Rundbrief der Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ ... · Dr. Wolter - Pecksen - Lagerarzt in...

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DOKUMENTE Rundbrief der Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ Moringen e.V. Ausgabe 2000 19 No.

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Rundbrief der Lagergemeinschaft

und Gedenkstätte KZ Moringen e.V.

Ausgabe 2000

19No.

ImpressumDokumente No. 19Rundbrief der Lagergemeinschaft und GedenkstätteKZ Moringen e.V.

KZ Gedenkstätte im Torhaus MoringenLange Straße 5837186 Moringen

Postanschrift:Postfach 113137182 Moringenwww.gedenkstaette-moringen.deinfo@gedenkstaette-moringen.deTelefon 05554-2520Telefax 05554-8807Bankverbindung: Kreissparkasse NortheimKonto-Nr. 25 00 66 02; BLZ 260 500 01

Redaktion: Dr. Dietmar SedlaczekLayout: Micha Christ

EditorialLiebe Mitglieder, liebe Freund-innen und Freunde der Lager-gemeinschaft und Gedenk-stätte KZ Moringen e.V.

In diesem Jahr erscheint unserRundbrief in einem neuen Ge-wand. Mit den Beiträgen desRundbriefs möchten wir Eucheinen kleinen Einblick in dieArbeit der Gedenkstättegeben. Wir berichten über Ak-tivitäten und Ereignisse einesJahres (Juli 1999 – Juni2000). Mein Dank gilt allenBeiträgern dieses Rundbriefs.Auch künftig soll der Rund-brief etwa zwei Monate vordem Gedenktreffen erschei-nen. Wie in den vergangenenJahren enthält er auch in die-sem Jahr das Anmeldeblatt fürdas nächste Gedenktreffen,das vom 8. – 10. September2000 stattfindet. Bitte sendetes so rasch wie möglich an dieGedenkstätte zurück, damitwir mit der Quartierplanungbeginnen können. Ich hoffesehr, Euch zum Gedenktreffenim September gesund wieder-zusehen. Seid bis dahin herz-lich gegrüßt!Dietmar Sedlaczek, Moringen im Juli 2000

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T Gegen das VergessenRückblick auf das Gedenktreffen 1999Im Tode erst ist ihnen das Menschsein gestattetRede von Anna Pröll

Piller ist der Stiftungsinitiative beigetreten

Im “Judensaal” des Frauenkonzentrationslagers Moringen Aus den 1938 in Lugano/Schweiz begonnenenund 1942 im US-amerikanischen Exil vollende-ten Erinnerungen von Gabriele Herz

Abschreckung, Besserung, UnschädlichmachungDie Disziplinierung Gesellschaftlicher Randgrup-pen im Werkhaus Moringen (1871 -1944)

Die Entlassung von Häftlingen aus dem Frauenkonzentrationslager Moringen 1934 - 1938

Dr. Wolter - Pecksen - Lagerarzt in Moringen

Ankunft ohne ZukunftAnkunft der jugendlichen Häftling auf dem Mo-ringer Bahnhof

Die Moringer Konzentrationslager imSpiegel der “Moringer Zeitung”

PersonaliaDank an Gerd KrauthVorstellung der Praktikantin Anne BerghoffIn Erinnerung an Gerda BerndtAbschied von Erwin RehnGeburtstage im ersten Halbjahr 2000

Jüdischer Friedhof in Göttingen geschändet

Veranstaltungen der Gedenkstätte

Aus der Arbeit des zurückliegenden Jahres

Persönliche Anmerkungen zum Verlauf der Wanderausstellung

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So viele Jahre danach stehen wir vor diesem Gräber-feld erschüttert.Wir lesen die Namen und zählen die Daten ihres Le-bens und wagen es nicht zu denken; sie hatten ja erstangefangen zu leben.Ihr habt ihnen die Namen zurückgegeben und dafürsei Dank. Im Tode erst ist ihnen das Menschsein ge-stattet.Wir denken auch an die unzähligen Kinder und Ju-gendlichen, die untergegangen sind in der furchtba-

ren Zeit dieses Jahrhunderts. An die Kinder von Lidi-ce denken wir, an die Kinder jüdischen Glaubens, andie Sinti und Roma. Wo sind sie geblieben, die ge-raubten Kinder aus Polen, aus Ungarn, aus Griechen-land – auch ihnen gilt heute unser Erinnern. Auchunserer Enkel wegen und derer, die erst geboren wer-den.Sie passten nicht in Hitlers Reich, nicht in die Vor-stellung von der deutschen Jugend, der das Raubtieraus den Augen schauen sollte.

Vom 8.-10.Oktober 1999 veranstaltete die “Lagerge-meinschaft und Gedenkstätte KZ-Moringen e.V.” ihralljährliches Gedenktreffen für die ehemaligen Häft-linge der drei Moringer Konzentrationslager. Auch indiesem Jahr waren wieder etwa 35 ehemalige Häft-linge (zum Teil begleitet von ihren Angehörigen) ausverschiedenen Orten der Bundesrepublik, aus Öster-reich, Polen und Slowenien nach Moringen gereist,um ihre Kameraden und Kameradinnen von einstwiederzusehen. Thematisch stand auf dem diesjährigen Treffen dasFrauen-KZ im Vordergrund. Im Rahmen eines öffent-lichen Begleitprogramms wurde am Samstagabendein Dokumentarfilm der Nürnberger Frauengruppe“Courage” gezeigt. Im Mittelpunkt des Films, der denTitel “Schwestern, vergeßt uns nicht” trägt, stehendie ehemaligen Moringer Häftlinge und Widerstands-kämpferinnen Hedwig Regnart und Hilde Faul, dieauch beide anwesend waren, um gemeinsam mit denBesuchern über politisches Engagement in der Ge-genwart zu diskutieren. Nach dem Film wurde eineAusstellung mit Arbeiten von Hedwig Regnart eröff-net. Hedwig Regnart führte die Besucher ansch-ließend durch ihre Ausstellung, die noch bis Ende Ok-

tober in der Moringer Gedenkstätte zu sehen war.In zwei Zeitzeugengesprächen hatten Jugendlicheaus Moringen und der Region Gelegenheit, mit ehe-maligen Häftlingen zu sprechen. Bereits am Freitag-abend fand die Einweihung des neuen Lagermodellsund eines Computerterminals statt, der künftig dieBesucher der Gedenkstätte multimedial über Topo-graphie und Geschichte der Moringer Konzentrati-onslager informieren wird. Die Mitgliederversammlung bestätigte den bisherigenVorstand: Arno Schelle (1. Vorsitzender), FernandoMolde, Gabi Krampe-Piederit, Johannes Klett-Drech-sel und Peter Thoel. In den Beirat wurden Beatrix As-bree (VHS Bremerhaven), Dr. Detlev Garbe (Leiter derKZ-Gedenkstätte Neuengamme), Jürgen Harder,Habbo Knoch (Assistent am Historischen Seminar derUniversität Göttingen und 2. Vorsitzender des DIZEmslandlager) und Sebastian Wertmüller (DGB KreisGöttingen-Northeim) gewählt. Eine feierliche Gedenkstunde mit Kranzniederlegungam Gräberfeld bildetete den Abschluß des Gedenk-treffens. D.S.

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R Ü C K B L I C K A U F D A S G E D E N K T R E F F E N 1 9 9 9

Gegen das Vergessen

Im Tode erst ist ihnen das Menschsein gestattetR E D E V O N A N N A P R Ö L L A N L Ä ß L I C H D E R

G E D E N K F E I E R A M 1 0 . S E P T E M B E R 1 9 9 9 A M G R Ä B E R F E L D

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Vorstand und Gedenkstättenleitung haben in denvergangenen Monaten Gespräche mit dem Mutter-unternehmen der Piller Industrieventilatoren GmbHin Moringen geführt. Dies geschah mit der Absicht,das Unternehmen zu bewegen, der Stiftungsinitiati-ve der Deutschen Wirtschaft beizutreten. In einemSchreiben vom 30. Mai 2000 an die Gedenkstätte er-klärte Alexander von Lüdinghausen von der Süd-West Industriebeteiligungen GmbH, daß Piller inzwi-schen Mitglied der Stiftungsinitiative geworden sei. In den Gesprächen zwischen Süd-West und der Ge-denkstätte wurde darüber hinaus über eine zukünfti-ge Zusammenarbeit gesprochen. So soll die Internet-seite von Piller in Moringen künftig einen Link zurHomepage der Gedenkstätte enthalten. Weiter wirdder Gedenkstätte Gelegenheit gegeben, in derfirmeneigenen Zeitung “Piller-Post” über ihre Arbeitzu berichten. Das Moringer Piller Werk wurde am 1.10.1942 er-richtet und beschäftigte fortan in großem UmfangZwangsarbeiter. Darunter befanden sich auch zahl-reiche Häftlinge des Moringer Jugend-KZ. Produziertwurden kriegswichtige Teile und gearbeitet wurde imSchichtdienst, zehn-12 Stunden am Tag. Wurde dieArbeitsleistung nicht erbracht, drohten Sanktionen.Für die jugendlichen Häftlinge stellte das Zusam-menspiel von Prügel, unzureichender Ernährung undZwangsarbeit eine außerordentliche körperliche wieseelische Belastung dar. Nach den Recherchen vonMartin Guse zahlte die Firma Piller der SS pro Häft-ling und Tag 5,40 Reichsmark.D.S.

Piller ist der Stiftungsinitiative derDeutschen Wirtschaft beigetreten

Am 6. Juli 2000wurde im Bundestagdas Gesetz zur Grün-dung der Stiftung “Er-innerung, Verantwor-tung, Zukunft”verabschiedet. Damitwurde Weg für eineEntschädignug vonNS-Zwangsarbeiternfreigemacht. Blamabelund peinlich ist, daßsich bis jetzt erst weni-ger als 3.000 vonmehr als 200.000 an-geschriebenen Firmender Stiftungsinitiativeangeschossen haben.Diese haben etwa3,1 Milliarden Markzugesagt. In den Ent-schädigungsfonds wol-len Staat und Wirt-schaft jeweils fünfMilliarden Mark ein-zahlen. Noch in die-sem Jahr sollen dieAuszahlungen an dierund eine Million nochlebenden ehemaligenZwangsarbeiter indeutschen Betriebenbeginnen.

Die ganze Welt hörte von den unermeßlichen Qua-len, die Frauen und Männer und auch Kinder erlei-den mußten. Die Berichte der Überlebenden waren soungeheuerlich, daß viele sich weigerten, daran zuglauben. Und die, die es wußten; sie schwiegen. DieZeugen konnten kaum Worte finden über die un-menschlichen Erlebnisse, die im Nachhinein noch dieSeele erdrücken. Unserer ermordeten Väter, Brüder,Männer und Freunde gedenken wir heute. IhrSchicksal verbindet. Erinnern wird wach, das bleiben soll der Zukunftwegen.Sie sollen nicht vergessen sein, die in ihrem jungenLeben nur Drill, Abscheu, Ekel und Menschenfeind-lichkeit erfahren haben. Wie groß mochte ihre Sehnsucht gewesen sein, Liebeempfangen zu dürfen, gestreichelt zu werden, vonder Mutter ans Herz gedrückt zu werden. Wußten siees überhaubt, wo die Mutter war, wo der Vater war?Ob sie noch lebten?

Wenn wir heute nach Hause gehen, ihr zu euren Kin-dern, und wir Alten unsere Enkelkinder sehen, dannmöchten wir diese in unsere Gedanken einschließen,damit solches nicht wieder geschehen kann.

Es ist nichterfüllt, dasV e r s p r e -chen von1945. Leh-ren solltenes werdenfür unserekommendeZeit. Kaltist es ge-

worden in dieser Welt. Aber beherzigen wir denWunsch des verfolgten dreijährigen Kindes von da-mals, dem kleinen Zigeunerjungen, der heute, alt ge-worden, zu uns spricht: Macht was gutes ausDeutschland.

Als der Krieg zu Ende war, die Lager frei waren, da-mals – ein neuer Anfang sollte es werden. Von die-sem Lande sollte Frieden ausgehen – der Zukunftwegen. Und es ist nicht zu spät. Im Auftrag des Ra-vensbrück-Kommitees und der Frauen aus Moringenlegen wir heute als Zeichen der Unvergessenheit dasBlumengebinde nieder. Verbunden mit dem Wunschean die Jugend in Moringen: Pflegt ihr diese Gräber,macht das zu eurer Verpflichtung. Erinnert euchihrer, damit euch nicht gleiches passiert, damit ihrLachen könnt, damit ihr lieben könnt ohne Angst vordem Mitmenschen, ohne Angst vor der Zukunft.Danke.

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Gerd Krauth

(1) Herta Kronau = Herta Kronheim geb. Laredo. Sie wurde am 17.August 1893 in Würzburg geboren. 1932 kehrte sie von Berlin inihre Heimatstadt zurück und beteiligte sich im Frühjahr 1933 anWiderstandsaktionen der KPD. Im Oktober 1933 wurde sie verhaf-tet und im August 1934 zu 15 Monaten Zuchthaus verurteilt.Nach dem Ende der Haftzeit im Zuchthaus Aichach und im Ge-fängnis Landshut wurde Herta Kronheim im April 1936 in dasFrauenkonzentrationslager Moringen überstellt. Ihre Gesundheitwar durch die beinahe dreijährige Haft sehr geschwächt. Im No-vember/Dezember 1936 stellte sie ein Entlassungsgesuch, das dieGestapo jedoch ablehnte. Das weitere Schicksal von Herta Kron-heim ist noch nicht geklärt. Nach den Angaben im BiographischenHandbuch der Würzburger Juden wäre Herta Kronheim im No-

vember 1938 in die USA emigriert. Andererseits wird am 18. No-vember 1938 Herta Kronheim in das FrauenkonzentrationslagerLichtenburg eingeliefert und von dort im Mai 1939 nach Ravens-brück überstellt. Nach den Erinnerungen der Mitgefangenen MinaNußpickel wurde Herta Kronheim im Frühjahr 1942 in Ravensbrückfür den Todestransport in die Gaskammer der “Euthanasie”-AnstaltBernburg selektiert.

(2) Ilse Lipinski = Ilse Gostynski. Sie wurde am 3. Januar 1909 inBerlin geboren. Am 20. Januar 1936 wurde sie wegen “kommuni-stischer Aktivitäten” verhaftet und nach vier Monaten Gestapo-und Untersuchungshaft in das Frauenkonzentrationslager Morin-gen eingewiesen. Im März 1938 wurde sie in das Frauenkonzen-

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Moringen, Ende Oktober 1936

Der “Judensaal”, in den mich das Machtwort der FrauOberwachtmeister Berns vor fast zwei Wochen ent-bot, ist ein kleiner Raum, der seinen fünf Bewohne-rinnen nur eine sehr beengte Aufenthaltsmöglichkeitbietet. Ein langer, roher Tisch, vier Hocker, ein Stuhl,fünf schmale, blau angestrichene Wandkästen fürSeife, Zahnbürste und Handtuch bilden das gesamte“Mobiliar”. Unsere wenigen Habseligkeiten sind inSchachteln, Pappkartons und Handkoffern aufbe-wahrt, die mangels jeder Abstellmöglichkeit unterdem Tisch aufgestapelt stehen. Das einzige Fenstergeht zum Hof hinaus und ist natürlich mit Eisenstä-ben vergittert ...An meine vier Leidensgefährtinnen im “Judensaal”habe ich schnell Anschluß gefunden, nur Frau HertaKronau (1) hat sich anfangs ablehnend verhalten,eine mehr als dreijährige Gefängnishaft hat sie arg-wöhnisch gemacht. Doch es lohnt sich schon, sichum sie zu bemühen. Herta ist eine der intelligente-sten und kultiviertesten Frauen im Lager, und wennsie erst einmal Vertrauen gefaßt hat, erweist sie sichals zugänglich und warmherzig. Die jetzt 43jährigeFrau hatte sich in ihrer Jugend als Kunstgewerblerinbetätigt, während des Weltkrieges als Krankenschwe-ster, später als Fürsorgerin bei Wohlfahrtsämtern, undbesaß eine Anzahl von Diplomen für andere Berufe.Frühzeitig hatte sie sich der kommunistischen Bewe-gung angeschlossen und war bald zu leitender Stel-lung aufgerückt. Ihr unruhiges Blut scheint sie vonihrem Vater geerbt zu haben, der, Nachkomme eineralt-spanischen Maranenfamilie, aus Marokko stamm-te und nach langen abenteuerlichen Wanderjahren

schließlich in Nürnberg sich niedergelassen hatte, woer ein Kunstantiquariat begründete. Die Olivenfarbevon Hertas Haut weist noch auf diese spanisch-ma-rokkanische Herkunft der Familie hin.

Linksradikale Gesinnung hat ebenfalls Ilse Lipinski (2)nach hier gebracht. Sie hat in einer Berliner Leih-bücherei gearbeitet, verfügt über Witz, Schlagfertig-keit und gute Kenntnisse in verschiedenen Wissens-gebieten. Die schlacksigen Bewegungen ihrer langenGliedmaßen, der kurz geschnittene Bubikopf, dermagere Körper geben ihrer Erscheinung etwas Jun-genhaftes. Die kurzsichtigen Augen hinter scharf ge-schnittenen Brillengläsern verschönern sie ebennicht. Mit körperlichen Reizen ist auch das ältlicheFräulein Gertrud Mannheim (3) nicht gesegnet. Einebrave, treue Seele, die aber mit ihren vielen Fragenund wohlgemeinten Ratschlägen uns auf die Nervenfällt. Sie ist “Remigrantin”, Rückwanderin, gleich mir.Sie hatte einige Zeit bei ihrem Bruder in Danzig ver-bracht, in dieser rein deutschen Stadt, deren Rück-gliederung an das Reich von den Nazis mit großerEnergie betrieben wird. Nichtsdestoweniger entdeck-te die Geheime Staatspolizei, daß für eine Jüdin Dan-zig im Ausland liege, darum sah sich das arme Fräu-lein Mannheim bei ihrer Rückkehr nach Berlinplötzlich vor die überraschende Tatsache gestellt, daßsie “ausgewandert und wieder zurückgewandert” sei,ein Vergehen, über dessen Folgen sie hier in Morin-gen nun nachdenken kann.

