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66 Wostok 1/2019 Rußland ABiD-Konferenz 29. und 30. März 2019 „Teilhabe an Kultur, Sport und Tourismus. Leben ohne Barrieren“ D er Titel der Konferenz der Be- hindertenverbände aus den postsowjetischen Staaten und Deutschland am 29. und 30. März 2019 lautete „Teilhabe an Kultur, Sport und Tourismus. Leben ohne Barrieren“. Vertreter aus 12 post- sowjetischen Ländern sowie aus den EU-Ländern Lettland und Deutschland folgten der Einla- dung nach Berlin. Die Zusammen- kunft stand ganz unter dem Zei- chen des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Be- hinderungen, das 2006 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen (VN) angenommen worden war und seit dem 26. März 2009 innerstaatliches Recht in Deutschland ist. Eingeladen zu diesem Treffen hatte der Allge- meine Behindertenverband in Deutschland e. V. (ABiD). Geför- dert wurde die Zusammenkunft vom deutschen Auswärtigen Amt, unterstützt wurde sie von der Lin- ken im Bundestag, der Rosa Lu- xemburg Stiftung, der Stiftung West-Östliche Begegnungen, der Paralympics Zeitung, dem Deut- schen Behindertensportverband, den Special Olympics Deutsch- land, von „Tourismus für Alle Deutschland“ (NatKo) und dem Bundesverband Deutscher West- Ost-Gesellschaften. Zwei Tage diskutierten die Gäste aus dem In- und Ausland, am ersten Kon- ferenztag im Paul-Löbe-Haus des Bundestags und am Morgen des 2. Konferenztages im Hotel Mon- dial, das erste barrierefrei zertifi- zierte Hotel in Deutschland, am Kurfürstendamm, wo die auslän- dischen Teilnehmer der Konfe- renz untergebracht waren. Den ersten Tag schloß ein Konzert un- ter dem Motto „Inklusion rockt. Musik für alle“ in der Alten Feuer- wache in Berlin-Friedrichshain ab. Und den drei Workshops am folgenden Morgen folgten Exkur- sionen: „Kultur ohne Barrieren“ zur Topographie des Terrors und zur Gedenkstätte T4, „Die Berliner Innenstadt barrierefrei ent- decken“, ein Stadtspaziergang mit visitBerlin, und „Zu Gast beim Sportclub Lebenshilfe Berlin“. Vor allem aber trafen sich die Konfe-

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RußlandABiD-Konferenz 29. und 30.März 2019„Teilhabe an Kultur, Sportund Tourismus. Leben ohneBarrieren“

D er Titel der Konferenz der Be-hindertenverbände aus den

postsowjetischen Staaten undDeutschland am 29. und 30. März2019 lautete „Teilhabe an Kultur,Sport und Tourismus. Leben ohneBarrieren“. Vertreter aus 12 post-sowjetischen Ländern sowie ausden EU-Ländern Lettland undDeutschland folgten der Einla-dung nach Berlin. Die Zusammen-kunft stand ganz unter dem Zei-chen des Übereinkommens überdie Rechte von Menschen mit Be-hinderungen, das 2006 von derVollversammlung der VereintenNationen (VN) angenommenworden war und seit dem 26.März 2009 innerstaatliches Rechtin Deutschland ist. Eingeladen zudiesem Treffen hatte der Allge-meine Behindertenverband inDeutschland e. V. (ABiD). Geför-dert wurde die Zusammenkunftvom deutschen Auswärtigen Amt,unterstützt wurde sie von der Lin-ken im Bundestag, der Rosa Lu-xemburg Stiftung, der StiftungWest-Östliche Begegnungen, derParalympics Zeitung, dem Deut-schen Behindertensportverband,den Special Olympics Deutsch-land, von „Tourismus für AlleDeutschland“ (NatKo) und demBundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften. Zwei Tagediskutierten die Gäste aus demIn- und Ausland, am ersten Kon-ferenztag im Paul-Löbe-Haus desBundestags und am Morgen des2. Konferenztages im Hotel Mon-dial, das erste barrierefrei zertifi-zierte Hotel in Deutschland, amKurfürstendamm, wo die auslän-dischen Teilnehmer der Konfe-renz untergebracht waren. Denersten Tag schloß ein Konzert un-ter dem Motto „Inklusion rockt.Musik für alle“ in der Alten Feuer-wache in Berlin-Friedrichshainab. Und den drei Workshops amfolgenden Morgen folgten Exkur-sionen: „Kultur ohne Barrieren“zur Topographie des Terrors undzur Gedenkstätte T4, „Die BerlinerInnenstadt barrierefrei ent-decken“, ein Stadtspaziergangmit visitBerlin, und „Zu Gast beimSportclub Lebenshilfe Berlin“. Vorallem aber trafen sich die Konfe-

