Rudi Dutschke Geschichte-Ist-Machbar 1992

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R UD I DUTSC H KE LGeschichte ist machbar Texte i.iber das herrschende Falsche un d die Radikalitat des Friedens H erausgegeben von J i.irgen Miermeister Verlag Klaus Wagenbach Berlin

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Texte über das herrschende Falsche und die Radikalitat des Friedens

Transcript of Rudi Dutschke Geschichte-Ist-Machbar 1992

  • R UD I DUTSCH KE

    LGeschichte ist machbar Texte i.iber das herrschende Falsche und die Radikalitat des Friedens

    H erausgegeben von J i.irgen Miermeister

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

  • Wagenbach : Taschenbuch 198

    3.-4. Tausend April 1992 Neuausgabe 1991 C 1980, 1991 Verlag Klaus Wagenbach, Ahomsm.Be 4, 1000 Berlin 30 Umschlaggestaltung: Rainer Groothuis unter Verwendung eines Fotos von Preben Tolstoy Gesamtherstellung: Druckerei Wagner, Nordlingen Printed in Germany. Aile Rechte vorbehalten. ISBN 3 803121981

    INHALT

    7 Die bewuftte Entscheidung des Individuums (Aus dem Tagebuch)

    9 Einladung zu einer urdeutschen Met-Shuffle 12 Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde 20 Eine revolutionsreife Wirklichkeit fiillt

    nicht vom Himmel 27 Genehmigte Demonstrationen mussen in

    die Illegalitiit uberfuhrt werden 39 Traurige und schone Augenblicke

    (Aus dem Tagebuch) 43 Besuch bei Georg Lukacs

    (Aus dem Tagebuch) 45 Ausgewiihlte und kommentierte Bibliographie

    des revolutioniiren Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart

    61 Demokratie, Universitiit und Gesellschaft 76 Professor Habermas, Ihr begriffsloser Objektivismus

    erschliigt das zu emanzipierende Subjekt! 86 Keiner Partei durfen wir vertrauen! 89 Das Sich-Verweigern erfordert Guerilla-Mentalitiit 96 Besetzt Bonn!

    tOO Vom ABC-Schutzen zum Agenten 104 Bisher konnte ich mich auf meine Beine

    und Fiiuste verlassen . .. (Aus dem Tagebuch)

    105 Die geschichtlichen Bedingungen fur den Internationalen Emanzipationskampf (Rede auf dem Vietnam-Kongre6)

  • 122 Rudi Dutschke, j osef Bachmann: zwei Briefe 126 Sozialdemokratischer Kommunismus, moderne

    Macht und unsere Schwache (Aus dem Tagebuch)

    129 Wir waren niemals eine Studentenbewegung 135 Schwierigkeiten mit Lenin

    (Aus dem Tagebuch) 136 Pro Patria Sozi? 140 Das wiedergewonnene Abenteuer 148 Sozialistische Tragodien bewaltigen! 157 Die Internationalisierung der >Stammheime< 164 Subkultur und Partei 172 Ermordetes Leben 175 Abgelehnt

    (Aus dem Tagebuch) 176 Die Gliicksmanner 181 Eroberung und Befreiung stehen im Widerspruch

    (Aus dem Tagebuch)

    182 Nachwort 187 Biographie 189 Quellen

    Die bewuftte Entscheidung des Individuums (Aus dem Tagebuch)

    9. April1963 Habe den polnischen Film ,.Der Kanal von Andrzej

    Wajda gesehen. In der letzten Woche davor taglich in der ,.AJnerikanischen Schule (wahrend der Kiichenarbeit) mit Thomas E . iiber den jetzigen und iiber den zukiinhigen, dann von der Entfremdung befreiten Menschen gesprochen. Im Film sah ich nun den Menschen in der Kriegszeit, jenes ,.nicht festgestellte Tier - so meint jedenfalls Nietzsche.

    lm ,.Kanal erblickte ich, wie der Mensch im allergroBten Schmutz und Morast Mensch bleibt - schon durch sein BewuBtsein. Ich bekam dort Menschenkinder meines Alters und noch jiingere zu sehen: wie die fiir die Freiheit ihres Vaterlandes kampften, toteten fiir ihre Heimat, starben . ..

    Polen starben, Deutsche starben. Indem die Polen d ies vollzogen, vollzogen sie den Tribut an die historische Notwendigkeit, der Notwendigkeit des Sieges iiber den Faschismus. Die deutschen Soldaten, die auch fiir das Vater-land starben, so glaubten sie wenigstens, batten nie eine wirkliche Chance. Der ,.weltgeist (Hegel) tobte sich mit Hilfe der ,.List der Vernunft wieder einmal richtig aus und kam zum BewuBtsein seiner selbst. Die Moglichkeit der groBen Wandlung auf dieser von Gott fiir uns geschaffenen Welt lag in der Hand einiger weltgeschichtlicher Indivi-duen. Die versagten und versagen weiterhin.

    W enn die Geschichte nicht von Personlichkeiten, sondern von in der Materie liegenden Gesetzen gelenkt wird, so meint jedenfalls die marxistische Geschichtsmythologie, dann kann eigentlich nichts >schiefgehen

  • Engels und den heutigen >Nachfolgern< eine beschlossene Sache ist, braucht uns eigentlich die Gefahr eines Atomkrie-ges nicht zu schrecken. Die Denker eines solchen Unsinns der Unvermeidlichkeit werden nie die Entfremdung des Menschen aufheben. Entfremdung ist nicht nur durch die scheinbare Verselbstandigung der vom Arbeitenden geschaf-fenen Waren gegeben, nicht nur durch die Feindlichkeit dieser von ihm produzierten Waren. Entfremdung ist fiir mich auch Starrheit des Denkens, Geschlossenheit des Den-

    - kens. Die Befreiung des Menschen ist nur durch wirkliche Einsicht in die notwendigen Gegebenheiten des gesellschaft-lichen Lebens moglich. Eine Anderung der Besitzverhalt-nisse ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung der Entfremdung.

    1957

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    Einladung zu einer urdeutschen Met-Shuffle

    Es liidt ein: Hac(k)e(n)- Crux TEUTONICA- (schlagende Verbindung) zu einer urdeutschen Met-Shuffle

    Willkommen sind aile Neuimmatrikulierten, auch all die Kommilitonen, die noch keinen AnschluB finden konnten. In unserer Verbindung finden Sie eine Gemeinschaft, die hilfs-bereit aile individuellen Sorgen beseitigt und einen Kamerad-schaftsbund fiir das ganze Leben schafft, der immer dann einspringen wird, wenn die weltliche Not unerforschlich und auswegslos erscheint. Gerade in Berlin sind wir noch immer durch Falschheit und Neid von linken Wirrkopfen der Verleumdung preisgegeben, die unsere ehrwiirdige Tradition mit Dreck besudeln wollen. Das Gerede von den alten Herren, die uns scheinbar gangeln, ist eine Mar, die in der Garkiiche Ulbrichts entstanden ist. Unsere Gemeinschaft pflegt seit ihrem Ursprung eine wahre, germanische Demo-kratie; bei uns ist man durch und durch unabhangig; Freiheit ist unser Prinzip. Vnsere Demokratie geht sogar so weit, daB niemand gezwungen ist, sich zu schlagen oder Farben zu tragen.

    Die Forderer unserer Verbindung werden Ihnen helfen, die richtige Einsicht zu finden; sie werden das Denken formen, was die heutige Industrie von Ihnen fordert: Tiich-tigkeit, FleiB und Eifer. Bei uns werden Sie auf Ihren spateren Beruf vorbereitet und wir schaffen Ihnen die Stellen, die Ihnen dank unserer Verbindungen weit offenstehen und Ihrer Moral entsprechen. Ein gliickliches und zufriedenes Leben harrt auf Sie!

    Wir stehen fest auf dem Boden eines liberalen Staates, wie die Geschichte unserer Verbindung zeigt. Schon 1819 wurde ein elender russischer Spion (Kotzebue) von einem Angeho-rigen der Korporationen erstochen; 1871 waren wir die ersten, die das deutsche Reich bejubelten; 1914 eilten wir zu den Fahnen, urn dem bedrohten Vaterland zu helfen; 1933 beugten wir uns der Gewalt und wir gingen in die HJ, urn diese Organisation von innen auszuhohlen; der uns aufge-

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  • zwungene Krieg von 1939 fand uns wieder in der ersten Reihe; 1945 konnten wir endlich dem Anstreicher unsere Verachtung zeigen, denn wie hatte er seine Versprechungen an die deutsche Industrie gehalten? Er hatte sie zugrunde gerichtet!

    Unsere Verbindungen entstanden unerschiittert wieder, denn schon zeigte sich der Strudel, der die Hime ins Ausweglose riB und der schon in der Weimarer Zeit unsere Verachtung verdiente. Bolschewismus und Pazifismus woll-ten den Eifer der deutschen Studenten hemmen. Die Indu-strie schrie formlich nach unserer Erziehung untertanigen MaBhaltens. Unsere Gonner untersriitzten uns mit allen Mitteln; ihr Wunsch wurde uns zur Verpflichtung! In unserer Verbindung entsteht der ewig deutsche Mensch, der sich der Fiihrung anvertraut, der beharrlich, ohne aufzu-mucken, das deutsche Wunder schafft- ein Schrecken fiir die Internationale Konkurrenz!

    Die Einheit ist uns ein Herzbediirfnis, zu keiner Stunde verges sen wir unsere Lie ben in der Zone; aber wir warn en vor jeder Oberstiirzung, die westdeutsche Industrie konnte Ieicht harten Schaden erleiden. Vertrauen wir auf Erhard - ,.Jch wei.B von der tiefen Sehnsucht des deutschen Volkes, gefiihrt zu werden .. . Die Freiheit halten wir hoch, denn ohne freie Konkurrenz kann keine Industrie bestehen, unser Profit nicht entstehen! .. . Fromme Worte, gesalbte Einsicht und V ertrauen in die bewahrte Mannschaft ist das Geriist unserer Demokratie, denn Experimente konnen unseren Stellungen gefahrlich werden . . . Fiir das Recht kampfen wir seit unserer Entstehung; wir fordern eine neue Urabstimmung -UNSER 1ST DAS RECHT!!

    I. Vorsitzender: R. Dutschke (13 Mensuren); II. Vorsitzen-der: R. Gasche (10 Mensuren); I. Schriftfiihrer: H. Nagel (7 Mensuren); II. Schriftfiihrer: B. Rabehl (7 Mensuren)

    Dieses Flugblatt wurde Anfang 1964 an der FU Berlin verteilt; ironisch nahm es Bezug auf einige aktuelle Anliisse: die durch Urabstimmung erzwungene Abwahl eines AStA-Vorsitzenden, der Mitglied einer schlagenden Verbindung war, sowie auf den Antrag einer Berliner Burschenschaft, als 10

    fiirderungswiirdige studentische Gruppe anerkannt zu wer-den. Das Flugblatt war die erste Aktion der ANSCHLAG-Gruppe, der Berliner >Sektion< der >Subversiven Aktion< (Miinchen). In einer Tagebuch-Notiz (Ende Wintersemester 1963/ 64) schrieb Rudi Dutschke, der damals noch nicht Mitglied des SDS war, dazu: ,.Mal horen, wie die vom SDS und Argument-Club unsere Aktion, unsere kleine Proooka-tion gegen die Verbindungsleute des RCDS beachten. Die vom RCDS reagierten ziemlich sauer im Audi-Max, als wir uns zu V erbindungsleuten ernannten und versuchten, den ganzen Spuk liicherlich zu machen. Einige drohten mit Schliigereien, wagten es aber nicht. Ob wir uns liicherlich gemacht haben, weifJ ich nicht. Ein Komilitone sagte jeden-falls zu mir: Da sollten die vom SDS sich mal ein Beispiel nehmen. Konfirrnation, im Kreise der GroBfamilie (1954). Ganz hinten die drei ii.lteren Briider

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  • Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde (Die llolle der antikapitalistischen, wenn auch nicht soziali-stilc:hen Sowjetunion fiir die marxistischen Sozialisten in der Welt)

    Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde der Sozia-lismw ist weiterhin eine reale Kategorie des N~ch-NichtSeins, der durch den Kampf der revolutionaren Krafte im WeltmaBstab in die gesellschaftliche Wirklichkeit gebracht werden mu6. Fiir die marxistischen Sozialisten in den

    kapitalis~s~h~n Land~rn ist das Bestehen einer dem Anspruch ~h soz1alis~sche~, m ~irklichkeit aber nur antikapitali-stisch~n ~WJeturuon .eme ungeheure Belastung, die sich all~rding~ ~ ~ugenblick revolutionarer Umschlage in zur Zett kap1talJst1schen Landern - wir denken aktuell an die lateinamerikanischen Lander - als wesentliche Stiitzkraft der Revolution erweisen kann. Wir meinen bier nicht die Pradi-kate des kubanischen Beispiels, wo die direkte ,.Hilfe der Sowjetunion zu einer ernsthaften Krise der kubanischen Revolution fiihrt~ ; wir denken vielmehr an selbstandige, von Moskau und Peking unabhangige Aktionen z. B. brasiliani-scher Sozialisten, die das faschistische Regime Branco stiir-zen, ~e in Brasilien nicht zu umgehende Agrarrevolution in Angriff nehmen, kurz, eine proletarische Revolution die Agrarrevo!ution ~~ politischen Aufhangerc, a la 19i7 in

    R~6I~d, m . Bras1lien durchfiihren. In einem solchen Faile WJtd d1e ~xu~e~~ ~tikapitalistischer Lander (Sowjetunion, Polen sow1e d1e ubngen osteuropaischen Volksdemokratien

    ~atiirlich auch die Volksrepublik China) eine direkte milita~ nsch.e Intervention kapitalistischer Lander erschweren bzw. verhindern.