“Rassenschande”, diese von den Nazis erfundene,übelste Mischung aus Haß, Gemeinheit und Vernich-tungswillen, hat die Jüngste unter uns, die ent-

Nachdruck aus: Informationen. Studien-kreis Deutscher Wider-

stand, Nr. 51, März2000, 25. Jg.

Im “Judensaal” des Frauenkonzentrationslagers MoringenA u s d e n 1 9 3 8 i n L u g a n o / S c h w e i z b e g o n n e n e n u n d 1 9 4 2 i m U S -a m e r i k a n i s c h e n E x i l v o l l e n d e t e n E r i n n e r u n g e n v o n G a b r i e l e H e r z

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Bald nach der Freilas-sung flohen Gabriele

und Emil Herzzunächst nach Florenzund im Oktober 1938nach Lugano. Dort be-gann Gabriele Herz,ihre Erinnerungen an

die Haft im Frauenkon-zentrationslager Mo-

ringen aufzuzeichnen.Um ihre ehemaligen

Mitgefangenen zuschützen, verändertesie alle Namen – je-

doch auf eine Weise,die eine spätere Iden-

tifizierung erlaubenwürde. Aufgrund unse-

rer eigenen Recher-che, der Hilfe der

ehemaligen MoringerGefangenen Anni

Pröll, Hilde Faul undHed Regnart, der

Gedenkstätte Morin-gen – hier gilt beson-

ders Matthias Kuseund Dietmar Sedlaz-

cek unser Dank – undder Historikerin LindeAppel wurde es mög-lich, ein Großteil der

im Text erwähntenNamen zu entschlüs-

seln.

zückende Anni Reiner (4), zu Fall gebracht. Sie warmit einem Arier verlobt gewesen, die angesetzteHochzeit wurde durch die “Nürnberger Rassegesetze”unmöglich gemacht. Trotz aller drakonischen Geset-ze ließ aber der Bräutigam nicht von seiner Erwähl-ten. Durchaus verständlich: Anni mit ihrem süßenGesicht, ihren lustigen, blauen Augen und dem krau-sen Blondhaar ist eine wahre Augenweide...

Moringen, Ende November 1936

Trotz aller Schwierigkeiten und Hemmungen gehtdas Winterhilfswerk langsam weiter. Allmählich ge-winnen unsere Räume das Aussehen von Schneider-werkstätten, besser gesagt von Trödelläden. Vor,neben, hinter uns, in den Zimmern, auf den Korrido-ren, auf den Treppenabsätzen, überall nur alte Klei-der. Ein übler, muffiger Geruch geht von ihnen aus,überzieht alles mit einer dunklen Kruste, beizt dieAugen, dringt in die Haut, greift die Lungen an. DieTrostlosigkeit, die von diesen Bündeln ausgeht, legtsich auf uns selbst wie ein schweres, schwarzes Tuch,das uns zu ersticken droht. Wir bemühen uns, auf an-dere Gedanken zu kommen. Ilse Lipinski läßt die ent-schwundene Pracht dieser Kleider zu neuem Lebenerstehen, sie erzählt von ihren früheren Trägern, vonschönen Frauen, reichen Kavalieren, rauschendenFesten. Aber all ihren Geschichten fehlt der befriedi-gende Ausklang. Der Aufstieg auf der Stufenleiter desLebens wird zu einem traurigen Abstieg, illustriertdurch die schäbigen Fetzen der einst kostbaren Ge-wänder in den Händen armer Gefangener in einemdeutschen Frauenkonzentrationslager ...

Moringen, Mitte Dezember 1936

Es ist Channukah, das achttägige Fest der Lichter, dasFest der Maccabäer, der Wiederaufrichtung des Tem-pels, uns Juden teuer als Erinnerung an heldenmüti-gen Widerstand, als Symbol baldiger Erneuerung. ImNamen meiner Glaubensgenossinnen wandte ichmich an die Frau Oberwachtmeister und erhielt vonihr die Erlaubnis, das Fest in althergebrachter Weisebegehen zu dürfen, sie war großzügig genug, uns für

zwei Tage Urlaub von der unerfreulichen Winterhilfs-Arbeit zu gewähren. Ehm (Emil Herz, der Ehemannvon Gabriele Herz, die Red.) sandte uns von Berlin eingroßes Paket Äpfel, Nüsse, Lebkuchen, Schokolade,dazu Text und Noten für die Lieder. Anni Reinerhatte geschickt aus einer alten Pappschachtel einengolden bemalten Channukah-Leuchter hergestellt,der auf einem ebenfalls vergoldeten Pappdeckel inder Mitte des Tisches Aufstellung fand. Auch trafenwir große Vorbereitungen, wir säuberten unserenRaum, daß er vor Reinlichkeit geradezu strahlte, wirbearbeiteten den Tisch so gründlich mit Seifenlauge,bis auch das letzte Stäubchen der Winterhilfe ver-

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trationslager Lichtenburg und ein Jahr später nach Ravensbrücküberstellt. Am 26. Mai 1939 kam sie frei - mit der Auflage, inner-halb von drei Wochen Deutschland zu verlassen. Ilse Gostynskikonnte die notwendigen Papiere beschaffen und traf noch vorKriegsbeginn in London ein. Sie heiratete Mr. Rolfe und bekameine Tochter.

(3) Gertrud Mannheim = vermutlich Gertrud Herrmann. Sie wurdeam 2. April 1889 in Aschersleben geboren. Grund für ihre Über-stellung in das Frauenkonzentrationslager Moringen durch die Ge-stapo Potsdam am 10. September 1936 war ein Aufenthalt beiihrem Bruder in Danzig. Bei ihrer Rückkehr galt sie als “Remigran-tin”. Gertrud Herrmann wurde am 1. Oktober 1937 entlassen mit

der Auflage, “sich unverzüglich nach Danzig zu begeben”. Über ihrweiteres Schicksal ist noch nichts bekannt.

(4) Anni Reiner – Eine Identifizierung ist noch nicht möglich:Zum fraglichen Zeitpunkt (Oktober 1936 – März 1937) befindensich vier Frauen mit dem Haftgrund “Rassenschande” in Moringen.

(5) Hilde Weber = Hilde Gerber verh. Faul. Hilde Gerber kam am26. August 1915 in Nürnberg zur Welt. Sie gehörte dem Kommu-nistischen Jugendverband an und verbreitete im Frühjahr 1933 an-tifaschistische Flugblätter. Am 15. August 1933 wurde sie verhaf-tet und nach 14 Monaten Einzelhaft am 29. Oktober 1934 zu achtMonaten Gefängnis verurteilt. Danach überstellte die Gestapo

schwunden war. Eine Woche vorher hatten wir unse-ren Ofen, benannt der “schöne Adolar”, nur sparsammit Kohle gefüttert, damit wir nun die Festtage inwohliger Wärme verbringen können. Kleine Geschen-ke, seit langem für diesen Abend zusammengespart,wurden zurecht gelegt, und als Festschmaus bereite-ten wir uns unter allgemeiner Mitwirkung eine herr-liche Schokoladenspeise. Wir füllten leere Marmela-dengläser, sprich “Vasen”, mit schwer duftendenTannenzweigen, die wir auf gemeinsame Kosten er-standen hatten, und breiteten über den Tisch eineDecke, an der Anni Monate lang gearbeitet hatte.Eine merkwürdige Stimmung ergriff uns alle, als dieFeststunde nahte. Channukah, stets im Kreise der Fa-milie gefeiert, jetzt im Konzentrationslager began-gen, in einer Atmosphäre von Mißtrauen und offenerFeindschaft, in einem verwandelten Deutschland, das

sich weigerte, uns weiterhin Heimat zu sein. Langestanden wir nachdenklich vor dem Leuchter. Die Kol-leginnen baten mich, als die Älteste unter ihnen, denBeginn zu machen. In tiefer Ergriffenheit, mich nichtmehr als Einzelperson, sondern als Vertreterin undSprecherin einer Gemeinschaft fühlend, sagte ich diealten Segenssprüche auf und zündete die erste Kerzean ... Nachher lasen wir ausgewählte Abschnitte ausder Bibel, insbesondere aus den Maccabäer Büchern,aus den Propheten, aus Hiob. Vor uns erstanden diegroßen Gestalten der jüdischen Religionsgeschichte,und wir, die wir aus der deutschen Volksgemeinschaftausgestoßen waren, fühlten in uns die alte jüdischeZusammengehörigkeit, eine Gemeinschaft ohne rä-umliche und zeitliche Grenzen, ohne einen anderenMittelpunkt als die Bibel und die Hoffnung auf Er-füllung des alten prophetischen Ideals von Gerechtig-keit, Frieden, Menschlichkeit, Menschenverbrüderung... Unter unseren arischen Kolleginnen herrschte regeTeilnahme. Sie waren neugierig, sie ließen sich dieBedeutung des Festes erklären, sie sparten nicht mitihrer Anerkennung: “Wirklich fein habt Ihr alles ge-richtet.” Meine beiden Schülerinnen Hilde Weber (5)und Ursel Renner (6) überraschten mich mit selbstge-fertigten Gaben, einem fein geflochtenen Bastkörb-chen und einer kunstvoll gestrickten, kleinen Decke.Im Namen der Bibelforscherinnen begrüßte uns Mag-dalene Mewes (7) mit einem Vers aus Petrus: “Ihr tutgut, daß Ihr auf das prophetische Wort achtet als aufein Licht, das da scheinet an einem dunklen Ort, bisder Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht inEurem Herzen.” ...

Moringen, Anfang Januar 1937

Das Lager hat weiteren Zuzug erhalten, auch unserRaum ist mit vier neuen Insassen bedacht worden. Siekommen aus Wien, Madrid, Jerusalem und Moskau...Die Erlebnisse unserer Neuankömmlinge spiegelnzu einem Teil das Leben in den Ländern wieder, ausdenen Zufall oder Zwang sie nach hier geführt hat,zum anderen Teil geben sie ein Bild typischen Rück-wanderer Schicksals. Ilse (8) hat in Wien mehrere Se-mester Mathematik studiert, konnte sich dort nicht

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Nürnberg-Fürth Hilde zur “Schutzhaft” zunächst in das GefängnisLandshut und im Herbst 1935 in das FrauenkonzentrationslagerMoringen. In Moringen erhält Hilde und ihre Freundin Hedwig(Hed) Laufer während der Hofgänge Englischunterricht von Gabri-ele Herz. Am 2. Mai 1937 wird sie entlassen mit den Auflagen, denWohnort nicht zu verlassen und sich zweimal wöchentlich bei derGestapo zu melden.

(6) Ursel Renner = Hedwig (Hed) Laufer verh. Regnart. Sie wurdeam 25. Oktober 1908 in Fürth bei Nürnberg geboren und war Mit-glied im Kommunistischen Jugendverband. Am 10. März 1933wurde sie zur “Schutzhaft” in das Gefängnis Fürth, später nachLandshut eingewiesen. Im März 1936 brachte die Gestapo sie in

das Frauenkonzentrationslager Moringen. Sie lernte während derHofgänge von Gabriele Herz Englisch mit Hilfe von Shakespeare-Texten. Ende Januar 1937 wurde Hed entlassen.

(7) Magdalene Mewes – Die Identifizierung ist noch nicht ein-deutig. Von den bis jetzt 383 namentlich bekannten ZeuginnenJehovas, die in Moringen inhaftiert waren, stammten drei aus demkleinen Dorf Wildbach im Riesengebirge, das Gabriele Herz als Hei-matort von Magdalene Mewes nennt: Helene Alma Dietrich verh.Lorenz, Jg. 1890, Dora Georgi, Jg. 1894, Gertrud Paula Georgi, Jg.1905, und Frieda Kamilla Möckel verh. Burkhardt, Jg. 1909. Nachden Erinnerungen von Gabriele Herz hatte Magdalene Meweseinen 12jährigen Sohn Konrad. So wäre auch an die Zeugin Jeho-

mehr halten und mußte nach Deutschland zurück-kehren. Hier erfolgte ihre Verhaftung, obwohl ihr derAufenthalt in Wien, ““im Ausland”, von deutschenBehörden ausdrücklich genehmigt worden war. So-phie (9) war als deutsche Gouvernante zu den Kin-dern eines vornehmen spanischen Arztes nach Barce-lona gegangen. Sie mußte mit der Familie flüchten,irrte längere Zeit im Land umher, bis ein deutschesKriegsschiff sie aufnahm und nach Hamburg brach-te. Aber während die arischen deutschen Flüchtlin-ge in Privathäusern, Hospitälern und Sanatorienliebevolle Aufnahme fanden, wurde Sophie nachMoringen abgeschoben. Lilo (10), die Farmarbeite-rin in Palästina, hatte versucht, auf einer genossen-schaftlichen Siedlung nahe Jerusalem sich eineneue Existenz aufzubauen. In ihren anschaulichenSchilderungen flammt der Kampf auf zwischenJuden und Arabern; aber auch die Wunder des hei-ligen Landes nehmen Gestalt an ... Lilo konnte nurein einziges, glückliches Jahr in Palästina verbrin-gen, sie vertrug das Klima nicht und mußte schwe-ren Herzens nach Deutschland zurückkehren. Mithäufigen Herzattacken und Atemnot gehört sie inein Krankenhaus und nicht in ein Konzentrations-lager. Schlimmer noch ist Frau Schloss (11) betrof-fen; sie hatte mit ihrem Mann die in Moskau ver-heiratete Tochter besucht. Die Rückreise, für dievon der deutschen Polizei eine Frist von drei Mo-naten gestellt worden war, verschob sich um einenMonat, da der Mann in Moskau schwer erkrankte.Folge: Der Mann wurde ungeachtet seiner siebzigJahre und seines unheilbaren Herzleidens in dasgefürchtete Konzentrationslager von Oranienburg-Sachsenhausen gebracht, die 65jährige Frau überden üblichen Leidensweg Berlin-Alexanderplatzund Hannover, wo sie in der Einzelzelle fast denVerstand verlor, nach Moringen. Das Geschick die-ser kleinen, verängstigten Greisin geht uns allennahe ... Herta Kronau, die infolge ihres leidendenZustandes als einzige von uns einen Stuhl mitRückenlehne statt des Hockers benutzen darf, tratdieses vielbeneidete Möbelstück sofort an FrauSchloss ab ...

Moringen, Ende Januar 1937

Unser Lager ist bis auf den letzten Platz gefüllt.Während der große Saal und der Bayernsaal, abgese-hen von den wenigen aus Rußland zurückgekehrtenFrauen, Zuzug ausschließlich aus Deutschland erhal-ten haben, kommen die Zwangsinsassinnen des Ju-densaals aus Holland und Belgien, aus Frankreichund Italien, aus der Tschechoslowakei und aus Ju-goslawien. Sie haben überall versucht, als deutscheErzieherinnen und Stützen der Hausfrau, als Modi-stinnen und als Stenotypistinnen sich eine beschei-dene Existenz neu aufzubauen, aber sie konnten sichauf Dauer nicht halten. Die Arbeitserlaubnis wurdeihnen nach kurzer Zeit genommen oder erst gar nichterteilt. Zu schwer lastet der Druck der Arbeitslosigkeitauf ganz Europa. Der heimische Markt soll vor frem-

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vas Katharina Thoenes zu denken. Katharina Thoenes wurde am18. Mai 1904 in Krefeld geboren. Sie war verheiratet und hatteeinen 1925 geborenen Sohn namens Hans. Sie wurde am 18. Au-gust 1936 in das Frauenkonzentrationslager Moringen eingeliefert.In ihre Haftzeit in Moringen fiel jene Briefsperre und die Isolierungder Zeuginnen Jehovas von den übrigen Gefangenen, einschnei-dende Ereignisse, von denen Gabriele Herz berichtet.

(8) Ilse, Studentin aus Wien = Lotte Katz. Sie war, als sie am 12.November 1936 als “Remigrantin” in das Frauenkonzentrationsla-ger Moringen eingeliefert wurde, 25 Jahre alt und hatte laut Häft-lingsakte “vier Semester Mathematik und Physik in Wien studiert,von April 1933 bis März 1935.” Danach lernte sie Köchin. Lotte

Katz wurde am 13. März 1937 entlassen. Sie ist – schreibt Mat-thias Kuse – “offenbar nicht ausgewandert”. Im “Gedenkbuch fürdie Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung” fanden wirden Eintrag “Lotte Katz geb. Vogel, geb. 17. Februar 1921, Düs-seldorf, verschollen in Minsk”.

(9) Sophie, Gouvernante aus Spanien = möglicherweise HerthaEichholz aus Hamburg. Sie war laut Häftlingsakte vom 29. Fe-bruar 1936 bis zum 4. August 1936 in Barcelona. Nachdem sichdort ihre Stelle zerschlug, kehrte sie nach Deutschland zurückund wußte, daß man sie festnehmen würde. Hertha Eichholzwurde am 27. Juli 1937 freigelassen. Sie konnte nach Palästinaauswandern.

der Konkurrenz geschützt werden ... Eine Auswande-rung in kleinerem oder größerem Ausmaß bräuchtekein Problem sein. Viele Staaten haben noch imLaufe der letzten Jahrzehnte sie ohne Zwangsmaß-nahme in humaner Weise durchgeführt ... Nazi-deutschland hingegen plündert seine jüdischen Aus-wanderer bis aufs Hemd aus, stellt sie nackt und bloßan die Grenze. Kommen sie nicht weiter, müssen siezurück, so harrt ihrer in der “Heimat” das Konzentra-tionslager. Die Stimmung in unserem “Judensaal” istnicht nur gedrückt, sie ist geradezu verzweifelt. KeinAusblick in eine bessere Zukunft. Kein Weg in dieFreiheit. Erschwert wird die Lage hier noch durch diequalvolle Enge. Als ich vor fast vier Monaten herkam,reichte der Raum kaum für uns fünf Häftlinge aus,jetzt sind 16 Frauen hier zusammen gepfercht. Wirkönnen buchstäblich nicht die Ellbogen bewegen,ohne rechts oder links anzustoßen, wir können dieBeine nicht strecken, ohne die Knie unseres Gegenü-ber mehr oder weniger unsanft zu berühren. Die Luftist schlecht und verbraucht, sie zu erneuern aber istfast unmöglich, wird das Fenster geöffnet, so erhe-ben die in der Nähe sitzenden Frauen gegen den Zugund die eindringende eisige Kälte erregten Einspruch.Hart im Raum stoßen sich die Dinge, und erst rechtdie Menschen ...