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renzteilnehmer aus den postso-wjetischen Staaten zur Kranznie-derlegung an der Gedenkstätte T4im Tiergarten, die den Euthana-sie-Opfern der NS-Gewaltherr-schaft 1939 bis 1945 gewidmetist. Von diesem Ort aus organi-sierte die „Zentraldienststelle T4“die systematische Ermordung vonPatienten aus Heil- und Pflege-anstalten im Deutschen Reich.Keinesfalls selbstverständlich,daß sich Vertreter von 12 postso-

wjetischen Staaten gemeinsamzum Gedenken einfinden. Nach-dem man sich zuletzt im Novem-ber 2018 in Taschkent zu Bera-tungen zusammengefunden hat-te, war es nun also Berlin, das dieGäste freundlich begrüßte.Dr. Ilja Seifert, Ehrenvorsit-

zender des Allgemeinen Behin-dertenverbandes in Deutschlandund vor 12 Jahren treibende Kraftder engen Zusammenarbeit derBehindertenverbände im postso-wjetischen Raum, begrüßte dieGäste aus dem In- und Auslandmit den Worten, daß er schonnicht mehr genau wisse, das wie-vielte Treffen mit den Partnernaus der ehemaligen UdSSR es ist,nach Berlin, Minsk, Odessa, Tbilis-si, Taschkent und immer wiederBerlin, aber nach wie vor bleibeder Erfahrungsaustausch wichtig,auch für Deutschland und die EU.Überall stehen die Gesellschaftennoch vor der Aufgabe, daß Barrie-refreiheit eine Selbstverständ-lichkeit werden muß, dabei seiendie Voraussetzungen in den ein-zelnen Ländern zwar unter-schiedliche, das Ziel einer umfas-senden Teilhabe aber das gleiche.Mit einem Grußwort wandte

sich der Beauftragte der Regie-

rung für die Belange von Men-schen mit Behinderungen JürgenDusel an die Konferenzteilneh-mer, der seine nicht der Weisungder Regierung beziehungsweiseeinzelner Ministerien unterlie-gende Aufgabe wie folgt be-schrieb: Die Regierung müsse derVerpflichtung zur Schaffunggleichberechtigter Teilhabe, wiesie in der vor 10 Jahren (2009) ra-tifizierten VN-Behinderten-rechtskonvention und insbeson-

dere in Artikel 30 festgelegt ist,nachkommen. Dabei in allen Le-bensbereichen: Wohnen, Arbei-ten, Bildung, Gesundheit, Kulturund Politik, und nicht weil manzivilisiert denke oder ein humani-stisches Menschenbild habe, son-dern weil es um fundamentaleMenschen- und Bürgerrechtegeht, die unteilbar für alle gelten.Dusels Herangehen: Demokratiebraucht Inklusion, allgemeine In-klusion, eine Teilhabe der Jungenund Alten, der Menschen mit undohne Migrationshintergrund, mitund ohne Beeinträchtigungen,kurzum – eine funktionierendeDemokratie müsse inklusiv den-ken und handeln, mithin jedeneinbeziehen, ausnahmslos. Zu be-klagen sei, so Dusel, daß fast alleVN-Mitgliedsstaaten die Konven-tion unterzeichnet, größtenteilsauch ratifiziert haben, aber Rechtin Buchstaben zu setzen undRechte umzusetzen, das seienzwei verschiedene Dinge. Glaub-

würdigkeit erreiche das in Rechtgesetzte nur, wenn die Rechte ge-lebt werden können, man sich aufsie berufen, sie einfordern kann,darunter vor Gericht. Das seinicht allein Aufgabe des Staates,sondern auch der GesellschaftIn Deutschland trat die Behin-

dertenrechtskonvention am 26.März 2009 in Kraft. Man hat eini-ges erreicht, aber beim erstenStaatenprüfverfahren 2015 wur-den auch Deutschland weitereHausaufgaben mit auf den Weggegeben. Man ist Schritte gegan-gen, aber lange nicht am Ziel. Deröffentliche Raum sei der Resolu-tion entsprechend gut aufge-stellt, Erziehung und Bildung ha-be man große Aufmerksamkeitgeschenkt, der private Bereichund auch die Wirtschaft seienaußen vor. Wichtig sei, daß Inklu-sion heute stärker im Bewußtseinder Gesellschaft angekommen sei,aber wie stark ist das Verständnis,daß Barrierefreiheit, die die Teil-habe erst ermöglicht, auch einetiefe soziale Dimension hat? Bar-rierefreiheit darf nicht als etwas