    Die Niederlage der brasilianischen Arbeiter und Bauern durch die faschistische Militarclique erscheint uns in der Ten~~nz ~s russisches 1905. Das russische 1917 in Brasil1en wrrd allerdings kaum noch 12 Jahre auf sich warten lassen. Wir wissen, da6 die Voraussetzung einer erfolgrei-

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    chen Revolution in Brasilien, die Schaffung einer disziplinier-ten und schlagkraftigen Avantgarde der Unterdriickten, noch nicht erfiillt ist.

    Es ging uns bei diesem Beispiel nur urn die Rolle der Sowjetunion fiir die Sozialisten in einem Lande, in dem die Revolution moglich und notwendig ist, in einem Lande, das infolge seines natiirlichen Reichtums und seiner geographi-schen Lage ein von Moskau und Peking unabhangiges Handeln viel eher zula6t, als das z. B. in Kuba der Fall war. Hier wird also das Bestehen einer antikapitalistischen, wenn auch nicht sozialistischen Sowjetunion fiir die erfolgreiche Revolution ein sehr wichtiges und positives Moment sein.

    W eiterhin ist es unerla61ich, da6 sich die westeuropaischen marxistischen Sozialisten ihrer W eltvermitteltheit voll be-wuBt werden, die scheinbar unbewegliche und jede von Privatleuten (Iinke Professorenschaft) vorgetragene bzw. publizierte kritische Aufklarung konsumierende sozialstaat-liche kapitalistische ,. Wohlstandsgesellschaft als dialekti-sche Erganzung zu den ungeheuren Veranderungen in La-teinamerika, Afrika und Asien zu begreifen. In einer Zeit, in der wir erstmals von W eltgesellschaft sprechen konnen, geht jede isolierte und partikulare Analyse fehl.

    Was fiir eine Rolle spielt die Sowjetunion nun fiir die Sozialisten in den hochentwickelten kapitalistischen Indu-striestaaten W esteuropas, fur die marxistischen Sozialisten in der Bundesrepublik, die in einer gesellschaftlichen Wirklicb-keit Ieben, in der durch die systematische Entmiindigung der Massen die Begriffe Sozialismus, Kommunismus, Bolsche-wismus und Stalinismus fast unwidersprochen gleichgesetzt werden?

    Da bei jeder Diskussion mit dem Arbeiter in der Kneipe, mit dem Christen in der Gemeinde, mit dem Studenten im Seminar der sozialistische Gedanke - wir verstehen bier darunter die Miindigmachung des Menschen und die Aufhe-bung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen -mit der stalinistischen Auspragung des Bolschewismus kon-frontiert bzw. gleichgesetzt wird, miissen wir uns ( es ist bier Ieider nur sehr beschrankt moglich) kui:z mit der durch Stalin gepragten Sowjetunion his 1955 und der sogenannten Entsta-linisierung auseinandersetzen.

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  • Lenin sprach 1921 davon, daB die Kronstiidter Matrosen, die sich zwischen dem 2. und 8. Marz 1921 gegen die Sowjetregierung erhoben - sie waren der gewaltigen, schon vier Jahre dauernden revolutioniiren Belastungen miide, auch gab es zahlreiche organisatorische und politische Fehlent-scheidungen der Petrograder Parteiorganisation -, sich zwi-schen zwei Stiihle hlitten setzen wollen. Das zeigt die Kronstadter Erfahrung. Dort will man die Wei!lgardisten nicht, will man unsere Macht nicht - eine andere Macht gibt es aber nicht. Lenin meinte damit, daB die Kronstlidter weder Kommunismus (Sowjetregierung) noch Kapitalismus (Zarenregierung bzw. Kerenskiregierung) wollten. Er konnte sich 1921 tatsachlich nur die Welt in der dialektischen Spannung zwischen absterbendem Kapitalismus und entste-hendem Sozialismus denken. Heute hat der Kapitalismus neue Prlidikate gewonnen, die allerdings seinen Grundwider-spruch- gesellschaft!iche Produktion und private Aneignung - nicht aufheben. Der Sozialismus, der im Gefolge der siegreichen Oktoberrevolution in der Sowjetunion aufgebaut werden sollte, endete u. a. infolge der Niederlagenreihe des Proletariats in Europa und Asien in den zwanziger J ahren im totalitfu-en Stalinismus.

    Urn der Ziele der Revolution willen, niimlich der Beseiti-gung der Zarenherrschaft und der Herrschaft des Kapitals, der Errichtung einer sozialistischen Sowjetunion, die Lenin nur fiir rnOglich hielt durch eine Kette von sozialistischen Revolutionen in den hochindustrialisierten Staaten Mitteleu-ropas (niemand konnte zu dieser Zeit die Verkehrung der revolutionliren Ziele durch die stalinistische Herrschaft vor-ausahnen), waren Lenin und Trotzki gezwungen, die ehe-maligen revolutioniiren Briider, die Matrosen und Soldaten von Kronstadt und deren Au/stand niederzuschlagen. Hier hatte die repressive Gewalt, der Terror eine eindeutig aus der Situation herau.s zu rechtfertigende soziale Funktion. Es geht uns nicht urn eine Rechtfertigung jedweder Repression. \Vir marxistischen Sozialisten unterscheiden sehr genau zwischen notwendigem und zusiitzlichem Terror. Die Kriterien gewin-nen wir aus der rnarxistischen Bedingungsanalyse der jewei-ligen historischen~Situation. Niemand soli uns eines Antihu-manisrnus zeihen. Wieviel Terror (vom Gesinnungsterror his 14

    zum physischen Terror) benOtigt nicht schon ein biirger-lich-kapitalistischer Staat, urn seine Ordnung aufrecht-zuerhalten? Ein Staat, der ein in der Weltgeschichte noch nicht dagewesenes Gesellschaftssystem errichten rnOchte, der gegen die ungeheure Kraft eingewurzelter, und anerzogener Denkvorstellungen k3.mpfen muB, kann urn so weniger auf Repression verzichten. Unsere Analyse der Entwicklung der Sowjetunion nach dem Tode Lenins, die sich, wir diirfen und wollen es nicht verschweigen, sehr stark auf Leo Trotzki sriitzt, zeigt den forclaufenden Abbau der Kriterien marxisti-scher Analyse (konkrete dialektische, d. h. revolucionare Analyse der Grundlagen der eigenen Gesellschaft und ihrer Weltvermitteltheit), zeigt die darnit parallel laufende Ver-nichtung rnarxistischer Bearbeitung der sowjetischen Ge-sellschaft.

    N ach 1923, nicht zuletzt durch die schon damals verfeh!te Moskau-Komintern-Politik, versandeten die revolutioniiren Bewegungen in Europa. Die Sowjetunion blieb weiterhin isoliert, was die Grundlage und Voraussetzung des stalinisti-schen Sieges wurde.

    Nach dem Verbot der Sowjetparteien, einer MaBnahme zurn Schutz der Diktatur in einern riickstiindigen und erschOpften, von allen Seiten von Feinden urngebenen Land (L. Trotzki, Kommunismus oder Stalinismus, 1947, S. 22), hatte sich noch unter Lenin ein Fraktionsverbot innerhalb der herrschenden Partei der Bolschewiki ai:tgeschlossen. Es galt die Auswirkungen (Entstehen kapitaliscischer Krafte) der auf dem 10. Parteitag (1921) beschlossenen tei!weisen Rekapitalisierung (NEP) innerhalb der Kleindindustrie, des Handwerks und der Bauernschaft durch besondere Ge-schlossenheit der Bolschewiki zu kompensieren.

    V erbot der Sowjetparteien und Fraktionsverbot, von Le-nin und Trotzki eindeutig als temporlire MaBnahmen zum Schutze der Ergebnisse der Revolution gedacht, wurden unter Stalin systematisch ausgebaut und versch:irft, wurden zum Grundpfeiler seiner lnnenpolitik. Dem nicht zu recht-feitigenden und den Sozialismus in der Welt diskredicieren-den zusatzlichen Terror der Stalinherrschaft lag keine sich aus der intemationalen und nationalen Situation ergebende historische Notwendigkeit zugrunde, wie'uns die Sta!inisten

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  • der Gegenwart, die es natiirlich in Ost und West gibt, mit aller Gewalt einpragen wollen. Wir wollen hier nicht die Frage der N otwendigkeit einer Diktatur des Proletariats als Ubergangserscheinung zur sozialistischen Demokratie dis-kutieren. Fi.ir die Sozialisten in Mitteleuropa steht dieses Problem aktuell nicht zur Debatte. Hochstwahrscheinlich werden die sozialistischen Revolutionare in den hochindu-strialisierten kapitalistischen Staaten neue Wege in der Pro-blematik. einer sozialistischen Transformation ihrer Gesell-schah erschlieBen miisserl. Ein marxistischer Sozialist ist Internationalist und treibt intemationale Analyse, die ihn an einem bestimmten historischen Zeitpunkt durchaus zwingen konnte, das d~rch Jahrhunderte hindurch gedrillte biirgerli-che Bewufitsem, das geradezu zu einer zweiten Natur des Menschen geworden ist, durch Zwangsma1lnahmen vielflil-tigster Art (hart und weich) zu verlindern. Diese Diktatur

    ~ufl _in j~dem Faile die Interessen der Mehrheit verkorpem, die sich m der andauernden schopferischen Mitarbeit der Mass en an der Gestaltung ihrer Gesellschaft ( das Reich der Freiheit) ausdriicken miissen. Die Diktatur des Pro'letariats ist ein zliher Kampf ... gegen die Machte und Traditionen der alten Gesellschaft (Lenin, Bd. 31,1959, S. 29). Sie bildet die Briicke zwischen der biirgerlichen und der sozialistischen Gesellschaft. Ihrem Wesen nach ist sie somit zeitlich be-grenzt. . .. Sehr wesentliche Aufgabe des Staates, der die Dikt~tur aus~bi:, besteht darin, seine eigene Aufhebung (danut auch die Aufhebung der Diktatur, A. J.) vorzuberei-ten ... ~i~ Priifstein fur die erfolgreiche Durchfiihrung der HauptmtssiOn: den Aufbau der k.Iassenlosen und von mate-riellen Widerspriichen freien Gesellschaft (f rotzki, Die verratene Revolution, 1957, S. 54).

    Bei Stalin wurde die Diktatur, die zweifellos in Theorie und _Praxis DUr eine Vbergangserscheinung sein darf, eine mamfeste, kaum vom deutschen Faschismus zu unterschei-dende totalitlire Herrschaft. ... Stalinismus und Faschis-mus stellen trotz der tiefen Verschiedenheit ihrer sozialen Unterlagen symmetrische Erscheinungen dar. In vielen Zii-gen sind sie einander erschreckend ahnlich. Eine siegreiche revolutionlire Bewegung in Europa wiirde nicht nur den Faschismus, sondern auch den Sowjetbonapartismus er.:. 16

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    schiittem. So schrieb Leo Trotzki in seinem schon erwlihn-ten Buch Verratene Revolution, das erstrnalig 1936 er-schien.

    Der sich also Ende der 20er Jahre herausbildende Stalinis-mus, der die'Liquidierung der besten Kriifte der russischen Revolution (Trotzki, Bucharin, Kamenjev, Sinovjev, Radek u.a.m.) mit sich brachte, findet seinen makabren Hohepunkt in den grauenvollen, rein negativen, keinen Stachel des Fortschritts in sich tragenden Massenmorden der 30er und 40er Jahre. Die Aufsaugung der bolschewistischen Kader durch den Staatsapparat in den 20er Jahren hatte die soziali-stische Demokratie in der Partei und in den Betrieben durchlochert. Die Ausrottung der verbleibenden Kampfer fiir den sozialistischen lntemationalismus tOtete die radikal-demokratische, d.h. sozialistische Intentiorr der bisher grofl-

    ten Revolution der Welt. Die Sowjetunion - dies gilt es unbedingt festzuhalten- ist kein kapitalistischer Staat; sie ist auch nicht als staatskapitalistischer Staat zu verstehen. In der Sowjetunion sind die Produktionsmittel vergesellschaftet, und die Macht der kapitalistischen Konzeme ist fiir immer gebrochen. Ist aus der antikapitalistischen Bestimmung der Sowjetunion der sozialistische Charakter dieses Staates auto-rna tisch zu schlie6en? Mitnichten! Die Antwort auf diesen Fragenkomplex kann nur die konkrete marxistische Analyse der revolutionliren Bewegungen der Welt und der faktischen Produktions- und Machtverhaltnisse innerhalb der Sowjet-union beantworten. Wenn der Charakter der Besitzverhalt-nisse das ausschlieflliche Kriterium fiir den Charakter des Staates ist, warum hat Stalin dann zwischen 1925 und 1930 mit Trotzki den gewaltigen Kampf urn die Moglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande gefiihrt? Die Sowjetunion ware doch, laut Besitzverhaltnissen, schon eindeutig sozialistisch gewesen.