Moringen, Anfang Februar 1937

Unser Zimmer hat eine neue starke Anziehungskraftin der Person der Zeichnerin und Graphikerin VeraList (12) erhalten. Sie ist eine begabte Künstlerin, deres meisterhaft gelingt, nicht nur die körperliche Er-scheinung, sondern auch den geistigen Gehalt dervon ihr porträtierten Frauen wiederzugeben. Siezeichnet Dora Doebel (13) über ein Buch gebeugt,und die Willensstärke Doras und ihre Kraft zur Kon-zentration kommen packend in der Anspannung ihresGesichts zum Ausdruck und in dem festen Zugriffihrer Hände, die das Buch umschließen, als sei eskostbarer Besitz. Ein reizvolles Doppelbildnis stellt diebeiden Freundinnen gegenüber, die ältere, müde,ganz im Geistigen verwurzelte Herta Kronau und diejüngere, urwüchsige, aufnahmefreudige Ursel Renner.

Das Bild steigert das Individuelle ins Typische, manempfindet die beiden nicht nur als Einzelpersonen,sondern ebenso als Vertreterinnen zweier Rassen.Eine in Kohle ausgeführte Skizze zeigt die immerernste und bedrückte Reichstagsabgeordnete AnnaLoeser (14), man glaubt der schmale, fest geschlosse-ne Mund würde sich zu der stets zurückgehaltenenBitte öffnen: “Kinder, laßt mich allein mit meinemSchicksal.” ... Vera List hat ihre Ausbildung in derKunstakademie von Antwerpen erhalten, ging dannin Deutschland ihrem Beruf nach, bis man ihren nunzwei Jahre zurückliegenden Aufenthalt im Auslandals Vorwand nahm, um sie nach hier zu bringen. Sieist leidend, hinkt und trägt eine Prothese. Die allge-meine Anerkennung, die ihre Leistungen finden, hebtihr Selbstbewußtsein, das unter den körperlichen Ge-brechen gelitten hatte. Die Frauen drängen sich umsie, umschmeicheln sie, bis sie die schönen Vorredenmit der frage unterbricht: “Na, sag schon mal, wannhat “Er” denn Geburtstag?” Die Sitzungen werden,um die Aufmerksamkeit der Beamtinnen nicht zu er-regen, im Geheimen abgehalten, meist unter Mitwir-kung mehrerer Freundinnen. Oft muß die nicht gera-de anziehende Toilette als Atelier dienen. ZumVersand der Bilder werden die Papprollen verwendet,die den festen Kern des Toilettenpapiers bilden.

Moringen, Mitte März 1937

Unter den Neuankömmlingen befindet sich auch einejunge Berliner Studentin, Ruth Abt (15), ein frischesund sehr gescheites Mädchen. Sie erzählt Einzelhei-ten über den Fall Schloss, der wegen seiner Begleit-umstände in Berlin viel besprochen wurde. DieSöhne, aufgefordert die Leiche des Vaters abzuholen,durften das Lager nicht betreten. Der Sarg wurdeihnen außerhalb des Tores übergeben. Er war mit Bleiverlötet und mit vielen Plomben verschlossen. DieÖffnung des Sarges wurde unter Androhung der To-desstrafe verboten. Die Beisetzung fand in Gegen-wart von Gestapo-Beamten statt, nachdem sie denunversehrten Zustand der Plomben festgestellt hat-ten. Ich muß immer wieder an die Worte der armenFrau Schloss denken: “Bis zu meinem letzten Atem-

10 Dokumente No. 19

(10) Lilo, Farmarbeiterin aus Palästina = möglicherweise HildegardConitzer, die laut Häftlingsakte von Ende Oktober 1934 bis zum18. August 1936 in Palästina war. Am 22. Oktober 1936 wurde siein das Frauenkonzentrationslager Moringen eingeliefert und am16. Juli 1937 entlassen. Ihr weiteres Schicksal ist noch nicht ge-klärt.

(11) Frau Schloss – Eine Identifizierung ist noch nicht möglich.

(12) Vera List, Zeichnerin und Graphikerin aus Belgien = GerdaLissack aus Berlin, geboren am 25. Mai 1904. Die gehbehinderteKünstlerin wurde am 24. Dezember 1936 in das Frauenkonzentra-

tionslager Moringen eingeliefert. Eine ihrer Bleistiftzeichnungen,von denen Gabriele Herz berichtet, konnten wir bis jetzt finden. Esist ein Porträt von Dora Hösl (13), das diese ihrem Sohn Herbertschickte. Gerda Lissack wurde am 2. Juni 1937 in das Polizeige-fängnis Berlin überstellt. Über ihren weiteren Leidensweg ist nochnichts bekannt. Aus dem “Gedenkbuch für die Opfer der national-sozialistischen Judenverfolgung” geht hervor, daß Gerda Lissackam 21. Januar 1942 in Ravensbrück ermordet wurde.

(13) Dora Doebel = Viktoria (Dora) Hösl. Sie wurde am 2. Juni1902 in München geboren, war Tabakarbeiterin von Beruf und1932 KPD-Abgeordnete im bayrischen Landtag. Vom 10. März

zug wird mich der Gedanke quälen, ob diese Unmen-schen meinen Mann erschossen oder zu Tode geprü-gelt haben. Nie werde ich die Wahrheit erfahren.” ...Herta Kronau, in ihrer verzweifelten Verfassung, hatdie Anstaltsleitung um den Besuch eines Geistlichengebeten. Das Gesuch ist abgelehnt worden. Ich standmit ihr an dem vergitterten Fenster, wir tauschtenunsere Besorgnisse, unsere Seelennot aus, wir spra-chen über diese Ablehnung, über die arme FrauSchloss, über unsere Freundin Dora Döbel, die sich inSehnsucht nach ihrem Sohn Herbert aufreibt ...

Am folgenden Morgen wurde ich zu der Frau Ober-wachtmeisterin befohlen ... “Ich habe gute Nachrichtfür Sie, Frau Herz, Sie sind entlassen” ... Ein tiefesGlücksgefühl erfüllte mich so stark, so brausend, daßich schier schwindlig wurde. “Endlich, endlich darfstdu heim zu deinem Mann und zu deinen Kindern”, ju-belte es in mir. Aber gleichzeitig überkam mich einegroße Traurigkeit über den Abschied hier von so vielenlieben Menschen. Beklommen, in einem inneren Auf-ruhr, nahm ich langsam den Weg zu unserem Raumzurück. Ich zögerte eine Weile, dann trat ich ein. Ichging auf Herta zu. “Es ist soweit. Ich bin entlassen.”Herta schaute mich verständnislos und ungläubig an,dann zuckte sie zusammen. “Ich bin beglückt ihretwe-gen, und ich bin bestürzt meinetwegen. Sie haben mirviel gegeben, Frau Herz, ich mag nicht sagen wie viel.Nun trennen sich unsere Wege. Wir wollen uns denAbschied nicht durch Worte erschweren. Wir wissenum unsere innere Verbundenheit. Leben Sie wohl.” Siedrückte mir die Hand und verließ das Zimmer. Ichschaute ihr traurig nach ... Ich kam mir vor wie ein nurauf die eigene Sicherheit bedachter Verräter. Wie wirddiese stolze, zurückhaltende Frau die Haft durchhal-ten? Wird sie, die innerlich Einsame, wieder einemgleichgestimmten Menschen sich anschließen? EineHand legte sich auf meine Schulter. Ruth Abt stand vormir: “Seien Sie ohne Sorge, Mutter Herz. Ich liebe undverehre Frau Kronau, und ich glaube, sie ist mir auchzugeneigt. Ich werde alles daran setzen, um ihr dasLeben hier so erträglich als möglich zu gestalten.” Ausihren Worten klang Verantwortungsgefühl und Zuver-lässigkeit. Ich fühlte mich unsagbar erleichtert. Ich

packte meine wenigen Habseligkeiten. Wäsche- undKleidungstücke ließ ich meinen arischen und nicht-ari-schen Gefährtinnen zurück. Ich ging in den GroßenSaal und in den Bayernsaal. Viele Hände streckten sichmir entgegen und viele gute Wünsche wurden mirmitgegeben. Mein letzter Besuch galt Dora Döbel. Siewar gleich nach mir zum Direktor beschieden worden,der ihr die Ablehnung ihres Gesuchs mitteilte. Dora lag

zu Bett. Sie war so schwach, daß sie sich nicht aufzu-richten vermochte. Ihr liebes, gutes Gesicht war ganzklein. Ich setzte mich zu ihr, ich konnte nicht sprechen,die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ich umfaßte undstreichelte ihre eiskalten Hände. Auch Dora blieb langestumm. Endlich sagte sie leise, fast unhörbar: “GrüßenSie mir Ihren Mann und Ihre lieben Kinder.” Die Augenwurden mir feucht. “Gott schütze Sie und ihren tapfe-ren Herbert.” Draußen vor dem Schlafsaal mußte ichmich einige Zeit auf die Treppenstufen setzen. DieKnie versagten mir. Ich stand das letzte Mal vor derFrau Oberwachtmeisterin. Ich unterschrieb eine Aner-kenntnis, daß ich völlig gesund das Lager verlasse undkeine irgendwie gearteten Ansprüche gegen den Staaterhebe ... Frau Hobrecht, die widerwärtigste aller Be-amtinnen, schloß mir das Tor auf, reckte sich hoch,hob die Hand, deutete gerade aus: “Dort!” Dannmachte sie kehrt und ging grußlos zurück. So verließich am 17. März 1937 das Frauenlager von Morin-gen.Ursula Krause-Schmitt, Frankfurt M.

Dokumente No. 19 11

1933 bis März 1936 war sie im Gefängnis München-Stadelheiminhaftiert, dann ließ sie die Gestapo München in das Frauenkon-zentrationslager Moringen überstellen. Ihr 1923 geborener SohnHerbert war während ihrer langen Haft im katholischen ClemensMaria Kinderheim in München untergebracht. Dora Hösl, so be-richtet Gabriele Herz, machte sich große Sorgen um den Sohn undversuchte, einen regelmäßigen Briefwechsel aufrechtzuerhalten.Dieser Briefwechsel und das von Gerda Lissack gezeichnete Porträtist erhalten geblieben. Dora Hösl gehörte während der erstenKriegsjahre zur Widerstandsgruppe “Bund Oberland” unter BeppoRömer. Sie wurde am 14. März 1942 verhaftet und am 20. Juni1944 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Befreiung hei-

ratete sie ihren Mitgefangenen Josef Angerer. Dora Hösl starb imAlter von 51 Jahren am 9. Mai 1953 in München.

(14) Ruth Abt, Studentin aus Berlin = Ruth Arzt aus Berlin. Siewurde am 31. Dezember 1936 in das FrauenkonzentrationslagerMoringen eingeliefert. In ihrer Gefangenenakte ist als Haftgrund“Remigrantin” und als Beruf “Kinderpflegerin” angegeben. Siewurde am 11. September 1937 entlassen und konnte noch nachPalästina auswandern.

Wir danken Ellen Kra-cauer Hartig, HowardHartig und den weite-ren Angehörigen derFamilie Herz für dieErlaubnis, diesen Ab-schnitt aus den Erinne-rungen von GabrieleHerz zu veröffentli-chen.

Geboren am 26. April 1886 in Wien, Heirat am 14.Juni 1910 mit Dr. Emil Herz in Berlin. Emil Herz, ge-boren am 5. April 1877 in Essen, war von 1903 –1934 Vorstandsmitglied und Direktor im Ullstein-Verlag, Berlin. Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor:Erwin, Gertrud, Elisabeth und Arthur

Ende März 1934 – Emil Herz wird mit anderen jüdi-schen Mitarbeitern zum Rücktritt aus dem Ullstein-Verlag gezwungen.Ende 1935/Anfang 1936 – Emil und Gabriele Herzemigrieren nach Palästina.Frühjahr 1936 – Emil wird schwerkrank und kehrtnach Berlin zurück; Gabriele erkundet in Meran Auf-enthaltsmöglichkeiten.

Ende August/ Anfang September 1936 – Gabrielekehrt nach Berlin zurück.1.Oktober 1936 – Gabriele wird als “Remigrantin” inBerlin verhaftet und kommt in das GestapogefängnisBerlin-Alexanderplatz.Mitte Oktober 1936 – Gabriele wird in das Frauen-konzentrationslager Moringen eingewiesen.17. März 1937 – Gabriele wird freigelassen.Ende März 1937 – Gabriele und Emil fliehen nachFlorenz; ihre beiden minderjährigen Kinder Elisabeth(20 Jahre alt) und Arthur (16 Jahre alt) bleibenzurück.Anfang 1938 – Arthur flieht nach Florenz.Oktober 1938 – Gabriele, Emil und Arthur fliehennach Lugano. Gabriele beginnt ihren Bericht “DasFrauenlager von Moringen. Schicksale in früher Nazi-Zeit” niederzuschreiben.Anfang 1939 – Gabriele, Emil, Arthur, und endlichauch Elisabeth emigrieren nach Havanna auf Kuba.Sommer 1940 – Gabriele und Emil emigrieren nachRochester, New York. Arthur, der schon vorher alsStudent ein Visum erhalten hatte, studiert in Roche-ster. Elisabeth wohnt in San Francisco. Der älteste

Sohn Erwin ist in London im Exil und arbeitet an dieWiener Library. Die Tochter Gertrude und ihren MannPaul Kracauer hatte die Flucht aus Deutschland bisnach Shanghai gebracht. Emil, behindert vom grauenStar, findet nur Gelegenheitsarbeiten bei Bekannten.Gabriele gibt sich zehn Jahre jünger aus und wird alsPutzfrau an der Universitätsklinik Rochester einge-stellt.1941/1942 – Gabriele schreibt mit Unterstützungvon Emil “Das Frauenlager von Moringen” zu Ende;Emil schreibt an einer Familiengeschichte.1951 – Das Buch von Emil Herz “Denk ich anDeutschland in der Nacht – Die Geschichte des Hau-ses Steg”, das er seiner “tapferen Frau zueignet”, er-scheint in deutscher Sprache. Zwei jahre später gibtder Ullstein-Verlag eine zweite Auflage heraus. Dieenglische Fassung erscheint 1967 zum 90. Geburts-tag von Emil Herz.14. Februar 1957 - Gabriele stirbt im Alter von 71Jahren.7. Juli 1971 – Tod von Emil Herz im Alter von 94Jahren. Der Grabstein des Ehepaars Herz auf demStadtfriedhof von Rochester trägt als Inschrift einVers aus dem Hohen Lied: Stark wie der Tod ist dieLiebe.” Nach dem Tod von Arthur beginnen Hilde-gard und Arthur Herz mit der Übersetzung von “DasFrauenlager von Moringen” ins Englische, damit esauch die Enkelkinder lesen können.Sommer 1997 – Gertrude Kracauer besucht zusam-men mit ihrer Tochter Ellen und deren Familie zumersten Mal seit dem März 1939 Berlin. Ellen Kracau-er Hartig und Howard Hartig beschäftigen intensivmit den Erinnerungen von Gabriele Herz. Über dasLesebuch zur Ausstellung Schwestern, vergeßt unsnicht. Frauen im Konzentrationslager 1933-1945.Moringen – Lichtenburg –Ravensbrück”, das sie ineiner New Yorker Bibliothek finden, entsteht derKontakt zum Studienkreis deutscher Widerstand.November 1999 – Ellen Kracauer Hartig und HowardHartig sind zu Besuch in Deutschland “auf den Spu-ren von Gabriele Herz”: Sie besuchen den Studien-kreis Deutscher Widerstand, das Geschichtsarchiv derZeugen Jehovas in Niederselters, die Gedenkstätte inMoringen, und vor allem Hed Regnart-Laufer inFürth bei Nürnberg.