Zusätzliches betrachtet werden,sie ist grundlegend, um das Rechtauf Freizeit, Sport, Reisen umzu-setzen. André Hahn, Stellvertretender

Fraktionsvorsitzender der Linkenim Bundestag und neben dem Ko-ordinator der Bundesregierungfür die zwischengesellschaftlicheZusammenarbeit mit Russland,Zentralasien und den Ländern derÖstlichen Partnerschaft im Aus-wärtigen Amt Dirk Wiese, Schirm-herr der Konferenz, verwies dar-auf, daß die Behindertenrechts-konvention seit 10 Jahren inner-

staatliches Recht ist, dies aber nurden Beginn einer langen Phaseder Umsetzung dieser Konventionmarkierte und vieles nur aufDruck der Behindertenbewegungdurchgesetzt wurde. Nach wievor gebe es zu viele Barrieren,Diskriminierungen und Ausgren-zungen auch in Deutschland, un-geachtet eines geltenden Diskri-minierungs- und Benachteili-gungsverbots. So sind nur 27 Pro-zent der Olympiastützpunkte inDeutschland für ParalympischeSportler nutzbar. Dies wird eineErfahrung aller Konferenzteil-nehmer sein, denn das Verbot derDiskriminierung aus jedwedenGründen ist in allen postsowjeti-schen Verfassungen niedergelegt.Die Konferenz solle, wie alle an-deren zuvor, dazu beitragen, daßsich nicht noch die Enkel und Ur-enkel mit der Frage der Teilhabebefassen müssen, so André Hahn.Der Vorsitzende der Interna-

tionalen Vereinigung der Behin-derten (IVB) und Vorsitzende desBehindertenverbandes der Ukrai-ne Vasyl Nazarenko faßte für dieTeilnehmer der Konferenz nocheinmal wichtige IVB-Aktivitätenund Neuigkeiten zusammen, be-tonte die gute Zusammenarbeitmit Deutschland, vor allem mitdem ABiD und dem AuswärtigenAmt, aber auch mit der StiftungWest-Östliche Begegnungen, be-dankte sich bei den usbekischenKollegen für die Konferenz inTaschkent und kündigte an, daßdie nächste Konferenz in Aser-baidschan stattfinden werde. Undauch ließ er nicht außen vor, daßdas gemeinsame Ziel aller Ver-bände und Assoziationen seinmüsse, Partner der staatlichenund behördlichen Institutionenzu werden, da gerade von den Be-troffenen selbst Expertise kom-me. Ein gutes Zeichen ist, daß diepostsowjetischen Länder sich imIVB zur Verteidigung ihrer Rechtevereint haben, auch dank der Im-pulse Ilja Seiferts und André No-waks vom ABiD. Und die Zusam-menarbeit zeige auch, daß Europanicht an den Grenzen der EU auf-höre, sondern weit auf den eura-sischen Raum ausstrahle undMenschen Freunde blieben, auchwenn Staaten keine Freunde sind. André Nowak, Vorstandsmit-

glied des ABiD und Organisatorder Konferenz, führte ins Thema

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Der Beauftragte der Regierung fürAngelegenheiten der BehindertenJürgen Dusel und Gunta Anca, Generalsekreätrin des EuropäischenBehindertenforums, berichtetenüber den Stand der Dinge inDeutschland und der EU

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der Konferenz ein: „Kultur, Sportund Tourismus in unserer Gesell-schaft – Nur eine Nebensache?“.Deutschland sei besonders struk-turiert, anders als in zentralistischgegliederten Staaten gebe es keinföderales Kultur-, Sport- oderTourismusministerium, diese Be-reiche sind „Ländersache“, und inZeiten knapper Kassen fallen sieoft „hinten runter“. Eine Schiefla-ge, denn Teilhabe in diesen Berei-chen sei wichtig für ein erfülltesLeben. Die Zahlen sprechen fürsich: Prozentual treiben Behin-derte weniger Sport, gehen weni-ger in Theater und Museen undmachen weniger Reisen. Die Frage„Wie viel Barrierefreiheit brau-chen wir?“ beantwortet sich vonselbst – 100 Prozent, denn Barrie-refreiheit dient allen. Wie vielBarrierefreiheit können wir unsleisten? Eine Frage, die durch po-litischen Druck positiv entschie-den werden müsse. In Deutschland gibt es in den