    1964 sind in der Sowjetunion die Okonomischen Vorausset-ZIP'gen zum Aufhau .des Sozialismus vorhanden (hochent-wickelte Industrie und relativ hoher Spezialisten-Bildungs-stand). Den Anhlingern des Stalinismus, die darauf hinwei-sen, da1l Stalin diese wirtschaftlichen Voraussetzungen ge-. schaffen hat, halteri wir entgegen, daB bei einem weiteren Ausbau der sozialistischen Demokratie sowohl die Industria-

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  • lisierung als auch die vom Sozialismus nicht zu trennende Humanisierung und Miindigmachung der sowjetischen Ge-sellschaft erfolgt wiire. Durch die Politik Stalins, die zu einem Unsichtbarwerden der sozialistischen Perspektive in der W elt (Lukacs, Forum, April1964, S. 182) fiihrte, ist derldee von der Befreiung des Menschen kaum iibersehbarer Schaden zugefilgt worden. Es fehlen in der heutigen Sowjetunion noch vollstlindig die politischen Voraussetzungen fiir den Aufbau des Sozialismus, niirnlich schonungslose Abrech-nung mit der eigenen stalinistischen Vergangenheit. Wie kann sich in der Sowjetunion der sozialistische Humanismus durchsetzen ohne vollstiindige Enthiillungsanalyse der rei-nen Negativitlit der Massenmorde, der Liquidierung des radikal-demokratischen Potentials der Bolschewiki? Die Rehabilitierung der besten Sohne der Revolution (frotzki, Bucharin, Radek u.s.w.) ware der erste Schritt zur Oberwin-dung der stalinistischen Auswi.ichse. Wir kOnnen die Sowjet-union nicht als sozialistische Gesellschaft anerkennen, so-lange der Stalinismus mit allen seinen Pr:idikaten nicht radikal in der sowjetischen politischen Praxis verschwunden ist. Das Umbetten Stalins, das AbreiBen seiner Denkmaler ist fiir uns kein Indiz einer durchgefiihrten Entstalinisierung!! Wir lassen uns hierbei leiten vom dringenden Appell des ehrlichen Marxisten Georg Lukcics: .. kritische Bestands-aufnahme der Gegenwart ... Dabei ist als Voraussetzung die Abrechnung mit dem Stalinschen Erbe fur die sozialistische Weltanschauung evident ... (Forum, April1964, S. 183).

    Ein Chruschtschow bleibt hinter dieser Forderung weit zuriick, wenn er sagt: W.I. Lenin hat Stalin fiir einen Marxisten, fiir einen hervorragenden Funktionar unserer Partei, der der Revolution ergeben ist, gehalten ... Die Partei hat die graben Verletzungen von Lenins Normen des Partei-lebens, die Stalin zugelassen hat, die Willkiir und seinen MiBbrauch der Macht verurteilt und verurteilt sie jetzt. Bei all dem wlirdigt die Partei in angemessener Weise die Verdienste Stalins vor der Partei und der sozialistischen Bewegung. Wir sind auch jetzt der Meinung, dall Stalin dem Kommunismus ergeben war; daB er ein Marxist gewesen ist. Das kann man und darf man nicht!eugnen ... Als man Stalin beisetzte, batten viele, darunter auch ich, Tranen in den 18

    Augen. Das waren aufrichtige Tranen. (Pravda, 10. 3. 1963). Lenin kannte Stalin als den revolution3.ren Klimpfer, der in Petrograd, Moskau, Baku und Astrachan als Organisator der bolschewistischen Partei tatig war, der den Sieg iiber Kol-tschak bei Zarizyn im Biirgerkrieg erkampfte. (Wir wo!len bier von den sehr kritischen AuBerungen Lenins iiber Stalin in seinem Testament-Brief absehen.) Wir kennen und schatzen diesen Stalin, wir wissen aber auch von einem Stalin, der mit den brutalsten Mitteln die Landwirtschaft kollekti-vierte, dabei Millionen von sowjetischen Biirgern sinnlos ermordete, von einem Stalin, der in riesigen Schauprozessen die Garde der Revolution< zum Tode verurteilte, der die Sowjetunion zu einem Hart der Angst werden liefi.

    Wie kann der Vorsitzende einer marxistischen Partei iiber den ZerstOrer des Ansehens des Sozialismus in der Welt solche Worte verlieren?

    Wir wissen nicht, ob in der Sowjetunion wlihrend der nachsten Jahre der Stalinismus iiberwunden wird, der sozia-listische Humanismus durchbrechen wird. Wir wissen aller-dings aus der Analyse der vergangenen und gegenwlirtigen sowjetischen Gesellschaft, daB seit ca. 1925 keine echte marxistische Analyse dart betrieben wurde. Marxistische Dialektik, d. h. revolutionare Aufdeckung und Beseitigung der in der Gesellschaft bestehenden Widerspriiche, wurde im Interesse der Machterhaltung der Biirokraten und Techno-kraten ausgeschaltet. Die Revision des Marxismus findet ihren Ausdruck in einem an die Sozialdemokratie erinnern-den Reformismus: An die S:telle der Theorie ist die Biiro-kratie, an jene der Aufklarung und humanistischen Erzie-hung die Sorge urn das >Funktionieren< des Bestehenden getreten. (L. Kofler, Der proletarische Biirger, 1964, S. 7). Das Bestehende ist zwar ein antikapitalistischer, aber, wie wir zeigten, noch durchaus kein sozialistischer Staat. Das Yolk von Radistschew, Pestel, Puschkin, Lermontov, Herzen, Belinskij, A. Uljanov, Trotzki, Gorki und Lenin hat so vie! GroBes in seiner Vergangenheit, hat so groBe Pespektiven fiir seine Zukunft, daB es keinen Grund hat, vor einer scho-nungslosen Abrechnung mit einer gefahrlichen Vergangen-heit und ihrem schadlichen, gefahrdrohenden Erbe zuriick-zuschrecken!

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  • Eine revolutionsreife Wirklichkeit fallt nicht vom Himmel (Ober das Verha!tnis von Theorie und Praxis)

    Der wichtigste Faktor des Zerfalls des kapitalistischen Systems, schrieb der russische Revolutionar Bucharin in seinem Buch Die Okonomik der Transformationsperiode (1921), ist die Auflosung der Verbindung zwischen den imperialistischen Staaten und ihren zahlreichen Kolonien. War diese Feststellung zu seiner Zeit schon in Ansatzen sichtbar, so ist sie fiir uns heute offenbar. Nationalaufst:inde, Kolonialaufstande, kurz, nationale Befreiungskriege zwan-gen in den meisten Fallen die ehemaligen Kolonialherren zur Aufgabe ihrer sichtbaren Herrschaft; in diesen Landern geblieben ist noch die versteckte okonomische Machtstel-lung, die die neuen Staaten weiterhin in Abhangigkeit halt. Diesem weltpolitisch so entscheidenden Prozdl des Zerfalls des ehemaligen Kolonialreiches lauft parallel ein Prozefl einer gewissen Auflosung des ehemals durch Gewalt monolithisch gehaltenen Ostblocks. Wir kOnnen sogar von einer Verschie-bung der Achse der Weltwirtschaft sprechen, denn die sich von der Unterdriickung und Bevormundung fremder M:ichte befreienden Nationen entfalten sich immer mehr zu eigen-standigen Faktoren der Weltwirtschaft, die sich mit den Resten des Profitkuchens nicht mehr zufrieden geben, was wiederum zu gewaltigen volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten, namlich Profitschwierigkeiten innerhalb der ehemaligen Koloniallander fiihrt, die allerdings in gewis-ser Weise durch Kapitalexport und Entwicklungshilfe kompensiert werden kOnnen. Kapitalexport und Entwick-lungshilfe fiihren iiber kurz oder lang - starke Ansatze sind schon in Lateinamerika und Afrika, natiirlich auch schon in Asien (Indien, Indonesien) sichtbar - zur H~rausbildung eines riesigen Proletarierheeres, das bei entsprechender Be-arbeitung durch revolutionare Eliteparteien (Avantgarde), ich denke z. Z. besonders an Lateinamerika, wo die revolu-

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    tion3.re StoBkraft des entstehenden Industrieproletariats nicht durch den Taumel iiber die nationale Unahhlingigkeit (wie in Afrika) verdrangt werden kann, die Schliisselkraft der Revolutionierung eines Kontinents sein wird - damit Ausgangspunkt einer gewissen Strukturverlinderung der Welt. Denn es ist einsichtig, daB ein sozialistischer Kontinent Lateinamerika auch die scheinbar starren Gesellschaften der hochentwickelten kapitalistischen Staaten nicht unberiihrt lassen wird. *

    In diesem Augenblick wird vielleicht nicht mehr der revolution3.re Gedanke des europaischen Revolution3.rs al-lein zur Wirklichkeit drangen, sondem die europaische Wirklichkeit wird zum revolution:iren Gedanken drangen. Bei Marx heiflt es in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: .Die Revolutionen bediirfen namlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bediirfnisse ist. Wird nun dem ungeheuren Zwiespalt zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens und den Antworten der deutschen Wirklichkeit derselbe Zwiespalt der biirgerlichen Gesell-schaft mit dem Staate und mit sich selbst entsprechen? Werden die revolution3.ren Bediirfnisse unmittelbar prakti-sche Bediirfnisse sein? Es geniigt nicht, dafl der Gedanke zur V erwirklichung drangt, die Wirklichkeit mufl sich selbst zum Gedanken drlingen.

    Miissen wir fiir uns heute den Zwiespaltgedanken von Staat und Gesellschaft ablehnen - Staat und Gesellschaft bilden in der Gegenwart eine Identit3.t -,so gelten die anderen Satze unumschr:inkt. Unsere Gedanken, die zur Wirklichkeit dr:ingen, auf Verwirklichung des Gedankens aus sind, mi.is-sen auf eine Wirklichkeit treffen, die schon so in Bewegung geraten, so schwanger von Enthilllungswillen ist, daB der revolution3.re Gedanke, die revolution1ire Theorie, nur

    Wie wenig von Soz.ialismus in Osteuropa und der Sowjetunion, von der Volksrepublik China ganz zu schweigen, die Rede sein kann, ersehen wir unter anderem an der neuen Schulgesetzgebung in Polen und der DDR, die in kiirzester Prist die Schiller und Studenten in den ProduktionsprozeB integriert und jede Selbstindigkeit des Denkens iiber Gesellschaft, kritisches Denk.en iiberhaupt, beim z.ukiinftigen Menschen ausschlidh.