Fotos und Abbildungen:Foto: Ellen Kracauer Hartig zu Besuch bei Hed Regnart-Laufer,November 1999. Herkunft: Studienkreis Deutscher WiderstandFoto: Ellen Kraucauer Hartig zu Besuch in der Gedenkstätte Mo-ringen, November 1999. Herkunft: Studienkreis Deutscher WiderstandDokumente: Frauenschutzhaftlager Moringen Akte betr. Schutz-häftling Gabriele Herz geb. Berl. Herkunft: Gedenkstätte Moringen

12 Dokumente No. 19

G A B R I E L E ( “ Y E L L A” ) H E R Z G E B . B E R L

“Besserung durch Arbeit” - dieser Anspruch zieht sichwie ein roter Faden durch die Geschichte der Arbeits-hausunterbringung. Auch im Werkhaus Moringen,eines von rund 50 Arbeitshäusern im DeutschenReich, wurde dieser Gedanke zum Programm erho-ben, um vermeintlich ‘Arbeitsscheue’ zu resozialisie-ren. Im Rahmen meiner Magisterarbeit an der Univer-sität Göttingen habe ich mich mit der Geschichte unddem besonderen Charakter dieser Einrichtung ausein-andergesetzt, um exemplarisch die praktische Umset-zung dieser Strafart, die analog zum Anspruch der‘Besserung’ und - da sie an eine kurze Haftstrafe an-schloß - als “korrektionelle Nachhaft” bezeichnetwird, nachzuvollziehen. Der Untersuchungszeitraum

umfaßt die Jahre von 1871 bis 1944 und markiertdamit die Zeitspanne der Trägerschaft des Provinzial-verbandes von Hannover. Leitende Fragestellungender Arbeit waren insbesondere, ob und inwiefern dasPostulat der ‘Besserung’ der als “Korrigenden” be-zeichneten Werkhausinsassen mit Inhalt gefülltwurde und ob sich Intention und Umsetzung derkorrektionellen Nachhaft in der Moringer Anstalt inrund 70 Jahren eher durch Kontinuität oder aberdurch Brüche bzw. deutliche Zäsuren auszeichneten. Vor 1879 und wieder ab 1908 war das Provinzial-Werkhaus Moringen die einzige Korrektionsanstaltder Provinz Hannover.(1) Zunächst wurden aus-schließlich männliche Korrigenden von den sechsLanddrosteien bzw. ab 1885 von den Regierungsprä-sidenten der Provinz auf die Dauer von maximal zweiJahren in die Moringer Anstalt eingewiesen. Dieüberwiegende Mehrheit dieser Personen war - auf derGrundlage des Reichsstrafgesetzbuchs - der “Bette-lei” und/ oder “Landstreicherei” angeklagt worden;vergleichsweise unbedeutend war die Zahl derer, dieaufgrund von “Müßiggang”, “Arbeitsscheu”, Ob-

dachlosigkeit und ab 1901 auch “Zuhälterei” verur-teilt worden waren. Bei den weiblichen Korrigenden,die ab 1908 ins Werkhaus eingewiesen wurden, stell-ten die wegen “gewerbsmäßiger, polizeiwidriger Pro-stitution” verurteilten Frauen die größte Gruppe. In Moringen erwartete die Korrigendinnen und Kor-rigenden ein stark reglementiertes Anstaltsleben, dasdurch den Primat der Arbeit strukturiert war: Um die“sittliche Besserung” der Werkhausinsassen zu erzie-len und sie von ihrer vermeintlichen “Arbeitsscheu”zu kurieren, sollten die Männer vorwiegend in hand-werklichen Betrieben und in der Landwirtschaft, dieFrauen vor allem im “Hauswesen” zu “ununterbro-chener Arbeit” angehalten werden. Daneben nahmenweitere “Erziehungsmittel” wie Elementarunterrichtund Seelsorge nur eine untergeordnete Rolle ein. Insbesondere in den 1870er Jahren war das WerkhausMoringen Gegenstand lebhafter Diskussionen imHannoverschen Provinziallandtag. Hintergrund warendie kontinuierlich steigenden Korrigendenzahlen - biszu einer Höchstmarke von durchschnittlich 1072 In-sassen im Jahr 1879 - die die Abgeordneten mehr-heitlich dazu bewog, den als zu human empfunde-nen Führungsstil des Werkhausdirektors von Rössingfür die Überfüllung der Anstalt verantwortlich zu ma-chen. Obwohl der Zusammenhang von hoher Arbeits-losigkeit und der Zunahme von Obdachlosigkeit undBetteleidelikten infolge der “Gründerkrise” ebensooffenkundig wie unbestritten war, erzwang der Pro-vinziallandtag schließlich die Versetzung von Rös-sings, statt den Sinn der Korrektionshaft in Frage zustellen. Deutlich kristallisierte sich während des Kaiserreichsheraus, daß der Besserungsanspruch, der ohnehinpauschalisierend von der unzutreffenden Vorausset-zung ausging, die Korrigenden hätten ihre Notlagedurch “Arbeitsscheu” und “Liederlichkeit” selbst ver-schuldet, lediglich eine Worthülse blieb. Selbst dieTatsache, daß vielfach kranke und gebrechliche Per-sonen ins Werkhaus gelangten, deren Arbeitsfähigkeitnicht oder kaum mehr gewährleistet war, wurdezunächst weitgehend ausgeblendet. Vielmehr ging esdarum, den Aufenthalt im Werkhaus so unangenehmwie möglich zu gestalten, um über die Einrichtunghinaus einen Abschreckungseffekt für Arme undnonkonform lebende Personengruppen zu erzielen. Während der Weimarer Republik blieb das WerkhausMoringen ständig unterbelegt. Nachdem die Anstalt

Dokumente No. 19 13

Abschreckung, Besserung, Unschädlichmachung.

D I E D I S Z I P L I E R U N G G E S E L L S C H A F T L I C H E R

R A N D G R U P P E N I M W E R K H A U S M O R I N G E N ( 1 8 7 1 - 1 9 4 4 )

(1) Ab 1901 wurdedas Werkhaus wie an-dere Anstalten dieserArt multifunktional ge-nutzt, indem für einigeJahre kleinere Abteilun-gen, u. a. von Fürsor-gezöglingen, einge-richtet wurden. Diegrößte Gruppe bilde-ten die sog. “Arbeits-scheuen und säumigeNährpflichtigen”, dievon seiten der Armen-pflege eingewiesenwurden und von1922 bis 1944durchgängig im Werk-haus untergebrachtwaren.

LKH

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inge

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im Februar 1919 aufgrund der allgemeinen Amnestiekurzfristig völlig leerstand, erreichten die durch-schnittlichen Belegungszahlen in den folgenden Jah-ren kaum mehr die Marke von 200 Insassen. Hinter-grund dieser Entwicklung, die sämtliche deutscheArbeitshäuser betraf, war u. a. die sich mehrende Kri-tik an den Korrektionsanstalten, die die Gerichte häu-fig Abstand von einer Einweisung nehmen ließ. Unterdem Eindruck der “Bewahrungsdiskussion”, in derenZuge alternative Unterbringungsmöglichkeiten unddie Entkriminalisierung von “Vagabundage” und Pro-stitution angeregt wurden, hielten vorsichtige Refor-men auch im Werkhaus Moringen Einzug. So wurdemit dem Mittelschullehrer Hugo Krack erstmals einPädagoge als Leiter berufen, nachdem das Werk-haus zuvor stets durch altgediente Militärs geführtworden war. Auch wenn es in der Weimarer Zeit zukeinen radikalen Veränderungen in Moringen kam,wurden den Werkhausinsassen zumindest einigeVergünstigungen im Alltagsleben gewährt. Vorallem aber wurde der Anspruch der ‘Besserung’ imSinne einer Resozialisierung der Korrigendinnenund Korrigenden erstmals mit Inhalt gefüllt, indemMaßnahmen getroffen wurden, um den Insassenden Wiedereinstieg in das gesellschaftliche und ins-besondere Arbeitsleben zu erleichtern.Mit dem Frühjahr 1933 änderte sich die Situationfür das Werkhaus grundlegend, als das “frühe” Kon-zentrationslager Moringen in der Anstalt errichtetwurde. Sowohl während der Zeit dieses ersten KZ alsauch in den Jahren 1940 bis 1944, als das Werkhauszugleich als sog. polizeiliches “Jugendschutzlager”und Korrektionsabteilung fungierte, war das Ver-

hältnis zwischen Werkhauspersonal, in erster LinieDirektor Krack, und Lagerleitung durch Kompetenz-streitigkeiten und Machtkämpfe geprägt. (2) Fürden Personenkreis, der von einer Arbeitshauseinwei-sung bedroht war, hatte die Machtübernahme derNationalsozialisten schwerwiegende Konsequenzen:Zum einen gingen diese bereits 1933 massiv gegen“Asoziale” vor, so daß auch in Moringen wieder er-höhte Einweisungszahlen zu verzeichnen waren,zum anderen wurden die Reformansätze der Wei-marer Zeit wieder zunichte gemacht. Änderungender Gesetzeslage ermöglichten fortan die ‘Verwah-rung’ der Korrigendinnen und Korrigenden bis anihr Lebensende. Neben verschlechterten Haftbedin-gungen waren die Moringer Insassen aber vor allemder Bedrohung durch eine Zwangssterilisation aus-gesetzt, an deren Durchführung WerkhausdirektorKrack maßgeblichen Anteil hatte. Auch wenn diesersich dem Besserungsanspruch der Arbeitshausunter-bringung verpflichtet fühlte und die Insassen untereinem anderen Leiter womöglich insgesamt nochgravierendere Haftverschlechterungen hätten hin-nehmen müssen, muß dessen Rolle vor dem Hinter-grund der aktiven Teilhabe an der Auslieferung vonInsassen zur Zwangssterilisation neu bewertet wer-den. Im Nationalsozialismus verlor das Prinzip der‘Besserung’ im Werkhaus jegliche Bedeutung: Unterden Bedingungen bloßer ‘Verwahrung’ von Insas-sen, deren Tod bewußt einkalkuliert wurde, und derBedrohung ihrer körperlichen Integrität erfuhr dieArbeitshausunterbringung in Moringen eine deutli-che Zäsur.Cornelia Meyer, Göttingen

14 Dokumente No. 19

(2) Im Sommer 1944schließlich mußte das

‘eigentliche’ Werk-haus den Ansprüchendes Reichskriminalsi-cherheitshauptamtesauf die gesamte An-

stalt weichen - die ver-bliebenen Korrigendin-

nen und Korrigendenwurden verlegt.

Cornelia Meyer: Ab-schreckung, Besse-

rung, Unschädlichma-chung. Dei

Disziplinierung gesell-schaftlicher Randgrup-pen im Werkhaus Mo-ringen (1871-1944).

Magisterarbeit imFach Mittlere und

Neuere Geschichtean der Philosophi-schen Fakultät der

Georg-August-Univer-sität Göttingen.

Göttingen 2000

Die Entlassung von Häftlingen aus dem Frauenkonzentrationslager Moringen 1934 - 1938

Als ich vor gut anderthalb Jahren bei einer Anfragean die Gedenkstätten des norddeutschen Raumesnach den Möglichkeiten für eine Examensarbeit zudiesem Thema mir einen Ruck geben mußte, dochauch die (kleine) Moringer Gedenkstätte anzuschrei-ben, wußte ich nichts über das Frauenlager, wenigüber die beiden anderen Lager und hatte auch nurwenig Hoffnung, gerade hier Materialien zum Themazu finden. Gleichwohl interessierte mich diesesThema sehr; wohl auch deshalb, weil Entlassungenimmer einmal wieder in der Literatur erwähnt wer-den, systematischere Forschungen dazu aber bis auf

wenige Ausnahmen nicht stattgefunden haben. Der Impuls zu dieser Arbeit entsprang meinerzunächst ganz unwissenschaftlichen Frage, wie denGefangenen eigentlich dabei zumute gewesen seinmuß, der Willkür eines Konzentrationslagers ohnefeste Aussicht auf eine Entlassung ausgeliefert zusein. Es zeigte sich, daß zum Thema Entlassungen jeweilsder Zeitpunkt oder der Zeitabschnitt wichtig ist, derfür die Untersuchung zugrundegelegt wird, da sichdie Bedingungen ständig geändert haben. Für denAbschnitt, auf den sich meine Untersuchung bezieht,

Dokumente No. 19 15

gilt: Entlassungen stellten (noch) die Regel und nichtdie Ausnahme dar. Dabei gab es allerdings sehr großeUnterschiede: etwa, was die Dauer der Haft anbe-langte. Bayerische Gefangene, die aus dem politi-schen Widerstand kamen, hatten ungleich längereHaftzeiten als Gefangene aus anderen GegendenDeutschlands. Der Grund dafür lag bei den zunächstunterschiedlich “gleichgeschalteten” Gestapobehör-den der einzelnen Länder. Die Bayerische PolitischePolizei zeichnete sich bereits von Anfang an durcheine besonders scharfe Verfolgung aus. Während der Zeit, in der das Moringer Frauenkon-zentrationslager existierte, waren Frauen, sowohl wasdie Verfolgung als auch die Dauer ihrer Haft anbe-langte, nicht in gleichem Maß betroffen wie dieMänner. Auch die Haftbedingungen unterschiedensich erheblich voneinander. Der Zeitabschnitt, der für diese Arbeit zugrunde ge-legt worden ist - die Zeit von Ende 1934 bis Anfang1938 - ergab sich aus dem Bestand der noch vor-handenen Häftlingspersonalakten, die im Haupt-staatsarchiv Hannover abgelegt sind. Sie dokumen-tieren Personen, die während dieser Zeit entlassenwurden oder “auf Transport” geschickt, das heißt inder Regel: vor ein Sondergericht gestellt worden sind.Diese Akten dokumentieren jedoch nur etwa ein Vier-tel aller Frauen, die in Moringen waren.Offensichtlich ist eine unbekannte Anzahl von Perso-nalakten verschwunden und es hat sich bis heute alsunmöglich erwiesen, den Weg dieses Aktenbestandes,auf dem sie verlorengegangen sein müßten, nachzu-verfolgen.

Die Entlassungsverfügungen wurden in der Regel aufWeisung des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlinvon den örtlichen Stapo-Stellen vorgenommen undan den Lagerdirektor Hugo Krack weitergeleitet. Dereigentliche Vorgang war unkompliziert: Nach dreiMonaten Haft wurde ein Haftprüfungstermin, fürden ein kurzer Bericht des Lagerdirektors über denGefangenen an die Gestapo verfaßt wurde, anbe-raumt. Wurde dabei gegen eine Entlassung entschie-den, verlängerte sich die Schutzhaft um drei Monatebis zum nächsten Haftprüfungstermin. Für die Ent-lassung waren die Stellungnahmen des Lagers undder einweisenden Stapo-Stelle maßgebend, abernicht ausschlaggebend. Die Gestapo fragte zu denHaftprüfungen regelmäßig im Lager an, so daß sichfür politische, d.h. die Gestapo-Häftlinge, ein relativfestes Verfahren herausgebildet hat. Bei genaueremHinsehen fällt auf, daß für die Gefangenen der Kri-minalpolizei (Haftgrund: Prostitution, “Berufsverbre-cher”, Fürsorgefälle) solch ein Reglement nicht be-standen hat. Angehörige dieser Gruppe vonGefangenen, die sich erst ab Ende 1935 in Moringennachweisen läßt, befanden sich im Durchschnitt nicht

länger als die Gestapogefangenen im Lager. Im Ein-zelfall zeichnet sich diese Gruppe allerdings durchbesonders kurze (3 Wochen) wie auch lange (10 Mo-nate) Haftzeiten aus. Neben dem üblichen Gang der Entlassung gab eseine Reihe von Gründen, die unter Umständen einevorzeitige Entlassung nach sich ziehen konnten:etwa ein Führergeburtstag oder der Besuch Himmlersim Lager Ende Mai 1937. Familiäre Gründe, etwa zuversorgende Angehörige oder das Ableben von Fami-lienmitgliedern konnten - sie mußten es nicht - zueiner Entlassung führen oder einen Hafturlaub be-wirken. Die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses warfür die Gefangenen der Kriminalpolizei häufig einGrund für deren Entlassung. Ein besonderer Grundfür eine Entlassung konnte die ärztlich bescheinigteHaftunfähigkeit durch den Lagerarzt sein. Für allediese Möglichkeiten gibt es jedoch auch Gegenbei-spiele, in denen eine Entlassung nicht stattfand.Dabei zeigte sich, daß die Gestapo trotz bestimmterRegeln, stets die letzte Entscheidung hatte; einenrechtlichen Schutz gab es nicht für die Gefangenen. Die Bemühungen um eine Entlassung waren vielfäl-tig: Gesuche von den Gefangenen, ihren Angehöri-gen, die Bemühungen von Außenstehenden wieRechtsanwälten, Organisationen wie den Quäkernund selbst von NS-Stellen. Der Lagerdirektor spielte in diesem Zusammenhangeine wichtige Rolle. Für das Frauenkonzentrationsla-ger kann behauptet werden, daß von seiner Seite diewenigsten Schwierigkeiten zu erwarten waren.Gleichwohl finden sich nicht wenige Beispiele, indenen es, allen Empfehlungen des Lagerdirektorszum Trotz, zu keiner Entlassung kam. War die Entlassung verfügt, konnten verschiedeneAuflagen, wie Aufenthaltsverbote, bei jüdischen Ge-fangenen ihre Auswanderung, daran geknüpft wer-den, abgesehen davon, daß eine Entlassung häufignur probeweise erfolgte. Mit der Entlassung war dasKZ für die Gefangenen also keineswegs überstanden:Dies wäre ein Eindruck, der durch das bloße Akten-studium entstehen könnte, da hier die Geschichte derGefangenen mit deren Entlassung in der Regel endet.Daß die Entlassung kein Ende der Drangsalierungenbedeutete, geht aus den Berichten der Häftlinge her-vor, die nur am Rande in die Arbeit eingeflossen sind.Für solch ein Schicksal steht das Beispiel einer Bre-merin, die aufgrund der Empfehlung “daß die Kinderwieder der Mutter zugeführt” werden sollten, entlas-sen worden war. Sie hat ihre Kinder nur kurz wieder-gesehen: Es wird berichtet, sie sei bald nach ihrerEntlassung nach Berlin gezogen, da man ihr die Kin-der weggenommen und in ein Heim gesteckt habe.Beide Jungen haben den Krieg nicht überlebt. Davonhat sich die Mutter nicht mehr erholt. Matthias Kuse, Bremen

Matthias Kuse: Entlas-sungen von Häftlingenaus dem Frauenkon-zentrationslager Mo-ringen 1934-1938Magisterarbeit imFachbereich Ge-schichte an der Uni-versität Bremen.Bremen 1999