Bereichen Kultur, Sport, Touris-mus Erfolge – zwar ist der Berli-ner Fernsehturm (noch) nicht zu-gänglich für Rollstuhlfahrer (an-ders als etwa die Akropolis oderdie Chinesische Mauer), dafürwurde das Berliner Olympiastadi-on nach einer Klage des ABiD bar-rierefrei ausgebaut. Insgesamtgilt, daß im Bereich Fußballstadi-en viel geschaffen wurde, für an-dere Sportarten aber nicht. In Bi-bliotheken, wo es Bücher in Brail-le Schrift oder Hörbücher gibt,wurde vieles erreicht. Die Gesetz-gebung zielt auf den öffentlichenRaum, aber es geht auch um denprivatwirtschaftlichen. Es gebedas Kennzeichnungssystem, aberes gehe nicht nur darum, daß derReisende mit Behinderung weiß,was möglich ist, sondern daß das,was ihn behindert, allgemein ab-gebaut wird. Nowak fordert, daßExpertise, die die Politik anfragtund anfragen sollte, personellund finanziell unterfüttert seinmuß, darunter bei den Betroffe-nenverbänden, denn Expertisenzu 300 Seiten starken Gesetzes-vorhaben schrieben sich nichtvon selbst. Kurzum: Es ist noch einlanger und mühseliger Weg zu ei-ner inklusiven Gesellschaft.Gunta Anca (Lettland), Gene-

ralsekretärin des EuropäischenBehindertenforums, berichtetezum Beitrag der EU zur Umset-

zung der UN-Behindertenrechts-konvention. Sie konzentriertesich auf unterschiedliche Formender Zugänglichkeit, darunterphysische, finanzielle und infor-mationelle. Die EU konzentriertsich einerseits auf physische Zu-gänglichkeit – Treppen, Aufzüge,Rampen, Passagier- und Fahr-gastrechte –, und sei damit im all-gemeinen erfolgreich. Bei der in-formationellen Zugänglichkeitagiere die EU vor allem über Ge-setzesvorgaben, so etwa daß alleInternetauftritte von staatlichen,behördlichen oder Selbstverwal-tungsgremien zugänglich fürBlinde sein müssen oder daß esGebärdendolmetscher im Fernse-hen gibt. Aber es gebe auch dasweite Feld der finanziellen Zu-wendung. In vielem brauchen

Menschen mit Behinderungen ei-nen Assistenten, der sie begleitet.Hier müssen Lösungen gefundenwerden, damit die Betroffenendies nicht aus eigener Tasche fi-nanzieren müssen. Diese Diskussi-on müsse auch im Verbund mitder Internationalen Vereinigungder Behinderten weiter intensi-viert und vorangetrieben werden. Der Stellvertretende Vorsit-

zende des Allrussischen Behin-dertenverbandes (VOI) und Präsi-dent des Russischen Behinderten-sportverbandes Filur Nurlygaja-now sprach zur Umsetzung vonArtikel 30 der Behindertenkon-vention in Rußland. Auf die Rati-fizierung folgte die Anpassungder Gesetze. Aber auch für Ruß-land gelte, daß der Staatenprü-fungsbericht zahlreiche Punktebemängelte und Empfehlungengab. Im Bereich des Sports hob er

vor allem die Bedeutung der Par-alympics in Sotschi 2014 für Bar-rierefreiheit und Zugänglichkeitin Rußland hervor, das habe einenDurchbruch gebracht. Im Bereichder Kultur verwies er auf zahlrei-che Fortschritte, darunter inklusi-ve Kinder- und Jugendfestivalsund die aktivere Sozialisierungder Kinder mit Beeinträchtigun-gen. Allerdings gelte für Rußland,das bislang nur 49 Prozent allerKulturobjekte barrierefrei sind.Hier setzt er auf das Föderale Ziel-programm Kultur, Körperertüch-tigung und Sport bis 2025, das inallen Abschnitten auf Menschenmit Beeinträchtigungen eingeht.Der VOI ist mit 1,5 Millionen Mit-gliedern der zweitgrößte Behin-dertenverband in Rußland unddurch Vertreter in den Behörden,

in der Gesellschaftlichen Kammerund im interministeriell tätigenKulturbeirat beim Präsidentenaktiv. Im ersten Themenblock mit