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  • noch der Ausdruck der BewuBtwerdung und BewuBtma-chung der gesellschaft!ichen Wirk!ichkeit ist, unmittelbar, von den Massen ergriffen, zur materiellen Gewalt4( wird. Solch eine revolutionsreife Wirklichkeit fiillt natiirlich nicht vom Himmel, sondern ist der Ausdruck der objektiven und su?jektiven Dialektik des geschichtlichen Prozesses, soli hed'len, Ausdruck der Entfaltung der Produktionskrafte in der Welt und Ausdruck der revolutionaren Aufk!iirungsta-tigkeit der Avantgarde der Menschheit, der Avantgarde des potentiellen und teilweise aktuellen Proletariats. Die Basis-kraft der zukiinftigen Gesellschaft, die von der A vantgarde bearbeitet wird, kann nur die Klasse von Menschen sein die sich als identisches Subjekt-Objekt der kapitalistische~ Gesellschaft begreift und erfahrt, Mars fand in der friihka-pitalistischen Gesellschaft im Industrieproletariat dieses identische Subjekt-Objekt, darnit zwar nicht den Trager der bisherigen W eltgeschichte, aber den Trager und Gestalter der kapitalistischen Gesellschaft. Heute ist es in den hochent-wickelten lndustriestaaten Mitteleuropas uniiblich gewor-den, vom Proletariat zu sprechen, obwohl wir per definitio-nem, namlich das Nichthaben von Produktionsinstrumenten als charakteristisches Merkrnal, durchaus den Begriff Prole-tariat sinnvoll benutzen kOnnen und miissen. Das potentielle Proletariat ist vorhanden, es fehlt die BewuBtmachung der in dieser mitteleuropaischen Gesellschaft steckenden Moglich-keiten den potentiellen Proletariern gegeniiber. Hier muB die permanence Aufkliirungs- und Enthiillungsanalyse der ak-tuell und bewuBt-revolutionliren Krafte einsetzen. In Ge-schichte und KlassenbewuBtsein (1923) von G, Lukacs heiBt es noch: Die Theorie client dazu, das Proletariat zum BewuBtsein seiner Lage zu bringen, d. h. es zu befahigen, sich selbst zu erkennen. Diese BewuBtwerdung soli dann die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung sein,

    In den hochentwickelten Industriegesellschaften des We-stens erfahrt sich das potentielle Proletariat kaum noch als Objekt irn alten Sinne, d,h, als denkendes Tier, das vom animalischen Hungertod taglich bedroht ist. Die sozialstaat-liche Befriedigung der Bediirfnisse garantiert in wohlstands-gemaBer Weise die Bedingungen der Reproduktion des Lebens (von zukiinftig durchaus mOglichen Krisen und 22

    Inflationen in der EWG u,a,m, mochte ich absehen, wei! die Betonung der Moglichkeit von Krisen sehr oft die Hoffnung auf die Krise, darnit Warten auf die Krise impliziert), Der Objektcharakter des potentiellen Proletariats wird heute in der Bundesrepublik z, B. in der wahlperiodischen Neuin-szenierung einer politischen Offentlichkeit (Habermas), in der es als Basiskraft benutzt wird, urn Einzelpersonen zur Macht zu verhelfen, Allgemein gesprochen: der Objektcha-rakter des potentiellen Proletariats wird in den h~utigen kapitalistischen Industriegesellschaften d.es Westens m.allen Bereichen des gesellschahlichen Lebens s1chtbar, nur w1r~ er nicht im unmittelbaren animalischen Hunger erfahren. Erne dialektische Analyse der gegenwartigen mitteleuropaischen Wohlstandsgesellschaft kann allerdings nicht .u~hin fes~zustellen daB die sozialstaatliche Bediirfnisbefnedigung em Korrelat 'zu der friihkapitalistischen Ausbeutung der Arbei-ter und Bauern in Lateinamerika, Afrika und Asien ist. Heute haben wir tatsachlich eine Zweiteilung der Welt erreicht (ich denke hier nicht an die Verbalwahrheiten von derTrennung der Welt in kapitalistische und sozialistische Lander), n3.rn-lich die Trennung der Welt in reiche und arme Lander. War in der friihkapitalistischen Phase des heutigen Imperialism us die T rennung zwischen arm und reich innerhalb eines Lande~ offensichtlich, man sprach nicht umsonst von den zwe1 N ationen eines Landes - so hat sich dieser Widerspruch des Kapitalismus auf der erweiterten Basis der Welt reproduziert. (Der auf der vor kurzem beendeten W eltha','delskonferen_z ausgehandelte KompromiB konnte den heutlgen Grundwt-derspruch zwischen den Industriestaaten un~ den Entwick-lungslandern nicht iiberbriicken), Dberspltzt, gesagt, das hochindustrielle Mitteleuropa (West) konsum1ert, produ-ziert natiirlich auch, weil die nichtentwickelten U:inder bisher, teilweise weiterhin, billige Rohstofflieferanten und Abnehmer von teuren Fertigwaren sind. Fiir die Revolutio-nlire in Mitteleuropa haben diese Tatbestande natiirlich gro~e Folgen, Die Hauptfolge ist, daB jede Analyse bundesrepubh-kanischer Gesellschaft z, B. vollig daneben gehen muB, geradezu reaktionar wird, wenn sie von der internation~en Vermitteltheit der scheinselbstandigen Momente der Natlo-nalstaaten absieht.

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    Ja, Hegel konnte noch zwischen 1810 und 1830 schreiben Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der W eltgeschichte ... Europa bildet das BewuBtsein, den verniinftigen T eil der Erde, das Gleichgewicht von Striimen, Talern und Gebirgen - dessen Mitte Deutschland ist.< Weder Deutschland noch Europa sind in der Gegenwart die Trager der Weltgeschichte. War Europa in der ersten Halfte des zwanzigsten Jahrhun-derts schon unendlich vermittelt und verflochten mit der Welrwirtschaft, so sind heute die .Jetzten Anzeichen einer Scheinselbstandigkeit der mitteleuropiiischen Lander ver-schwunden. Der beste Bolschewik nach Lenin, T rotzki, sagte

    1~29, d. h. nach seiner Ausschaltung in der Sowjetunion, in semem Buch a-Die internationale Revolution und die Kom-munistische Intemationale: In unserem Zeitalter, welches ein Zeitalter des Imperialismus, d. h. der W elrwirtschaft und der Weltpolitik ist, welche durch das Finanzkapital be-herrscht werden, vermag keine einzige nationale Sektion ihr Prograrnm Iediglich oder auch nur vorwiegend aus den Bedingungen und Tendenzen der nationalen Entwicklung heraus aufzubauen (1929, S. 13). Wir gehen mit Friedrich Tomberg konform, wenn er im Argument Nr. 26 (S. 47) sagt: Es steht aber nirgendwo geschrieben, die Geschichte habe erst die Bewilligung der Europaer einzuholen, ehe sie sich anschicke fonzuschreiten. Wie sehr Europas Gewicht innerhalb der Weltgesellschaft gefallen ist, wird u. a. daraus ersichtlich, daB der Anteil Westeuropas (England, West- und Mitteleuropa) an der industriellen Weltproduktion in der Zeit von 1860 his 1960 von ca. 80% auf rund 25% in der Gegenwart zuriickgegangen ist.

    Jeder kritische Denker mitteleuropiiischer bzw. bundesre-publikanischer Gesellschaft, der die vermittelten Kategorien Europa bzw. Bundesrepublik unvermittelt und isoliert zu Subjekten ohne weltgesellschaftliche Pradikate macht, fallt in den Verblendungszusammenhang zuriick, den er ent-schleiern mOchte, nimmt er doch nicht die Gewalt einer dialektischen Analyse der in dieser Epoche welthistorisch relevanten Krafte auf sich, urn daraus praktische Folgerungen zu ziehen. Wir stehen mitten im Werden, im Sich-Heraus-bilden der Weltgeschichte, eben nicht darum, wei! alle 24

    Staaten und N ationen umeinander wissen, sondem darum, weil sie einander beeinflussen, in Zukunft mehr und mehr beeinflussen (F. Sternberg, Wer beherrscht die zweite Halfte des 20. Jahrhunderts?, 1961, S. 339).

    Fiir den kritischen Denker, der die Faktizitaten des jeweils eigenen Staates durch das Totum (Welt- als vermittelter Einzelinhalt) konkret vermittelt weiB, fur den das objektive Moment der Entfaltung der Produktivkrafte in der Welt nicht zu trennen ist von der subjektiven Tatigkeit der aufkHirerisch-revolution3.ren organisierten Avantgarde, ist ein Stillstand der Geschichte als Resultat einer dialekti-schen Analyse unmoglich. Ich mufl jedem, der von einem Stillstand der Geschichte, von Aufdeckung von Repres-sion festigt Repression usw. spricht, vorwerfen , daB er 1) partikulare, d. h. falsche Analyse von nationalstaat!ichen Gesellschaften als letzte Weisheiten einem unbearbeite-ten Publikum darbietet, daB er 2) die organisierte Kraft von Menschen als bestimmendem Faktor der geschichtlichen Entwicklung vergi.Bt.

    Eine konkrete Analyse der Bundesrepublik, die zu dem Ergebnis kommt, daB .die gesellschaftlichen Mechanismen so reibungslos ineinandergreifen, daB sie zulassen kOnnen, daB die Wahrheit iiber sie ausgesprochen wird. BewuBtsein greift nicht mehr ein, ist falsch und gefahrlich, miBachtet sie doch die tiefen Erfahrungen der bisherigen We!tgeschichte, in der gesellschaftliche W ahrheiten in Form einer Theorie nur dann unmittelbar gesellschaftliche Wirklichkeit veranderten, wenn sie von organisierten Mas sen konkret getragen wurden. Die herrschenden Kreise der Bundesrepublik billigen dem kritischen BewuBtsein von Privatleuten, die keinerlei poli-tisch-gesellschaft!ich relevante Kraft darstellen, jedes nur gewiinschte Reservat zu. professionelle Dialoge vom Katheder, Podiumsdiskussionen, round table, show - das Rlisonnement der Privatleute wird zur Programmnummer der Stars in Funk und Fernsehen, wird kassenrei zur Ausgabe von Eintrittskarten, gewinnt Warenform auch noch da, wo auf Tagungen sich jedermann >beteiligen< kann. Die Diskussion, ins >Geschaft< einbezogen, formalisiert sich; Position und Gegenposition sind im vorhinein auf gewissen Spielregeln der Darbietung verpflichtet; Konsensus in der

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  • Sache eriibrigt sich weitgehend durch den des Umgangs ... Das derart arrangierte Rasonnement erfiillt gewiB wichtige sozialpsychologische Funktionen, vorab die eines quietiven Handlungsersatzes Q. Habermas, Strukturwandel der 01-fentlichkeit, 1962, S. 182). Weiterhin ist es notwendig, dall besonders fur die deutsche Analyse die 30jiihrige Verhiil-lungstatigkeit der bedeutendsten deutschen Arbeiterparteien (SPD, KPD, NSDAP) als bedingendes Moment gegenwarti-ger lmmunitat der Massen gegeniiber gesellschaftlichen Wahrheiten herangezogen wird. Das in den meisten Klassen der 80er und 90er Jahre im 19. Jahrhundert his in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vorhandene tiefe Wissen urn die Herr-Knecht-Problematik, das Wissen umdie Widerspriiche in Mitteleuropa, ist in den letzten dreiBig Jahren einer ungeheuren EntmUndigung der arbeitenden Schichten des Volkes gewichen.

    Es gibt in der Bundesrepublik auch heute ausgezeichnete Analysen, die in der Hauptsache von der institutionalisier-ten Kulturkritik (Adorno, Horkheimer) und der linken Professorenschaft (H. Bahrdt, v. Friedeburg, Lieber, Ha-bermas, Bloch u.a.m.) geleistet werden.

    Wir fragen uns allerdings, wie es mOglich ist, daE bei diesen hervorragenden Denkern die in der gegenwartigen bundes-republikanischen Wirklichkeit vollig unverstandliche Tren-nung von Denken und Sein, von Theorie und Praxis, weiterhin durchgehalten werden kann?!

    Dieser Text ist ein Beitrag zu den Differenzen, die 1964 in der >SubversivenAktion< bzw. der,ANSCHLAG-Gruppe< (ihrer Berliner SektionSubversiven Aktion

  • I .I

    Kategorien bestimmt, deren Reihenfolge weder logisch noch historisch festgelegt ist, sondem deren Folge sich bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modemen biirgerlichen Gesellschaft aufeinand~r haben. (K. Marx, Zur Kritik der politischen Okonomie, Ost-Berlin 1958, S. 265). Damit erhielt die materialistische Dialektik durch Marx das von Hegel noch unauffindbare Realfundament. Die Kritik der po!itischen Okonomie steht nicht mehr als eine Wissenschaft neben den anderen, ist nicht bloB als Grundwissenschaft den anderen iibergeordnet, sondem sie umfaBt die gesamte We!tgeschichte der Daseinsformen (der Kategorien) der menschlichen Gesellschaft. (G. Lukacs, Moses Hess, a.a.O., S. 152). Die materialistische Dialektik der Gegenwart hat als Theorie das Wesen der Wirklichkeit zu reproduzieren, ihre Kategorien miissen wieder Existenzformen der Wirklich-keit selbst sein. Es gilt nun mit der Marxschen Methode zu iiberpriifen, ob die Marxschen Kategorien (Kapital, Lohnar-beit, Grundeigentum). Ihre Beziehung zueinander. Stadt und Land. Die drei grollen gesellschaft!ichen Klassen. Austausch zwischen denselben. Zirkulation. Kreditwesen (private). Zu-sammenfassung der biirgerlichen Gesellschaft in der Form des Staates. In Beziehung zu sich selbst betrachtet. Die unproduktiven Klassen. Steuem. Staatsschuld. Offent!i-cher Kredit. Die Bevolkerung. Die Kolonien. Auswande-rung. lnternationales Verhaltnis der Produktion. Internatio-nale Teilung der Arbeit. lntemationaler Austausch. Aus- und Einfuhr. Wechselkurs. Der W eltmarkt und die Krisen. (K. Marx, Zur Kritik der politischen Okonomie, a.a.O., S. 266), noch immer die bestimmenden, auch in dieser Reihenfolge bestimmenden Faktoren der Tauschgesellschaft sind. Fiir Marx ist, urn es expressis verbis klarzustellen, Das Kapi-tal . . . die alles beherrschende okonomische Macht der biirgerlichen Gesellschaft. Es mull Ausgangspunkt wie End-punkt bilden und von dem Grundeigentum entwickelt werden. Nachdem beide besonders betrachtet sind, mufl ihre Wechselbeziehung betrachtet werden. (K. Marx, a.a.O., s. 265).