Im Sommer letzten Jahres sah ich mich im Rahmen mei-ner Examensarbeit an der Universität Hannover vor dieAufgabe gestellt, mich mit der Person des Moringer Arz-tes Dr. Otto Wolter-Pecksen kritisch auseinanderzuset-zen.Die Schwierigkeit dieser Aufgabe lag in erster Liniedarin, daß der Name des Arztes in bereits veröffentlich-ten Forschungen über das KZ Moringen nur selten odergar nicht erwähnt wird. Außerdem stellte sich mir dieFrage, wie ich es schaffen sollte, objektiv und zugleichkritisch zu bleiben, wenn ich mich mit einer Person wieOtto Wolter-Pecksen intensiv beschäftigen sollte. Eineweitere Sorge bereitete dann natürlich auch die Materi-alsuche. Überraschenderweise wurde ich jedoch schnellfündig. So führte mich mein Weg in das Hauptstaatsar-chiv Hannover und das Bundesarchiv Berlin, wo jeweilspersönliche Akten des Arztes einzusehen sind. WeitereInformationen bekam ich durch Gespräche mit Mitglie-dern seiner Familie und Moringer Einwohnern.Bei der Auswertung des Materials schälte sich dann einrecht ambivalenter Charakter heraus. Da war zum einender besorgte und aufopfernde Arzt und Familienvaterund auf der anderen Seite der KZ-Arzt, der in derNSDAP Karriere machte und Kreisbeauftragter des Ras-senpolitischen Amtes wurde. Wie paßte das zusammen?Die Quellen und Zeitzeugenaussagen geben auf dieseFrage nur näherungsweise eine befriedigende Antwort.Wenden wir uns zunächst der einen Seite seines Cha-rakters zu: Hier fällt auf, daß der 1882 in Lüneburg ge-borene Arzt ein gefragter und fachkundiger Medizinergewesen ist, der allseits geschätzt wurde. Dr. Wolter-Pecksen liebte seinen Beruf, was wiederum Vernachläs-sigung der eigenen Familie nach sich zog. Von 1931 biszur Auflösung 1944 war der Arzt als ärztlicher Leiter desLandeswerkhauses tätig, 1933 übernahm er zusätzlichdie Betreuung der KZ-Insassen. In diese Zeit fällt auchseine ”Karriere” in der NSDAP. 1931 wurde er Sturm-bannarzt, 1942 SS-Sturmbannführer. Festgehalten wer-den muß in diesem Zusammenhang, daß zumindest dieÜbernahme des Postens als SA-Sturmbannarzt nichtganz freiwillig erfolgte. Für den Beitritt in die SS läßtsich dies nicht eindeutig belegen, da die Quellen nichtimmer eine zuverlässige Sprache sprechen. Aus den Quellen geht auch hervor, daß Dr. Wolter-Peck-sen schon vor seinem SS-Beitritt nicht mehr mit der Po-litik der NSDAP, der er bereits 1925 beigetreten ist, ein-verstanden gewesen sein soll. Dies paßt zu der Aussage,daß der Arzt nie einen ”Führer-Kult” entwickelt habeund bis zu seinem Tod ein Bismarck - und kein Hitler-Bild - in seiner Praxis hing. War er nur ein Mitläufer?Den Arzt als solchen zu bezeichnen, würde vermutlichnicht ganz den Tatsachen entsprechen. Denn da ist

schließlich noch die andere Seite Wolter-Pecksens, zuder nicht nur seine Parteikarriere gehört, sondern auchseine Funktion als ”Lagerarzt” im Frauen- und späterenJugend-KZ. Doch auch in diesem Zusammenhang istdie Ambivalenz seines Charakters deutlich zu spüren. Soist bewiesen, daß nicht wenige Häftlinge aus dem Frau-en-KZ auf Grundlage eines positiven ärztlichen Attestesvon Dr. Wolter-Pecksen von Lagerdirektor Krack entlas-sen worden sind. Weiterhin ist ein guter Kontakt desArztes mit einer ehemals inhaftierten Jüdin belegt. Dochist von seiner Tätigkeit im KZ nicht nur Positives überden Arzt zu berichten. So schildern ihn Erinnerungenehemaliger Häftlinge als aggressiv und herrisch.Seine Rolle im späteren Jugend-KZ ist hingegen weit-gehend unerforscht. In einem Bericht wird er alsmenschlich geschildert. Er stellte auch Forderungennach einer besseren Ernährung für die Häftlinge, die al-lerdings ungehört blieben. Sein Einfluß im KZ schien imGegensatz zum Frauen-KZ deutlich nachgelassen zuhaben. Inwieweit er allerdings für die Sterilisation ju-gendlicher Häftlinge verantwortlich gewesen ist, bleibtVermutungen überlassen. Daß er Sterilisationen auf derGrundlage des ”Gesetzes zur Verhütung erbkrankenNachwuchses” durchaus befürwortete und als Kreisbe-auftragter des Rassenpolitischen Amtes die Forderungstellte, daß rassisches Denken ”fest in jedem Volksge-nossen verwurzelt” sein müsse, ist dagegen eindeutigbelegt.

Sein ambivalenter Charakter wird noch einmal beson-ders deutlich, wenn man sich seine Behandlung von Re-gimegegnern genauer betrachtet. Dr. Wolter-Pecksenverzichtete beispielsweise auf den sogenannten ”Deut-schen Gruß” bei Patienten, von denen er wußte, daß siekeine Nationalsozialisten waren. Die Quellen geben dar-über Auskunft, daß der Arzt auch niemals die damaligenRegimegegner schlechter behandelte als überzeugte Na-tionalsozialisten. Selbst einer jüdischen Familie kam erzur Hilfe.Die Person Wolter-Pecksen muß natürlich weiterhin kri-tisch betrachtet werden. Daß der Arzt auch im Lichteseines damaligen Umfeldes, seiner konservativen Erzie-hung und dem Denken der damaligen Zeit gesehenwerden muß, soll und darf sein Wirken im Nationalso-zialismus nicht rechtfertigen, selbst wenn sich darausvielleicht Erklärungsansätze ableiten ließen. Denn dieTatsache seiner Parteikarriere und seiner Tätigkeit im KZbleibt bestehen, ebenso aber seine Behandlung von Re-gimegegnern und seine Liebe zum medizinischen Beruf.Ein Urteil über sein Wirken bleibt in diesem Zusammen-hang jedem selbst überlassen.Silke Scholz, Braunschweig

16 Dokumente No. 19

Silke Scholz: Dr. OttoWolter Pecksen, prak-tischer Arzt in Morin-

gen und seine Tätigkeit im Landes-

werkhaus in der NS-Zeit. Hausarbeit imRahmen der ersten

Staatsprüfung für dasLehramt an Realschu-len an der Universität

Hannover.Hannover 1999

Dr. Wolter-Pecksen - Lagerarzt in Moringen

In der bisherigen pädagogischen Betreuung von Be-suchergruppen versuchten wir - vorwiegend mit Ju-gendlichen -, den Lebensweg von Ehemaligen nach-zuzeichnen. An Hand der Geschichte von “PaulePizolka” haben wir die Ankunft im Moringer Bahnhofund den Weg zur ehemaligen Kommandantur rekon-struiert. Die Beschreibung war recht anschaulich undhat die meisten Besuchergruppen tief beeindruckt.Die Ankunft im Moringer Bahnhof blieb dabei wenigbeachtet. Doch für viele Ehemalige war dies sicherein wesentlicher Schritt in eine ungewisse Zukunft. Viele glaubten, daß sie nur wenige Monate in Morin-gen bleiben würden. Es war eine

“Ankunft ohne Zukunft.”

Seit dem vergangenen Jahr versuchen wir, die An-kunftsituation am früheren Bahnhof zu rekonstru-ieren. Dies ist nicht ganz leicht, weil das Bahnhofs-gebäude inzwischen abgerissen ist und die Spurendes früheren Bahnhofsgeländes nicht einfach nach-zuzeichnen sind. Zwar hat Moringen heute keinen

Bahnhof mehr,aber wesentli-che Teile derAnlage sindnoch erhalten.Die ersten Be-suche mitGruppen zeig-ten mir, daßdieser authenti-sche Ort sehrinteressiert an-g e n o m m e nwird. An diesemOrt läßt sichanschaulich derWeg von denunterschiedli-chen Städtenund Ländern,

aus denen Ehemalige kamen, darstellen. Die unge-wisse Ankunft in Moringen und die ersten Schritte insLager werden leichter nachvollziehbar.

In den vergangenen Monaten habe ich diesen Ortmehrfach besucht. Aber es blieben viele Fragen offen.Karl Roth hat mir dabei geholfen, die Ankunft in Mo-ringen besser zu verstehen. Nach seiner Darstellung

hielt der Zug aus Richtung Northeim auf der linkenSeite der Gleisanlagen. Wachmannschaften aus demLager übernahmen die Häftlingsgruppen, gingen mitihnen über die Gleisanlage in Richtung Bahnhofsge-bäude und nahmen dann den bekannten Weg vomBahnhof in Richtung Lager an der ehemaligen Bahn-hofsgaststätte vorbei.

Karl Roth ist sich da aber nicht so ganz sicher, anwelcher Stelle der Zug genau gehalten hat. Er hätteaus Richtung Northeim ja direkt am Bahnhofsgebäu-de anhalten können. Er meint, sich zu erinnern, daßsie jedoch über die Gleisanlagen gegangen sind. Wasgeschah anschließend mit dem Transportwagen?Wurde der abgehängt und für neue Transporte ein-gesetzt? An dem Foto des früheren Bahnhofsgelän-des kann man erkennen, daß auch andere Wege nachMoringen führten. Moringer Bürger gingen manch-mal auch den kürzeren Weg an der Raiffeisen – Ge-nossenschaft vorbei.Bei der zukünftigen Betreuung von Besuchergruppenwollen wir die Strecke, die die Ehemaligen gegangensind, in Richtung Lager nachgehen. Hierzu wäre esfür uns wichtig, den genauen Weg zu kennen undnoch mehr über die Ankunft am Moringer Bahnhofzu erfahren. Vielleicht schreiben uns “Ehemalige” einfach oder er-zählen uns, woran sie sich bei ihrer Ankunft erinnernkönnen. Vielleicht reicht auch beim nächsten Ehema-ligen-treffen die Zeit, daß wir mit einer Gruppe dasGelände des ehemaligen Bahnhofs besuchen können.Für die Unterstützung bedanke ich mich im voraus.

Mit herzlichen GrüßenGerhard Krauth, Pädagogischer Mitarbeiter

Dokumente No. 19 17

Aus der gedenkstätten-pädagogischen Arbeit

“Ankunft ohne Zukunft”A N K U N F T D E R J U G E N D L I C H E N H Ä F T L I N G E A U F D E M M O R I N G E R B A H N H O F

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aus: Moringen in alten Bildern, H

orb a.N., 1996

Im Rahmen zweier 6-wöchiger Praktika in der Ge-denkstätte wurde die Moringer Zeitung von 1933 biszur Einstellung ihres Erscheinens am 31.03.1941 aufdie Darstellung der Moringer Konzentrationslager

untersucht. Alle imZusammenhang mitdem Werkhaus undden Moringer Kon-zentrat ionslagernstehende Meldungenund Artikel wurdendabei erfaßt, kopiertund für die weitereVerwendung durch

interessierte Personen zugänglich gemacht. Gleichesgalt auch für alle Artikel, die für die pädagogischeArbeit der Gedenkstätte von Interesse sein könnten.Die hierbei entstandenen Ordner können nach Ab-sprache in der Gedenkstätte eingesehen werden.Hier eine erste, kurze Auswertung: Die Berichterstat-tung über die Moringer Konzentrationslager ist sehrunterschiedlich. 1933 finden sich in der “MoringerZeitung” zahlreiche Artikel, die im Zusammenhangmit dem KZ stehen. So werden z. B. Veränderungender Belegstärke angezeigt, einige hinzukommendeHäftlinge namentlich aufgeführt und personelle Ver-änderungen angezeigt. 1934 erscheint ein Artikelüber das Frauen-KZ. Die Leser der Zeitung erfahren,daß das Frauen-KZ in Moringen nach der AuflösungBrauweilers das einzige KZ dieser Art ist. Über denUmfang und Wechsel der Belegstärke werden keineInformationen gegeben. Namentlich erwähnt werdennach 1934 nur noch Frauen, die aufgrund soge-nannter “Rassenschande” in das Moringer KZ kamen.Insgesamt aber finden sich in der “Moringer Zeitung”ab 1934 kaum noch Artikel zum Konzentrationslager.

Selbst der Besuch Himmlers im Moringer Konzentra-tionslager im Mai 1937 findet nur eine sehr kurze Er-wähnung. Die geplante Auflösung des Frauen-KZwird Ende 1937 in Hinsicht auf wirtschaftliche Über-legungen vermerkt; 1938 selbst findet sich kein Arti-kel über die Aufgabe des Lagers.Das Konzentrationslager für Jugendiche wird nur inzwei Artikeln erwähnt. 1940 wird in einer Anzeige einUnterstellraum für einen Lkw des Lagers gesucht. Derzweite Bericht behandelt den Ausbruch von Jugendi-chen aus dem Moringer Jugend-KZ vom Januar1941. Im Rahmen eines Artikels zum Jugendstraf-recht wird die Einrichtung eines “behelfsmäßiges po-lizeiliches Jugendschutzlager für männliche Minder-

jährige” erwähnt - ohne allerdings den Ort Moringenzu benennen. Bis zur Einstellung des Erscheinens der“Moringer Zeitung” am 31. März 1941 gab es keineweiteren Berichte.Heike Asmuth, Göttingen

18 Dokumente No. 19

Facharbeiten und Fachpraktika

Im ersten Halbjahr 2000 haben mehrere Schüler und

Schülerinnen Facharbeiten an der Gedenkstätte ge-

schrieben. Unter ihnen:

Annika-Kathrin Heinze von der Paul-Gerhardt-Schu-

le in Dassel mit einer Arbeit zum Thema: “Das KZ mit-

ten im Dorf” – Der schwierige Umgang mit der eige-

nen Geschichte: Zwischen Leugnen und Aufdecken.Meike Klüger vom Gymnasium im Schloß in Wol-fenbüttel. Das Thema ihrer Arbeit lautete: Diszipli-nierung der Jugend im Nationalsozialismus: Das Ju-gend-Konzentrationslager Moringen.

Darüber hinaus hat Adwoa Abeney aus Moringen(Schülerin der KGS in Göttingen) ein zweiwöchigesFachpraktikum an der Gedenkstätte absolviert.

Die Moringer Konzentrationslager im Spiegel der “Moringer Zeitung”E I N P R A K T I K U M A N D E R G E D E N K S T Ä T T E

An dieser Stelle möch-te ich sehr herzlich

Herrn Bäulke aus Mo-ringen danken, der

freundlicherweise derGedenkstätte die ent-sprechenden Jahrgän-ge der “Moringer Zei-

tung” zur Verfügunggestellt hat.

Einer der bislang am längsten tätigen Mitarbeiter inder Gedenkstätte wird in den Ruhestand gehen: Dr.Gerd Krauth. Er war seit 1993 zuständig für diepädagogische Besucherbetreuung im Torhaus. Mitseiner ihm eigenen Sachlichkeit, Freundlichkeit,Kompetenz und Besonnenheit vermittelte Gerd un-gezählten Gruppen und Einzelbesuchern die Ge-schichte der drei Konzentrationslager in Moringen.Mit vielen Ehemaligen führte Gerd Gespräche überihre Erinnerungen. Die so entstandenen Interviewshat er für die pädagogische Arbeit der Gedenkstätteaufbereitet. Gerd hat lange nachgedacht, ob er sichfrühpensionieren lassen soll. Schließlich hat er sichfür diesen Schritt entschieden. Sein Engagement für

den Kosovo kann er nun noch intensiver angehen.Mit der Pensionierung ist allerdings kein endgültigerAbschied von der Gedenkstätte verbunden. GerdKrauth wird sich weiterhin im Torhaus engagieren; sosteht er für ehrenamtliche Aufgaben bereit. Bei Be-darf – so sein Angebot – wird er auch Führungenübernehmen. Im Oktober bietet er darüber hinauseine Lehrerfortbildung an. Nach den sieben Jahrenseiner pädagogischen Arbeit in der KZ-Gedenkstätteim Torhaus möchten wir Gerd einen großen Dank fürsein Engagement sagen und ihm einen “kreativenUn-Ruhestand” wünschen.Der Vorstand

Dokumente No. 19 19

P E R S O N A L I ADank an Gerd Krauth

Eine kurze VorstellungOkay, Dietmar, im Moment sozusagen mein Chef, hatmich gebeten, mich und meine Arbeit in der KZ-Ge-denkstätte im Rundbrief der Lagergemeinschaft Mo-ringen vorzustellen. Das werde ich jetzt versuchen. Ich heiße Anne Berghoff und arbeite seit Mitte Janu-ar als Praktikantin in der Gedenkstätte. Das Prakti-kum ist Teil meines Studiums der Sozialpädagogik inKassel und auf ein ½ Jahr angelegt. Ich werde aberauf jeden Fall bis zum Treffen der Lagergemeinschaftim September regelmäßig in der Gedenkstätte arbei-ten und möchte auch danach, wenn auch mit gerin-gerem Zeitaufwand, weiter in der Gedenkstätte arbei-ten, um z.B. weiter Führungen anzubieten.

Was kann ich noch zu meiner Person sagen:Ich bin mittlerweile 35 Jahre alt und lebe seit 16 Jah-ren in Göttingen. Mit Moringen und der Geschichteder Konzentrationslager bin ich vor Jahren im Rah-men einer Auseinandersetzung mit Jugendwider-stand in Berührung gekommen. Damals haben eineFreundin und ich an der IGS ein Jugendprojekt zumThema ”Jugendwiderstand im Nationalsozialismus”angeboten. Ein Teil dieser Projekttage war ein Besuchin der KZ-Gedenkstätte Moringen und eine Führungdurch Uschi Gerecht. Später stieß ich wieder auf Mo-ringen als ich Kontakt mit dem Freundinnenkreis derLagergemeinschaft Ravensbrück bekam und anfing,

mich mit der Geschichte der Frauenkonzentrationsla-ger auseinanderzusetzen. Die Idee für ein Praktikumin Moringen ist dann auch einer Freundin auf demTreffen der Lagergemeinschaft Ravensbrück im letz-ten Jahr in Köln, auf der wir waren, gekommen.