Impulsvorträgen aus unter-schiedlichen Ländern, moderiertvon Monika Tharann, Geschäfts-führerin der Stiftung West-Östli-che Begegnungen, und dem Vor-sitzenden des Behindertenver-bandes Aserbaidschans DavudRahimli, konzentrierte man sichauf Kultur und Tourismus. Hier gab es naturgemäß ein

breites Kaleidoskop. Einen kurzenÜberblick gab die Vorsitzende desBehindertenverbandes Karagan-dy Swetlana Ponomarowa für Ka-sachstan. Tourismus für Alle wird

wichtiger, und es gibt neueDienstleistungsangeboten, da alleverstehen, daß Tourismus undkulturelle Teilhabe nicht nur le-bensgestaltende Elemente sind,sondern auch ein Wirtschaftsfak-tor. Jedoch sei auch in KasachstanFakt, daß Behinderte „weniger le-bensgestaltend unterwegs“ sind,sondern vor allem zu staatlichunterstützten Heil- und Erho-lungsurlauben in Sanatorien rei-sen. Es gebe gute Initiativen, wieetwa, daß Kultureinrichtungenvon Behinderten unterschiedli-cher Kategorien kostenlos be-sucht werden können, es gebe Er-folge, wie etwa, daß die alteHauptstadt Almaty weit vorange-gangen ist im Feld der Barriere-freiheit. Doch was nütze dies,wenn nicht einmal alle neu ge-bauten Kunst- und Kultureinrich-tungen barrierefrei gebaut wer-den, nicht zu sprechen von denbereits existierenden wie den„Heiligen Stätten“ der Kasachen,die im inländischen Tourismus ei-nen ähnlichen Stellenwert habenwie etwa die Akropolis oder dieChinesische Mauer im globalenTourismus. Auch die National-parks – die reiche Naturdenk-mälerwelt Kasachstans – sind fürMenschen mit Beeinträchtigun-gen nicht zugänglich, man begin-ne erst, sie barrierefrei zu machenund die Infrastruktur inklusiv zugestalten. Auch in Kasachstangelte, Bestimmungen der UN-Be-hindertenrechtskonvention wur-den in Recht gegossen, aber derStaat sei noch in der Pflicht, umverbrieftes Recht auch lebbar zumachen, dabei für Menschen mitallen Arten der Beeinträchtigun-gen. Anja Krätzer vom Deutsch-

Russischen Austausch stellte dasProjekt INKultur zur Förderungdes Zugangs zu Kulturangebotenin Rußland vor, das unter anderengefördert wird vom AuswärtigenAmt. Partner in Rußland sind dasnichtkommerzielle Sozialpädago-gische Zentrum „Blagoe delo“ inJekaterinburg, das nichtkommer-zielle Zentrum „Kulturelle Praxis“in Sankt Petersburg und der El-ternverein für Kinder mit Autis-mus „Ja i ty“ in Pskow. Das Projektzielt nicht nur auf physische Bar-rierefreiheit, sondern vor allemauch auf Sensibilisierung, Abbauideeller Barrieren und Qualifizie-

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Die Konferenzteilnehmer fanden alle am Runden Tisch im Paul-Löbe-Haus des Bundestages Platz

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rung des Personals. Präsenz- undOnlineseminare wenden sich anMitarbeiter von Kultureinrich-tungen aller Arten und Ebenen.Entwickelt wird gemeinsam einKonzept zur Umsetzung inklusi-ver Strukturen in Museen, Thea-tern und Kinos, an dessen Endedie Vergabe von Inklusions-La-beln stehen soll, die unterschied-

liche Aspekte von Barrierefreiheitberücksichtigen. Aufgebaut wirdeine barrierefreie Webseite, diezudem als Internetplattform zurVernetzung und zum Informati-onsaustausch dienen soll. Dabeiarbeiten die russischen Partnereng mit den Behörden zusammen,was natürlich wichtig für die Fi-nanzierung bei Modernisierungund Umbau der Kultureinrichtun-gen ist.Guljachon Machmadkulato-

wa, Stellvertretende Vorsitzendedes Behindertenverbandes Usbe-kistans, warb zunächst einmal fürihr touristisch interessantes Landmit weit mehr 7 000 Geschichts-,Architektur- und Kulturdenk-mälern, das allein 2018 von mehrals 4,4 Millionen ausländischenBesuchern bereist wurde. Vordem Hintergrund der Tatsache,daß noch 90 Prozent der Archi-tekturensembles für Behindertenicht zugänglich sind, berichtetesie von einer Politik der kleinenSchritte ihres Verbandes. Unter-zeichnet wurde ein Memorandumüber die Zugänglichkeit im Tou-rismussektor mit den Behörden.Umgesetzt wird ein Programmzur Schulung der Mitarbeiter imTourismusbereich, ausgebildetwerden Gebärdendolmetscher,entwickelt wird eine Konzeption