    Kapital, Lohnarbeit und Besitz an Produktionsmitteln bzw. Grundeigentum bilden heute wie zu Marxens Zeiten die Grundlage der antagonistischen Gesellschaft - mit einem 28

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    grollen Unterschied und dieser Unterschied kann nicht oft genug betont werden; friiher konstituierten diese Grundka-tegorien einen sich als Naturgesetz durchsetzenden Okono-mischen ZwangszusammenhangJ der sich in Verelendung, Entmenschlichung und regelmiiftigen Krisen mit potentieller Revolution auswies. Davon kann spatestens seit dem 2. Weltkrieg fiir die Industrienationen keine Rede mehr sein, auch der Hinweis, daB die gegenwiirtige Stabilitat der west-lichen Wirtschaft nur durch die latente und offene Kriegs-wirtschaft bedingt sei (Mandel, Horkheimer), kann die Stellenwertverlinderung der Marxschen Kategorien nicht verdecken. lm Gegenteil. Gerade dieser Hinweis weist in eine Richtung, die die Bedeutung der Kategorien Lohnarbeit, Kapital, Grundeigentum zwar nicht aufgehoben hat, sie aber neutralisiert und unterlaufen hat, in die Richtung des unsere Gegenwart entscheidend mitbestimmenden Ost-West-Konflikts. Dieser und der Konflikt Industrieliinder/Ent-wicklungslander beherrschen das Gesicht unserer einen Welt in unserer Zeit, gerade weil wir erstmalig Weltgesellschaft in einem Realsinn wie nie zuvor geworden sind, miissen wir schnellstens eine der Gegenwart angemessene Reihenfolge der unsere Welt beherrschenden Kategorien (Daseinsformen, Existenzformen) analytisch erarbeiten.

    Natiirlich kOnnen wir den noch verbliebenen irdischen Kern der europaischen Arbeiterbewegung durch Analyse herausdestillieren, kOnnen sogar in unserer aktuellen Gegen-wart noch die Reste und ihre Ausliiufer durch hiirteste Anstrengungen aktivieren (anliifllich Notstandsgesetzge-bung, Metallarbeiterstreiks usw.) - iiber die Gegenwart in einem wirklichen, d.h. wirkenden Sinne weist diese Praxis weder aktuell noch potejltiell voll hinaus. Ich stelle die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Aktivierung bzw. Be-wuBtmachung von Arbeitern im Betrieb nicht in Frage, ich stelle auch nicht die Moglichkeit dieser Praxis in Frage. Ich mochte jetzt die Marxsche Methode anwenden, d. h. die heutigen materiellen Verhaltnisse der Produktion und Re-produktion des Lebens in ihren Auswirkungen auf das gesellschaftliche BewuBtsein kurz untersuchen.

    Die aus dem totalen ProzeB der Technologisierung der Produktion notwendigerweise (jedenfalls unter den herr-

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  • I, ' , I

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    schenden Produktionsverhiiltnissen) sich entwickelnde tech-nologische RationaliC:it soli nun historisch-genetisch skiz-ziert werden. Dieser Wechsel (von kritischer in technologi-sche Rationalitat) ist nicht der einfache Reflex der technolo-gischen Maschinerie auf seine Benutzer oder der Massenpro-duktion auf ihre ~~nsumenten. Er (der Wechsel, R. D.) ist selbst ~m ~etermtmerender Faktor in der Entwicklung der Maschmer1e und Massenproduktion. (H. Marcuse, Some Social Implications of Technology, in: Zeitschrift fiir Sozial-forschung, 1941, S. 415). Die Wirklichen Lebensverhiilt-nisse als Subjekt-Objekt-Beziehung des aktiven Verhal-tens des Mensch en zur N atur sind so die Einheit von sowohl Produktionsweise, Gesamtheit der Produktionsinstrumente die unsere Gegenwart und die Vergangenheit hervorgebrach~ haben und hervorbringen, als auch die sozialen Institutionen Beziehungen und Verhaltensmuster- diese Subjekt-Objekt: Einheit ist das herrschende Falsche, das, was uns aile beherrscht und unterdriickt. Das Prinzip des Individualis-mus ist das Prinzip der Autonomic des Denkens unci die

    F~eiheit der autonomen Marktsubjekte (s. o.). Das ,.freie Sptel der Okonomischen Subjekte, der freie Wettbewerb des Marktes erforderten individuelle und autonome Rationalitiit auch in der Verhiillung noch die kritische Rationalitat nich~ voll verlierend. Die moderne lndustrie betrachtet und

    b~handelt .d~e. vorhandene Form eines Produktionsprozesses meals defmttlv. Ihre technische Basis ist daher revolutionar wahrend die aller friiheren Produktionsweisen weserltlid~ konservativer war. Durch Maschinerie, chemische Prozesse und andere Methoden walzt sie bestandig mit der technischen Grundlage der Produktion die Funktionen der Arbeiter und die g:sellschaf~lic~en Ko~binationen des Arbeitsprozesses urn. S1e revolunomert damn ebenso bestiindig die Teilung der Arbeit im Innern der Gesellschaft und schleudert unaufhalt-sam Kapitalmassen und Arbeitermassen aus einem Produk-

    tionszw~ig in den anderen. (K. Marx, Kapital I, S. 512). Die Folge dteses Prozesses (Mechanisierung und Rationalisie-rung) war das Verschwinden der kleinen Fische im Ra-chen der graBen Konzerne. Das freie Okonomische Sub-jekt war liquidiert; die Grundlagen der bisherigen indivi-duell-autonomen Rationalitat beseitigt bzw. zutiefst gefi:ihr-30

    det. Nur eine radikale Koordination der GroBunternehmen, geplante Interventionen (zur Rationalisierung des Prozesses gehOrt nicht nur eine Rahmenplanung), nur valle Auskalku-lierung ermOglicht heute einen Platz innerhalb des Welt-marktes. Die so aus Mechanisierung und Rationalisierung notwendigerweise entstehende technologische Rationalitiit bringt eine Meinungsstandardisierung und eine Verinnerli-chung der Norm en des Apparats mit sich. ( Apparat verstan-den als Institutionen, Verhaltensweisen und Organisationen der Industrie in ihrer vorherrschenden gesellschaftlichen Form. (H. Marcuse, Some Social Implications ... , a.a.O., 5.417). Lewis Mumford spricht von einer objektiven Perso-nalitiit, besser vielleicht als Objekt-Personalitiit zu bezeich-

    nen~ die durch permanente Beherrschung und Versagung alle individuelle Spontaneitiit der Maschine, der sie sich unter-werfen muB, i.ibertriigt. Standardisierte Effektivitiit und Pro-duktivitiit wird vom noch notwendig falschen Bewuihsein als Individualitiit und freie Entscheidung miBverstanden. In der Produktion des Industriebetriebes wird der Objekt-Charak-ter des Menschen besonders darin sichtbar, daB er nur mehr ZubehOr der Maschine ist, nur seine Totalunterwerfung und sein Gehorsam gewiihrleisten die Effektivitiit und Produkti-vitiit des Ganzen. Die sozio-Okonomische Herrschaftsstruk-tur erhalt ihre Macht nicht durch Gewalt. Sie erreicht es, indem sie sich selbst identifiziert mit dem Glauben und der Loyalitat der Menschen. (Th. Veblen, The Instinct of Workmanship, New York 1922, S. 315). Diese wiederum sind bestens praformiert ... Doppelunterdriickung schliefit den fi.ir die Revolutionierung des Ganzen erforderlichen Ausbruch, einen Ausbruch der mit Spontaneit3.t und freier Entscheidung (bewuflter) gekoppelt sein mull, aus. Die transzendierendes Denken ausschliefiende technologische Rationalitiit - ist doch ein solches fi.ir die herrschende Rationalitat irrational, politisches Verbrechen und tech-nische Dummheit - beherrscht die heutigen Industriegesell-schaften. Sie untergriibt immer mehr ein Denken i.iber unerfiillte Potentialitiiten der Gesamtgesellschaft. Die >Me-chanismen der Konformitiit< gehen von der technologischen zur sozialen Ordnung iiber; sie beherrschen die Lei tung nicht nur in den Fabriken und Laden, sondern auch in den Biiros,

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  • Schulen und schlieBiich im Bereich der Erholung und der Unterhaltung. (H. Marcuse, Some Social Implications ... , a.a.O., S. 421). Liilh sich denn iiberhaupt aus der obigen Darstellung noch revolution:ire Praxis theoretisch auswei-sen? Schien diese Darstellung nicht auf aile MauselOcher sind verstopft hinauszulaufen? Nein, es war nur der Ver-such, sich der Empirie zu bemachtigen (s. o.).

    In den folgenden Passagen geht es nun endlich urn die fiir uns mOgliche unci sinnvolle Praxis, urn Formulierung einer Praxis, die die der Theorie niederlegt Zu einer Stellung-nahrne, in der die Dualit:it von Theorie und Praxis aufgeho-ben wird, indem die Gegenwart einerseits als konkrete und unmittelbare erfa.Bt, aber als Resultat des Geschichtsprozes-ses, also genetisch ... begriffen wird, andererseits aber ... die Gegenwart als bloBes Moment des tiber sie hinausgehen-den Prozesses aufzeigt. Denn gerade diese kritische Stellung-nahme zur Unmittelbarkeit der Gegenwart bringt sie in Beziehung zur menschlichen Aktivit:it: in den iiber sich selbst hinaustreibenden Momenten der Gegenwart sind die Richt!inien und der reale Spielraum der praktisch-kritischen Tatigkeit, der umwalzenden Praxis gegeben. (G. Luk:ics, Moses Hess, a.a.O., S. 145). Die schon auf verschiedenen Seiten angedeuteten tiber sich selbst hinausweisenden Mo-meme der Gegenwart fassen wir hier kurz zusammen:

    Die globale Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die die h6chstm6gliche Steigerung der Pro-duktivit:it und die hOchstmOgliche Rationalisierung der Ar-beit in heiden Systemen zur Existenzfrage macht (H. Marcuse, Freiheit: von oder zu, Westdeutscher Rundfunk, Dez. 1964, S. 6), iiberspielt die der volligen Automation entgegenstehenden Tendenzen (Gewerkschaften, die fiir eine systematisch-dosierte Steigerung der Automation sind! Furcht vor eventuellen Arbeitslosenheeren. Finanzierungs-frage der Automation.). Die tendenziell vollige Arbeitslosig-keit muB fiir uns, ftir unsere Praxis der entscheidende Fixpunkt sein. Von diesem fUr uns Okonomischen Endziel des technologischen Prozesses her muB sich unsere Strategie konstituieren, miissen sich die einzelnen Schritte theoretisch ausweisen lassen. Potentiell steht an dem anvisienen Punkt der Zusammenbruch der repressiven Arbeitsmoral, damit der 32

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    darauf beruhenden sozialen Instirutionen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit; kOnnten auch diese Herrschaftsfor-men ... nicht mehr als technologische Notwendigkeit, als Garanten der gesellschaftlichen Produktivit:it erscheinen. (H. Marcuse, a.a.O., S. 4), ihre Irrationalitat wiirde offenbar.