Für mich ist die Auseinandersetzung mit Faschismus,die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis-mus, nicht `nur´ eine Auseinandersetzung mit Ge-schichte, sondern eine Auseinandersetzung mit fa-schistischen Kontinuitäten, die direkt in unsereheutige Gesellschaft verweisen. Damit meine ichnicht nur personelle Kontinuitäten durch Funkti-onsträger des Nationalsozialismus, die auch in derGesellschaft der Bundesrepublik weiter eine entschei-dende Rolle spiel(t)en, sondern auch ideologischeKontinuitäten, die auch heute noch die Wertvorstel-lungen unserer Gesellschaft bestimmen. Ein Grund,die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismusimmer weiter zu führen. Die Forderung “Nie wiederAuschwitz - Nie wieder Krieg” gilt heute immer nochbzw. ist heute vor dem Hintergrund der Forderungnach einem Schlußstrich unter die Geschichte undder Beteiligung Deutschlands u.a. am Krieg im Koso-vo wichtiger denn je.So jetzt endlich etwas zu meiner Arbeit:Am Anfang stand erst einmal viel lesen. Gerade über

die Geschichte des Jugendkonzentrationslagerswußte ich sehr wenig. Und dann gingen auch schonrelativ schnell die ersten Führungen mit Jugendlichenlos. Aufgrunddessen blieb das Jugendkonzentrati-onslager lange Zeit Schwerpunkt meiner Arbeit, dagerade die Geschichte des Jugendkonzentrationsla-gers Jugendlichen heute einen Zugang zu einer Aus-einandersetzung mit dem Nationalsozialismus `er-leichtert´. Bedingt durch die Führungen mußte ichmich auch mit pädagogischen Konzepten von Ge-denkstättenarbeit auseinandersetzen. Im Rahmen derArbeit mit Jugendlichen habe ich dann auch einenÜberlebenden des Jugendkonzentrationslager, KarlRoth, kennengelernt, mit dem ich zusammen Ju-gendgruppen besucht habe, um ihnen die Geschich-te des Jugendkonzentrationslagers näherzubringen.(Durch eine Vorstandssitzung hatte ich schon einenweiteren Überlebenden des Jugendkonzentrationsla-gers, Fernando Molde, kennengelernt.)

Durch die Zusammenarbeit mit einem Überlebendenbekam die Vermittlung der Geschichte eine ganz an-dere Qualität. Gerade für die Jugendlichen (aber auchfür mich) rückte die Geschichte ganz nah heran,wurde greifbar durch die Konfrontation mit einem

Menschen, der als Verfolgter des Nationalsozialismusüberlebt hat. Die Auseinandersetzung bekommt eineRelevanz für die Gegenwart.

Zum Abschluß meines Praktikums versuche ich gera-de ein Konzept für eine Führung zu dem Frauenkon-zentrationslager in Moringen zu entwickeln. Für michschließt sich damit ein Kreis, ich bin durch die Aus-einandersetzung mit dem FrauenkonzentrationslagerRavensbrück nach Moringen gekommen und beendedas Praktikum durch die Auseinandersetzung mitdem Frauenkonzentrationslager in Moringen.Insgesamt kann ich sagen, daß mir das Praktikum bisjetzt, auch wenn das in Konfrontation mit demThema Nationalsozialismus etwas schräg klingt, sehrviel Spaß gemacht hat. Ich arbeite gerne mit Dietmarzusammen und auch mit Gerd, der ja jetzt zwar nichtmehr die Lehrer/innenstelle besetzt, aber hoffentlichnoch öfters in der Gedenkstätte ist. Und mit Span-nung, Aufregung und Freude (wie drück ich es nuraus?) erwarte ich das Treffen der Lagergemeinschaftund hoffe ganz viele, gerade Überlebende, kennen-zulernen.Bis denneAnne

20 Dokumente No. 19

Am 4. Oktober 1999 verstarb im Alter von 85 Jahren Gerda Berndt. Gerda Berndt warZeit ihres Lebens politisch aktiv. Im März 1933 wurde sie verhaftet und anschließend“wegen Besuches einer verbotenen Versammlung des KJVD” zu drei Monaten Haftverurteilt. Nach ihrer Freilassung arbeitete sie gemeinsam mit ihrem damaligen Ver-lobten, dem Buchdrucker Robert Keune, im Widerstand. Sie schreibt an ständig wech-selnden Orten Texte für Flugblätter und hilft auch, diese zu verteilen. Im Juni 1934wird Gerda Berndt das zweite Mal verhaftet und kommt ins Braunschweiger Gefäng-nis am Rennelberg. Ihrem Verlobten gelingt die Flucht in die Tschechoslowakei und

später nach England. Nach ihrer Verurteilung wird Gerda Berndt in das Frauengefängnis Lübeck-Lauerhof ein-geliefert. Nach der Verbüßung einer 11/2 jährigen Haftstrafe wird sie nicht freigelassen, sondern in “Schutz-haft” genommen, um sie auf diese Weise zu einer Aussage im Prozeß gegen ihren Verlobten zu bewegen. RobertKeune wird in Abwesenheit zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt und Gerda Berndt kommt im März 1936 insFrauen-KZ Moringen. Ein Jahr später im März 1937 erfolgt ihre Entlassung mit der üblichen Auflage, sich re-gelmäßig bei der Gestapo zu melden. Auch nach dem Krieg engagiert sich Gerda Berndt wieder; sie arbeitet im

Kreissonderhilfsausschuß, der sich um zurückkehrende politsiche Flüchtlinge kümmert undtritt später der KPD und der VVN bei. Solange Gerda Berndt dazu gesundheitlich in derLage war, diskutierte sie mit Schulklassen über ihre Tätigkeit im Widerstand und über ihreErfahrungen im Gefängnis und im Konzentrationslager. Die letzten Jahre verbrachte GerdaBerndt in einem Pflegeheim in Braunschweig.

Unter der Überschrift “Wiedersehen mit Gerda Berndt” schreibt Anni Wadle, wie sie nachihrer Ankunft im Moringer Frauen-KZ Gerda Berndt getroffen hat: “Nach etwa zwei Wochen kam ich auf Transport über Hannover ins Frauenkonzentrati-

In Erinnerung an Gerda Berndt

onslager Moringen am Solling, nördlich von Göttingen. Eine Aufseherin hatte aufgeschlossen und mich in denSaal geschoben. Da stand ich nun hilflos, deprimiert und fremd an der Tür. Aber nicht lange, da wurde ich voneiner schlanken Blonden herzlich begrüßt. Es war Gerda. Wir kannten uns ja nur in Gefängniskluft – nun hat-ten wir unser Privatzeug an. Ich hatte von den vielen Rückenschmerzen schon eine auffällige verkrampfte Hal-tung. Daran hat sie mich zuerst erkannt. Nun nahm sie mich in ihre Obhut und schaffte Platz für mich nebensich am Tisch. Die Kameradinnen rückten bereitwillig noch enger zusammen, und so war ich gleich in die Ge-meinschaft aufgenommen.”D.S.

Am 23. Mai 2000 verstarb im Alter von 73 Jahren Erwin Rehn. Erwin Rehn – Häft-lingsnummer 933 - war ehemaliger Häftling des Moringer Jugend-KZ. Geboren undaufgewachsen ist Erwin Rehn in Heide (Schleswig-Holstein). Bereits als Jugendlicherentwickelt er eine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus. Er erlebt alsKind den gegen jüdische Bürger und politische Gegner gerichteten Terror der SA. Mit13 freundet sich Erwin Rehn mit einer Gruppe holländischer und dänischer Zwangs-arbeiter an, die ein illegales Nachrichtennetz aufgebaut haben. Er schließt sich derGruppe an und übernimmt Botendienste und hilft bei der Verbreitung antifaschisti-scher Flugblätter und Parolen. Den NS-Behörden bleiben diese Aktivitäten nicht ver-borgen, und Erwin Rehn erhält im August 1942 einen “verschärften Verweis” durch

die HJ (und wird im Juni 1943 aus der HJ ausgeschlossen). Trotzdem setzt er seine Aktivitäten fort. Als ein vonihm entworfenes Flugblatt endeckt wird, entchließt er sich kurzfristig zur Flucht in die Niederlande. Die Fluchtmißlingt, und Erwin Rehn wird verhaftet. Nach mehrwöchiger Haft in verschiedenen Polizeigefängnissen wirdder sechzehnjährige Schüler – ohne Gerichtsverhandlung - in das Moringer Jugend-KZ eingeliefert.Nach der Befreiung im Jahr 1945 fällt es Erwin Rehn schwer beruflich Fuß zu fassen, da er gesundheitlich an-geschlagen ist. Er leidet verfolgungsbedingt an einem schweren Lungenleiden. Auch seinEinleben in die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft gestaltet sich äußerstschwierig. Seine im Entschädigungsverfahren gesammelten Erfahrungen sind demütigend,wertet doch auch die bundesrepublikanische Justiz die Erwin Rehn in der Zeit des Natio-nalsozialismus vorgeworfenen Delikte als Landesverrat. So schmiedet die Familie Pläne,Deutschland zu verlassen. 1970 übersiedelt Erwin Rehn mit seiner Ehefrau und der Toch-ter nach Israel. 1973 ziehen sie nach Kreta und später an die türkische Küste. Inzwischenhat sich ein neues Leiden eingestellt: Die in der Vergangenheit in großen Mengen einge-nommenen Tuberkoloseheilmittel haben zu einem Leberschaden geführt. Die Familiekehrt in den achtziger Jahren nach Deutschland zurück, um beim Stuttgarter Versorgungsamt einen Ver-schlimmerungsantrag zu stellen. Ein langes und nervenaufreibendes Verfahren beginnt. 1984 verlassen dieRehns erneut Deutschland und gehen nach Straßburg, wo sich Erwin Rehn als ehemaliger Verfolgter des NS-Regimes aktzeptiert fühlt. Die Tochter Elisabeth blickt in der von ihr verfaßten Biographie des Vaters auf seineletzten Jahre zurück: “Jetzt, im vorgerückten Alter, muß Erwin Rehn feststellen, daß die zweijährige Haft zuralles beherrschenden, zentralen Erfahrung seines Lebens geworden ist.”D.S.

Dokumente No. 19 21

Aus: Anni Wadle:Mutti, warum lachstdu nie? Erinnerung anZeiten der Verfolgungund des Krieges. Drei-steinfurt 1988, S. 80.

Mehr über Erwin Rehn:Martin Guse: “Wirhatten noch gar nichtangefangen zu leben.Eine Ausstellung zuden Jugend-Konzentra-tionslagern Moringenund Uckermarck1940-1945. Morin-gen/Liebenau 1997,S. 22.Marie-Elisabeth Rehn:Heider Gottsleider.Kleinstadtleben unterdem Hakenkreuz: EineBiographie. 2. Aufla-ge. Konstanz 1999.

Abschied von Erwin Rehn

Geburtstage im ersten Halbjahr 2000Felix Alexander 10. Mai *** Helmut Becker 16. April *** Jean Delage 10. Juli *** Leopold Dietrich 22. Mai ***Günther Discher 20 März *** Alfred Grasel 21. Juni *** Otto Gruber 30. Mai *** Gertrud Keen 19. Mai *** FritzKlicka 17. Juli *** Henrik Kontusz 16. Mai *** Günther Koppe 31. Mai *** Walter Eduard 19. April *** FernandoMolde 27. Juni *** Günther Olschweski 28. Februar *** Anni Pröll 12. Juni *** Antoni Rakocz 17. Januar ***Erwin Rehn 23. Februar *** Kurt Rothgänger 5. Februar *** Rosel Schubert 28. Januar *** Paula Schwalbe 8. Ja-nuar *** Dr. France Strmcnik 10. Juli *** Nico Vrabl 6 April *** Willi Zantow 6. April ***

“Eine Stadt wehrt sich” lautete das stolze Mottoeines aus vielen gesellschaftlichen und politischenGruppen bestehenden Bündnisses als zum zweitenMal innerhalb weniger Monate die NPD zu einemAufmarsch nach Göttingen aufgerufen hatte. Am29. Januar verhinderte ein kraftvoller Protest, daßdie Nazis in Göttingen einmarschieren konnten.Keine Frage - die Stadt hat sich gewehrt.Die Schändung des jüdischen Friedhofs in derNacht vom 15. auf den 16. Februar in Göttingenmacht deutlich, mit welchen Mitteln die Rechtebereit ist, ihre Präsenz in der Stadt zu demonstrie-ren. Diesmal traf es die jüdische Gemeinde. Hakenkreuzschmierereien und die Schändung jüdi-scher Friedhöfe sind hierzu Lande kein punktuellesEreignis. Von Beginn der Republik an sind sie eineallgegenwärtige Erscheinung. Bereits Ende dervierziger Jahre kommt es zu zahlreichen Schän-dungen jüdischer Friedhöfe, zu Beschimpfungenund Mißhandlungen jüdischer Überlebender desHolocaust. Einige Beispiele aus der frühen Bundes-republik: Im Jahre 1949 werden jüdische Friedhö-fe in vier badischen Gemeinden systematisch zer-stört. Um diesem Vandalismus ein Ende zumachen, reiche es nicht, so der Vertreter einer isra-

elitischen Gemeinde, wenn staatliche Stellen ledig-lich ihr Bedauern bekundeten. Eine Feststellung,die auch heute noch Gültigkeit besitzt.Im Oktober desselben Jahres werden zahlreiche jü-dische Friedhöfe in hessischen Städten und Ge-meinden geschändet, so in Arolsen, Sontra, Kasselund Limburg. Es zeigt sich ein Bild der Verwü-stung; Grabsteine sind umgestoßen, mit Nazisym-bolen beschmiert und Inschriften zerstört. DerBürgermeister des kleinen Ortes Baumbach läßtunmitelbar nach Bekanntwerden der Tat die Grab-steine wieder aufrichten und alle sonstigen Spurender Friedhofsschändung beseitigen, gerade so alssei nichts geschehen. In einem Memorandum for-dert der damalige Präsident des jüdischen Landes-verbandes in Hessen eine rasche und sorgfältigeUntersuchung der Verbrechen. Einen Monat spätersieht sich sogar der damalige BundespräsidentHeuss genötigt, zu den Schändungen jüdischerFriedhöfe Stellung zu nehmen. Ausländische Beob-achter warnen indes vor den Gefahren, die vondem nach wie vor festverankerten Haß auf jüdischeMenschen ausgehe. Hier in der Region kommt es 1951 zu einer Schän-dung besonderer Art: Der Bürgermeister der Ort-

22 Dokumente No. 19

Jüdischer Friedhof in Göttingen geschändet

R E D E B E I T R A G D E R K Z G E D E N K S T Ä T T E M O R I N G E N A U F D E R K U N D G E B U N G

V O R D E M A L T E N R A T H A U S I N G Ö T T I N G E N A M 1 9 . 2 . 2 0 0 0 A N L Ä ß L I C H D E R

S C H Ä N D U N G D E S J Ü D I S C H E N F R I E D H O F S I N G Ö T T I N G E N I N D E R N A C H T

V O M 1 5 . A U F D E N 1 6 . F E B R U A R 2 0 0 0 .

Interessengemeinschaft niedersächsischer Gedenkstätten und Initiativen gegründet.

Am 22. Januar 2000 hat sich in Hannover die “Interes-sengemeinschaft niedersächsischer Gedenkstätten undInitiativen zur Erinnerung an die NS-Verbrechen” ge-gründet. Mittlerweile sind über dreißig Einrichtungenund Initiativen der IG beigetreten. Zu ihren Aufgabengehört u.a. eine kontinuierliche Vertetung der Gedenk-stätten und Initiativen auf politischer Ebene und in derÖffentlichkeit. Darüber hinaus soll die IG der Vernet-zung dienen und dazu beitragen, Wissen und Erfah-rungen auszutauschen. In den SprecherInnenrat wur-den gewählt: Beatrix Asbree (Loxstedt), Ursula Kiessling(AG KZ Stöcken), Habbo Knoch (DIZ Emslandlager),

Helmut Lubitz (Muna Lübberstedt), Elke Meyer-Hoos(Museum Wustrow), Dr. Dietmar Sedlaczek (Gedenk-stätte Moringen), Dr. Klaus Volland (GedenkstätteSandbostel) und Elke Zacharias (Gedenkstätte Salzgit-ter-Drütte).

Schändung des jüdischen Friedhofs in Göttingen

Am 15. Februar 2000 wurden auf dem jüdischen Fried-hof in Göttingen 43 Grabsteine mit Hakenkreuzen undantisemitischen Parolen beschmiert. Am 19. Februarprotestierten in Göttingen 250 Menschen gegen dieSchändung des jüdischen Friedhofs. Vertreter mehrererEinrichtungen verurteilten den Anschlag und sprachensich gegen eine Verharmlosung der Tat aus.

Dokumente No. 19 23

schaft Imbshausen bei Northeim entwendet dieGruft- und Grabplatten des örtlichen jüdischenFriedhofs und verwendet sie für den Bau seines Ei-genheims. Einen Teil der Sandsteine mit hebräi-schen und deutschen Inschriften zerschlägt er undbenutzt sie als Streckmittel für den Beton des Fun-damentes. Die 16 Treppenstufen zum Hauseingangerstellt er ausschließlich aus Grabsteinen.Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklungbilden zunächst die späten fünfziger Jahre. Auchin Göttingen und Umgebung kommt es in dieserZeit zu antisemitischen Ausschreitungen. In derNacht vom 16. auf den 17. April 1958 werden inDransfeld fünfzehn Grabsteine umgeworfen undbeschädigt. Die Polizei läßt verlautbaren, daß nochungeklärt sei, ob es sich bei der Tat um eine anti-semitische Ausschreitung handle oder lediglich umeinen sogenannten ‘Jungenstreich’. Einen Monatspäter wird ein am Schwarzen Brett in der Aula derGöttinger Universität befestigter Aushang der jüdi-schen Studentengruppe von Unbekannten mit Ha-kenkreuzen beschmiert. So weit zu den Anfängender Bundesrepublik.Anschläge auf jüdische Einrichtungen hatten auchin den folgenden Jahren in diesem Staat Konti-nuität und insbesondere nach 1989. Nach derdeutschen Vereinigung haben antisemitischeSchmierereien und Friedhofsschändungen ein be-drohliches Ausmaß angenommen. Zum Beispielwurden hier in Göttingen schon im Mai 1995 aufdem jüdischen Friedhof 11 Grabsteine umgestoßenund dabei schwerbeschädigt.Ebenfalls Mitte der neunziger Jahre werden wie-derholt Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof inMoringen umgestoßen. Die beinahe zwei Meter

hohen Steine liegen zerschlagen in der Gegend

herum und sind mit Nazisymbolen beschmiert.