„Tourismus für Sehbehinderte“,auf der Tagesordnung steht derbarrierefreie Transport und vielesmehr. Sie betonte, daß der Besuchvon Menschen mit Beeinträchti-gungen aus dem Ausland bei derDurchsetzung von Zugänglichkeithelfe. Dies habe auch die Novem-ber-Konferenz 2018 in Taschkentgezeigt, nach der der Dialog mit

den usbekischen Behörden inten-siviert wurde. Aus dem Film über die Arbeit

von „HandiClapped – Kultur Bar-rierefrei“ konnten die Teilneh-menden vieles mitnehmen, wassie aber viel eindrucksvoller amAbend beim Konzert „Inklusionrockt. Musik für alle“ in der AltenFeuerwache selbst erleben konn-ten. Moderiert von Julia Marmulla,

Tourismusberaterin BarrierefreiesReisen, und Asadullo Zikrichudo-jew, Vorsitzender des Behinder-tenverbandes Tadschikistans,widmete man sich der Frage desbarrierefreien Reisens.Hier zog Olaf Schlieper, Inno-

vationsmanager der DeutschenZentrale für Tourismus, ein Fazitdes bislang in Deutschland gelei-steten. Wie ernst der Tourismus-sektor das Klientel Behindertenimmt, zeige sich auch an derEinführung des Tages des barrie-refreien Reisens auf der welt-größten Reisemesse ITB. Aber na-türlich, auch in Deutschland istBarrierefreiheit nicht flächen-deckend gewährleistet. Daß

Deutschland mit „barrierefreiesReiseland“ wirbt, ist Verpflich-tung und Ansporn zugleich. DaTourismus Ländersache ist, seihervorzuheben, daß das „Reisenfür Alle“-Label in allen 16 Bun-desländern anerkannt ist und einnationales Zertifizierungssystemfür ganz Deutschland entwickeltwurde. Abrufbar ist die Daten-bank unter www.germany.travel/de/.Georgi Dsneladse, Vorsitzen-

der der Vereinigung unabhängi-ges Leben in Georgien, knüpfte anseine usbekische Kollegin an.Auch Georgien habe in den letz-ten Jahren einen Aufschwung desTourismus erfahren und der Tou-rismusbereich sei ein echtesStandbein der Wirtschaft, dochdie Mängel stechen hervor. VielÜberzeugungsarbeit sei zu leistenim Feld der Zugänglichkeit vonKirchen, von Museen und von al-ten Architekturdenkmälern. MitVerweis auf Gunta Anca verwieser darauf, daß die VN-Konvention

überall umgesetzt werden undein allgemeines Zertifizierungssy-stem weltweit Gültigkeit habenmüsse, damit der Reisende mitBehinderung versteht, was mög-lich und was nicht möglich ist. Ei-ne Toilette, die als barrierefreiausgewiesen ist, aber dann dochnicht von einem Rollstuhlfahrergenutzt werden kann, macht Rei-sen ungewiß und bringt Men-schen in entwürdigende Situatio-nen. Passagier- und Fahrgast-rechte, das Recht auf einen Assi-stenten – die Bedarfe Behindertersind in fast allen Ländern gleich,die Bedingungen aber nicht. Unddann auch diese Bemerkung: „In

Sowjetzeiten war verankert, daßBehinderte der 1. Kategorie ko-stenlos mit Begleitperson reisendürfen, kommt die EU nun bis Ge-orgien, müssen auch wir denFahrpreis für unseren Begleiterbezahlen.“ Aus Kirgisistan wurde über ei-

ne zwar positive Tourismusent-wicklung berichtet, die vor allemden Berg- und Hochleistungstou-rismus betreffe, aber eineernüchternde Bestandslage zubarrierefreiem Reisen gezogen.Ungeachtet aller Vergünstigun-gen für Menschen mit Beein-trächtigungen, sei Reisen selbstzu den Kurzentren im Winter aus-sichtslos und im Sommer mangelsnicht behindertengerechterTransportmittel beschwerlich.Womit in gewisser Weise dieBrücke zum Block barrierefreierSport geschlagen wurde, vor demder Vorsitzende des ABiD MarcusGraubner herzlich begrüßt wur-de, der in seinem kurzenGrußwort betonte, daß mit der