    Aktuell und sogar noch tiber die unmittelbare Gegenwan hinausweisend sind sehr starke und noch im Steigen hegrif-fene Gegenkriifte wirksam, die die angedeuteten Potentiali-t:iten in weite Ferne zu riicken scheinen, ist doch auch das Okonomische Endziel erst (kaum vor) in ca. 10-20 Jahren als installien zu erwarten. Was zum Teufel bleibt uns nun endlich noch zu tun? Etwas Geduld ist noch nOtig, der Boden ist noch nicht vOllig sondien, die Real-Konkretwerdung dar nicht vorschnell geschehen. Auflerhalb oder innerhalb die-ses Pluralismus und dieser Demokratie (der sich bildenden eindimensionalen Gesellschaft, R. D.) leben ganze Schich-ten, die nicht eingeordnet sind und vielleicht auch nicht eingeordnet werden kOnnen, n:imlich rassische u~d nationa~e Minderheiten, dauernd Arbeitslose und Arme. Ste stellen d1e lebendige Negation des Systems dar, aber sie bilden eine Minderheit, die das Funktionieren des Ganzen his jetzt nicht emsthaft in Frage stellt ... Es gibt zentrifugale Krafte ... Sie erscheinen in der Aktivierung bisher ungeschichtlicher und unpolitischer Minoritiiten innerhalb und Majoritiiten aufier-halb der Gesellschaft im Oberflufl. Sie erscheinen in der Verbreitung der Erkenntnis dessen, was geschieht und was Menschen angetan wird. GewiB, es gibt nichts, das die Massen ergreift, es gibt keine Bewegung, es gibt keine Partei, die diese Tendenzen aktiviert. Aber es ist etwas da. und es bedarf der Hilfe, und die Erkenntnis ist ein Element der Hilfe.< (H. Marcuse, a.a.O., S. 21/22). Hier wird es n~n ~rnst fiir die Revolutioniire, die sich innerhalb unserer wznztgen, gesellschaftlich noch fiir eine ziemliche Zeit vOllig irrelevan-ten, weil weitgehendst auBerhalb der Gesellschaft stehenden, mit Recht auflerhalb stehend (was wir hoffentlich in den n:ichsten zwei his fiin Jahren durchhalten werden), Minori-tiit als solche verstehen und sich als solche somit auszuweisen haben. Die totale Mobilisierung der Gesellschaft im Dber-fluB gegen die immer mOglicher werdende totale Befreiung des Individuums von Okonomie, von Politik, von Offent-

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    lichkeit usw., kann von uns nur durch vollen Einsatz der Persiinlichkeit fur die Emanzipation (Miindigmachung) der Menschheit beantwortet werden. Ich will nun nicht Hinger groBe Worte gebrauchen, will vielmehr meine direkten VorschHige tiber die nachsten Schritte, d. h. meine Vorstel-lungen tiber die Praxis unserer Gruppe fiir unsere aktuelle und wirkende Gegenwart darlegen, denn nur die Feigen reden sich aus allem heraus, die Liigner bleiben allgemein. Dabei sind sie wortreich, verstecken sich in weiten oder spinOsen Gew1indern und suchen immer woanders zu sein als dort, wo man sie ertappt. Aber das Wahre kann nicht bestimmt genug werden, auch dann und gerade dann, wenn die Sache vor dem Blick noch dammert. (E. Bloch, Keirn unci Grundlinien zu den Feuerbachthesen, in: Deutsche Zeitschrift fiir Philosophie, 1953, S. 238).

    lch beginne mit der negativen Bestimmung, einer Zusam-menfassung in Thesenform:

    1) Die Konstituierung der lohnabhiingigen Arbeiterschaft aus der Klasse an sich in die Klasse fiir sich ist unmoglich.

    2) Auch der Versuch, einzelne Fabrikarbeiter zu agitieren (die ja in der Fabrik und besonders dann, wenn sie sich etwas von der herrschenden Ideologie gelOst haben, bleiben, also nicht von der repressiven Arbeit losgeeist werden sollen), ist Hir uns bei unseren sehr geringen Kriiften in der Gegen-wart nicht zu verkraften, nicht zu verantworten.

    3) Die Gewerkschaftsarbeit darf nicht zu ernst genommen werden, darf unsere Zeit nicht stark beanspruchen, kann allerdings QueUe unseres Lebensunterhalts, wenn nOtig, sein.

    4) Wir haben uns keinerlei Illusionen iiber den Charakter des SDS hinzugeben; er ist ein Gelegenheitsprodukt der revolution:iren Ebbe der Nachkriegszeit.

    Bis vor wenigen Tagen dachte ich noch iiber den SDS wie K. Liebknecht iiber die USPD dachte: Wir haben der USP angehOrt, urn sie voranzutreiben, urn sie in der Reichweite unserer Peitsche zu haben, urn die besten Elemente aus ihr herauszuholen; diese Meinung halte ich aufrecht, fiige aber die wichtige Ergiinzung hinzu: durch den SDSfiiruns, wobei wir fiir die revolutioniire Bewegung stehen, die MOglichkeit der Ankniipfung internationaler Beziehungen zu erhalten. 34

    5) Die enge praktische Zusammenarbeit mit den vielen linken, aber nicht revolutioniiren (sie miiBten sonst eine eigene in die Zukunft weisende Theorie bzw. ein kritisches BewuBtsein von der Notwendigkeit einer solchen Theorie haben) deutschen Gruppen in den bundesrepublikanischen Sdidten, in denen wir Mikrozellen haben, ist nicht vOllig einzustellen, aber wesentlich zu reduzieren.

    6) Die Moglichkeit, die sich durch griiftere Demonstratio-nen ergibt, ist unter allen Umstinden auszuniitzen. Gene~migte Demonstrationen miissen in die lllegalit:it iiberfiihrt werden. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich. Die Bedingungen dafiir miissen giinstig sein (verhaBtes Staatsoberhaupt usw.). Kiinstliche Radikalisierung, d. h. aus nichtigen Anl:issen (in Berlin die letzte SDS-Siidafrika-Demonstration) unbedingt etwas mach en zu wollen, ist unter allen Umsdinden abzuleh-nen. Die Radikalisienmg bei grOBeren Demonstrationen, die giinstige Vorbedingungen liefern, sind kurzfristig, aber in-tensiv durch (bewuBtseinsm3.Big gestaffelte) verschiedene FlugbHi.tter vorzubereiten, soil doch einigen an der Demon-stration teilnehmenden potentiellen Mitarbeitern der Sprung zu uns mOglich gemacht werden. Marx sagt dazu: Weit davon entfernt, den sogenannten Exzessen, den Exem-plaren der Volksrechte an verhaBten Individuen oder Offent-lichen Gebauden, an die sich nur gehassige Erinnerungen kniipfen, entgegenzutreten, muB man diese Exempel nicht nur dulden, sondern ihre Leitung selbst in die Hand neb-men. (K. Marx, Enthiillungen iiber den Kommunistenpro-zefl, Mehring-Ausgabe, 4. A. 1914, S. 52/53).

    Nach dieser nicht umfassenden, aber doch wesentliche Punkte herausgreifenden negativen Bestimmung muB ich nun das von mir als richtig Erkannte weiter skizzieren. Als Schiiler von Karl Marx in der Anwendung der materialisti-schen Dialektik muB ich nun positiv werden, was nichts mit Positivism us zu tun hat. lm Kapital I spricht Marx davon, dafl eine Losung aufgedeckter Realwiderspriiche nicht durch abstrakt-logische Formen, sondern nur darin, daB die Bahn (Form) geschaffen wird, worin sie sich bewegen kOnnen, ... , worin sich dieser Widerspruch ebenso verwirklicht als

    lost. (K. Marx, Kapital I, S. 109). Welche Formen haben wir 35

  • heute und besonders morgen zu schaffen, urn die sich entfaltenden Widerspriiche im Laufe der sich durchsetzen-den Vollautomation in die richtigen Bahnen, in die Bahnen der Befreiung zu lenken. Wir sriitzen uns bloB auf die einmal erkannte Richtung der Entwicklung, treiben aber dann im politischen Kampfe ihre Konsequenzen auf die Spitze, worin das W esen der revolutioniiren T aktik iiberhaupt besteht. (R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. III, S. 64).

    Die Grundlage fiir meinen V orschlag ist die in diesem Diskussionsbeitrag vorgenommene Analyse der Entwick-lungstendenzen der hochindustrialisierten Gesellschaft. Ist diese Basis richcig, so haben wir nun vom Okonomischen Endziel her (Vollautomatisierung) unsere Strategie konkret zu entwickeln. Die schon heute konstituierte Weltgesell-schaft weist nach vom, die Internationalisierung der Strategic der revolutionat-en Krafte scheint mir immer dringlicher zu werden. U nsere Mikrozellen haben umgehend Kontakt und Zusammenarbeit mit amerikanischen, anderen europliischen, lateinamerikanischen und auch afro-asiatischen Studenten und Nichtstudenten (wenn moglich) aufzunehmen. Diese Kontakte sind allen anderen Kontakten mit pseudorevolutio-naren deutschen Gruppen vorzuziehen. Neben einer mOgli-

    . chen aktuellen theoretischen Zusammenarbeit muB vor allem daran gedacht werden, Adressen der revolutionaren Grup-pen in den Heimatlandem zu erhalten. Austausch von Publikationen (die Sprachschwierigkeiten lassen sich gerade durch die hiesige Zusammenarbeit mit den ausHindischen Studenten vor allem schnell beseitigen) brachte uns endlich eine Fiille von bisher nicht oder kaum eruierbaren Informa-tionen, lieBe das konkrete Gebaude einer umfassenden W eltrevolutionstheorie sichtbar werden, eine Theorie, an deren Ausarbeitung heute sich keine noch so geniale Person allein heranmachen kann ...

    Wir wissen aus der Geschichte der vergangenen Revolutio-nen, daB in objektiv reifen Situationen der Verelendung und der sozialen Not des Proletariats die subjektive Tatigkeit einer selbstandigen Avantgarde allergroflte Bedeutung erhalt. (Lenin, Che Guevara, Alvarez usw.); soli ten wir im Laufe der nachsten zehn bis fiinfzehn Jahre fahig sein, durch theoreti-sche Weltanalyse und praktische Koordination der revolutio-36

    naren Gruppen vorzeitige Revolutionsmacherei zu verhin-dern (sehr Unrealistischc, dennoch die Forderung), so wird uns der Entscheidungskampf in guten Ausgangspositionen linden.

    Wir miissen parallel zu dem sich in seiner Eigengesetzlich-keit (von uns fast vollig unabhiingig und unbeeinfluftbar) durchsetzenden historischen Prozeft, der, wenn keine Kata-strophe eintritt, unaufhaltsam auf Vollautomatisierung hin-treibt, unsere revolutioniire Kraft qualitativ und quantitativ steigern.

    Jeder einzelne Schritt muB durch die Strategic bestimmt werden. Die Durchbrechung des verwalteten BewuBt-seins, diese Vorbedingung der Befreiung (H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1964, S. 15/16), muB von uns auf lange Sicht geplant und nicht iiberstiirzt zu einem falschen Zeitpunkt versucht werden. Habermas' Frage: Sollte nicht eine Dialektik des falschen Oberflusses eher zur Reflexion irrationaler Herrschaft fiihren als eine Dialektik der richtigen Armut? (J. Habermas, Theorie und Praxis, a.a.O., S. 333/4) weist in die offene Zukunft. Die Hoffnung auf gewaltige okonomische Krisen mit Elend, Krieg usw. ist analytisch falsch und kann Ausdruck eines falschen Menschenbildes sein. Die konkrete Reflexion iiber die Moglichkeit der Durchbrechung des falsche!' Bewuflt-seins im Laufe der nachsten zwanzig Jahre muB die Tagung leisten. Hierfiir ware die Zusamffienarbeit mit den revolutio-naren amerikanischen Gruppen von entscheidend,er Bedeu-tung, sehen diese doch am ehesten die neuen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft im Oberflufl, der aktuellen W eltgesellschaft. Phanomenologisch gesprochen, haben wir zu versuchen, die Prozesse in den Entwicklungslandern so zu leiten, (wenn ich von Wir spreche, so sind nicht wir persOnlich gemeint, sondern die sich konstituierende und koordinierende groflte Produktivkraft der Weltgesell-schaft, die revolutionare Klasse (Marx) im WeltmaBstab in Form von Minoritaten innerhalb und Majoritaten auBerhalb der Gesellschaft im Oberflufl ), daB der endgiiltige Revolu-tionierungsprozeB in Lateinamerika (in Afrika und Asien werden wirkliche Revolutionen sowieso erst durch die Entstehung des Proletariats infolge von Industrialisierung in

    37

  • zehn his fiinfzehn J ahren mOglich), zeitlich und organisato-risch Zusammenfiillt mit der Vollautomation in den kapi-talistischen lndustriegesellschaften.

    Die mOglichen Folgen dieser Vollautomatisierung fiir die Sowjetunion (und damit wohl fiir ganz Osteuropa) hat das wirklich epochemachende Buch von Marcuse tiber die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus gl:inzend aufgezeigt. Der Druck von innen in den Industriegesell-schaften durch die Befreiung des Menschen von der repres-siven Arbeit innerhalb des Apparates muB durch den Druck von auflen< (Entwicklungslander) begleitet werden, auf dafl eine Umkehr nicht mehr moglich ist. In diesem Augenblick wird sich die Schuld der Vergangenheit noch einmal zu einem letzten Gefecht von ungeheurer Dimension kristal-lisieren. Vortechnologische Rationalitiit in den Entwick-lungsliindern und sich von technologischer wieder in kriti-sche Rationalitiit umwandelnde Denkform in den Industrie-Iandern werden sich vereinigen in einer die Welt umfassenden Lust-Rationalitiit, Stillegung der Geschichte, Experimentie-ren und Spielen mit dem Apparat, die Ungleichzeitigkeit der historischen Dialektik schlieflt sich in diesem Augenblick; eine Welt ohne Krieg und Hunger iibersteigt gegenwiirtig noch unsere Phantasie ...

    Rudi Dutschke schrieb die sen Brief- von uns um groflere Teile gekUrzt, die sich mit einem in diesem Buch veriiffent-/ichten >Anschlag 1 ,_Text uberschneiden - anliifllich des >Munchner Konzils< der >SubversivenAktion< (Apri/1965). Er konnte wegen einer Reise in die Sowjetunion (vgl. den folgenden Text) nicht teilnehmen und begriff den Brief als konzeptionellen Diskussionsbeitrag zu einer gemeinsamen Neubestimmung revolutioniirer Theorie und Praxis fUr sub-versive Gruppen und Mikrozellen in der Bundesrepublik.