Eineinhalb Jahre braucht es, bis die Steine wieder-

hergerichtet sind. Dann vergehen vier Wochen bis

sie erneunt beschmiert werden.

Der Anschlag auf den jüdischen Friedhof am ver-

gangenen Mittwoch war also nicht der erste und

auch nicht der einzige Angriff auf das jüdische

Leben in Göttingen. Wie ein roter Faden ziehen

sich antisemitische Verbrechen durch die Geschich-

te der Bundesrepublik. Sie können weder als Taten

verirrter Jugendlicher verharmlost, noch als Einzel-

fälle bagatellisiert werden. Sie sind Ausdruck eines

latenten Antisemitismus in unserer Gesellschaft.

Darüber hinaus stehen sie in gesamtgesellschaftli-

chen wie tagespolitischen Zusammenhängen. Daß

diese Schändung nach zweimaliger Verhinderung

eines Aufmarsches der NPD in Göttingen passierte,

ist sicher kein Zufall. Die politische Entwicklung in

Österreich mag dazu beitragen, daß sich rechtsex-

treme Kräfte heute auch bei uns gestärkt fühlen.

“Eine Stadt wehrt sich!” Dies müssen wir beweisen

und zwar jeden Tag neu: Wenn Verfolgte Zuflucht

suchen, wenn Menschen aufgrund sozialer Um-

stände diskriminiert und an den Rand gedrängt

werden. Wehren wir uns gegen den alltäglichen

Rassismus in dieser Stadt und anderswo! Wehren

wir uns gegen einen erneuten Nazi-Aufmarsch in

Göttingen! Wehren wir uns gegen Angriffe auf jü-

disches Leben! Machen wir deutlich, daß jüdisches

Leben Teil dieser Stadt ist!

D.S.

NPD - Kundgebung in Göttingen zum vierten Mal verboten

Viermal haben in letzten Monaten Verbote und dieProteste eines breiten Bündnisses verhindert, daßdie NPD in Göttingen demonstrieren konnte. Auchfür den 15. Juli rief ein breites Bündnis zu einerGegenkundgebung mit anschließender Demonstra-tion auf.

Gedenktreffen der ehemaligen MoringerHäftlinge vom 8.-10. September 2000

Vom 8.-10. September veranstaltet die “Lagerge-meinschaft und Gedenkstätte KZ-Moringen e.V.”das alljährliche Gedenktreffen für die ehemaligen

Häftlinge der drei Moringer Konzentrationslager.Auch in diesem Jahr werden wieder ungefähr 35ehemalige Häftlinge aus der BundesrepublikDeutschland, Österreich, Polen und Slowenien er-wartet. An diesem Wochenende findet auch dieMitgliederversammlung des Vereins statt. Der Beiratder Gedenkstätte tritt ebenfalls zu einer gemeinsa-men Sitzung zusammen.

Austellung zum Jugend-KZ wird auf der Expo 2000 gezeigt

Am 12. und 13. Oktober 2000 präsentiert die Ge-denkstätte im Torhaus ihre Ausstellung zum Ju-gend-KZ im “Big Tipi”, dem Veranstaltungsort fürJugendprojekte auf der Weltausstellung.

2. Oktober 1999(Moringen, Gedenkstätte im Torhaus) Regionaler Lehrerfortbildungskurs “Konzentrationsla-ger im Nationalsozialismus – Terrorinstrumente derDiktatur. Ihre Entwicklung am Beispiel der Konzen-trationslager in Moringen.” (In Zusammenarbeit mitdem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.)

8.-10. Oktober 1999Gedenktreffen der ehemaligen Häftlinge der Morin-ger Konzentrationslager

9. Oktober Filmpräsentation (Moringen, Stadthalle)“Schwestern vergeßt uns nicht.”

Oktober – November 1999(Moringen, Gedenkstätte im Torhaus)Sonderausstellung mit Arbeiten von Hedwig Regnart(ehem. Gefangene des Moringer Frauen-KZ)

13. Januar 2000 (Göttingen, Galerie Apex)Christa Schikorra: Mit dem schwarzen Winkel imFrauenkonzentrationslager Ravensbrück. Die Verfol-gung “asozialer” Frauen im Nationalsozialismus (Vor-trag im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Gedenkenan die Opfer des Nationalsozialismus” in Kooperationmit der Göttinger Geschichtswerkstatt)

31. Januar 2000(Moringen, Gedenkstätte im Torhaus)Vortrag zur Geschichte des KZ-Ladelund und derenAufarbeitung nach 1945 (In Kooperation mit derEvangelischen Kirchengemeinde Moringen)Karin Penno: “Leben mit einem schwierigen Erbe”.Unter dieser Überschrift stand ein Vortrag von Karin

Penno anläßlich des vom ehemaligen Bundespräsi-denten Roman Herzog ausgerufenen “Gedenktags andie Opfer des Nationalsozialismus”. Frau Penno istLeiterin der Gedenkstätte Ladelund in Schleswig-Hol-stein.In Ladelund, einem kleinen Dorf an der dänischenGrenze, wurde im Herbst 1944 ein Außenlager des KZNeuengamme errichtet. In nur sechs Wochen sindüber 3000 Menschen durch dieses Lager gegangen,weit über 300 von ihnen fanden hier den Tod. DieKZ-Häftlinge sollten zu diesem Zeitpunkt militärischbereits völlig sinnlose Panzergräben ausheben, densogenannten “Friesenwall”. Sie starben überwiegendan Unterernährung, Krankheit und Schlägen. DieHäftlinge standen den ganzen Tag im eiskaltenSchlamm oder Wasser des Grabens, wurden willkür-lich und häufig von den Kapos geprügelt und konn-ten ihre nassen Kleider nicht wechseln. Die Dorfbe-wohner hörten nachts die Schreie der Häftlinge undtagsüber zog der Elendszug der Häftlinge durch denOrt zur Arbeit. Der Pastor des Dorfes, ein überzeug-ter Nationalsozialist, setzte sich für etwas verbesserteLebensbedingungen im Lager ein. Er erreichte u.a.,daß alle in Ladelund Gestorbenen christlich beerdigtwurden.Karin Penno sprach über die Geschichte des Konzen-trationslagers Ladelund und deren Aufarbeitung.Ausgangspunkt für ihren Vortrag war die Frage, wiesich die nachgeborenen Generationen mit der Ge-schichte auseinandersetzen können und einen Bei-trag zur Versöhnung leisten können. Ladelund ist dieälteste KZ-Gedenkstätte in Deutschland und wurdebereits im Jahre 1950 gegründet. Heute bestehen in-tensive Beziehungen zwischen den Bürgern des klei-nen schleswig-holsteinischen Ortes und den An-gehörigen der in Ladelund zu Tode gekommenenzumeist niederländischen Bürger.

13. März – 4. April 2000 (Stadtbibliothek, Göttingen)Ausstellung über die Geschichte der Moringer Kon-zentrationslager und die pädagogische Arbeit der Ge-denkstätte (Veranstaltung der Kooperationspartnerdes VNB)

22. März 2000 (Göttingen, Galerie Apex)Thomas Blatt (Überlebender von Sobibor): “Nur dieSchatten bleiben”. (Veranstaltet von der “Ollafa” inKooperation mit der KZ-Gedenkstätte Moringen undanderen)

24 Dokumente No. 19

V E R A N S T A L T U N G E N D E R G E D E N K S T Ä T T E

J U L I 1 9 9 9 - J U N I 2 0 0 0

Jose

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ll

Dokumente No. 19 25

2.7.1999 Klasse 6a und 6e der Astrid-Lindgren-Schu-le, Duderstadt *** 6.7.1999 Martin Guse besucht mitseinen Schülern die Gedenkstätte *** 7.7.1999 Schü-lerInnen der Klasse 8c und 8d der Heinrich-Böll-Schule, Göttingen *** 15.7.1999 SchülerInnen (7. –10. Klasse) des Osteroder Gymnasiums im Rahmeneiner Projektwoche *** 16.7.1999 Klasse 9 der Real-schule Adelebsen *** 19.7.1999 Klasse 9c des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen *** 20.7.1999 Schüle-rInnen der Projektgruppe der KGS Moringen***20.7.1999 Klasse 6b der Novalis-Schule, Nörten-Hardenberg *** 20.8.1999 SchülerInnen der Werk-statt-Schule aus Northeim mit ihrem Lehrer ArnoSchelle *** 24.8.1999 SchülerInnen der Werkstatt-Schule, Northeim *** 1.9.1999 8. Klasse eines Duis-burger Gymnasiums *** 13.9.1999 ASB-Gruppe, KreisNortheim *** 2.10.1999 Lehrerfortbildung in Koope-ration mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfür-sorge *** 8.-10.10. Gedenktreffen *** 12.10.1999Zeitzeugengespräch mit Leopold Dietrich und einerKlasse der Paul-Gerhardt-Schule, Dassel ***9.10.1999 Zeitzeugengespräch mit Hedwig Regnart,Hilde Faul-Gerber, Anni Pröll und Jugendlichen ausMoringen *** 12.10.1999 Kirchengemeinde Fürsten-hagen – Offensen *** 20.10.1999 “Krieg gegen BRJugoslawien”. Gemeinsame Veranstaltung von GEW,DGB und Friedensbüro Göttingen *** 3.11.1999 “Ar-beiten und Lernen” Stadt Einbeck *** 5.12.1999 Be-such von Ellen Kracauer (Enkeltochter von GabrieleHerz), ihrem Ehemann und Dr. Ursula Krause-Schmidt (Studienkreis Deutscher Widerstand, Frank-furt) *** 23.11.1999 Klasse 10b der Personn Real-schule, Göttingen *** 2.12.1999 Frauentagung ausdem Internationalen Haus Sonnenberg, St. Andreas-berg *** 4.12.1999 Führung im Rahmen der Veran-staltungsreihe “Gedenken an die Opfer des NS” ***8.12.1999 SchülerInnen vom ifas, Northeim ***21.12.1999 5. Bereitschaftspolizeihundertschaft ausGöttingen *** 20.1.2000 Mitarbeiterfortbildung desLandeskrankenhauses, Moringen *** 25.1.2000 Schü-lerInnen vom ifas, Northeim *** 31.1.2000 “Leben miteinem schwierigen Erbe”. Vortrag und Gespräch mitKarin Penno (Leiterin der Gedenkstätte Ladelund) ***3.2.2000 Auszubildende der Holzlehrwerkstatt desAmtes für Beschäftigungsförderung aus Göttingen*** 2.6.2000 Gäste aus Reggio Emilia (Italien) ***17.2.2000 Mitarbeiterfortbildung des Landeskran-kenhauses, Moringen *** 24.2.2000 SchülerInnen desLeistungskurses Geschichte an der Paul-Gerhardt-Schule, Dassel *** 25.2.2000 Jugendförderung, BadHarzburg *** 29.2.2000Klasse 10c und 10d der Hoff-man von Fallersleben Schule, Braunschweig ***

6.3.2000 9. Klasse der Novalis Schule, Nörten-Har-denberg *** 9.3.2000 Patientengruppe aus dem LKH,Moringen *** 18.3.2000 deutsch – israelischer Ju-gendaustausch, Stadtjugendring Hann. Münden ***4.4.2000 Auszubildende der Caritas Jugendwerkstatt“Holzwurm”, Helmstedt *** 11.4.2000 Frauenkonfe-renz WUK der Gerhardt Hauptmann Schule, Northeim(Orientierungsstufe) *** 12.4.2000 Klasse 10b derPaul–Gerhardt-Schule, Dassel *** 13.4.2000 Religi-onspädagogischer AK der Erzieherinnen im KirchkreisNortheim *** 18.4.2000 Konfirmandengruppe ausDassensen (Kirchkreis Einbeck) mit Frau Wasmuth-Kahle *** 20.4.2000 Internationale Begegnung mit

Italien: Besucher aus Campegnola (StadtjugendringDassel) *** 4.5.2000 Klasse 6.4 und 6.6 der Astrid-Lindgren Orientierungsstufe, Holzminden ***7.5.2000 Rolf Niemeyer, Staatliches Studienseminar,Hamburg *** 9.5.2000 Klasse 10.2 des Campe Gym-nasiums, Holzminden *** 9.5.2000 Klasse 10.3 desCampe Gymnasiums, Holzminden *** 18.5.2000 Kon-firmandengruppe aus Dassensen und Rotenkirchen(Kirchenkreis Einbeck) mit Frau Wasmuth-Kahle ***18.5.2000 Zeitzeugengespräch der Konfirmanden-gruppe Moringen mit Karl Roth *** 21.5.2000 Besuchvon Zbigniev Kolakowski aus Polen *** 22.5.2000Klasse 9 der Geschwister-Scholl-Schule, Einbeck ***23.5.2000 Zeitzeugengespräch mit Karl Roth im Ju-gendzentrum Innenstadt, Göttingen *** 7.6.2000 Be-such von Frau Professor Franke, Fachhochschule Nor-dostniedersachsen, FB Sozialwesen in Lüneburg ***7.6.2000 SchülerInnen der BBS III, Göttingen ***15.6.2000 SchülerInnen des Berufsförderungswerkes,Kassel *** 21.6.2000 Besuch von Professor Karl-HeinzJahnke, Rostock *** 22.6.2000 Klasse 6g der KGSMoringen mit ihrer Lehrerin Frau Kersting ***24.6.2000 Gäste der Therapeutischen Frauenbera-tung e.V. (Göttingen) aus Spanien *** 27.6.2000 Zeit-zeugengespräch der Klasse 6g der KGS Moringen mitKarl Roth *** 27.6.2000 Besuch von Professor Dr.Ludwig Adamec (ehemaliger Häftling des Jugend-KZ)und seiner Ehefrau aus den USA

A U S D E R A R B E I T D E S Z U R Ü C K L I E G E N D E N J A H R E S

Heike Assm

uth

“Historisches Lernen mit Neuen Medien”. [Berichtüber das Multimedia-Projekt der Gedenkststätte].Vortrag auf einer Tagung im niedersächsischen Land-tag über Gedenkstättenarbeit in den BundesländernSachsen-Anhalt und Niedersachsen. Tagungsschwer-punkt: Neue Medien in der Gedenkstättenarbeit.Hannover, 4.-6.6.1999. (Ursula Gerecht)

“Neue Medien, neue Lernformen: Im Handel befind-liche CD-ROM zum Thema Nationalsozialismus”. Vor-trag auf einer Tagung im niedersächsischen Landtagüber Gedenkstättenarbeit in den BundesländernSachsen-Anhalt und Niedersachsen. Tagungsschwer-punkt: Neue Medien in der Gedenkstättenarbeit.Hannover, 4.-6.6.1999. (Dietmar Sedlaczek)

“Virtuelle Realitäten”. Vortrag im Rahmen der Fach-tagung “Wenn die Zeitzeugen schweigen... Gedenkenund Gedenkstättenarbeit. Zur Standortbestimmungder Gedenkstättenarbeit”. KZ Gedenkstätte Bu-chenwald, 12.-13.6.1999. (Dietmar Sedlaczek)

“CD-ROMs zum Thema Nationalsozialismus”. Vortragim Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung für dasFach Geschichte: “Computergestütztes Lehren undLernen im Geschichtsuntericht”. Dokumentations-und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Hei-delberg, 11.11.1999. (Dietmar Sedlaczek)

“Biographiebruch. Lebensgeschichtliche Untersu-chungen zu nationalsozialistischer Verfolgung unterbesonderer Berücksichtigung medizingeschichtlicherAspekte”. Vortrag im Rahmen der Mitarbeiterfortbil-dung des Landeskrankenhauses in Moringen,2.12.1999. (Dietmar Sedlaczek)

“Autobiographien erzählen Geschichte. Auseinan-dersetzung mit lebensgeschichtlichen Texten. Ein-blick in Aspekte und Geschichte einer biographischorientierten Sozialforschung mit anschließender ge-meinsamer Textarbeit”. Vortrag im Rahmen der Mit-arbeiterfortbildung des Landeskrankenhauses in Mo-ringen, 13.4.2000. (Dietmar Sedlaczek)

“Suche nach der chancenreichsten Vernetzung vonGedenkstätten – Austausch, Zusammenarbeit,Lobby”. Arbeitsgruppenleitung (gemeinsam mit Dr.Bernhard Hoppe) auf dem 33. bundesweiten Gedenk-stättenseminar zum Thema “Gedenkstätten – Gesell-schaft – Gedächtnis” in Schwerin, 1.-4.6.2000. (Diet-mar Sedlaczek)

“Zur Geschichte der Moringer Konzentrationslager –Zur Arbeit der Gedenkstätte in der Gegenwart”. Vor-trag im Dokumentations- und Kulturzentrum Deut-scher Sinti und Roma in Heidelberg, 13.6.2000.(Dietmar Sedlaczek)

26 Dokumente No. 19

P R Ä S E N Z D E R G E D E N K S T Ä T T E B E I TA G U N G E N U N D F O R T B I L D U N G E N

Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ Moringen e.V.Beitrittserklärung zum Verein Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ Moringen e.V.

Hiermit erkläreich ......................................................................................................................................

Name Vorname

wohnhaft in........................................................................................................................Wohnort

...............................................................................................................Straße

geboren am ..............................................................

zum 1. ................................................Monat/Jahr bitte eintragen

meinen Beitritt zur Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ Moringen e.V.

