniert Debussy über Fragen des Geschmacks und stellt fest: »Lassen wir die Schönheit eines Kunstwerkes stets etwas Geheimnisvolles bleiben, so dass man nie genau feststellen kann, ›wie es gemacht ist‹. Bewahren wir um jeden Preis diese der Musik eigene Magie!« Sichtbar geht es ihm um eine Atmosphäre, die absichtsvoll in der Schwebe hält, sich entzieht, wo es den Menschen drängt, Dinge konkret anzusprechen.

Die Lust an der Entgrenzung

Wie schwer es ist, offen für die Empfindung eines Zaubers zu bleiben, weiß Debussy seit frühen Kindertagen. Im hektischen, oftmals lauten und unfreundlichen Paris ist es für den Heranwachsenden zuweilen eine Herausforderung, sich eine magische Vorstellungskraft zu bewahren. Ganz anders Cannes, wo Debussy zweimal im Jahr seine Patentante an der französischen Mittelmeerküste besucht und in ein anderes Licht eintaucht. Hier begegnet er nicht nur erstmals dem Wesen der Musik, lernt Klavier spielen, sondern trifft auch erstmalig auf die unendliche Weite des Meeres. Er unternimmt mit seiner Tante ausgedehnte Strand-gänge und bemerkt, welch große Faszination das Meer auf ihn ausübt. Intuitiv macht er die Erfahrung eines Kindes, das noch keine Abgren-

»La mer«trois esquisses symphoniques pour orchestredrei symphonische Skizzen für Orchester

1. De l’aube à midi sur la mer – très lent Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer – sehr langsam

2. Jeux de vagues – allegro Spiel der Wellen – Allegro

3. Dialogue du vent et de la mer – animé et tumultueux Dialog zwischen Wind und Meer – lebhaft und stürmisch

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zung zwischen Ich und Außen kennt. Die Lust der Entgrenzung ist unge-brochen und hält bei Debussy zeit seines Lebens an. Sigmund Freud spricht einige Jahre später in Reaktion auf Romain Rolland von einem »ozeanischen Gefühl« – einem Gefühl »unauflösbarer Verbundenheit«. Das Meer wird nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen oder als reine Wasserwüste. Es steht für einen Zusammenhang mit dem Ganzen und dient als Hort der Inspiration. So, wie Anregung immer Entdeckungen mit sich bringt, ziehen wagemutige Seefahrer in der frühen Neuzeit aus, um fremde Länder zu erkunden. Man reist über das Meer, um irgendwo anzukommen – und sei es in den Weiten der Imagination. Als Debussy 1903 in den Anfängen seiner Komposition zu »La mer« steckt, schreibt er am 12. September an André Messager, der 1902 die Uraufführung seiner Oper »Pelléas et Mélisande« dirigiert hat: »Sie wissen vielleicht nicht, dass ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns bestimmt war und dass nur die Zufälle des Lebens mich auf eine andere Bahn geführt haben. Nichtsdestoweniger habe ich mir für sie (die See) eine aufrichtige Leidenschaft bewahrt.« Die Zeilen stammen aus Bichain, wo Debussy als Gast der Eltern seiner ersten Frau Rosalie Texier weilt. Der Komponist fährt fort: »Nun werden Sie mir sagen, dass die Weinberge der Bour-gogne nicht gerade vom Ozean umspült werden …! Und dass das Ganze womöglich den im Atelier entstandenen Landschaftsbildern ähneln könnte! Aber ich habe zahllose Erinnerungen; das ist meiner Meinung nach mehr wert als eine Realität, deren Zauber in der Regel die Gedanken zu schwer belastet.« Debussy trägt das Meer in sich. In der Gegenwelt der burgundischen Rebhänge äußert sich die ozeanische Empfindung in schöpferischer Weise. Abstand und Kontrast zum Gegenstand dehnen die Phantasie und lenken den Blick durch drei programmatische Andeu-tungen in eine durchaus konkrete Richtung. Aus dem Burgund schickt Debussy einen Brief an den Verleger Jacques Durand: »Mein lieber Freund, was würden Sie hierzu sagen: La mer. Drei symphonische Skizzen für Orchester. 1. Mer belle aux Îles Sanguinaires (Schönes Meer bei den blutdürstigen Inseln). 2. Jeux de vagues (Spiel der Wellen). 3. Le vent fait danser la mer (Der Wind lässt das Meer tanzen). Daran arbeite ich nach unzähligen Erinnerungen und versuche es hier zu beenden.« Doch zieht sich die Fertigstellung des Werkes hin. In den nächsten Jahren arbeitet er immer wieder unterbrochen auf der Kanalinsel Jersey und dem franzö-sischen Seebad Dieppe an der Instrumentierung – unmittelbar am Meer. Am 5. März 1905 liegt die Partitur beendet vor. Die Satz-Überschriften existieren weiterhin, wenngleich in modifizierter Form. Noch kurz vor Abgabe des Manuskriptes schreibt er am 6. Januar 1905 an Durand: »Lieber Freund, ist der Titel, den ich Ihnen für das erste Stück von ›La mer‹ angegeben habe, nicht ›Von der Morgendämmerung bis zum Mittag Claude Debussy, um 1908