    Der Text demonstriert die zunehmenden Spannungen und WidersprUche insbesondere zwischen der Berliner und der MUnchner >SektionSubver-sive Aktion

  • Am Nachmittag suchten wir noch das Museum .. auf. Es fallt mir einfach oft schwer, entspannt zuzuhOren, wenn da problemlos, voller Pseudo-Optimismus und Schwachsinn iiber die Geschichte des Aufbaus des Sozialismusc ErkHi-rungen abgegeben werden.

    So bald man allerdings von dem deutschen Wahnsinn der faschistischen Angreifer zu horen, durch Bilder und Doku-mente von den Ermordungen zu sehen bekommt, verschwin-den fiir Augenblicke die Anspriiche, die man an das Land der Oktoberrevolution stellen muB. Wir jungen deutschen Mit-glieder des SDS tragen nicht die Schuld an dem 2. Weltktieg, tragen allerdings Verantwortung fiir unsere Zeit. Ob wir da versagen, wie viele Generationen vor uns: das wird sich erst noch zeigen. ( ... )

    Die Gespr:iche mit einem Redakteur von Cmena, 1919 gegriindet, waren stinklangweilig, aber auch etwas er-schreckend: der Chruschtschow-Sturz War fiir die BevOl-kerung kein Problem, alles wurde klar und gut erkliirt von der Partei und unseren Zeitungen.

    Vie! interessanter war schon das Gesprach mit Herrn Sachs, dem verantwortlichen Sekretlir der literarischen Zeit-schrift Nowy Mir. Er stellte sich ;ziemlich offen der Diskussion. Es gebe durchaus in dieser Zeitschrift einige verschiedene Schraffierungen, jedoch keine Fraktionie-rungen oder festgelegten Gruppierungen.

    Zweifellos babe, seiner Meinung nach, Solschenizyn viele wertvolle Auseinandersetzungen hervorgerufen. Dieser Schriftsteller ware noch lange nicht iiberholt, sehr viele Leserbriefe bestatigten dies immerwieder. Sachs gibt uns eine kleine Einfiihrung in die sowjetische Gegenwartsliteratur. Wosnessenskij ware ein formaler Dichter der Versmalerei, ]ewtuschenkow dagegen sehr viel inhaltsreicher. In :.Nowy Mir, so meint jedenfalls unser Gastgeber, sind Streitgespra-che an der Tagesordnung.

    Solschenizyn sei fiir diese Zeitschrift ein groBer Kiinst-ler, werde mit Sicherheit noch greBe Werke von sich geben, seine Schaffenskraft sei noch lange nicht erschopft. SchlieB-lich sei Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch Ausdruck groller kiinstlerischer Qualitiit der Darstellung. 40

    Grenzprobleme menschlichen Daseins: da habe Solscheni-zyn GroBes geleistet; bei ihm sei wirklich nichts fest gewor-den sein Mut und seine Gestaltungskraft giiben AnlaJl zu groBer Hoffnung fiir die sowjetische ~iteratur. Eine gewisse Begeisterung ist zu hOren. MuB zu memer Schande gestehen, die ganze neue sowjetische Literatur nicht zu kennen. ( ... )

    Trauriger und schOner Augenblick. Nachdem wir die vielen Institute hinter uns batten,

    suchten wir an der AuBenseite von Leningrad noch den groflen Leningrader Sportplatz auf. Nun war ich zwar mal wahnsinnig verriickter Leistungssportler in der DDR, aber eine andere provokative Frage drangte sich mir bald auf: wo liegt eigentlich von bier aus gesehen Kronstadt, und was ist da inzwischen los?

    Die Komsomol-Mitglieder stellten sich echt dumm und wuBten von nichts, auch nichts von den realen Klimpfen im Mlirz 1921. Mein Wissen stammte nicht mehr nur aus Lenin-unci Trotzki-Analysen und Einschlitzungen, ich hatte nam-lich vor wenigen Wochen die Autobiographic von V. Serge gelesen. War fiir mich erschreckend, die Matroseneinheiten, die den Oktober der Bolschewiki mit ermoglichten und zum Sieg fiihrten, sind in Kronstadt niederges_cho~sen ~orden. Wieso warda eine proletarische Notwendtgkelt, d1e Kron-st:idter Matrosen, die fiir die Sowjets nun wieder eintraten und gegen die Bolschewiki sich auBerten, ?olitis~h-m?itarisch zu liquidieren? Wer bestimmte denn dtese hlstonsc~e Notwendigkeit? Luk3.cs nahm in seinem Kommums-mus-Blatt da 1921 vollig die offizielle Haltung der KPdSU und der KI-Exekutive ein, die Konterrevolution..: muBte niedergeschlagen werden. Unser~ Gastgeb~r. kannten a.ll diese Publikationen nicht, wer welf!, wann dte Jemals all dte uns zuglinglichen BUcher in die Hand bekommen. Ein Gespd.ch tiber all diese Aspekte war einfach mit unseren Gastgebem nicht moglich. Die Wendungen durch den .xx. Parteitag kOnnen einfach nicht grundlegend gewesen sem!

    Viel einfacher und angenehmer war die plOtzliche Kon-taktaufnahme mit sowjetischen Kindern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren. Die trieben sich wie wir am oberen Teil des Stadions herum, auf der Zuschauerebene. Die spielten mit

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    einem kleinen Ball halt FuBball, da sich einzumischen war nicht schwer und wurde freundlich begriiBt. War prima, Renate iibersetzte hin und wieder, Bilder sind auch aufge-nommen worden. Ob es was geworden ist, werden wir sehen. Die Kinder waren, wie zumeist, nicht 'lm geringsten ver-krampft, batten von Uwe Seeler und Herberger natiirlich schon gehOrt.

    Abfahrt Unser Komsomol-Obersetzer, der offizielle, machte zum

    Schlufl die Bemerkung: Ich werde mir manche Marx-Texte noch mal neu anschauen.

    Wie der 1. Mai in Moskau oder Leningrad war? So wie ich ihn von Luckenwalde her kannte. In Ruflland

    erinnerte ich mich oft des Alexander-Block-Satzes von 1920: Diejenigen, die in einer unerfiillten Zeit geboren sind, erinnern sich nicht ihrer Vergangenheit. Wir, Kinder Rufi-lands in gefahrenvollen Zeiten, vergessen nichts. Wie sich eine Lage und ihre Interpretation iindern kOnnen!

    1967/1968

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    Besuch bei Georg Lukacs (Aus den Tagebuch, Mai 1966)

    Alle waren wir aufgeregt, den alten Genossen zu treffen. Ich hatte ihm kurz vorher einen Brief geschrieben, urn unsere Ideen und Fragen etwas vorzustellen. Zuerst fuhren wir zu Franz Janossy, dem Sohn von Luk:ics. Vom Sohn desselben erfuhren wir die Adresse des Arbeitsplatzes von seinem Vater und der Mutter. Dort stellten wir uns kurz vor und warteten die Beendigung der Arbeit ab.

    Sehr freundlich wurden wir zu Hause empfangen. Von Maria Janossy erfuhren wir am meisten tiber den Aufstand und Widerstand des Volkes von 1956. Von der Konterrevo-lution zu schw3tzen sei erst einmal reiner Unsinn und Betrug der Stalinisten. Man kOnne nicht den Widerstand fiir Sauereien verantwortlich machen, die auf der gesellschaftli-chen Grundlage des Stalinismus gewachsen sind. Franz J anossy hielt sich hierbei sehr zurtick, berichtete uns aber ausftihrlich tiber seine politisch-Okonomische Studie zum Thema des Wirtschaftswunders (auf deutsch: Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main). Sein Buch heiflt Am Ende der Wirtschaftswunder. Erscheinung und Wesen der wirtschaft-lichen Entwicklung. Unmittelbar war uns in der BRD und West-Berlin kein Ende des Wirtschaftswunders vor Augen gekommen, ganz im Gegenteil. Die ungebrochene Festigkeit des Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg erschreckt und verwirrt uns noch immer. Unser Blick hat sich schon Hingst auf die revolutioniiren Kiimpfe der unterentwickelt gehalte-nen Liinder gerichtet. Allerdings wissen wir: ohne Veriinde-rungstendenzen in den Metropolen werden die Kiimpfe in der 3. Welt steckenbleiben. Am 1. Mai schenkte uns Janossy noch das Manuskript. An die jtingste Buddenbrook-Gener-ation schrieb er drauf. ( ... )

    Die Gespriiche mit F. und M. waren jedenfalls sehr spannend - nicht zu vergleichen mit der stinklangweiligen und betriigerischen Veranstaltung der offiziellen Partei und Regierung zum 1. Mai.

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  • Am nachsten Vorrnittag besuchten wir nun Georg Lukcics, unsere Gastgeber waren mit dabei. Wir waren zwar vielleicht schon etwas >ruhiger
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    D.) muB durchaus meine hiStorische Skizze von der Entste-hung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphi-1osophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen VOlkern vorgeschrieben ist ... Aber ich bitte urn Verzeihung. (Das heiBt, mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun.) Er wendet sich mit aHem Nachdruck gegen den scheinbaren Universalschliissel einer ges~hichtsphilos~phische~ Th~orie, deren gr6Jlter Vorzug dann besteht, ubergeschtchtltch zu sein. (Marx-Engels-~ erke, B~. l9, S. 111/112, Berlin 1962). So sind dann auch dte matenalen Analysen im Marxschen W erk sehr oft rele-van~~r als die. berii~mten. Vorworte oder Einleitungen. Ansatze geschtchtsphtlosophtscher Konstruktion werden in der historisc~-materialistischen Analyse fliissig gemacht, wovon Marx 1~ Rohentwu_rf (Grundrisse) zum Kapita1 nur

    z~ sehr Zeugms able~. ~~~ gerade:u klassisches Beispiel dieser konkreten matenahsnschen Dtalektik ist die dortige Untersuchung der vorkapitalistischen Produktionsformen (S. 375-413). Dialektik erscheint hier in der einzig m6glichen Form~konkrete Geschichtsschreibung.

    Da fiir Marx die Gesamtgeschichte nicht beherrscht wird d~rc? eine der Geschichte immanente und unverlierbare Smrudee, so versteht es sich fiir ihn von selbst, die verschie-denen Periode~ der Ge~chi~hte als verbundene Einzelpro-zesse zu begreifen und JeWetls konkret zu analysieren. Die Machbarkeit der Geschichte durch Menschen wird zwar im Laufe der. Entfaltung der Produktivkrafte objektiv potentiell groBer, dteselbe schHigt aber immer wieder urn in Beherr-schu~g ~er Menschen durch die von ihnen geschaffenen V~rhal~russe der Produktion und Reproduktion des Lebens, Wtrd s~lange u.mschlagen, bis die neuen Menschen (fiir Marx dte Arbeiter) durch die revolution3.re Aktion dieser

    ~eproduktion der Herrschaft der totgeschlagenen Materie uber den Menschen ein Ende bereiten. Hier ist nichts verbiirgt, nichts in der Materie angelegt, alles ist bedroht durch die Moglichkeit des Untergangs der kiimpfenden Kla.ssen~. Jede Klasse kann ihre historische Mission ge-schtchthch verpassen, kann scheitern - andere Klassen m.~ssen dann unter neuen historischen Bedingungen alte Kampfe austragen. Geschichtsbewuihheit und verantwor-46

    tungsbewuJlte praktisch-umwalzende Tatigkeit allein ver-mOgen dies zu leisten. Die kritische Aneignung de~ Marx-schen Theorie, die zu heiden Faktoren Entsche1dendes beitragen kann, ist nun nur mOglich durch eine Aufhebung der politischen Geschichte des Marxismus, durch die Ge-schichte des Marxismus hindurch, die in hohem Malle eine Geschichte von Fehlinterpretationen und Entstellungen ist, die dem urspriinglichen Impuls nicht nur auBerlich sind (A. Schmidt, Nachwort in: H. Lefebvre, Probleme des Marxismus, beute, ed. Suhrkamp, Nr. 99, 1965).

    Diese ausgewahlte Bibliographie will nichts als die wesent-lichen Prozeflpunkte der Entstehung, der Entfaltung, der Rezeption und Weiterentwicklung der marxistischen Theo-rie literaturgeschichtlich kennzeichnen. .

    Mag auch P. Kropotkins Hinweis darauf, daJlEngland m den 40iger Jahren an der Spitze der sozialistischen Bewegung Europas stand ... grofie Bewegung, welche die arbeitenden Klassen so tie erregte, und in deren Verlauf bereits alles, das sich jetzt als wissenschaftlicher oder anarchistischer Sozialis-mus darbietet, ausgesprochen worden ist (P. Kropotkin, Memoiren eines Revolutioniirs, Bd. 2, S. 294, Stuttgart, o. ].) iibertrieben erscheinen, so ist es dennoch fiir die Entste-hungsgeschichte des Marxschen Denkens unerlafilich, dies en vormarxistischen Sozialismus wieder in Erinnerung zu rufen.