............................................ ........................................................Ort, Datum Unterschrift

Gedenkstätte im TorhausPostfach 1131,

37182 Moringeninfo@gedenkstaette-moringen.dewww.gedenkstaette-moringen.de

Telefon 05554-2520 Telefax 05554-8807

Bankverbindung:Kreissparkasse Northeim

BLZ 262 500 01 Konto-Nr. 25 00 660

Dokumente No. 19 27

Persönliche Anmerkungen zum Verlauf der Wanderausstellung zum Jugend-KZ

Bis zum Frühjahr 2000 wurden in über 130 Städtenund Gemeinden über 210.000 Besucherinnen undBesucher der Ausstellung gezählt. Die Nachfrage istweiterhin ausgesprochen gut. Ausstellungsortewaren: Jugendhäuser, Schulen, Kirchen, Kultur- undBildungszentren, Fachhochschulen und Universitä-ten, Museen, Galerien, Gedenkstätten, Rathäusersowie Foyers von Banken. Als Partner bei den jewei-ligen Präsentationen stellten sich vor allem Lehrer-kollegien, Jugendpflege, Jugendverbände, Stadt-und Gemeindeverwaltungen, Volkshochschulen, Bi-bliotheken, Parteien, Gewerkschaften sowie örtlicheInitiativen, Vereine und Gruppen zur Verfügung. DieDauer der jeweiligen Präsentationen variierte zwi-schen 2 bis 7 Wochen.

Die Resonanz auf die Wanderausstellung “Wir hat-ten noch gar nicht angefangen zu leben” ist insge-samt überaus erfreulich. Es zeigte sich, dass dieHaft- und Lebensumstände damals Gleichaltriger alsAnreiz für zahlreiche junge Menschen dienten, sichheute mit dieser Thematik auseinander zu setzen.Erfreulich waren die Rückmeldungen von Pädago-ginnen und Pädagogen, die die Ausstellung im Rah-men der Jugendarbeit mit Schulklassen und Ju-gendgruppen besuchten. Sie berichteten, daßetliche der jüngeren Besucher/innen die Informatio-nen zu den Jugend-KZ aufgriffen, reflektierten unddurchaus mit Fragestellungen ihrer eigenen, heuti-gen Lebenssituation in Verbindung brachten. DerZugang der jugendlichen Besucherinnen und Besu-cher erfolgte recht häufig über die biografischenSkizzen oder aber über den Aspekt “Swingmusik”,der ja in der Ausstellung durch Hörbeispiele neugie-rig machen soll. In den biografischen Skizzen zuverschiedenen Häftlingen der Jugend-KZ fanden vorallem die jungen Besucher/innen einen emotionalenZugang. Für die Probleme der ehemals jungen Häft-linge im Elternhaus, im Heim oder in Schule undLehre, die dargestellten Schwierigkeiten bei der Um-setzung eines eigenen Lebensstils oder der eigenenSexualität zeigten sie besonderes Interesse. Ebensofür die Praxis der “kriminalbiologischen” Selektionin beiden Lagern, wobei die damaligen Kategorisie-rungen und Bewertungen jugendlichen Verhaltensmit heutigen Lebens- und Verhaltensweisen in Ver-bindung gebracht wurden (“Wie würden mein Ver-halten und meine Vorlieben interpretiert und kate-gorisiert werden?”) Günter Discher, Fernando

Molde, Leopold Dietrich sowie Karl Roth und Kat-harina Anders - die sich bisher für Zeitzeugenge-spräche zur Verfügung stellten - waren vielerortssehr geschätzte Gesprächspartner. Ihre Lebenswege,ihre Konflikte und “Fehltritte” wurden als gut nach-vollziehbar bezeichnet. Damit erscheint die ur-sprüngliche Intention der Ausstellung als ein Beitragzum “Erleben der kleinen Leute” gegenüber einerReflexion der “großen Zusammenhänge” erfolgreichumgesetzt. Ein unmittelbares Gespräch mit denehemals Betroffenen erwies sich immer wieder alsbesonders fruchtbar. Entsprechende Fragen der Be-sucherinnen und Besucher zielten immer wieder aufdas direkte “Erleben” der Zeugen und ihre persönli-chen Eindrücke.

Kooperative Arbeits- und Vermittlungsformen undgemeinschaftliche Realisierung hatten bei den Prä-sentationen der Ausstellung eine besondere Bedeu-tung und bewirkten gute Erfolge. Die gezielte Vor-bereitung durch Lehrer/innen bzw. Betreuer/innenauf Thematik und Ausstellung hat sich dabei als be-sonders förderlich erwiesen. An manchen Ortenhaben besonders engagierte Betreuer/innen zusätz-liche Lernformen und- angebote entwickelt und er-arbeitet. Gute Resonanz erfuhren vor allem jeneKolleg/innen, die sich selbst als Lernende begriffen,ihre fehlenden Vorkenntnisse zur Thematik Jugend-KZ gegenüber den Schüler/innen thematisiertenund sich mit diesen als “gemeinsam Forschende”bezeichneten. Diese Betreuer/innen bezeichneten esals Vorteil, dirigistische Verfahren der Wissensver-mittlung abzubauen und Selbständigkeit sowie Mit-bestimmung der Besucher/innen zuzulassen. Eswurde betont, dass Mädchen und Jungen oftmalsnur leichte Hinweise und Hilfestellungen benötig-ten, um ganze Ideengeflechte zur Auseinanderset-zung mit der Ausstellung zu entwickeln. An etlichenAusstellungsorten wurden verschiedene Möglichkei-ten erprobt und gleichzeitig der Erwerb von beson-derer Medienkompetenz als weiteres Lernziel for-muliert. Dabei handelte es sich beispielsweise umdie Gestaltung einer eigenen Reportage/Zeitungzum Besuch, um die Dokumentation eines Zeitzeu-gengespräches durch Einsatz von Video- und Ton-technik, um die Erstellung einer “eigenen” Häft-lingsbiografie durch zusätzliches Material sowie umCollagen, Wandzeitungen, Hörspiele, Gedichte, “Ta-gebucheintragungen”, Zeitungskommentare, oder

0077..0011.. -- 2222..0011..0000SSttaaddttjjuuggeennddaammtt MMaannnn--hheeiimm 26.01. -12.02.00 LandtagRheinland-Pfalz,Mainz 1133..0022.. --0044..0033..0000 SSttaaaattlliicchheessSSttuuddiieennsseemmiinnaarr,, HHaamm--bbuurrgg 29.04. -20.05.00 erneutekurzfristige Absage:Stadtjugendring Hann.Münden 1199..0055.. --2299..0055..0000 SSttaaddttjjuuggeenn--ddrriinngg NNaauummbbuurrgg03.06. - 17.06.00KreisjugendamtSchleiz 2288..0088.. --0099..0099..0000 JJuuggeennddaammttJJeennaa 09.09. -22.09.00 Kreisjugen-damt Anklam 2233..0099.. --0077..1100..0000 JJuuggeennddaammttGGrreeiizz 09.10. -29.10.00 Kreisju-gendpflege Hof0011..1111.. -- 2211..1111..0000EEvv.. JJuuggeennddaarrbbeeiitt FFiinn--sstteerrwwaallddee 24.11. -07.12.00 StadtSchwabach 0099..1122.. -- 2233..1122..0000SSttaaddtt GGrreevveenn

aber um die Auseinandersetzung mit der Geschich-te des Jazz und Swing in Form einer Hausarbeit.Solche Arbeitsergebnisse wurden in Schulen oder Ju-gendzentren dann als eigene Produkte der Öffent-lichkeit präsentiert. Aus derartigen Projekten zogendie Mitwirkenden oft großen persönlichen Gewinn.

Es hat sich insgesamt als sinnvoll erwiesen, wennPädagog/innen und Betreuer/innen zunächst ihreErwartungshaltung gegenüber der Ausstellung unddem Schülerverhalten formulieren. Dies geschiehtleider nicht immer. Falsche Erwartungshaltungenkönnen zu Irritationen und bei den jugendlichen Be-sucher/innen entweder zur Überforderung, manchesMal aber auch zur Unterforderung führen. Auch ver-meintlich unbequeme Fragen und Diskussionenmüssen erlaubt sein, ja angeregt und gefördert wer-den. Ein weiteres besonderes Problem zeigte sichmancherorts darin, dass sich einige Besucher/inneneinem unmittelbaren Schuldvorwurf ausgesetztglaubten. Zielrichtung muß daher der Blick auf dieallgemeinen - auch heutigen - gesellschaftlichenVorurteilsstrukturen, das heißt also die Aktualisierungdes Geschehenen sein: Wie gehen wir heute mit derErziehung von auffälligen Jugendlichen um? Wiegehe ich mit Gleichaltrigen um, die sich nach Her-kunft und Verhalten unterscheiden? Das Opfer/Täter-Geflecht, die Fragen der Gewalt, der Mitwirkung undder Mitverantwortung im Nationalsozialismus werdendurchaus anschaulicher, wenn solche aktuellen Bezü-ge diskutiert werden. Das Verwenden von zusätzli-chen Dokumentarfilmen - für das Lager Moringenliegen ja zwei Dokumentationen vor - trug nach Aus-kunft verschiedener Betreuer/innen zur visuellen Er-gänzung und Vertiefung der Informationen bei. Auchder Einsatz des im Jahr 1992 produzierten Hol-lywood-Spielfilmes “Swing-Kids” konnte in einigenOrten positive Ergebnisse zeitigen. Wenn auch die in-haltlich-historische Umsetzung dieses in “Hollywood-Manier” überzeichneten Filmes als völlig verfehlt an-zusehen ist, so spricht er nichtsdestotrotz bestimmteGruppen von Jugendlichen besonders an. Der Filmthematisiert das Leben einiger “Swing-Kids” im Ham-burg des Jahres 1939. Das Lebensgefühl der damali-gen Swingsanhänger wurde von den jugendlichenBesuchern gut nachempfunden, die verwendetenMusik- und Tanzsequenzen mancherorts geradezu“aufgesaugt”. Inhaltliche und dramaturgische Fehlermussten und müssen dabei von den Betreuer/innenvor Ort aber immer thematisiert werden. Ein solchesVorgehen hat vielfach zu interessanten Diskussionenüber die visuelle Darstellbarkeit des Nationalsozialis-mus und der deutschen Verbrechen geführt.

Das Angebot von ergänzenden Einführungen, Lesun-gen und Vorträgen zur Geschichte der Jugend-KZs,

zu verschiedenen Teilbereichen der Thematik oderaber zu den Lebenswegen einzelner Häftlinge derbeiden Lager wurde von vielen Veranstaltern wahr-genommen. Hier bot sich die Möglichkeit, Hinter-gründe ausführlicher darzustellen und Einzelaspektenäher zu erläutern und zu diskutieren.Pädagog/innen nutzten dabei recht gerne die Mög-lichkeit einer Lesung vor unterschiedlichen Klassenund Jahrgängen. Fachvorträge wurden demge-genüber weitgehend von interessierten Erwachse-nen besucht. Zukünftig muß die Ausstellung “Wirhatten noch gar nicht angefangen zu leben” um ei-nige Biografiemappen zu weiteren Häftlingen desLagers sowie um Themenmappen ergänzt werden.Sowohl jugendliche als auch ältere Besucher/innender Ausstellung äußern besonderes Interesse an er-gänzenden Materialien, vor allem an weiteren re-produzierten Originaldokumenten und Fotos. Vonvielen Gesprächspartnern wurde betont, dass vonder Ausstellung ein besonderer Impuls zur “Regio-nalisierung” ausgehe. Einige Besucher/innen unter-schiedlicher Altersgruppen nahmen die Präsentati-on zum Anlaß, zur Geschichte desNationalsozialismus in der eigenen Stadt, der Ge-meinde oder der Region zu forschen. Ortsnahe Ge-denkstätten wurden aufgesucht, Familienchronikenund Lebensläufe rekonstruiert, Stadterkundungenund -rundgänge zu historisch relevanten Orten,zum Beispiel zu Stätten jüdischen Lebens, wieFriedhöfen, ehemaligen Standorten von Synagogenoder “arisierten” Betrieben, entwickelt. Die Übertra-gung und Aktualisierung der historischen Faktenauf die heutige gesellschaftspolitische Situationsind wohl in allen Ausstellungsorten vollzogenworden. Besonders häufig wurden dabei folgendeFragestellungen thematisiert: Wie gestaltet sich dieheutige gesellschafts- und sozialpolitische Ent-wicklung? Wie geht die Gesellschaft/gehen wir mitanders denkenden/anders aussehenden Menschenum? Welchen Vorurteilen begegnen wir im Alltagund wie bin ich selbst involviert? Was könnte pas-sieren, wenn rechtsextremes Gedankengut sich zu-nehmend durchsetzen würde? Wie begegnet manheute auffälligen oder vorbestraften Jugendlichen?Die Listen am Rand geben einen Überblick zu denStationen der Ausstellung im Jahr 2000 und im fol-genden Jahr (soweit schon verabredet). Wer nähe-res Interesse oder weitere Fragen hat, kann sich je-derzeit an mich - unter Tel. 05023/1575 - wenden.

Ich hoffe, Euch alle beim Gedenktreffen im Sep-tember in Moringen zu sehen!!

Bis dahin alles Gute und beste Gesundheit!

Martin Guse, Liebenau

28 Dokumente No. 19

200113.01. - 29.01.01

Stadt Schwalbach amTs. FFeebbrruuaarr-- OOppttiioonneenn::

GGyymmnn.. PPrrüümm,, KKJJAADDüürreenn,, JJAA NNüürrnnbbeerrgg03.03. - 31.03.01GEW KreisverbandSoltau-Fallingbostel

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Salzgitter

Dokumente No. 19 29

aauuss:: HHeessssiisscchhee//NNiieeddeerrssääcchhssiisscchhee ZZeeiittuunngg vvoomm 44..1100..11999999

30 Dokumente No. 19

aauuss:: DDiiee EEuullee vvoomm 2233..44..22000000

Ich bin jung.Und das Leben müßte eigentlich vor mir liegen.

Aber man hat mich verhaftet und verschleppt.

Ich bin jung.Und jeder Tag müßte eigentlich voller Licht und Freude sein.

Aber man treibt mich jeden Tag zur Zwangsarbeit unter Tage.

Ich bin jung.Und alle Türen sollten mir eigentlich offenstehen.

Aber man läßt hinter mir Zellentüren ins Schloß fallen.

Ich bin jung.Und eigentlich habe ich einen schönen Namen.

Aber hier schreit man mich mit einer Nummer an.

Ich bin jung.Und eigentlich sollte ich unbeschwert leben.

Aber man hat meinen Körper ausgezehrt und ich hungere.

Ich bin jung.Und voller Pläne und Ideen.

Aber mich zerfrißt die Ruhr.

Ich w a r jung.Und ich reise wieder an den Ort meiner Leiden.

Ich bin alt.Und habe einen schwierigen Weg hinter mir.

Ich bin alt.Und stehe ratlos vor den Gräbern meiner Kameraden.

Ich bin alt.Und meine Wut mischt sich mit den Gefühlen meiner Trauer.

Ich bin lebendig.Wachsam beobachte ich, was in Staat und Gesellschaft passiert.

Ich bin lebendig.Das Wohl meines Gegenüber ist mir n i c h t gleichgültig.

Ich bin lebendig.Und ich werde ein Verschweigen und ein Vergessen nicht zulassen.

Ich bin lebendig.Wo die Erinnerung an mich wachgehalten wird.

Ich bin tot

Ich h e i ß e Gerhard Battel.I c h heiße Walter Palavro.

Am Gräberfeld für die in Moringen begrabenen Toten des dortigen Jugend-KZ gesprochen von Arno Schelle,Vorsitzender der Lagergemeinschaft und Gedenkstätte KZ Moringen e.V., Herbst 1997.

Ich h e i ß e Franz Rübenbauer.I c h heiße Karl Kauer.Ich h e i ß e Friedrich Dörflinger.I c h heiße Herbert Lindthammer.Ich h e i ß e Georg Gurke.I c h heiße Franz Hirschkorn.Ich h e i ß e Karl Pohl.I c h heiße Otwin Zimmer.Ich h e i ß e Wilhelm Sadtler.I c h heiße Johann Magenbauer.Ich h e i ß e Paul Hammer.I c h heiße Friedrich Penz.Ich h e i ß e Karl Ziemichi.I c h heiße Benno Gert.Ich h e i ß e Johann Verhovscheg.I c h heiße Paul Beyer.Ich h e i ß e Johann Krämer.I c h heiße Walter Patzwald.Ich h e i ß e Franz Jungbluth.I c h heiße Rudolf Witting.Ich h e i ß e Johann Graf.I c h heiße Heini Strütze.Ich h e i ß e August Arning.I c h heiße Walter Werner.Ich h e i ß e Gerhard Bär.I c h heiße Karl-Heinz Packebusch.Ich h e i ß e Helmut Dietschmann.I c h heiße Josef Sieche.Ich h e i ß e Otto Sturm.I c h heiße Heinz Güttler.Ich h e i ß e Heini Rohloff.I c h heiße Heinz Wohlgemuth.Ich h e i ß e Karl-Heinz Bode.I c h heiße Otto Trümper.Ich h e i ß e Walter Sollnbeck.I c h heiße Walter Tretbar.Ich h e i ß e Helmuth Steinau.I c h heiße Gerhard Griwenka.Ich h e i ß e Julius Hirtz.I c h heiße Heinrich Papke.Ich h e i ß e Johann Jurgec.I c h heiße Fritz Pruschinski.Ich h e i ß e Erwin Braun.I c h h eiße Werner Lohmann.Ich h e i ß e Kurt Feierabend.I c h heiße Alfred Begenat.Ich h e i ß e Werner Stief.I c h heiße Anton Brandl.Ich h e i ß e Gerhard König.I c h heiße Fritz Kopine.Ich h e i ß e Kasimir Tczanpel.I c h heiße Rudolf Schiffler.

Ich habe einen Namen.

Ich habe einen Namen.

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