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auf dem Meere‹? Plötzlich bin ich mir dessen nicht mehr ganz sicher.« Als poetische Andeutung ist die Bedeutung der Überschriften durchaus anregend, auch wenn diese für die musikalische Form weitgehend uner-heblich sind. Auf die Frage, welche Stelle des ersten Satzes die schönste sei, wird Erik Satie die geistvolle Antwort zugeschrieben: »die gegen halb elf.« Nicht nur besteht die Gefahr einer programmatischen Einengung, die gern von gewitzten Denkern aufgegriffen wird, mitunter verselbständigen sich auch die Erinnerungen und schlagen ihre eigene, oft unergründliche Richtung ein. 1911 versucht Debussy einem Journalisten das Geheimnis der musikalischen Komposition zu beschreiben: »Das Rauschen des Meeres, die Kurve eines Horizontes, der Wind in den Blättern, der Schrei eines Vogels rufen in uns vielfältige Eindrücke hervor. Und plötzlich, ohne dass man das geringste von der Welt dazu tut, löst sich eine dieser Erinne-rungen von uns los und drückt sich in musikalische Sprache aus. Sie trägt ihre Harmonie in sich selbst.«

»Eine Art klingende Palette«

In Debussys Beobachtung könnte auch die Erklärung für den Unter-titel von »La mer« liegen: drei symphonische Skizzen. Die Bezeichnung schließt sich zunächst aus. Denn was symphonisch gestaltet ist, zeigt sich in einer größeren, zusammenhängenden Form, ihr liegt eine gedankliche Konzentration zugrunde, die den Bogen über entfernte Punkte zu spannen versucht. Hingegen handelt es sich bei Skizzen meist um kurze Notate, die Einfälle in lockerer, spontaner Reihenfolge festhalten. Wenn Debussy sein großes, lang erwartetes Werk im Untertitel »Drei symphonische Skizzen« nennt, so spielt er bewusst mit diesem Paradoxon. Es sind ausge-arbeitete Skizzen, die in ihrer Instrumentierung weit in das Klangreich des Impressionismus reichen. Durch die Macht der Phantasie gerinnen Momente der Erinnerung zu Momenten der Eingebung. Debussy, so scheint es, überträgt diesen Prozess auf den Hörer. Der Eindruck, den ein Gegenstand hervorruft, setzt sich fest und bestimmt die Atmosphäre. Andererseits könnten die drei »symphonischen Skizzen« ohne weiteres mit Allegro, Scherzo und Finale bezeichnet werden und zusammen eine mehrsätzige Symphonie bilden. Sie folgen ungefähr der symphonischen Tonalitätenfolge und zeigen Spuren des Zyklischen, bleiben also trotz ihrer formalen Eigenständigkeit durch thematische Bande miteinander verknüpft. In den Ecksätzen erwächst eine pentatonische Reihe zur Keimzelle der musikalischen Ereignisse, angereichert durch charakteris-tische Instrumentenkombinationen. Die Verknüpfung von gedämpften Trompeten und Englischhorn an einer Stelle im ersten Satz kehrt im dritten wieder. Außergewöhnliche Verbindungen in der Instrumentation