Konferenz ein Zeichen der Begeg-nung über Grenzen hinweg undfür Verständigung, Inklusion,Frieden und Sport gesetzt werdensolle. Friedhelm Julius Beuchert,

Präsident des Deutschen Behin-dertensportverbandes, machtemit dem Problem des Nachwuch-ses des vor 70 Jahren als Versehr-ten-Sportverbände gegründetenBehindertensportverbandes be-kannt, da man die in Regelschu-len gehenden Kinder mit Behin-derungen nicht mehr erreiche. Erbetonte die Zugkraft der Para-lympics, die heute 100 Stundenlive im Fernsehen übertragen

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Die Behindertenverbände aus dempostsowjetischen Raum eint ungeachtet unterschiedlicher Bedingungen das Ziel umfassenderTeilhabe aller

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würde, und natürlich von Leucht-türmen der Paralympischen Be-wegung, von denen zwei – näm-lich Marianne Buggenhagen undKirsten Bruhn – am zweiten Kon-ferenztag im Workshop Sportteilnahmen. Man zählt 300 A-Ka-der- und B-Kader-Athleten, dieheute von 38 Trainern betreutwerden, 600 bis 700 Behindertedie Leistungssport betreiben. Da-gegen stehen aber 47 Prozent derBehinderten, die überhaupt kei-nen Sport betreiben. Beuchertbetonte die Bedeutung der „para-lympischen Fraktion“ im Bundes-tag, denn die Herausforderungen,darunter mit Blick auf barriere-freie Sportstätten, müßten auchpolitisch angegangen werden.Der Austausch im Rahmen inter-nationaler Konferenzen helfe da-bei, denn die Frage von Inklusionund Teilhabe ist eine globale Fra-ge.Armen Alaverdjan zeichnete

ein eher enttäuschendes Bild überdie Umsetzung der UN-Behinder-tenrechtskonvention in Armeni-en, die 2010 ratifiziert wurde, de-ren Fakultativprotokoll aber bis-lang nicht ratifiziert wurde. MitBlick auf den Behindertensportsprach er über die beklagenswer-te Finanzierung. Die vor 30 Jah-ren, kurz nach dem Erdbeben1988 in Gjumri gegründete Ar-menische Assoziation des Behin-dertensports arbeitet vor allemmit Kindern, Jugendlichen undjungen Erwachsenen und bietetunterschiedliche Kultur- undSportprogramme. Die Frühbe-schäftigung mit behinderten Kin-dern helfe diesen, vollwertigeMitglieder der Gesellschaft zuwerden. Die Bedingungen für denBehindertensport seien jedochschlecht. Man gehe kleine Schrit-te, darunter auch mit Blick auf dieTeilnahme an den Paralympics,deren allgemeine Wichtigkeit inder armenischen Politik nicht ver-standen werde. Initiiert wurde eininternationaler Alpiner Wett-kampf für Behinderte, aufgebautwurde ein Zentrum für Ski-Langlauf. Man organisiert jähr-lich den Rollstuhl-Marathon Je-rewan-Etschmiadsin, hat eine er-ste und zweite Rollstuhl-Basket-ballmannschaft aufgebaut. AmTag der Stadt findet in Jerewanein Rollstuhlrennen statt, veran-staltet werden Winter- und Som-

merlager für Kinder mit Behinde-rungen. Gerd Doepke, Leiter Kommu-

nikation der Deutschen Gesetzli-chen Unfallversicherung (DGUV),berichtete über die Strategie derDGVU zur Umsetzung der UN-Be-

hindertensrechtskonvention imBereich Arbeitsunfälle und Reha-bilitation sowie über die Paralym-pics Zeitung und den GermanParalympic Media Award, als bei-spielgebend zur Unterstützungdes Behindertensports und desSports in der Rehabilitation auchfür andere Länder. Die Paralym-pics Zeitung wird unterstützt vonder DGUV und in Millionenaufla-gen zu den Paralympics heraus-gegeben. Jugendliche ausDeutschland und dem jeweiligenGastland der Spiele berichten un-terstützt von Redakteuren derZeitung „Der Tagesspiegel“ überdie Sportler und ihre Leistungen.Der Deutsche Behindertensport-verband unterstützt das Projektideell, sieht es als Chance, die Be-deutung des Behindertensportszu popularisieren. Auch der Do-kumentarfilm „Gold – Du kannstmehr als Du denkst“ über dreiparalympische Sportler auf demWeg zu den Paralympics nachLondon 2012 wurde von derDGUV mit initiiert. Über emotio-nale und beeindruckende Bilderauf die Bedeutung des Sports inder Rehabilitation und damit aufdie erfolgreiche berufliche undsoziale Wiedereingliederung nacheinem Unfall zu verweisen, damitschärfe man das Bewußtsein inder Gesellschaft. 2019 wurde derGerman Paralympic Media Awardbereits zum 19. Mal vergeben. Mitihm zeichnet die DGUV herausra-