    Der Beitrag Londoner kommunistische Diskussionen, 1845 Nach dem Protokollbuch des C.A.B. V. von M. Nett/au im Archiv fur die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiter-bewegung (Vol. 10, 1922, S. 362-391) vermittelt einen hervorragenden Eindruck von den der Ausarbeitung des Kommunistischen Manifestes von Marx vorausgehenden Diskussionen des Kommunistischen Arbeiterbildungsver-eins iiber das Wesen und die praktische Verwirklichung des Kommunismus.

    W. Weitling, der sich fiir eine unmittelbare Verwirkli-chung des Kommunismus aussprach, wurde von K. Schap-per, der seine Arbeit als theoretisch-propagandi~tische Vor-arbeit fUr kommende Geschlechter verstanden w1ssen wollte, angegriffen. Schapper: Der ~ommunismus k~nnte bi~?~r nicht verwirklicht werden, we1l der Verstand mcht gehong

    47

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    b"ld Unsere Tatigkeit ist fiir kommende ausge 1 et war . . . hf""h . G hi h d. e mo""gen praktisch durc u ren, was Wtr esc ec ter, tes .

    f d W de aufklarenden Propaganda blo/l theorensch au em ege r verbreiten kOnnen. . . .

    Cl lll W "tl" g Das heillt em ewtges Versch1eben von heute auf morgen, von morgen auf ii?ermorgen ... So drehen wir uns denn immer in der alten Leter und kommen zu nichts ... Die Menschheit ist notwendig immer reif oder wird es nie. Letzteres ist die Redensart unserer Gegner ... (S. 368) Weitling wendet sich auch besonders gegen die Illusionen Schappers iiber die gewaltlose Aufk.larungsrevolution: Die Aufkliirung hat gar Nichts fiir uns errungen in politischer Beziehung auBer durch Revolution und immer erst nach der Revolution wirkte die Aufklarung ... Die Aufklarung auf friedlichem Wege ist eine Illusion (273).

    Das Scheitern der Revolution von 1848 stel!te fiir das Marxsche Werk einen starken Einschnitt dar. Da die Theorie der proletarischen Revolution, wie sie von Marx zwischen 1844 und 1848 in Zusammenarbeit mit Engels ausgearbeitet worden war, ihre Starke in der Verbundenheit mit den wirklichen Bewegungen der Klasse hatte, mufite sich die Niederlage der Revolution auch theoretisch bemerkbar rna-chen.

    Die in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechts-philosophie, den Okonornisch-philosophischen Manuskrip-ten, der Deutschen Ideoiogie- bes. Feuerbach-Einleitung -, dem Elend der Phiiosophie und dem Kommunistischen Ma-nifest zu findende Revolutionstheorie zeichnet sich gerade darin aus, dag sie die einzelwissenschaftliche Trennung von Okonomie, Politik, Ideologie, wissenschafcliche Theorie und gesellschaftliche Praxis nicht kannte. Eine Kurz-Kommen-tierung dieser grundlegenden Werke verbietet sich vom Gegenstand her; nur einige Anmerkungen: Die Manuskripte begriinden auf der Basis einer philosophischen Interpretation des menschlichen Wesens die Norwendigkeit der Totalen Revolution gegen den Kapitalismus, der nicht nur Okono-mische Krisen periodisch produziert, sondern eine Kata-strophe des menschlichen Wesens, eine Verkehrung seines Wesens bedeutet. Die Erstinterpretation dieser Schrift durch H. Marcuse, in: Die Gesellschaft, 1932, Nr. 8, S. 136-48

    0

    h . och immer am besten die Marxsche ll4, sc emt uns n .. Revolutionsrhe_orie _zu :rk~a;;~euerbach-Passage der Deut-

    Diese Theone wird I;d 3 S 17-77 Berlin !962) weiter-schen I deologL~ (ME.~, das' ~as sp~ter der Historische entwickelt. Hter dur te de ersrmalig in vollst:indiger Marerialismus gen~nnt wl.ukr . ' der historisch verschiede-1. Dte Exp 1 auon . . Form vor Iegen. f d ellschaftlichen Arbeltstet-nen Entwick~ng~stu e~lel ~~ufee~den verschiedenen Form en lung und den a~~.r:ar~arx zu der Herausarbeitung des des Eigenrums u rt d odernen biirgerlich-fundamenralen Gegensatzes er m kapitalistischen Gesellschaf\ . 1 ganz unabhangig und

    ,.Die Produktivkr:ifted~r~dc emenlsa :ine eigene Welt neben . den In lVl uen, a d" losgenssen von . T 1" .. de Produktivkrafte, te d. "d eme ota ltat r .. den In IVI uen 1 ommen haben und fur . hliche Gesta t angen . .

    gletchsam eme sac . h h d' Krafte der Indtvtduen, die Individuen. selb~t me t m:n~ ~:herder lndidviduen nur sondern des Pnvatet.gent~ms, . d DI"esen verselbstandig-

    . p t 1gentumer sm , . insofern ste . n~; e h f der anderen Seite die MaJO-ten Produkttvkra ten ste t a~b n denen diese Kdfre . .. d ) d" "duen gegenu er, vo . l

    ntat . er ". IVI d d' daher allen wirklichen Lebensmha ts losgenssen smd un ~~ . worden sind, die aber da-beraubt, abstrakte Indtvt1uen ge den als Individuen durch erst in den Stan gesetzt wer( 'o S 67).

    . V b d ng zu treten. a. a. ., mireinander m er m u . 11 Existenz zu retten, urn die

    Urn die gefahrdete. ~a ten~ ~egende Selbstbetatigung der jenseirs der Extsten~stkc _erun d Menschen zu erreichen,

    .. f h Fah1g elten es . . schop ensc en . . Bedrohung veretmg-

    . h d" d ch die gememsame . mi.issen stc 1e . ur d d en Produktivkrafre um-ten Individuen dtese frem gewor en

    versell aneignen. . . E f l der Produktivkrafte Die weltgeschtchthche . ~t t tu;;; von aller Selbstbetati-

    durch den ~el~markt en~:ss:~;n Proletarier der Gegex:-gung vollstandtg ausgesc lt eschichtlichen Indivt-

    . ellen zu We g . . h wart zu unxvers , "'rf . Die kommumsttsc e

    . lien Bedu mssen. duen mtt umverse . d h h nden VOlker auf . Is dte Tat er errsc e

    Revolution 1St ~Ur a_ . .. r h was die universelle Entfal-)einmal< oder glet~hzeltfig mdo~ IC , t ihm zusammenhangen-tung der Produkttvkra tun en mt den Weltverkehr voraussetzt (a.a.O., S. 35). 49

  • D.t Ejmj der Philosophie (!846) expliziert in der Ausein-1 mit Proudhons Phi/osophie des Elends die ;~f~55~~~~ gewendete Dialektik im Qegensatz zur idea-Kategoriendialektik Proudhons. Die literaturge-

    Darstellung der Probleme der NationalOkono-. mie von ihrer klassischen Begriindung an, zeigt sich als Problemgeschichte der antagonistischen Gesellschaft.

    Ohne der ketzerischen These von Korsch aus dem Jahre 1950, daB Marx heute nur einer umer vielen VorHiufern Begriindern und Weiterentwicklern der sozialistischen Be~ we~ng der Arbeiterklasse ist, vollst3.ndig zuzustimmen, schemt uns Korsch darin ganz recht zu haben dafi die historischen Alternativen und Weiterentwicklu~gen der Man::schen Foz:m~ng des Sozialismus, also die Beitriige der utoptschen Soztaltsten, die von Proudhon, Blanqui, Bakunin, den deutschen Revisionisten, franzOsischen Syndikalisten und den russischen Bolschewisten (inzwischen diirften neue Namen hinzugekommen sein) bei der Neubegriindung einer revolutioniiren Theorie und Praxis fiir die hochkapitalisti-schen Liinder aufgearbeitet werden miissen und zwar nicht als Vorlaufer von Marx und nicht als Abweichler und Verriiter der reinen Lehree:, sondern als ambivalente Ant-w~ne~ auf ~ie jeweiligen Veriinderungen der geschichtlichen Wirklichken: besonders gilt das fiir die nachmarxsche Zeit. Die ungeheure GrOBe des Marxschen Werkes verunmOglicht n?ch im~er eine ~c~Opferische _Betrachtung und Aneignung ~Ieser mchtmarxtstlschen Bettriige. An der die I. Interna-tlonale sprengenden Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin werden wir das spiiter verdeutlichen.

    Das Kommunistische Manifest (1848) nun ist AbschluB u~d Hohepunkt der I. Periode in der Entwicklung des Wlssenschaftlichen Sozialismus. Fiir die schon angeschnit-tene Problematik des marxschen Klassenbegriffs ist der im Manifest auftauchende Begriff des Lagers von hohem ln~eresse:. U_nsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, ze1chnet s1ch Jedoch dadurch aus, daB sie die Klassengegen-s:itze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich n:ehr und mehr in zwei groBe feindliche Lager, in zwei groBe emande~ direkt gegeniiberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat (K. Marx, F. Engels: Ausgewiihlte Schriften, Bd. 50

    ~I, s. 24, Berlin 1960). Die in Kapitaliii bes~nders au~ge7eigte .r Beseitigung der fungierenden und prod~k~v~n Kapitalisten-1 k]asse durch die Entwicklung der kapitahstischen Produk-

    . nsweise geht so tiber diesen spezifischen Klassengegensatz tiO b' d' E h d

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    Bourgeoisie und Proletanat mans, te poe e er - . kr .. hB Bourgeoisie hat ihr Ende ge~nden. Dt~ ~n ttlsc e en.ut-zung dieses bei Marx auf die Aktu~tat der RevolutiOn bezogenen Begriffs des Lagers durch die .herrs~hende Ideo-logic des sozialistischen Lagers k~chtert dtesen Tat~estand nicht wenig. Der kritische Begnff des Lagers schemt uns mit Mauke jenen gesellschaftlichen Zustand anzudeute~, in dem die ganze Gesellschaft zu einem einzigen Loh~ar~ezter< geworden ist, eine unbeherrschte und verselbstand~gte Produktionsmaschinerie im totalen Gegensatz zur lebendzg_en Arbeit sich etabliert hat. Die Entwicklung der .Produkuv-kriifte, die dialektische Identitiit des okonomischen und politischen Prozesses in den ~Oer JahreJ1 des 19. J~hunderts bildeten die Grundlage fiir d1ese htstonsch speztfischen, aber nicht in der Zeitbedingtheit aufgehenden Aussagen des Kommunistischen Manifestes. Die nach der Niederlage der Revolution von 1848 einsetzende Restaurierung des ~es~llschaftlichen Lebens fi.ihne zu einem Verfall der Orgamsatlo-nen und der Kampfkraft der Arbeiterbewegung.

    Die direkte Fortsetzung der Rothsteinschen Arbeit (Aus der Vorgeschichte der Internationale, 1. Erg:inzungsheft der Neuen Zeit, Stuttgart 1913), die 1850 ihre Darstellung beendet, ist die his heute unerreichte Arbeit ~on D. ~Rjazanov :.Zur Geschichte der ersten lnternatzon~le~. m deutscher Sprache zuganglich im Bd. I des von RjaZanov herausgegebenen Marx-Engels-A~chivs, ~r~~furt am Mam 1925, S. 119 - 202. Der vom Stalimsmus hqmdierte erste ~n? bedeutendste Marxforscher zeigt in einer konkret-matenali-stischen Analyse die Okonomischen Bewegu?gsformen des Kampfes der englischen Arbeiterk.lasse und die davo? _getra-genen und wesentlich bes~ten Versuche der politischen Organisierung des Okonom1schen Kampfes. . .

    Die nachste Phase in der Entwicklung der mternanonalen Arbeiterbewegung ist die der Tatigkeit der I. lnterna~onale von 1854 - 1872, die Zeit der Auseinandersetzung ZWisch_en Marxismus und Anarchismus, zwischen Marx und Bakunm.

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  • Aus der sehr zililreichen Literatur tiber diese Zeit ragt neben der schon erwahnten Arbeit von]. Braun thai der 2. Band der von G. D. H. Cole verfa1lten Geschichte des sozialistischen Denkens, A History of Socialist Thought-Marxism and Anarchum 1850 - 1890, London 1961 heraus

    Kann de_r Anar~hismus nun eigentlich fiir ~~s noch etwas bedeuten, 1st er mcht durch Marx fiir aile Zeiten widerlegt wo_rden? W. Hofmann schreibt in seiner je~m Genossen als Pfh~htlektiire zu empfehlenden Buch Ideeilgeschichte der sozzalen_