bestimmen das Bild, unzählige Abwandlungen in der Teilung der Streicher, mitunter aufge-spalten auf fünfzehn Stimmen, zeugen von einer erstaunlichen Mannigfaltigkeit, die eine erfin-dungsreiche Behandlung der Harfen einschließt. Was Debussy präsentiert, ist eine Fülle an kolo-ristischen Einfällen, abgemalt dem tausendfachen Schimmer, der sich glitzernd über die Oberfläche des Meeres legt. Der Programmredak-teur der Concerts Lamoureux, wo am 15. Oktober 1905 die Urauf-führung des Werkes unter der musikalischen Leitung von Camille Chevillard stattfindet, glaubt in Debussys Arbeit »eine Art klin-gende Palette« auszumachen, »auf der ein geschickter Pinsel seltene

und leuchtende Töne mischt, um in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Skala das Spiel des Schattens und des Lichts, das ganze Helldunkel der schillernden und unendlichen Fluten wiederzugeben. Manche Ausbrüche der Blechbläser gleichen Sonnenstrahlen, die plötzlich über die Wasser-oberfläche gleiten und sie wie einen blendenden Spiegel funkeln lassen; manche Streicherarpeggien sind wie die tiefen Unterströmungen der treibenden Wogen, die sich am Strande brechen und die Luft mit ihrer aufschäumenden Gischt peitschen. Zuweilen lässt ein einfacher Flöten-lauf den Hauch einer Brise ahnen; mitunter erinnert irgendeine unruhige Wendung der Bratsche an den reißenden Lauf der kleinen Wellen, die sich in ihrem unaufhörlichen Geplätscher überrieseln.« Die Flut der Bilder scheint im Programmheft nicht viel gebracht zu haben, die Reaktion auf die Uraufführung ist auffallend geteilt – was vermutlich auch daran liegt, dass die Wiedergabe der Musik nicht gerecht wird, glaubt man den zeitge-nössischen Berichten. Oft wird daher der 19. Januar 1908 als eigentlicher Premierentermin angegeben: An diesem Tag dirigiert Debussy das Werk mit dem französischen Symphonieorchester Concerts Colonne. Es ist ein Sonntag, der den Charakter einer Feierlichkeit trägt. Er bietet Gelegenheit, sich in großem Stil über das Werk des Komponisten auszutauschen.

A N D R É P O D S C H U N

Debussy wählt ein Detail aus dem Holzschnitt »Die große Welle vor Kanagawa« von Hokusai für die erste Ausgabe von »La mer«, 1905.

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1. Violinen Kai Vogler / 1. Konzertmeister Michael EckoldtThomas MeiningJörg FaßmannVolker DietzschJohanna MittagSusanne BrannyBarbara MeiningBirgit JahnWieland HeinzeAnja KraußAnett BaumannRoland KnauthYoriko MutoGa-Young SonJuliane Kettschau*

2. Violinen Heinz-Dieter Richter / Konzertmeister

Reinhard Krauß / Konzertmeister

Matthias MeißnerStephan DrechselJens MetznerUlrike ScobelOlaf-Torsten SpiesAlexander ErnstElisabeta SchürerKay MitzscherlingMartin FraustadtChristoph Schreiber-KleinYewon KimMinah Lee

Bratschen Sebastian Herberg / Solo

Stephan PätzoldAnya DambeckUwe JahnRalf DietzeZsuzsanna Schmidt-AntalMarie-Annick CaronSusanne NeuhausLuke TurrellVeronika Lauer**Rainhard Lutter*Henry Pieper*

Violoncelli Friedwart Christian Dittmann / Solo Martin JungnickelUwe KroggelBernward GrunerJohann-Christoph SchulzeJörg HassenrückJakob AndertAnke HeynTitus Maack

Kontrabässe Christian Ockert* / Solo

Razvan PopescuHelmut BrannyChristoph BechsteinFred WeicheReimond PüschelThomas GroschePaweł Jabłczyński

Flöten Sabine Kittel / Solo

Dóra VargaDiego Aceña Moreno**

Oboen Céline Moinet / Solo

Andreas LorenzMichael Goldammer

Klarinetten Robert Oberaigner / Solo

Jan Seifert

Fagotte Philipp Zeller / Solo Joachim HuschkeAndreas BörtitzHannes Schirlitz

HörnerJochen Ubbelohde / Solo

Manfred RiedlLars Scheidig**Friedrich Kettschau*

Trompeten Mathias Schmutzler / Solo

Helmut Fuchs / Solo

Peter LohseSiegfried SchneiderSebastian Böhner**

PosaunenWolfram Arndt* / Solo

Jürgen UmbreitFrank van Nooy

TubaJens-Peter Erbe / Solo

Pauken Thomas Käppler / Solo

SchlagzeugChristian LangerSimon EtzoldJürgen MayDirk ReinholdTimo Schmeichel*Simon Lauer*