gende Berichterstattung überden Breiten-, Rehabilitations-und Leistungssport Behinderteraus, um auch zwischen den Olym-piaden und Meisterschaften denBehindertensport nicht aus denAugen zu verlieren und stärker im

Bewußtsein der Gesellschaft zuverankern.Mit Sven Albrecht, Geschäfts-

führer der Special OlympicsDeutschland, wurde das Thema„Sport inklusiv“ dann um die 2023in Berlin stattfindenden SpecialOlympics ergänzt. Er bezeichnete

das Ereignis als „Spiele der Athle-ten und Athletinnen“, denn ge-meinsam mit ihnen soll ein welt-weit ausstrahlendes Sportereignisgefeiert und ein klares Zeichenfür Inklusion gesetzt werden.Selbstbestimmung und gleichbe-rechtigte Teilhabe sollen selbst-verständlich werden. Es soll einbundesweit orientiertes Fest wer-den, nach dem Motto 180 Natio-nen und 180 inklusive deutscheKommunen. In den drei Workshops am fol-

genden Morgen wurde vieles, wasam ersten Konferenztag anklang,in kleineren Gruppen vertieft, obes darum ging, wie EU-Normen inDeutschland umgesetzt werden,was es braucht, um „Tourismusfür Alle“ zu organisieren, wiesportliche Aktivitäten gefördertwerden können.Die Konferenz mit ihren mehr

als 100 Teilnehmenden, darunter52 Vertreter aus den postsowjeti-schen Staaten, hat einmal mehrgezeigt, wie hoch die Barrierennoch sind, wie wichtig es ist, dieBarrieren auch in den Köpfen ab-zubauen, und wie stark man inden einzelnen Ländern von einemoffenen und ehrlichen Erfah-rungsaustausch untereinanderprofitieren kann.

Britta Wollenweber, Wostok, Berlin

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In den Arbeitsgruppen - hier Barrierefreies Reisen - wurden dieThemen vertieft

XV. Deutsch-Russische Städtepartnerkonferenz„Wege der Verständigung:

Partnerschaften als Mittler des Deutsch-Russischen Dialogs“25. bis 28. Juni 2019, Düren

Die XV. Deutsch-Russische Städtepartnerkonferenz findet vom 25.bis 28. Juni 2019 in Düren statt. Die Konferenz wendet sich an Ver-treter von Städten, Gemeinden und Regionen ebenso wie an Aktiveaus Partnerschaftsvereinen und zivilgesellschaftlichen Organisa-tionen, die sich in Städtepartnerschaften engagieren. Neben demGastgeber, dem Landkreis Düren, sind das Deutsch-Russische Fo-rum, der Bundesverband Deutscher West-Ost-Gesellschaften unddie Stiftung West-Östliche Begegnungen in Zusammenarbeit mitder Internationalen Assoziation der Partnerstädte in Moskau Ver-anstalter. Nach der Eröffnung im Krönungssaal des Aachener Rat-hauses mit einer Festansprache von Armin Laschet, NRW-Minister-präsident, und der Podiumsdiskussion „Quo vadis deutsch-russi-sche Beziehungen“ werden die Teilnehmer in sieben Arbeitsgruppenzu den Themen „Energieeffiziente und nachhaltige Stadtentwick-lung“, „Digitale Stadt“, „Strategien für eine nachhaltige Entwick-lung von Kommunen und Regionen“, „Kultur und Sprache“, „Inklu-sion und Teilhabe“, „Zivilgesellschaft gestaltet Städtepartnerschaf-ten“ und „Medizinisch-wissenschaftliche und humanitäre Zusam-menarbeit in Partnerstädten“ diskutieren können. Weitere Informationen sowie aktualisierte Programme finden Sieauf den Webseiten www.deutsch-russisches-forum.de und www.bdwo.de.

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