HarfenVicky Müller / Solo

Astrid von Brück / Solo

CelestaHans Sotin

5. Symphoniekonzert 2015 | 2016 Orchesterbesetzung

* als Gast** als Akademist / in

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5. SYMPHONIEKONZERT

Vorschau

6. SymphoniekonzertZum Gedenken an die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945

SA MSTAG 13.2.16 20 UHR

SONNTAG 14.2.16 20 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Christian Thielemann DirigentCamilla Nylund SopranElisabeth Kulman MezzosopranDaniel Behle TenorGeorg Zeppenfeld BassSächsischer Staatsopernchor Dresden

Ludwig van Beethoven»Missa solemnis« D-Dur op. 123

Aufzeichnung durch MDR Figaro

7. Symphoniekonzert

SA MSTAG 27.2.16 11 UHR

MONTAG 29.2.16 20 UHR

DIENSTAG 1.3.16 20 UHR

SEMPEROPER DRESDEN

Andris Nelsons DirigentHåkan Hardenberger Trompete

Benjamin BrittenPassacaglia op. 33b aus »Peter Grimes«Bernd Alois Zimmermann»Nobody Knows de Trouble I see«Konzert für Trompete in C und OrchesterDmitri SchostakowitschSymphonie Nr. 8 c-Moll op. 65

Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper

Aufzeichnung durch MDR Figaro

W W W.FACEBOOK.COM/STA ATSK APELLE.DRESDEN

Staatskapelleli e

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IMPRESSUM

Sächsische Staatskapelle DresdenChefdirigent Christian Thielemann

Spielzeit 2015 | 2016

HER AUSGEBER

Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © Januar 2016

REDAK TION

André Podschun

GESTALTUNG UND L AYOUT

schech.net Strategie. Kommunikation. Design.

DRUCK

Union Druckerei Dresden GmbH

ANZEIGENVERTRIEB

EVENT MODULE DRESDEN GmbH Telefon: 0351 / 25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de

BILDNACHWEISE

Marco Borggreve (S. 4, 7); Gilbert Kaplan, The Mahler Album, New York 1995 (S. 10); www.ansichtskarten-wenzel.de/product_info.php?info=p4355_ak-trompeter-von-saeck ingen--behuet-dich-gott---am-flussufer--pferd.html (aufgerufen am 11.1.2016) (S. 13); Jean Sibelius: Historisches Archiv der Sächsischen Staatstheater (S. 16, 19); Arbie Orenstein, Maurice Ravel. Leben und Werk, Stuttgart 1978 (S. 25, 27); Foto von Félix Nadar (S. 30); www.expositions.bnf.fr/lamer/grand/121.htm (aufgerufen am 11.1.2016) (S. 33)

TE X TNACHWEISE

Der Einführungstext von Martin Wilkening ist ein Nachdruck aus dem Programmheft zum 7. Symphoniekonzert der Sächsischen Staats-kapelle Dresden im März 2012. Die Artikel von André Podschun sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.

SächsischeStaatskapelle DresdenKünstlerische Leitung/ Orchesterdirektion

Christian ThielemannChefdirigent

Juliane StanschPersönliche Referentin von Christian Thielemann

Jan Nast Orchesterdirektor

Tobias NiederschlagKonzertdramaturg, Künstlerische Planung

André PodschunProgrammheftredaktion, Konzerteinführungen

Matthias ClaudiPR und Marketing

Agnes MonrealAssistentin des Orchesterdirektors

Elisabeth Roeder von Diersburg Orchesterdisponentin

Matthias GriesOrchesterinspizient

Agnes ThielDieter RettigNotenbibliothek

Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.

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Page 22: RobinATCI CI TI Leonidas KAVAKOS - Staatskapelle Dresden · 2016. 1. 20. · Jean Sibelius (1865-1957) Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47. 1. Allegro moderato 2. Adagio